Our Beautiful Scars - Yvonne Westphal - E-Book

Our Beautiful Scars E-Book

Yvonne Westphal

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Beschreibung

Manchmal findet man die große Liebe in den dunkelsten Zeiten
Ein herzzerreißender Liebesroman voller Hoffnungund zweiter Chancen

Liv Winter ist stark, unabhängig und eine echte Kämpferin. Zumindest zeigt sie sich so der Welt, die ihr bereits so viel Schmerz zugefügt hat. Nachdem sie beinahe jeden Menschen in ihrem Leben verloren hat, hält sie alle auf Abstand. Die einzige Person, die sie noch an sich heranlässt, ist ihre jüngere Cousine Lilly, die sie wie eine kleine Schwester beschützt. Als sie eines Abends auf deren Bitte hin in einem Club landen, trifft sie dort auf den humorvollen Danny. Der gutaussehende DJ bringt Livs Schutzmauern durch seine ehrliche und unkomplizierte Art langsam zum Einsturz und sie wagt es, die Gefühle für ihn zuzulassen. Schon bald muss Danny sich aber nicht nur zwischen Liv und seinem Erfolg entscheiden, sondern sich auch mit seiner düsteren Vergangenheit auseinandersetzen, die ihn einzuholen droht …

Weitere Titel dieser Reihe
Our Beautiful Mistakes (ISBN: 9783987786426)
Our Beautiful Flaws (ISBN: 9783987786457)

Erste Leser:innenstimmen
Berührend, wunderschön und romantisch.
„Ich habe geweint und gelacht und konnte diesen gefühlvollen Second-Chance-Liebesroman nicht mehr zur Seite legen.“
„Eine absolute Herzensempfehlung, wenn ihr auf der Suche nach einer tiefgründigen Liebesgeschichte zum Mitfühlen seid.“
„Emotionale Lovestory, die nicht nur an der Oberfläche kratzt, denn die Gefühle sind förmlich greifbar.“

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 529

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Über dieses E-Book

Liv Winter ist stark, unabhängig und eine echte Kämpferin. Zumindest zeigt sie sich so der Welt, die ihr bereits so viel Schmerz zugefügt hat. Nachdem sie beinahe jeden Menschen in ihrem Leben verloren hat, hält sie alle auf Abstand. Die einzige Person, die sie noch an sich heranlässt, ist ihre jüngere Cousine Lilly, die sie wie eine kleine Schwester beschützt. Als sie eines Abends auf deren Bitte hin in einem Club landen, trifft sie dort auf den humorvollen Danny. Der gutaussehende DJ bringt Livs Schutzmauern durch seine ehrliche und unkomplizierte Art langsam zum Einsturz und sie wagt es, die Gefühle für ihn zuzulassen. Schon bald muss Danny sich aber nicht nur zwischen Liv und seinem Erfolg entscheiden, sondern sich auch mit seiner düsteren Vergangenheit auseinandersetzen, die ihn einzuholen droht …

Impressum

Überarbeitete Neuausgabe Mai 2024

Copyright © 2025 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98778-652-5 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98998-065-5

Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de)

Copyright © 2022, Forever Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2022 bei Forever erschienenen Titels Broken Like Us (ISBN: 978-3-94747-801-9).

Covergestaltung: Grit Bomhauer unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Evgeny Karandaev, © Teresa Otto, © Maxagar, © Myronovych Lektorat: Nicola Kammer

E-Book-Version 18.02.2025, 09:38:16.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Our Beautiful Scars

Triggerwarnung

Liebe Leserin, lieber Leser,

dieser Roman zelebriert die Liebe und das Kämpfen. Doch es werden Themen behandelt, die Betroffene triggern könnten. Diese sind: Selbstverletzung, Drogenmissbrauch, sexuelle Gewalt, Gaslighting / psychische Gewalt.

Wenn du selbst betroffen bist, bitte höre nicht auf, an dich selbst zu glauben, und mach dir bewusst, dass es keine Schande ist, dir Hilfe zu suchen. Du bist stärker als deine Vergangenheit.

Deine Yvonne

Für Niklas. Den besten Freund und Trauzeugen, den sich ein Mädchen nur wünschen kann.

Für Nils. Den Seelenverwandten, der mich so viel über das Leben gelehrt hat.

Mama und Daddy: Euch gebührt ein verdammter Schrein.

Playlist

Nightmare – Halsey

Watch Me Rise – Mikky Ekko

Last Resort – Papa Roach

Thunder (Radio Mix) – W&W

I Don’t Care – Ed Sheeran feat. Justin Bieber

Blush – Brieanna James

Ordinary – Train

The Cure – Lady Gaga

Iris – The Goo Goo Dolls

Broken Home – Papa Roach

The Phoenix – Fall Out Boy

The Monster – Eminem feat. Rihanna

Hall of Fame – The Script feat. will.i.am

Bonus Tracks:

One – Metallica

Somewhere I Belong (Live in Texas) – Linkin Park

The Time of My Life – Bill Medley & Jennifer Warnes

1 Wenn Happy Ends enden

Danny

Scheidung.

Das Wort kreiste über meinem Kopf wie ein Schwarm Krähen über einem Schlachtfeld. Meine beste Freundin hatte es noch nicht ausgesprochen, aber das hatte meine Mutter damals auch nicht.

Meine Mutter hatte einfach still und heimlich unser Leben zerstört – oder war es mein Vater gewesen? Wer trug mehr Schuld? Der, der Fehler beging, oder der, der sie geschehen ließ? Der, der die Welt zerstörte, oder der, der nicht um sie kämpfte?

Ich schätzte, am Ende war sich jeder selbst der Nächste, und da war Blut auch nicht dicker als Wasser. Jedenfalls in der Vorstellung meiner Eltern, selbst in der meines großen Bruders.

Aber nicht in meiner Vorstellung.

Und deswegen schwebte mein Daumen über der Wahltaste auf meinem Handy, obwohl ich nichts weniger wollte als diese Nummer zu wählen. Ich hasste telefonieren, und ich war nicht sonderlich scharf auf die Stimme der Person am anderen Ende. Ein Teil von mir wollte streng genommen nicht einmal aufhalten, was sich da vielleicht gerade anbahnte.

Aber der größere Teil von mir konnte nicht tatenlos zusehen. Ich hatte es versprochen, hatte es eidesstattlich bezeugt. Und hier ging es nicht um mich. Hier ging es um jemanden, der mir viel mehr bedeutete als ich mir selbst.

Hier ging es um Nicole. Meine beste Freundin.

Ich atmete tief ein und hielt mir das Handy ans Ohr. In meinem Kopf verwandelte sich das monotone Tuten in einen Countdown zum Beat, den ich im Geiste darunter mischte. Dann versteifte ich mich.

„Hauck Cosmetics, Sie sprechen mit Raphael Thomas.“

Er klang skeptisch. Klänge ich auch, wenn mich jemand an einem Freitagabend um kurz nach zehn auf meinem Firmenhandy anrufen würde.

„Hier ist Daniel.“ Ich verzichtete darauf, meinen vollen Namen zu nennen, weil außer mir ohnehin kaum jemand in Deutschland diesen Vornamen englisch aussprach. Und weil ich meinen Nachnamen hasste, genau wie den Mann, dem ich ihn zu verdanken hatte. Frank Rothe. Den Mann, den unsere Mutter zu unserem Vater auserkoren und an dessen erbärmliches Leben sie uns gekettet hatte, während sie selbst es nur ein paar Jahre mit ihm ausgehalten hatte. Dann hatte sie uns sitzen gelassen, meinen Bruder und mich, und weil mein Vater keine Bilder von ihr besaß, konnte ich mich nicht einmal mehr an das Gesicht der Frau erinnern, die mich geboren hatte.

Aber das Schlimmste war: Ich konnte es ihr nicht verdenken. Ich konnte meine Mutter nicht hassen, nicht so wie meinen Vater. Aber hier ging es nicht um die beiden, hier ging es nicht einmal um mich. Deswegen trommelte ich ungeduldig mit den Fingern gegen die Kante meines Laptops.

Raphael sagte erwartungsgemäß erst mal – nichts. Es war nicht so, dass wir uns verabscheuten, zumindest nicht mehr in dem Ausmaß wie vor sieben Jahren, als wir uns in einem Club geprügelt hatten. Aber Freunde waren wir auch nicht, selbst wenn wir vor rund eineinhalb Jahren Trauzeugen auf derselben Hochzeit gewesen waren. Er als bester Freund des Bräutigams, ich als bester Freund der Braut.

Ich warf einen kurzen Blick durch den dunklen Hausflur zur Badezimmertür, die immer noch verschlossen war. Nicole brauchte sonst nie so lange im Bad.

„Woher hast du diese Nummer?“, fragte Raphael.

Ich klaubte einen Fussel von der Tagesdecke auf meinem Bett, strich nicht vorhandenen Staub von der Tastatur meines Laptops. „Aus dem Internet“, antwortete ich wahrheitsgemäß.

„Ich bin ziemlich sicher, dass diese Nummer nicht im Internet steht“, entgegnete Raphael. Er war zu intelligent, um ihm etwas vorzumachen, also zuckte ich bloß mit den Schultern und schloss den Browsertab mit einer beiläufigen Tastenkombination.

„Wenn man weiß, wo man suchen muss, findet man alles“, erwiderte ich knapp. Aber hier ging es auch nicht um semi-legal beschaffte Handynummern aus schlecht gesicherten Datenbanken. „Hast du in letzter Zeit mal mit Milias geredet?“

Ein gereiztes Stöhnen. „Ich rede ungefähr jeden Tag mit Milias, du müsstest dich schon ein bisschen konkreter ausdrücken.“

Ich unterdrückte ein Fluchen. Raphael gab sich Mühe, aber ich spürte seine Überheblichkeit durchs Telefon hindurch. Er belächelte mich, weil er vom richtigen Ende der Stadt und vom besseren Ende der Gesellschaft kam. Weil er Abitur und Karriere gemacht hatte, in einer teuren Eigentumswohnung lebte und mit einem italienischen Model zusammen war, während ich mit dreiundzwanzig noch zu Hause wohnte. Er glaubte, er wüsste, wer ich war, glaubte wie die ganze verdammte Welt, mich zu kennen.

Raphael wusste einen Scheiß. Genau wie alle anderen.

Ich war nicht mehr der kaputte Junkie von damals, der seine beste Freundin gebraucht hatte, um halbwegs auf sein verpfuschtes Leben klarzukommen. Ich war erwachsen – sofern man das Anfang zwanzig sein kann –, ich war clean und ich war kurz davor, eine halbe Million Abonnenten auf YouTube zu knacken. Nicht dass mich die Zahl irgendwie zu einem besseren Menschen machte, aber die meisten Plattenfirmen und Clubbesitzer – und erschreckend viele Frauen – fuhren halt auf so was ab.

Nein, ich war nicht mehr der kaputte Typ von damals. Und jetzt würde ich für meine beste Freundin da sein, so wie sie an jedem beschissenen Tag für mich da gewesen war. Denn jetzt brauchte siemich.

Ich glaubte nicht an Märchen und schon gar nicht an Happy Ends. Aber ich würde verdammt noch mal dafür sorgen, dass Nicole ihr Happy Ever After und ihre junge Ehe mit ihrem Traummann behielt. Denn anders als ich glaubte sie an die große Liebe, und sie verdiente alles Glück dieser Welt.

„Wir müssen reden, Raphael.“

Liv

„Du Glückliche! Aaron ist einfach ein Traummann!“, jubelte eine jener mädchenhaften Quietsche-Stimmen, die mir spontanen Brechreiz verursachen konnten und die zu keiner anderen Nagellackfarbe als Pink passten.

Bei dem Gedanken versuchte ich einen kurzen Blick auf meine eigenen Fingernägel zu unterdrücken – und versagte auf ganzer Linie. Mein Kopf tat leider nur selten, was ich ihm befahl. Unzufrieden betrachtete ich also das abgesplitterte Violett, kratzte noch ein bisschen mehr vom Daumennagel und ballte dann die Faust, um die hässlichen Ränder zu verstecken.

Als ich den Treppenabsatz zum Obergeschoss erreichte, in dem unsere Zimmer lagen, quietschte eine zweite Stimme: „Ja, oder? Ich bin so aufgeregt! Das wird das perfekte Happy End unserer Beziehung!“

Jetzt schnaubte ich tatsächlich, jedoch nicht wegen der Tonlage. Ja, Stimmen wie diese waren mein natürlicher Feind, aber nicht diese spezielle Stimme. Denn diese hier gehörte dem einzigen Menschen, der mir noch etwas bedeutete: meiner Cousine Lilly, deren gutmütiges Kichern meine Brust erwärmte, während ihre Worte meine Glieder in Eiswasser tauchten.

Wer hatte eigentlich dieses Märchen vom Happy End in die Welt gesetzt? Ach ja: Märchen. Aufgeschrieben von minnesingenden Romantikern, die entweder noch nie wirklich verliebt gewesen waren oder sadistisch genug, um jungen Mädchen Flausen von der großen Liebe in den Kopf zu setzen. Denn was hatten Träume, Dichter vergangener Zeiten und die große Liebe gemeinsam?

Richtig, sie waren tot.

Und während ich an Lillys halb angelehnter Tür vorbeiging und den Schlüssel zu meinem eigenen Zimmer hervorzog, lagen mir ungefähr ein Dutzend Erwiderungen auf der Zunge. Aber keine davon wollte ich in Lillys Gegenwart aussprechen, denn Lilly war … na ja, Lilly war eine Märchenprinzessin. Die Prinzessin, die ich vor Jahren in mir begraben hatte. Sie war der Inbegriff von Gutmütigkeit, von Sanftmut und Liebe.

Und sie war nicht allein.

„Also, wenn du das anziehst, dann wird es zwar ein Ende, aber nicht unbedingt ein glückliches“, höhnte die andere Stimme, die zu Jessica Schneider gehörte, der selbsternannten Abschlussballkönigin aus Lillys Jahrgangsstufe. Sie selbst nannte sich Queen Bee. Ich nannte sie Queen Bitch. Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit.

Und obwohl ich es besser wusste – wie gesagt, mein Hirn kooperierte nicht so gern – und ich Lillys Nachmittag nicht versauen wollte, blieb ich nun doch stehen und drückte die weiße Kassettentür zu Lillys puderrosa Feenreich auf. Was ich sah, ließ mich kurzzeitig den Kaugummi in meinem Mund vergessen.

„Was ist denn hier los?“

Meine Cousine war nackt.

Na ja. Fast nackt. Sie trug Unterwäsche. Fliederfarbene Spitzenunterwäsche, die mit einem weißen Schleifenband akzentuiert war. Sie sah hübsch aus. Aber Lilly sah immer hübsch aus, mit den vollen rostroten Locken, die ihr fast bis zum Po reichten, und der hellen Haut, die anders als bei den meisten Rothaarigen nicht von Sommersprossen übersät, sondern milchweiß war. Genau wie meine. Bloß, dass sie damit unschuldig und rein aussah, während sich mein Teint meist auf einer Skala zwischen totem Schneewittchen und Frankensteins Braut bewegte.

„Wonach sieht’s denn aus? Wir machen uns schick für die Party gleich! Was du wüsstest, wenn du auch manchmal unter Leute gehen würdest. Aber ich schätze, für beides braucht man Freunde.“

Als hätte meine Erscheinung irgendeinen Einfluss auf die Anzahl meiner Freunde, ließ Jessica einen vielsagenden Blick über mein Outfit wandern, von meinen selbst bemalten Chucks über die zerrissene Jeans und das schwarze Tanktop bis zu dem Dornentattoo, das sich um meinen linken Oberarm wand wie ein Armreif. Ich hatte es selbst entworfen. In doppelter Hinsicht.

Ich ließ Jessicas Beleidigung – die ausgesprochene und alle unausgesprochenen – an mir abprallen und machte mir nicht einmal die Mühe, ihr zu antworten. Obwohl mir durchaus ein halbes Dutzend Erwiderungen auf der Zunge lag, einschließlich der, dass – apropos Freunde – ihr fünf Jahre älterer Exfreund Tobias richtig mies im Bett war. Aber anstatt ihr das unter die Nase zu reiben, begnügte ich mich damit, mich in den Türrahmen zu lehnen, ihr ungerührt in die Augen zu sehen und demonstrativ eine Kaugummiblase platzen zu lassen.

Jessica hielt meinem Blick keine zwei Sekunden lang stand, und ich ließ den meinen befriedigt zu Lilly wandern, die mich fröhlich begrüßte.

„Liviii! Findest du etwa auch, dass ich das heute unmöglich anziehen kann?“

Ich versuchte angesichts der schrecklich verniedlichten Koseform meines Namens keine Miene zu verziehen, während sie mit beiden Händen über ihren halbnackten Körper gestikulierte.

„Das ist Unterwäsche“, teilte ich ihr mit. „Ich würde halt noch was drüberziehen, aber das ist deine Sache.“

Jessica schnaubte, doch ich ignorierte es, weil Lilly fröhlich grinste. Und das war alles, was zählte.

„Danke für den Tipp, Liv, hilfreich und charmant wie immer!“ Sie knickste leicht. Lilly knickste immer, wenn sie sich bedankte. „Aber glaubst du, es würde Aaron gefallen?“

Meine Augenlider fielen halb zu. Daher wehte also der Wind. „Du willst mit Aaron schlafen? Im Club, oder was?!“

„Nein, natürlich nicht im Club“, protestierte Lilly und errötete leicht. Es würde ihr erstes Mal sein. „Aber wir fahren danach bestimmt noch zu ihm.“

„Mit all seinen Kumpels“, stellte ich tonlos fest. Nur über meine Leiche. Aaron war zwar ein netter Kerl und schon seit Februar mit Lilly zusammen – also fast neun Monate. Trotzdem waren meine Augen kaum mehr als Schlitze und meine Stimme ein tonloses Grollen. Wenn es um Lillys Unschuld ging, war ich bereit bis zum Äußersten zu gehen.

Was ich streng genommen auch getan hatte …

Entschlossen schob ich den Gedanken beiseite und schluckte den plötzlichen Kloß im Hals hinunter. Er hinterließ ein furchtbares Kratzen und das Gefühl, gleich zu ersticken. Erst da fiel mir auf, dass ich den Kaugummi mit runtergeschluckt hatte. Ich hustete angewidert.

„Duh, natürlich mit seinen Kumpels!“, nahm Jessica Aarons Verteidigung zum Anlass, mich wieder zu attackieren. „Die meisten Leute feiern ihren Geburtstag wie normale Menschen mit Sozialleben: zusammen mit ihren Freunden.“ Ihre Worte prallten an mir ab wie Gummigeschosse an einem Kampfpanzer.

„Jessi, lass das!“, wisperte Lilly und fragte dann mich: „Warum kommst du nicht mit, Liv?“

Ich schnaubte. Wenn sie gerade versuchte, uns mit diesem Vorschlag zu einem Waffenstillstand zu bewegen, sollte sie beruflich wohl besser nie die diplomatische Laufbahn einschlagen. Aber Lillys Miene war so hoffnungsvoll, dass ich den Blick abwenden musste, um meine Gefühle unter Kontrolle zu halten.

Ich ging nicht auf Partys. Schon gar nicht in diesen Szene-Clubs, denn die Musik war miserabel, die Drinks überteuert, und der Abend endete immer nur damit, dass mein Kopf all meine Abwehrmechanismen überlistete und einen Film abspielte. Immer und immer wieder denselben, so lange, bis ich die Filmrolle einfach zerschnitt. Ich war nämlich auch ziemlich gut darin, meinen Kopf zu überlisten. Leider brauchte ich dafür meistens Unterstützung nicht ganz gesundheitsfördernder Substanzen, und wenn Sandro mich noch mal halb ohnmächtig aus einem Club zerren müsste … Das wollte ich ihm nicht antun. Sandro war der einzige wirkliche Freund, der mir noch geblieben war. Obwohl er gegen dieselben Dämonen kämpfte wie ich – und mindestens genauso oft verlor.

„Nein, danke.“

„Bitttteee!“ Plötzlich kniete Lilly vor mir und streckte mir die Hände entgegen wie Maria Magdalena vor Pontius Pilatus. „Dann kannst du selbst dafür sorgen, dass sich alle Jungs benehmen! Bodyguard Liv zur Stelle!“ Sie salutierte kichernd, so wie ich es ihr seit Jahren vorgemacht hatte, und brachte mich tatsächlich ein wenig zum Lächeln.

Jessica lachte höhnisch. „Weil du sie sonst in stilechter Gothic-Psychobraut-Manier umbringst, oder was?“

Ich lächelte zuckersüß und steif wie Chucky, die Mörderpuppe. „Glaub mir, wenn irgendjemand ihr wehtut, bringe ich ihn nicht nur um. Ich sorge dafür, dass man seine Leiche nicht mehr findet.“

Jessicas Lächeln verblasste zu einer irritierten Grimasse. Ich starrte sie so lange nieder, bis sie sich in die Ausrede flüchtete, eine Freundin abholen zu müssen, ihre Lackhandtasche ergriff und sich mit zwei übertriebenen Wangenküssen von meiner Cousine verabschiedete.

„Treffen um elf, Honey?“

Lilly nickte und Jessica versuchte sich an mir vorbeizudrängeln, aber ich machte ihr nicht einen Zentimeter Platz. Schließlich rempelte sie mich zischend an und floh die Treppe hinunter.

Lilly warf mir einen tadelnden Blick zu, während sie sich nachdenklich ein tannengrünes Kleid vor die Brust hielt. „Du könntest ruhig ein bisschen netter sein.“

„Nett ist auch nur der kleine Bruder von scheiße“, erwiderte ich. Lilly lachte und schüttelte den Kopf, während sie ein violettes Top mit für ihre Verhältnisse ziemlich tiefem Ausschnitt aus dem Schrank zog und dazu einen senfgelben Minirock mit hoher Taille auswählte.

Ich hielt ihr eine Strumpfhose hin. „Es ist eisig draußen.“

Es war ja auch fast November, eine Woche vor Halloween.

Da fiel sie mir unvermittelt um den Hals, halbnackt wie sie war. „Danke, Livi. Für alles!“

Aus Reflex versteifte ich mich. Ich hasste Körperkontakt. Doch bei Lilly kämpfte ich den Reflex nieder und erwiderte ihre Umarmung. Lilly lächelte mich an und ließ sich aufs Bett plumpsen. Ich setzte mich neben sie.

„Es bedeutet mir viel, dass du heute mitkommst. Um ehrlich zu sein, bin ich echt ein bisschen nervös, aber ich bin bereit. Glaube ich jedenfalls.“ Sie verzog das Gesicht. „Es tut nicht weh, oder?“

Ich verdrängte tausend Erinnerungen und zwang ein Lächeln auf mein Gesicht, während ich erneut in ihre schokoladenbraunen Augen sah. Noch etwas, das wir teilten. Milchweiße Haut und schokoladenbraune Augen. Bloß dass Lilly rote Haare hatte wie ihr Vater, und ich fast schwarze wie unsere beiden Mütter.

„Aaron wird dir nicht wehtun“, sagte ich entschlossen. Ich streckte die Hand aus, um ihr eine Strähne hinters Ohr zu streichen.

Sie schlug erleichtert die Augen nieder, riss sie dann sofort wieder auf und rutschte noch näher an mich heran. „Und er kriegt keinen Ärger, oder? Ich meine, ich bin schließlich fast achtzehn und wir sind zusammen und –“

„Keine Sorge, er kriegt keinen Ärger.“, beruhigte ich sie, während meine Gedanken kurz in die Vergangenheit abschweiften. Ich lächelte schmerzlich – und erstarrte jäh, als ich ihren Stiefvater Hagen im Flur stehen und ins Zimmer starren sah. Ins Zimmer auf meine unschuldige Cousine, die in Unterwäsche auf ihrem Bett saß! Wie von einem Feuersturm erfasst sprang ich auf, versperrte ihm das Blickfeld und starrte ihn nieder, während ich den Satz beendete: „Er ist schließlich dein Freund und nicht dein Vormund!“

Ich bohrte meine Augen noch fünf wütende Herzschläge lang in die von Hagen, bis seine Mundwinkel zuckten. Er hob demonstrativ friedfertig die Hände aus den Taschen seiner teuren Chinos, aber mein Gesichtsausdruck blieb kalt wie Stahl, bis er die verzierte Treppe in den zweiten Stock erklommen hatte, in dem sein Arbeitszimmer lag. Dann schlug ich die Tür so heftig zu, dass es beinahe vom Stuck an der Decke rieselte, setzte ein Lächeln auf und drehte mich zu Lilly um.

„Und das kannst du mir glauben. Ich weiß, wovon ich spreche.“

Immerhin war mein letzter Freund mehr als fünf Jahre älter als ich gewesen. Wieder glitten mein Blick und meine Gedanken ab. Vielleicht war eine Party doch keine so schlechte Idee. Hoffentlich war die Musik gut. Wie viel Geld hatte ich noch in meinem Zimmer? Egal, Stefanie würde uns bestimmt etwas leihen.

Stefanie war Lillys Mutter, meine Tante, in deren Haus ich seit fast zwölf Jahren wohnte. Sie war Immobilienmaklerin und hatte zweimal ziemlich gut geerbt, weswegen Geld keine unserer Sorgen war. Und genau wie ihre Tochter war sie ein herzensguter Mensch. Aber als ich vor zwölf Jahren meine Mutter verloren hatte, hatte sie damit ihre Schwester verloren. Und als dann vor sieben Jahren auch noch ihr Ehemann gestorben war, war sie genauso zerbrochen wie ich.

Meine gesamte frühe Jugend lang hatten wir drei uns wie Charlies Engel allein durchgeschlagen und waren damit wirklich glücklich gewesen. Zumindest hatte ich das gedacht. Aber Stefanie hatte sich mit Anfang vierzig noch nicht bereit gefühlt, Beziehungen abzuschwören, und weil sie eine schöne, kluge und recht wohlhabende Frau war, hatte sie auch schnell wieder jemanden gefunden. Ein Dutzend Martins, Thorstens, Stefans und Bernds waren gekommen und gegangen, die ich mal mehr, mal weniger gemocht hatte. Dann hatte sie den attraktiven, schmeichlerischen – und zehn Jahre jüngeren – Architekten Hagen kennengelernt, der mit seinen sechsunddreißig Jahren und dem narzisstischen Blender-Charme eher einem großen Stiefbruder als einem Vater-Schrägstrich-Onkelersatz glich. Aber das war mir scheißegal! Fakt blieb: Er war doppelt so alt wie Lilly und inoffiziell ihr Stiefvater. Und Fakt Nummer zwei: Ich hasste es, wie er sie ansah.

„Ja, ich weiß, dass du mit einem fünf Jahre älteren Gesetzeshüter zusammen warst, aber bitte keine Details! Ich will mein Bild von Polizisten nicht ruinieren“, kicherte Lilly und katapultierte mich aus den düsteren Gedanken mitten in den Vorhof der Hölle. Bevor ich es verhindern konnte, sank ich in mich zusammen. Wie konnte man jemanden so sehr vermissen? Sein Tod war zweieinhalb Jahre her! Länger als wir uns überhaupt gekannt hatten. Und immer noch fühlte sich meine Brust an, als würde meine Lunge jeden Moment kollabieren. Einfach jede Funktion einstellen. Wie seine damals.

Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Der richtige Mensch braucht nur einen Moment, um dein Herz zu berühren. Der falsche Umstand nur eine Sekunde, um dein Herz zu zerfetzen. Aber dein Herz braucht ein ganzes Leben, um wieder zu heilen.

Falls es das überhaupt jemals kann.

Ich holte tief Luft und brauchte zwei Anläufe, um die Gedanken abzuschütteln. Glücklicherweise bemerkte Lilly nichts davon, weil ihr Herz noch nicht ganz gebrochen war. Sie hatte ihren Vater verloren, aber sie war von ihrer Mutter und ihren Freunden aufgefangen und so sehr geliebt worden, dass es in ihrem Leben schlichtweg keinen Platz für Trauer gab.

Sie freute sich noch auf das Leben. Zum Beispiel auf ihr erstes Mal heute Abend, über das sie immer noch redete, als wäre es die Pforte zum Paradies.

„Das wird so toll! Und mit dir an meiner Seite …“, sie hob glücklich die Arme, „fühle ich mich wie Cinderella mit ihrer guten Fee.“

Sie strahlte, aber mein Lächeln fühlte sich hölzern an.

Ich hasste Märchen. Doch Lilly freute sich auf ihr Happy End, denn sie wusste noch nicht, dass ein Ende niemals glücklich war. Ein Ende tat immer weh. Das Einzige, was noch mehr wehtat, war, ein Ende zu überleben. Weitermachen zu müssen, obwohl nichts mehr übrig war, woran man sich festhalten konnte. Obwohl jeder Mensch, der einem etwas bedeutet hatte, tot war.

Es tat scheiße weh.

„Also schön“, gab ich mich geschlagen. „Ich werde mich auf dieser Party blicken lassen. Hoffentlich ist wenigstens die Musik gut!“

Jetzt bekamen Lillys Augen einen völlig neuen Glanz. „Oh mein Gott, ja! Ich sage nur: D.TresqX!“

„Gesundheit.“

Lilly kicherte. „Hallo?! Erde an Livi, hast du die letzten Monate unter einem Stein gewohnt? Sag bloß, du kennst D.TresqX nicht!“

„Wenn das eine neue Szenedroge ist, bringe ich dich um.“

Jetzt brach sie in Lachen aus, zog sich einen flauschigen Pulli über den Kopf und robbte auf ihrem Bett an den Laptop heran, der auf ihrem Kopfkissen thronte wie eine zusammengerollte Katze.

„Nein, das ist der neue Underground-DJ! Jeder in meiner Klasse hört seine Musik, und das Beste ist einfach, dass er von hier kommt! Aus unserer Stadt! Wie cool ist das bitte?“

Als ich sah, dass sie einen Browsertab öffnete, stand ich mit abwehrend erhobenen Händen vom Bett auf. „Ich will jetzt auf keinen Fall irgendwelche Instagram-Bilder sehen!“

Schlimm genug, dass ich durch Sandros neue Freundin ständig unfreiwillig Kontakt damit hatte. Obwohl, so neu war die auch nicht mehr. Eineinhalb Jahre! Zeit war ein seltsames Ding, flog manchmal so schnell und konnte sich doch so endlos dehnen.

Lillys Kichern holte mich zurück in die Gegenwart. „Keine Sorge, ich zeige dir keine Instagram-Bilder. Er hat da nämlich keinen Account“, fügte sie ein wenig bedauernd hinzu. Dann öffnete sie YouTube, tippte vier Buchstaben in die Suchleiste und bekam sofort ein halbes Dutzend Mal den unaussprechlichen Namen mit verschiedenen Zusätzen angezeigt, die alle auf das Wort Remix endeten.

Ich rollte mit den Augen – die mir kurz danach fast herausfielen, als ich die Aufrufzahlen unter dem Video sah, das sie anwählte. Mein mathematisch unterentwickeltes Hirn brauchte einen Moment, um der achtstelligen Zahl einen Namen zu geben.

„Elf Millionen Aufrufe?!“

2 Von Traumprinzen und Luftschlössern

Danny

„Kacke …“, sagte Raphaels Stimme an meinem Ohr, nachdem ich ihm knapp zusammengefasst hatte, was Nicole gesagt hatte – und insbesondere das, was sie nicht gesagt hatte. „Ich stimme dir zu, klingt nicht, als hätte Milias Scheiße gebaut, und das hätte ich ziemlich sicher auch gemerkt. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass sie sich gestritten hätten. Aber was ist dann los? … Was denkst du, Daniel?“

Ich blinzelte, ein wenig aus dem Konzept gebracht von dieser entwaffnend aufrichtigen Frage. Zupfte an meiner Unterlippe, um meine Finger zu beschäftigen, während meine Gedanken Worte wie Puzzlestücke drehten und wendeten in dem Versuch ein Bild zusammenzufügen, dessen Vorlage ich verloren hatte.

Keine Frage, Nicole war immer noch bis über beide Ohren in diesen Sonnyboy verliebt, dessen charismatisches Lächeln und italienische Bräune ihn schon damals zum Schulschwarm gemacht hatten.

Was ich denke? Ich denke, sie realisiert gerade, dass sie im Begriff ist, ihr ganzes Leben mit ihrem allerersten Freund zu verbringen, und fragt sich, was da draußen wohl noch auf sie gewartet hätte. Aber das sprach ich nicht aus, denn Nicoles intimste Zweifel gingen niemanden etwas an. Ich hatte Raphael lediglich angerufen, um mich zu vergewissern, dass Nicole tatsächlich nur ein bisschen durcheinander war, und nicht doch etwas Ernsthaftes ihre Beziehung bedrohte. Und ich erwog gerade aufzulegen, als Raphael fragte: „Aber sie ist nicht schwanger, oder?“

Ich unterdrückte ein Zischen, während ich blind mein Passwort in meinen Laptop tippte, und dachte im Affekt: Nein, weil die zwei im Gegensatz zu euch wissen, wie man verhütet.

Der Satz lag mir auf der Zunge wie brennende Säure, aber ich schluckte ihn hinunter. Weil es wohl kaum ein Kind auf der Welt gab, das so sehr geliebt wurde wie Valerias und Raphaels Sohn. Und weil das unfair gegenüber allen ungeplanten Kindern dieser Welt war, einschließlich des siebenjährigen Mädchens, das nebenan im Kinderzimmer schlief. Ich warf noch einen Blick in den dunklen, stillen Flur, während ich auf dem Laptop mit einer Tastenkombination mein Musikprogramm öffnete, zweimal Tabulator drückte und fünf Mal die Pfeiltaste betätigte. Ein kurzer Kontrollblick bestätigte mir, dass ich auf der richtigen Playlist gelandet war.

„Nein, Nicole ist nicht schwanger“, antwortete ich kühler als beabsichtigt, während ich Enter drückte und mich vorlehnte, um die Fernbedienung vom Sideboard zu angeln und die Lautstärke der Anlage so weit herunterzuregeln, dass Daisy nebenan nicht aufwachen würde. Dann hörte ich den Schlüssel der Badezimmertür, würgte Raphael mit einem knappen „Wir sprechen später weiter“ ab und warf mein Handy aufs Kopfkissen, bevor Nicole in der Tür erschien.

Einen Moment lang sahen wir uns einfach nur an, wie sich Menschen ansehen, die sich schon ihr halbes Leben lang kennen. Dann lächelte sie missglückt und strich sich die hellblonden Strähnen hinter beide Ohren, wischte mit den Fingern unter ihren Augen entlang. „Ich sehe furchtbar aus, oder?“

Ich lächelte zurück. „Nur wie ein Katzenbaby, das drei Tage lang nicht geschlafen hat.“

Jetzt erreichte der Frohsinn wieder ihre Augen und sie lächelte auf diese Weise, die niedliche Grübchen in ihre Wangen malte. Dann musste sie tatsächlich unterdrückt gähnen. „So fühle ich mich auch, um ehrlich zu sein …“ Sie ließ ziellos den Blick schweifen, der fast automatisch zur Decke wanderte, an die mein Projektor einen sanft wabernden Sternenhimmel warf. Das Dunkelblau, Violett und Türkis verwandelten mein winziges Dachzimmer in die unendlichen Weiten der Arktis voller Polarlichter.

„Hat bestimmt überhaupt nichts damit zu tun, dass du zwei Nachtschichten hinter dir hast“, zog ich sie auf.

Nicole kicherte und ich grinste zufrieden, klappte meinen Laptop zu und schob ihn zurück, damit sie sich setzen konnte. Sie ließ sich gegen meine Schulter sinken und ich legte einen Arm um sie, hielt sie einfach nur fest.

Ein paar Atemzüge lang sagten wir gar nichts, blieben stumm und gaben der leisen Musik Raum, die Stille zu füllen.

Schon nach den ersten Takten regte sich Nicole, hob den Blick und sah mich zwischen Unglauben, Rührung und Wehmut an.

„Ist das …?“

Ich lächelte schwach, nickte. Ja, das war sie. Das war ihre Playlist.

Dieser Mix war acht Jahre alt. Der allererste, den ich jemals gemacht hatte, damals, als sie ihren Opa verloren hatte. Slow Rock, R&B und sanfter Electro Soul, abgemischt auf ruhige 80 Beats per Minute. Damals hatte ich die Lieder noch kaum verändert, nur leicht angepasst, um sie auf ein Tempo zu bringen und nahtlos ineinander zu blenden.

Heute veränderte ich fast alles, jedoch ohne die Seele des ursprünglichen Songs zu zerstören. Takt, Tempo, Tonart. Oft wiederholte ich einzelne Teile oder ließ ganze Strophen aus, blendete zwei, drei, vier Songs und verschiedene Tonspuren ineinander.

Mein Vater hatte gesagt, dass sich das keiner anhören wolle.

Meine ersten Abonnenten auf YouTube hatten gesagt, dass sie meine Mixes in Dauerschleife hörten.

Also hatte ich angefangen, mehrstündige Mixes hochzuladen. Mehr Songs, mehr Instrumente, mehr eigene Noten. Immer noch mixte ich Rock mit Elektro, und am liebsten harten Alternative Rock und Nu Metal mit EDM, so unvorstellbar das für die meisten auch klang. Bis sie es hörten.

Aber immer noch war kein Mix so ehrlich wie dieser hier. Weil kein Mix so persönlich war. Weil kein anderer Mix für einen Menschen war, der mir etwas bedeutete.

Genau wie damals lösten die gefühlvollen Gitarren und der sanft-energische Beat ihre verkrampften Muskeln, machten ihren Körper und ihre Seele empfänglich für die Emotionen, die Musik vermitteln konnte. Wiegte sie in den Armen des Takts und baute sie auf, trug sie davon und brachte ganz allmählich das Strahlen zurück auf ihr Gesicht, bis sie genügend Endorphine gesammelt hatte, um aus eigenem Antrieb mit zu wippen.

Nicole kannte jede Note, jeden Beat dieser achtundvierzig Minuten genauso gut wie ich, summte jede Melodie leise mit.

Als sie sah, dass ich sie beobachtete, wie sie im Sitzen auf meiner Bettkante tanzte, stieß sie mich spielerisch an und kicherte. Dann stützte sie sich nach hinten auf die Unterarme und schaute zu den langsam tanzenden Lichtpunkten an meiner Decke. Und wieder saßen wir stumm nebeneinander, lauschten einfach nur der Musik, genossen die Gesellschaft des anderen und hingen unseren Gedanken nach. Eben die Art von Vertrautheit, die man nur mit Geschwistern und besten Freunden hat. Die Art von Vertrautheit, die ich vor gefühlten Ewigkeiten mit meinem großen Bruder gehabt hatte. Mein Bruder, der ein Loch in meine Seele gerissen hatte.

Ich atmete tief durch, um den Gedanken abzuschütteln, und zog aus Gewohnheit mein Handy aus der Hosentasche, um auf die Uhr zu sehen. Mist, schon kurz vor elf?!

Plötzlich rastlos wischte ich die ungelesene Nachricht unserer gemeinsamen Bekannten Vanessa beiseite, die heute im Club Fotos von mir machen wollte, und schaltete das Handy wieder aus, wollte die Zweisamkeit noch einen Moment festhalten. Aber Nicole hatte meine Unruhe längst bemerkt und richtete sich auf. „Du musst los, oder? Oh Gott, Danny, dein erster großer Auftritt, das ist so aufregend! Ich wünschte, ich könnte dabei sein …“

Ich fuhr mir durch die Haare, aber sie fielen mir sofort wieder in die Augen. „Ist kein großes Ding“, sagte ich, während es in Wahrheit ein Riesending war. Das Ace war einer der angesagtesten Clubs der Stadt, und wenn das heute gutging, würde ich vermutlich bis an mein Lebensende in Lennys Schuld stehen. Zugegeben, das stand ich auch so schon, weil er mir einen Job besorgt hatte, obwohl ich keinen Schulabschluss hatte, und weil er mich manchmal auf seiner Couch schlafen ließ, wenn ich mal wieder mit meinem Vater gestritten hatte. Er ließ die halbe Welt auf seiner Couch schlafen. Lenny war einer der guten Samariter, von denen es kaum noch welche gab. Ich wollte ihn nicht enttäuschen.

Mein Bein begann zu wippen. Ich merkte es erst dadurch, dass Nicole ihre Hand auf mein Knie legte, um es zu stoppen. Das hatte sie schon immer getan, und immer noch wärmte diese kleine Geste meine Welt wie meine ganz persönliche Sonne.

Abermals strich ich mir die Haare aus den Augen und sah unsinnigerweise noch mal auf die Uhr. Kurz nach elf. Verdammt! Aber ich konnte Daisy nicht allein in der Wohnung lassen. Sie war sieben!

„Ich muss eh auf Frank warten.“

Wo blieb der eigentlich? Er müsste längst von der Spätschicht zurück sein! Wenn er sich heute ernsthaft absichtlich verspätete und sich in irgendeiner Bar zukippte, damit ich den Gig verpasste, dann …

Ich schnaubte, ohne den Gedanken zu vollenden. Nichts würde dann passieren. Machten wir uns nichts vor, ich war schließlich nicht mein Bruder. Ich würde meinen Vater nicht verprügeln und ich würde ihn auch nicht mehr anschreien. Über das Stadium des Rumbrüllens waren wir längst hinweg.

Nein, nichts würde passieren. Bloß noch mehr Enttäuschungen, noch grimmigeres Schweigen und noch tiefere Schluchten zwischen uns.

Ein kurzer Ausdruck des Bedauerns huschte über Nicoles Züge, als sie den Vornamen meines Vaters von meinen Lippen hörte. Sie fand es schade, dass ich ihn nicht Dad nannte, aber damit hatte ich vor langer Zeit aufgehört. Und „Frank“ war immer noch netter als „der Alte“.

„Ich glaube, ich habe vorhin den Fernseher gehört …“, merkte sie dann an.

Ich stand so schnell auf, dass Nicole zusammenzuckte. „Der hätte sich ja auch mal bemerkbar machen können“, ärgerte ich mich und griff nach meinem Laptop auf dem Bett, um ihn zusammen mit meinen Kopfhörern in meinen Rucksack zu stopfen. Dann ging ich zu meinem Schreibtisch, zog ein halbes Dutzend Stecker aus dem Dock und packte sie auch ein. Man konnte nie genug Kabel dabeihaben.

„Vielleicht wollte er dich nicht stören, weil er dachte, du hättest … eine Frau hier?“

Sie kräuselte niedlich die Nase, aber ich schnaubte trotzdem. „Er weiß, dass du hier bist, und er weiß ganz genau, dass du verheiratet bist.“

Nicole schob die Hände zwischen die Knie, und ich kämpfte kurz mit meinen Gefühlen. Kurz darauf setzte ich mich wieder neben sie, und jetzt war ich es, der ihre Hände in meine nahm und ihr Ruhe einflößte. „Willst du jetzt darüber reden?“, bot ich behutsam an.

Sie schüttelte den Kopf, begann aber trotzdem: „Du denkst bestimmt, ich bin total bescheuert. Und irgendwie ist das ja auch bescheuert! Ich meine, ich bin glücklich. Wirklich! Ich bin nur … Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist …“

„Ich schon.“ Nicole sah mich an wie ein Gläubiger den Papst, halb erwartungsvoll ob der himmlischen Verkündigung, halb furchtsam vor der schrecklichen Offenbarung. Ich holte tief Luft und sagte dann, was ich Raphael vorhin nicht gesagt hatte: „Du bist dreiundzwanzig und seit deinem sechzehnten Lebensjahr mit demselben Typen zusammen. Sieben Jahre, überleg mal, das ist ein Drittel deines Lebens!“ Ich schüttelte kurz den Kopf, immer wieder erstaunt über diese beachtliche Zeitspanne. Sieben Jahre waren Daisys ganzes Leben. Wer schaffte so was denn heute noch? Wer schaffte so was überhaupt? Meine Eltern jedenfalls nicht. Dann fügte ich hinzu: „Und Milias war dein erster Freund. Dein einziger Freund. Ist doch klar, dass du dich irgendwann mal fragst, was da sonst noch so ist. Die meisten testen das alles ja schon durch, bevor sie achtzehn werden.“

Nicole zog ihre süße Stupsnase kraus. „Das ist schlecht, oder?“

„Bist du verrückt?! Das ist beeindruckend! Und das sage ich nicht, weil ich euer Trauzeuge war, sondern weil ich wirklich Respekt davor habe, Nicole. Ich mein’s ernst! Ihr könnt verdammt stolz auf das sein, was ihr zwei habt. Wer kann schon von sich behaupten, die Liebe seines Lebens bereits mit sechzehn gefunden zu haben?“

Nicoles smaragdgrüne Augen füllten sich erneut mit Tränen, als sie an einem gerührten Lächeln scheiterte. „Wenn du das sagst, klingt es so … perfekt!“

Ich lächelte, während sich mein Magen zusammenzog. „Vielleicht ist es das auch.“

„Aber warum ist es dann so … komisch?“

Mein Blick glitt ins Leere, während ich hilflos mit den Schultern zuckte. „Vielleicht ist das Leben wie ein Gemälde. Und wir sind zu oft viel zu nah dran, um das ganze Bild zu sehen. Dann sehen wir jeden Bildfehler, jeden falschen Pinselstrich und verlieren uns in den winzigen Makeln. Aber es fällt schwer, einen Schritt zurückzutreten und das ganze Kunstwerk zu bewundern.“

Nicoles Unterlippe begann zu zittern, als sie sich wieder gegen meine Schulter sinken ließ. Ich legte einen Arm um sie und hielt sie einfach nur fest. Das süßeste Mädchen auf der Welt, das in den letzten Jahren zur schönsten Frau geworden war.

„Du kannst es immer noch, Danny …“

Ich blinzelte, schluckte trocken. „Was?“

„Andere Menschen mit Worten heilen.“

Ich hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Nicole sah mich traurig an. „Egal wie schlecht es dir geht, du rettest immer zuerst andere. Aber wer rettet dich?“

Ich dachte einen Moment über die Frage nach. Fand die Antwort frustrierend und zuckte mit den Schultern.

„Du weißt doch: schwimmen oder ertrinken“, wiederholte ich, was ich in der Entzugsklinik gelernt hatte. Die Klinik, die ihre Mutter bezahlt hatte. Weil Frank es nicht getan hatte.

Nicole lächelte. Ich lächelte auch: „Ich schwimme, wenn du auch schwimmst.“

Als sie verstand, dass ich damit meinte, dass sie für ihre Beziehung kämpfen sollte, wurde ihr Lächeln breiter. Ich stand auf und zog sie von meinem Bett hoch. Ich war kurz davor, zu meinem eigenen Set zu spät zu kommen.

„Soll ich dich nach Hause bringen?“

3 Mein Leben in Stücken

Liv

Die Musik war so schlecht wie befürchtet und die Getränke noch teurer als gedacht. Nur die Tussis waren genauso, wie ich sie mir vorgestellt hatte: laut, fake und halbnackt.

Aber Aaron war anständig und Lilly war glücklich, und das war alles, was zählte. Während meine Cousine zu austauschbarer Charts-Musik herumsprang, ausgelassen mit ihren Freundinnen tanzte und lachend die Arme über den Kopf warf, ließ ich mir von Aarons Kumpels Wodka spendieren. Sie glaubten, sie würden mich abfüllen. Ich wusste, dass ich sie unter den Tisch trinken könnte. Aber ich ließ sie in ihrem Glauben, als wir zum vierten Mal anstießen.

„Leute, ich brauche was zu trinken!“ Jessica hechelte übertrieben und drängte sich so energisch zwischen uns, dass kalter Wodka über mein Handgelenk schwappte. „Huch, sorry!“, säuselte sie halbherzig und fächelte sich mit der offenen Hand Luft zu. Ich rutschte ein Stück von ihr weg, während sich auch Lilly und Aaron zu uns an den Tisch gesellten, wobei er einen Arm um ihren Hals schlang und meine glückliche Cousine zu sich zog. Ich wandte den Blick ab, als sie sich küssten.

Scheinbar war ich nicht die Einzige, die ihre Zärtlichkeiten nicht ertragen konnte: Fast sofort begann Jessica, das Gespräch und die Aufmerksamkeit der Jungs wieder auf sich zu lenken.

Ich rollte mit den Augen und holte mein Handy aus der Jeanstasche. Ich hatte keine neuen Nachrichten. Von wem auch?

Die letzte Nachricht war immer noch von Sandro. Aber ich hatte nicht geantwortet, und er hatte nicht noch mal geschrieben. Warum sollte er auch? Er hatte jetzt Vanessa, die seine Wunden heilte. Aus unerfindlichen Gründen – vielleicht um mich selbst zu quälen – las ich die Nachrichten von vorhin erneut.

Sandro – 22:12 Uhr: Welcher Club?

Sandro – 22:43 Uhr: Liv?

Sandro – 23:06 Uhr: Okay, sag einfach Bescheid, wenn du was brauchst. Ich bin da.

Warum sorgte er sich so sehr um mich? Mitleid oder Schuldgefühl? Ich spürte ein Lächeln in meinen Mundwinkeln, und gleichzeitig einen Dolch zwischen meinen Rippen.

Sandro – 23:09 Uhr: Aber bitte. Mach keinen Scheiß. Ok?

Das Lächeln verblasste. Ich schüttelte den Kopf und schloss die App. Ich hasste es, wenn er diese Worte benutzte, denn in meinen Gedanken hörte ich dabei nicht Sandros Stimme, sondern die seines besten Freundes. Aber ich verschloss mein Herz vor dem schmerzhaften Druck und meine Augen vor der Erinnerung an die Stimme meiner toten großen Liebe.

Als ich die Augen wieder öffnete, sah einer der Jungs mich offen an. Ich glaube, er hieß Timo. Er lächelte aufmunternd, aber ich hob ungerührt eine Augenbraue. „Ist was?!“

Er öffnete den Mund. Blinzelte. Und zog dann erwartungsgemäß den Schwanz ein, indem er eilig wegsah. Ich schnaubte innerlich und schenkte mir nach, während ich mich fragte, wie lange ich das hier wohl noch ertragen musste.

Jessica unterbrach meine Gedanken, indem sie einen Laut ausstieß, der wohl überrascht klingen sollte, sich aber eher nach einem kopflosen Huhn anhörte. „Da ist er!“

Lilly löste sich von Aarons Lippen und reckte den Hals. „D.TresqX?“

Wieder musste ich schnauben. So ein dämlicher Name!

„Nein, Robin!“, ergänzte eine ihrer Freundinnen.

„Robin Breuer! Heute schnappe ich ihn mir!“ Jessica überprüfte ihr Dekolleté. In dem Augenblick steckte Robin Breuer einer anderen Blondine die Zunge in den Hals. Ich grinste in meinen Drink.

Manchmal hatte das Schicksal echt Sinn für Humor.

„Na ja, vielleicht schleppe ich einfach den DJ ab“, schwenkte Jessica achselzuckend um und streckte die Brust raus.

Gute Idee, vielleicht ist er schon taub von dieser eintönigen Musik, dann muss er wenigstens deine Stimme nicht ertragen, konterte eine Stimme in meinem Kopf wie eine automatische Gegensprechanlage – die ich zum Glück stummschalten konnte.

„Etwa den Lauch da oben?“, gluckste einer der Jungs, woraufhin unser aller Augen durch den Raum zur Empore wanderten, wo hinter dem Dunst aus Nebel und Licht ein dürrer Kerl mit Vollarm-Tattoos, Ohrtunneln und Cappy wie ein Wackeldackel im Takt der schrecklichen Musik nickte, zu der der ganze Club abging.

Jessica rollte theatralisch mit den Augen. „Nein. Den da!“

Sie deutete auf die hochgewachsene Gestalt in Hoodie und Black Jeans, die gerade dem Security-Typen einen Rucksack über die Absperrung reichte und sich dann geschmeidig wie ein Skater über das Geländer schwang. Er hatte knallrote Sneaker an, aber der Rest seiner Gestalt wurde von dunklen Klamotten und dem dunstigen Zwielicht geschluckt.

„Oh Gott, ist er das???“ Lillys Stimme klang atemlos, während sie sich vorlehnte, um unter den tanzenden Scheinwerferlichtern hindurchspähen zu können. Ihre Finger gruben sich vor Aufregung so tief in Aarons Oberarm, dass der eine Grimasse schnitt. Aber er gab keinen Laut von sich. Braver Junge.

Timo sah auf die Uhr. „Kurz vor zwölf, das muss er wohl sein.“

„Jetzt bin ich gespannt“, kommentierte der andere.

„Tausche austauschbare Musik durch austauschbare Musik – und finde den Fehler“, entgegnete ich. Die Tatsache, dass mich jetzt ausnahmslos alle anstarrten, als wäre ich vom Mond, brachte mich kurz aus dem Konzept. Nur sehr kurz, bevor ich meine Fassung wiederfand und betont gelangweilt mit den Schultern zuckte. „Scheint jedenfalls, als hätte der auch schon seine Blondine dabei“, überspielte ich meine Unsicherheit, indem ich nach der erstbesten Waffe griff, die ich finden konnte, um Jessica einen Stich zu versetzen.

Ich nickte zu der Empore hinter Dunst und Diskolicht, wo die hübsche junge Frau eindeutig um den neuen DJ herumschwirrte. Sie trug ein schulterfreies Top, enganliegende Jeans und hochhackige Stiefel, in denen sie fast mit ihm auf Augenhöhe war. Kurz musste ich an Sandros neue Freundin Vanessa denken, und augenblicklich kämpften Herzensfreude und Missgunst in meiner Brust. Ich freute mich für ihn, das tat ich wirklich. Aber warum durfte er glücklich sein und ich nicht?

Dann fadete der Song in einen sphärischen Hintergrundklang, der die Luft geradezu elektrisch aufzuladen schien. Ein Mikrofon übersteuerte. Dann:

„Seid ihr gut drauf?“

Ich verdrehte die Augen, während der Club kollektiv zu jubeln begann, einschließlich Lilly und ihrer Freundinnen, die aufgeregt auf der Stelle hüpften. Der Clubbesitzer – oder wer auch immer der kahlköpfige Typ im schwarzen Hemd war – grinste zufrieden.

„Habt ihr Bock?“

Wieder wollte ich mir die Ohren zuhalten, weil die Menge so laut bejahte. Vermutlich würden sie gerade auf jede Frage so reagieren. Es war immerhin Freitagnacht und die Leute wollten einfach nur Party machen.

Also hör auf zu quatschen und mach einfach die Musik wieder an!

„Wollt ihr Die – Tress – Kecks???“

Ich brauchte einen Moment, um die Laute zu sortieren und den bescheuerten Namen zu erkennen. D.TresqX.

Der Club rastete förmlich aus. Der Clubbesitzer hielt das Mikrofon in Richtung des DJs. Ich würde mich erschießen, wenn der jetzt noch eine beschissene Ansprache hielt wie jeder Möchtegern-Rockstar.

Aber D.TresqX tat es nicht. Er nahm nicht einmal das Mikrofon entgegen. Er hob einfach nur einen Arm, wie um einen guten Kumpel von Weitem zu grüßen. Unwillkürlich warf ich einen Blick über die Schulter, aber da war niemand, der zurückgrüßte.

Mir fiel auf, dass es still geworden war. Die sphärische Musik, die die Ansprache des Clubbesitzers untermalt hatte, war weg. Ich spürte die Anspannung der Leute in der Brust und den Blick des DJs geradezu auf der Haut.

Stille.

Dann dröhnte eine Songzeile aus den Lautsprechern, so energisch, so wütend … und so vertraut, dass mir die Luft wegblieb. Innerhalb eines halben Taktes schoss Hitze durch meinen Körper, erfasste ein unnachgiebiger Beat meine Glieder. Das war kein austauschbarer Song und erst recht kein Charts-Scheiß.

Das war Papa Roach. Das war Last Resort.

Der harte Beat kam in den Vordergrund. Roh, gnadenlos, echt. Und ich starrte fassungslos auf den Club. Auf Lilly. Auf den DJ. Er nickte nicht wie ein Epileptiker auf Speed zu seinen eigenen Songs, sondern ging konzentriert mit dem Takt mit, eine Hand am Laptop, eine an seinem Kopfhörer. Beide Augen fest auf die Menge gerichtet.

Ich sah nicht, dass er uns beobachtete. Ich spürte es. Und vor allem spürte ich, wie sich mein Oberkörper im Beat bewegte. Wie Lilly begeistert herumsprang, wie alle Leute enthusiastisch den Text mitsangen. Vermutlich, ohne überhaupt zu wissen, wovon sie da gerade sangen. Dieser Song war nicht umsonst in vielen Ländern dieser Welt zensiert. Niemand wurde gerne mit den Selbstmordgedanken der Verzweifelten konfrontiert.

Als der Refrain einsetzte, bewegten sich auch meine Lippen. Ich kannte diesen Song auswendig, jedes Wort und jede Note. Und ich spürte instinktiv, dass sich etwas in der vertrauten Musik veränderte. Etwas verschwamm, verschwand und verband sich zu etwas Neuem. Überlagerte den harten Rock-Klang, unterspülte ihn wie eine Welle und türmte sich zu einer dichten, brodelnden Wasserwand auf, die nur darauf wartete, über uns hereinzubrechen. Ich hielt instinktiv die Luft an.

Und als der Beat brach, ließ ich mich von der Sturmflut mitreißen.

Synthetisches Stakkato füllte meine Ohren und wummernder Bass meine Brust. Harte Rocksounds betäubten meine Gedanken und weiche Harmonien streichelten meine Sinne. Und ich tanzte. Ich tanzte, wie ich seit Jahren nicht mehr getanzt hatte. Wild und frei und nur für mich. Genau wie ich damals als Sechsjährige in unserem Wohnzimmer getanzt hatte, als mein Vater entdeckt hatte, dass ich seine Liebe zu Nirvanas Smells Like Teen Spirit teilte.

Hellblau, hellblau, hellblau, he-ellblaa-au.

Mein Vater hatte mich jahrelang mit meiner kindlich modifizierten Wiedergabe von Kurt Cobains Frage „Hello, how low?“ aufgezogen, und es war immer unser Song geblieben. Dann kamen die Scorpions und AC/DC, später Linkin Park und Limp Bizkit, mischten sich mit Papa Roach, Fall Out Boy und Sum 41 zum Soundtrack meiner Seele. Genau wie heute. Genau wie hier. Unsichtbare Schnüre zogen an meinen Armen wie an einer Marionette. Ich schloss die Augen, gab mich ganz der Musik hin und dem Gefühl meines Körpers. Dem Gefühl der Schwerelosigkeit.

Und während sich ein Großteil meiner Lieblingsbands mit diesen schrecklich austauschbaren Top 100 Charts und Electronic Dance Music mischte, als wären sie füreinander gemacht, durchbrach mein Kopf den Schutzwall, den ich wie einen eisernen Vorhang um meine Gedanken gezogen hatte, und schleuderte mich mit hundertachtzig Sachen frontal in den Tanklaster, der mein Leben zerstört hatte.

Achtung, das Stauende befindet sich hinter einer Kurve.

Spoiler-Alarm: Radios geben diese Info nicht durch, um Sendezeit zu füllen.

Ich war nicht dabei gewesen, als meine Eltern den Unfall gehabt hatten. Ich war bei meiner Tante Stefanie gewesen – damals noch Steffi. Ich war immer gerne bei Tante Steffi gewesen, denn ihr Haus war viel größer und gemütlicher als unseres, und sie kaufte mir immer die Gummibärchen mit den Schaumkissen, die ich so liebte. Außerdem war ihr Mann, Onkel Klaus, viel lustiger und größer als mein Papa gewesen und hatte eine eigene Firma gehabt.

Als Kind hatte ich meine Cousine Lilly immer beneidet und mir insgeheim gewünscht, ich wäre auch das Kind von Steffi und Klaus.

Heute verabscheute ich mich für diesen Gedanken.

Sei vorsichtig mit deinen Wünschen. Sie könnten wahr werden.

Aber die Wahrheit war beschissen.

Ich öffnete die Augen.

„Ich brauch nen Drink.“

Ich hätte auch gar nichts sagen können. Himmel, ich hätte gar nicht existieren können: Keiner von Lillys Freunden beachtete mich. Die Mädels wiegten mit den Ärschen und die Jungs warfen die Köpfe vor und zurück, jeder im Takt der Musik, die auf so schrecklich-perfekte Weise Alternative Rock und Electro House verschmolz.

Ich warf einen widerwilligen Blick zu dem DJ. Der Nebel war dichter geworden, aber ich konnte sehen, dass er seinen schwarzen Hoodie ausgezogen hatte. Jetzt trug er ein weites weißes T-Shirt, das im Schwarzlicht fluoreszierte. Eines mit diesen weiten, ungesäumten Ausschnitten, die den Blick auf Schlüsselbein und Brustansatz freigaben. Darunter blitzte kein einziges Tattoo hervor. Schade.

Ich wandte den Blick ab und sah kurz zu Lilly. Sie hatte die Zeit ihres Lebens, einen Arm in die Luft gestreckt, den anderen um Aarons Mitte geschlungen, der sie festhielt wie ein Ritter seine Prinzessin. Nein, Lilly brauchte mich nicht. Niemand brauchte mich.

Ich drängte mich zur nächsten Bar durch, wo ich Tante Stefanies Fünfziger auf den Tresen knallte und eine Flasche Jägermeister und eine Dose Red Bull bestellte. Wenn es wehtun sollte, dann richtig.

Ich wusste, was Sandro sagen würde, wenn er das hier sähe. Was Jay sagen würde. Aber sie waren beide nicht hier, und Jay würde nie wieder irgendwas sagen. Ich schluckte gegen den Kloß in meiner Kehle an und schraubte die Flasche auf.

Es dauerte nicht lange, bis der Alkohol meine übereifrigen Gehirnzellen lähmte und meine Gedanken in eine Decke der Gleichgültigkeit hüllte.

Ich zog mein Handy aus der Tasche, um … warum eigentlich? Ich hatte keine neue Nachricht, und ich würde sicherlich nicht Sandro anrufen. Gedankenverloren öffnete ich den einzigen anderen Favoriten-Kontakt – mit den hundert Sprachnachrichten von mir und keiner einzigen Antwort. Ich wollte mir das seit zwei Jahren nicht mehr aktualisierte Profilbild von uns beiden ansehen, brachte es aber nicht über mich. Also starrte ich mehrere Sekunden lang bloß auf die Uhrzeit, die stumm zurückstarrte.

„Liv?“

Ich reagierte nicht. Dafür zuckte ich umso heftiger zusammen, als mich eine kühle Hand an der Schulter berührte.

„Was zum – Nina?!“ Ich kniff die Augen zusammen, als würde mir das irgendwie dabei helfen, die schwarz gekleidete Gestalt besser zu erkennen, deren kajalgeschwärzte Augen sich nur zwei Handbreit vor meinem Gesicht befanden.

Sie fiel mir um den Hals. Ich versuchte ihren Körper möglichst schnell, aber schonend wieder von meinem zu entfernen. „Heyyy, was machst du denn hier? Also … außer dir die Kante geben“, fügte sie mit einem Seitenblick auf die Flasche neben mir hinzu und ließ dankenswerterweise von mir ab. Ich rollte mit den Augen.

„Und du?“, fragte ich statt einer Antwort.

Sie grinste. „Ich habe ein Date!“

„Ein Date“, wiederholte ich tonlos. „Luzifer oder Loki?“

Sie lachte und stieß mir spielerisch gegen die Schulter, obwohl die Frage nicht wirklich abwegig war. Nina war ein Jahr jünger als ich, aber noch tätowierter, noch dunkler geschminkt und noch schwärzer gekleidet. Auch heute trug sie ein Korsett-Oberteil, das ihr das Dekolleté einer Burlesque-Tänzerin verlieh.

„Nah dran. Ich bin Lenny“, mischte sich ein Kerl von der Seite ein, dem ich um ein Haar eine gescheuert hätte, als er sich ungefragt auf meine Schulter stützte.

Zum Glück sah ich im letzten Moment, wie er Nina ein blutrotes Glas mit Strohhalm hinhielt, und ich riss lediglich meinen Arm unter seinem weg.

„Gin-Cranberry, wohl bekommt’s!“ Er stieß mit ihr an. Ich unterdrückte spontanen Würgereiz. „Du bist Liv, oder?“, plauderte er dann einfach weiter, als wären wir alte Freunde, obwohl ich ihn finster niederstarrte. „Freut mich echt, dich kennenzulernen.“

Mich nicht.

Autokorrektur.

Schön für dich.

Ich verzog das Gesicht. Das wurde nicht besser.

„Aha“, brachte ich endlich hervor. Wow, und ich wunderte mich wirklich, dass mich niemand leiden konnte?

Lenny grinste in sein Glas, wobei ihm blonde Ringellöckchen in die Augen fielen. Er hatte diese Art winziger Löckchen, die man sonst nur von Afrikanern und australischen Surfern kannte und bei denen man das spontane Bedürfnis verspürte, sie lang zu ziehen, um zu sehen, wie lang sie in Wirklichkeit waren.

Nina ertrug die Stille nicht: „Krasse Musik, oder?“

Meine Augen wanderten zu ihr. Sie trat nervös von einem auf den anderen Fuß und stocherte in ihrem Drink.

Lenny lächelte breit. „Ich hab doch gesagt, Dan ist gut!“

Dan, äffte meine innere Gegensprechanlage genervt, eingeflogen direkt aus Großbritannien, so wie dein Gin-Cranberry?

Ich ertränkte den Impuls, die Worte auszusprechen, in einem Schluck Jägermeister.

„Und was machst du so?“, fragte Lenny mich, um das Gespräch am Laufen zu halten und mich einzubinden.

Vergebene Liebesmühe, ich würde nicht antworten. Aber das brauchte ich auch nicht, denn in dem Moment leuchtete sein Handgelenk auf. Er warf einen irritierten Blick auf das Display der Smart Watch und zog dann sein Handy aus der Jeanstasche. Sein Gesicht erhellte sich vor Begeisterung.

„Alter, das funktioniert echt!“

Nina und ich lehnten uns vor. „Was?“, fragte sie, während ich die Brauen zusammenzog. Ich erkannte die Benutzeroberfläche und erstarrte.

„Du hast den Polizeifunk angezapft.“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. „Du weißt, dass das illegal ist?!“

Er zog die Nase kraus und wiegte den Kopf hin und her. „Sagen wir, die Auftragsbeschreibung hat es nicht explizit ausgeschlossen.“

Auftragsbeschreibung? War er ein Anonymous-Hacker, oder was?

Nina beugte sich weiter über das Display. „Krass, fahren die gerade zu einem echten Einsatz?“

„Denke schon!“

Ich spürte den Jägermeister plötzlich wie Säure in meinen Venen, wie Blei in meinem Magen. Mein Blick glitt zur Seite, während mich mein Kopf mit allen Mitteln dazu überreden wollte, einen Tumult anzuzetteln, damit die Polizei stattdessen hierherkam.

Someone please call 911.

Ich hatte mal gehört, dass in der Quantenphysik ein Teilchen durch eine solide Wand gleiten konnte, wenn es nur oft genug dagegen prallte.

Bang my head against the wall until I bleed out.

„Liv?“

Ich hörte meinen Namen wie ein fernes Echo, aber ich war zu tief in dem Sumpf meiner Gedanken versunken, um auszumachen, aus welcher Richtung es kam. Konnte man einen Moment wiederholen, wenn man die Situation nur oft genug herausforderte?

„Was ist mit ihr?“

Ich würde alles dafür geben, einige Momente meines Lebens zu wiederholen. Nur noch ein einziges Mal.

Let me hear you sing this song with us, one last time, c’mon!

„Oh nein, nicht schon wieder“, klagte Nina. „Ich glaub, das hat gerade was bei ihr getriggert. Livi?“

Pull the trigger. Click, click, boom!

„Shit! Was, der Polizei-Einsatz? Hatte sie mal nen Unfall?“

Man down, Man down, ring the alarm, call the police.

„Nein. Ihr Freund war Polizist.”

„Shit. Hat er Schluss gemacht?“

In the end it doesn’t even matter.

„Er ist tot.”

Lenny fluchte ein drittes Mal. Aber ich lächelte matt. Denn da, wo ich gerade war, war er sehr lebendig.

Ich war siebzehn. Und die Welt war halbwegs in Ordnung. Ich hatte tagsüber immer noch Stress mit Steffi, weil ich mich weigerte, für die Abiturfächer zu lernen, in denen ich auf der Kippe stand, und wegen … anderer Dinge, für die ich ihr die Schuld gab. Aber abends in den Clubs und Bars der Stadt hatte ich eine gute Zeit.

So gut, dass mir völlig egal war, dass der kleine Streit von zwei meiner Schulkameraden in eine Massenschlägerei ausgeartet war. Ich war betrunken genug, um bei den ankommenden Polizeisirenen nicht in die kollektive Panik des Clubs mit einzufallen, aber nüchtern genug, um mich gegen den drohenden Hammerschlag an der frischen Luft zu wappnen. Ich steckte mir einen Minzkaugummi in den Mund, der mich halbwegs wach machte, während ich als eine der Letzten den Club verließ.

Und plötzlich stand er vor mir.

Er war jung für einen Polizisten, vielleicht Mitte zwanzig, aber alt genug, dass ich ihn mit meinem verkorksten Männergeschmack anziehend fand, zumal er ein bisschen aussah wie Ryan Gosling in dem Film Drive – und Holla, was er für Muskeln hatte! Ich schob den Gedanken weit von mir und setzte eine unbeeindruckte Miene auf, als er mich ansprach.

„Kann ich deinen Ausweis sehen?“ Es war nicht der typische Befehl von Polizisten, aber eine nette Frage war es auch nicht wirklich.

Ich zuckte mit den Schultern. „Hab ich nicht dabei.“

Lüge.

Seine Augen verengten sich leicht. Sie waren irgendwie gleichzeitig grün, blau und braun, so, wie wenn man in einem verzauberten See unter Wasser taucht. Eine Sekunde lang konnte ich bloß hineinstarren und sah nichts anderes mehr.

Er gluckste wissend. „Wie bist du dann reingekommen?“

Shit. Ich ließ den Blick schweifen – hauptsächlich, um seinen klugen Augen zu entkommen – und schob meinen Kaugummi von links nach rechts, sagte dann: „Ich kenn den Besitzer.“

Lüge.

Es dauerte noch einen wilden Herzschlag, bevor ich mich wieder bereit fühlte, ihn anzusehen. Er hob eine Augenbraue. Sie war dunkelblond, fast waagerecht und überschattete seine aufmerksamen Augen so faszinierend, dass ich das Bedürfnis verspürte, ihn zu zeichnen. Ich zeichnete für mein Leben gern, hatte sogar eine ganz passable Anhängerschaft auf DeviantArt. Aber eigentlich porträtierte ich nie Menschen, sondern fast ausschließlich Manga und Fantasy Fanart. Ich mochte die anmutigen Gesichtszüge von Anime- und Fantasiefiguren, die Unberührbarkeit von Halbdämonen und Engeln, die selbst im Angesicht der brennendsten Abgründe noch aufrecht standen. Und ich liebte die unermessliche Farbpalette, mit der fernöstliche Landschaften und fantastische Darstellungen von Himmelspforten, Höllenschlunden und allen Sphären dazwischen zum Leben erwachen konnten.

„Bist du volljährig?“

Ich blinzelte, kehrte zurück zu seinen Augen. Fing mich wieder. „Offensichtlich?! Das hier ist ein Club und wir haben nach zwölf Uhr“, entgegnete ich, als müsste ich ihn über die Rechtslage aufklären. Dann schob ich sicherheitshalber nach: „Ich bin neunzehn.“

Auch das war eine Lüge. Aber die Leute stellten weniger Fragen, wenn man sich als neunzehn ausgab anstatt achtzehn. Das hatte ich schon vor geraumer Zeit herausgefunden.

Der Polizist sah mich noch einen Augenblick lang forschend an, dann grinste er unverfänglich. „Wie heißt du?“

„Wird das jetzt ein Verhör?“

Kaum ausgesprochen, sah ich tatsächlich, dass er eine Art Mini-Tablet in der Hand hatte. „Nein, aber ich muss trotzdem deine Daten aufnehmen. Vorname, Nachname, Adresse. Ich habe natürlich nichts dagegen, wenn du mir auch deine Handynummer gibst.“

Ich starrte ihn an und spürte ganz deutlich, dass mir heiß wurde. Viel zu heiß. Rotwerd-heiß. Ich wurde nicht rot, niemals. Schon gar nicht wegen eines Polizisten, der aussah wie Ryan Gosling und diesen Spruch vermutlich fünfmal am Tag abspulte!

Endlich schaffte ich es, zu schnauben.

„Liv.“

„Liv“, wiederholte er amüsiert. „Das steht in deinem Ausweis?“

Jetzt schob ich doch den Unterkiefer vor. „Olivia“, gestand ich zerknirscht. „Aber ich hasse den Namen, und ich hasse es noch mehr, wenn jemand ihn bescheuert abkürzt, deswegen sage ich lieber von vornherein, wie ich genannt werden will.“ Ich sah ihm herausfordernd in die Augen. „Ist das ein Problem?“

Seine Augen hielten meine fest. Seine Mundwinkel zuckten. „Nein, das ist cool. Und glaub mir, ich kenn das. Vermutlich sogar besser, als du denkst.“

„Ach ja?“ Ich konnte mich gerade noch daran hindern, zu fragen, wie sein Name war. Aber das musste ich gar nicht, denn er grinste schon wieder.

„Ja. Ich bin Jay.“

Ich hob eine Augenbraue. „Das steht in deinem Ausweis?“, echote ich.

Er lächelte.

Und ich brach in Tränen aus.

4 Blackout

Liv

Ich war so ruckartig wach, als wäre ich gegen eine Wand gelaufen.

Als Erstes meldete sich meine Blase, gleich darauf mein Magen. Er fühlte sich flau an – und leer. Schließlich meldete sich auch mein Schädel und bestrafte mich mit dröhnendem Pochen dafür, dass ich Wodka, Jägermeister und Red Bull mit wer-weiß-was-sonst-noch gemischt hatte. Und dann realisierte ich, dass ich in einem Bett lag.

Ich war nicht mehr auf der Party. Es war nicht mehr Freitagnacht.

Ich suchte nach den Bruchstücken meiner Erinnerung, die ich offenbar in dem Gespräch mit Nina und ihrem neuen Freund verloren hatte. Aber ich fand nur das entfernte Echo von Dröhnen, Nebel und Schmerz. Na toll. Filmriss. Mal wieder.

Hoffentlich hatte Tante Stefanie nichts davon mitbekommen. Hoffentlich ging es Lilly gut. Lilly!