Paris im Aufruhr - Sebastian Smee - E-Book

Paris im Aufruhr E-Book

Sebastian Smee

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Beschreibung

1870/71 ist Paris im Aufruhr. Während auf den Straßen der Hauptstadt die Monarchie ihren Geist aushaucht, die Kommune blutig niedergeschlagen wird und sich eine bürgerliche Regierung etabliert, sitzt die junge Berthe Morisot dem Maler Édouard Manet Modell und findet nach und nach zu ihrem eigenen, unverwechselbaren Malstil. Zusammen mit ihren Familien sind die beiden einige der wenigen impressionistischen Künstler, die während des Schreckensjahres in Paris bleiben. Inmitten von Chaos und Ruin suchen sie nach einer neuen Art der malerischen Wahrnehmung in Opposition zu traditionellen Techniken und Themen. Verband beide eine Liebesbeziehung? Immerhin war Manet verheiratet. Hat Morisot versucht, die unkonventionelle Freundschaft zu retten, indem sie (später) Manets Bruder Eugène heiratete?

Brillant recherchiert, mit scharfem Blick fürs Detail und literarischem Gefühl für Charaktere und Situationen schreibt Sebastian Smee über Künstler, die sich dem Neuen verpflichtet hatten: neuen politischen Kräfteverhältnissen; einer neuen Art zu leben und zu fühlen; und einer neuen Art zu sehen – und zu malen.

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Seitenzahl: 681

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cover

Titel

Sebastian Smee

Paris im Aufruhr

Liebe, Krieg und die Geburt des Impressionismus

Aus dem Englischen von Stephan Gebauer

Mit zahlreichen Abbildungen

Insel Verlag

Impressum

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Titel der Originalausgabe: Paris in Ruins. The Siege, the Commune and the Birth of Impressionism Copyright © Sebastian Smee, 2024First published in the United States of America in 2024 by W. W. Norton

eBook Insel Verlag Berlin 2025

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2025.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2025

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagabbildung: Claude Monet, La Rue Montorgueil, à Paris, Fête du 30 juin 1878 (Ausschnitt), 1878, Musée d’Orsay, Paris, Foto: Photo Josse/Bridgeman Images, Berlin

eISBN 978-3-458-78446-3

www.insel-verlag.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Hinweis des Autors

Prolog. Paris, 7. Oktober 1870

Teil I Der Salon von 1869

Kapitel1

Der Balkon

Kapitel2 Der Salon von 1869

Kapitel3

Die Erschießung Kaiser Maximilians

Kapitel4

Das Atelier in der Rue de la Condamine

Kapitel5 Der Salon von 1870

Teil II

Die Belagerung von Paris

Kapitel6 Ein Krieg wird erklärt

Kapitel7 Corots Traum

Kapitel8 Die Belagerung beginnt

Kapitel9

Warteschlange vor einer Metzgerei

Kapitel10 Die Lichter gehen aus

Kapitel11 Die Belagerung wird aufgehoben

Teil III Die Kommune

Kapitel12 »Die Arbeit ist mein einziger Daseinszweck«

Kapitel13 Courbet in seinem Element

Kapitel14

Musik im Tuileriengarten

Kapitel15 »Paris steht in Flammen«

Teil IV

Die Geburt des Impressionismus

Kapitel16 Eine neue Art zu malen

Kapitel17

Berthe Morisot mit Veilchenstrauß

Kapitel18 Der Impressionismus bricht sich Bahn

Kapitel19 Der Tag der Bastille

Epilog

Dank

Quellenhinweise

Bibliographie

Bildnachweise

Personen- und Werkregister

Tafelteil

Informationen zum Buch

Hinweis des Autors

Dieses Buch handelt davon, wie sich vor dem Hintergrund von zwei militärischen und politischen Katastrophen, die Paris innerhalb eines Jahres trafen, eine Liebesgeschichte zwischen zwei großen Künstlern entspann und die impressionistische Bewegung entstand. Die Geschichte kreist um die Ereignisse von 1870/71, die Victor Hugo als »das schreckliche Jahr« bezeichnet hat: um den Deutsch-Französischen Krieg und die Pariser Kommune. Meine Darstellung beruht auf der Überzeugung, dass wir den Impressionismus nur richtig einordnen können, wenn wir die Auswirkungen dieser turbulenten Zeit auf die führenden Mitglieder der Bewegung verstehen.

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die Erlebnisse von Berthe Morisot und Édouard Manet. Unter all den Malern, die Zeugen der Ereignisse von 1870/71 wurden, hatten nur Manet, Morisot und Edgard Degas das Pech, während des langen Winters der deutschen Belagerung in Paris gefangen zu sein. (Die übrigen Mitglieder der Gruppe, die den Impressionismus begründeten, verbrachten diese Zeit in anderen Landesteilen oder in London.) Bedeutsam ist jedoch nicht nur, dass diese Maler in Paris blieben. Manet und Morisot wurden auch persönlich in die politischen Wirren jener Zeit hineingezogen, was nicht zuletzt daran lag, dass sie enge Beziehungen zu einigen der wichtigsten politischen Akteure unterhielten.

Studenten der Kunstgeschichte wissen, dass Manets Beispiel andere Impressionisten inspirierte: Monet, Renoir, Pissarro, Sisley, Bazille, Morisot und Cézanne schauten sich allesamt etwas von seiner Pinselführung, seiner Behandlung des Lichts und seiner Themenwahl ab. Und sie wurden von seiner einnehmenden Persönlichkeit und seinen politischen Überzeugungen beeinflusst. Manet war ein glühender Anhänger der Republik. Er verabscheute den Autoritarismus und insbesondere das Regime Napoleons III., der sich nach dem Staatsstreich von 1851 zum Kaiser hatte krönen lassen. Manet machte keinen Hehl aus seinen Überzeugungen, und zwar nicht nur als Bürger, sondern auch als Künstler. Die meisten von denen, die Manet bewunderten oder seinem Kreis angehörten, teilten seine politische Einstellung, und jene, die ihn ablehnten, waren auch Gegner der Republik.

Weniger bekannt ist, dass Berthe Morisot eine wichtige Rolle in der Entwicklung des Impressionismus spielte. Liebhaber dieser Stilrichtung wissen, dass Morisot zwischen 1874 und 1886 an sieben der acht impressionistischen Ausstellungen teilnahm und dass sie die einzige Frau war, die von Anfang an einen zentralen Platz in der Bewegung einnahm. Aber Morisot war auch ein Beispiel und in mancher Hinsicht eine Vorreiterin der großen impressionistischen Befreiung.

Manets Freund Charles Baudelaire, ein Prophet der modernen Kunst, hatte die Maler aufgefordert, in ihren Bildern den »Heroismus des modernen Lebens« einzufangen. Aber im »schrecklichen Jahr« änderte sich die Vorstellung vom Heroismus zwangsläufig, und Morisots Reaktion auf die Wirren jener Zeit ist ungemein aufschlussreich. Dass sie Frauen, Mädchen und Innenansichten malte, war nicht (wie oft behauptet wird) einfach darauf zurückzuführen, dass sie sich als Frau nicht so frei in Paris und seiner Umgebung bewegen konnte wie die anderen impressionistischen Maler. Sie entschied sich bewusst für diese Themen. Als sie in der Zeit nach dem »schrecklichen Jahr« künstlerisch reifte, entwickelte sie einen Stil, der eine klare Reaktion auf ihre Erfahrungen in jener Zeit war. Sie malte nicht nur das fließende und flüchtige Licht, sondern auch die grundlegende Fragilität des Lebens an sich, wobei sie sich auf Frauen und Kinder konzentrierte. Einige Merkmale des impressionistischen Stils entwickelte sie weiter als jeder ihrer Zeitgenossen und gelangte so zu einer radikal »unvollständigen« und gebrochenen bildlichen Darstellung. In ihren Bildern tritt das Interesse an dem zutage, was der amerikanische Literaturwissenschaftler Robert D. Richardson als »die Werkstattphase, das Geburtsstadium der Kunst« bezeichnet hat, im Gegensatz zum »Museumsmoment, der Phase der Einbalsamierung«. Es ist unübersehbar, dass sich ihr besonderes Gespür nicht nur für Freude und Anmut, sondern auch für die Vergänglichkeit, die Augenblicken des Übergangs innewohnt, auf Manets Malerei in den siebziger Jahren auswirkte (obwohl die Beziehung zwischen den beiden zu jener Zeit derart eng war und sie ihre Arbeit gegenseitig so aufmerksam beobachteten, dass man unmöglich genau bestimmen kann, wer wen beeinflusste).

Jene Freunde Manets, die sowohl Maler als auch Republikaner waren, hatten eine Vorstellung davon, wie Frankreich ohne ein autokratisches Regime und mit republikanischen Freiheiten aussehen könnte. Sie waren mit Anhängern der Republik verbunden, die verschiedene ideologische Überzeugungen und praktische Reformwünsche hatten, aber besonders am Herzen lag ihnen natürlich die Freiheit der Kunst. Unter anderem wünschten sie sich die Zerschlagung der staatlichen Kunstbürokratie und einen radikalen Umbau des vom Regime Napoleons III. beaufsichtigten Systems von Ausbildung, Patronage und Rezeption (vor allem wollten sie den jährlichen Salon reformieren). Um die Leistungen Manets und der Impressionisten verstehen zu können, müssen wir daher nachzeichnen, wie sich die militärische und gesellschaftliche Katastrophe von 1870/71 auf die politischen Hoffnungen und Überzeugungen dieser Künstler auswirkte.

Die Ereignisse jenes Jahres wirkten auf Manet und Morisot demoralisierend und beängstigend. »Nach der Belagerung bin ich von meinen Mitmenschen und sogar meinen besten Freunden angewidert«, schrieb Morisot Anfang des Jahres 1871. »Selbstsucht, Gleichgültigkeit, Vorurteil – das ist, was man fast überall sieht.« Als in seinem geliebten Paris der Aufstand der Kommunarden ausbrach, reagierte Manet ähnlich desillusioniert. In seinen Augen hatte sich gezeigt, dass die Menschen im Grunde selbstsüchtig handelten. Niemand sei wirklich prinzipientreu und engagiert; es gebe keine »großen Bürger«, keine echten Republikaner, sondern nur machthungrige Menschen, die eine erbärmliche Nostalgie für die nach der Revolution von 1789 errichtete Kommune hegten, die während der Terrorherrschaft zu einem grotesken Zerrbild ihrer eigenen Ideale verkommen sei. Diese Leute hätten die Idee einer wirklichen Republik aufs Spiel gesetzt. Nach der brutalen Niederschlagung der Kommune, die Manet mit Entsetzen verfolgte, war er verzweifelt. »Wie werden wir uns von alldem erholen?«, fragte er sich. Jedermann suche die Schuld bei anderen, aber die Wahrheit sei, dass alle für die Katastrophe verantwortlich seien.

Die Frage Wie werden wir uns von alldem erholen? führte zu einer weiteren: Wie sollen wir als Künstler reagieren?

In diesem Buch versuche ich nachzuzeichnen, wie die politische Klarheit in den Jahren 1870/71 ihre »Unschuld« verlor. Die Ereignisse in dieser Zeit weckten bei allen, die sie miterlebten, ein tiefes Gefühl der Ungewissheit. Das ganze 19. Jahrhundert war für Frankreich eine einzige Übung in politischer Instabilität, aber viele, die das »schreckliche Jahr« erlebten, wurden von einer neuartigen, tiefer gehenden existentiellen Unsicherheit erfasst, und es liegt nahe, in der impressionistischen Konzentration auf das flüchtige Licht, den unablässigen Wandel der Jahreszeiten, Augenblicke des Lebens auf den Straßen und vergängliche Alltagsszenen einen Ausdruck dieses ausgeprägten Bewusstseins von Veränderlichkeit und Sterblichkeit zu sehen.

Eines der auffälligsten Merkmale der impressionistischen Malerei der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts ist die Weigerung, das »schreckliche Jahr« auf die Leinwand zu bringen. Obwohl Manet, Morisot und Degas während der Belagerung in Paris blieben, standen alle drei in dieser Zeit unter zu großem Leidensdruck, um zu Pinseln und Farben zu greifen. Die übrigen Mitglieder der Gruppe hielten sich außerhalb von Paris auf und wollten nicht malen, was sie nicht selbst erlebt hatten. Aber als sie heimkehrten, waren von großen Teilen des Stadtzentrums nur noch ausgebrannte Ruinen übrig. Die Tatsache, dass die Trümmer oder andere Manifestationen der jüngsten Gewaltexzesse in den Bildern der Impressionisten praktisch nicht auftauchten, muss erklärt werden.

Das »schreckliche Jahr« zerstörte den Traum der Impressionisten von einer Republik nicht, aber als es vorüber war, hatten sie allen Grund, sich sowohl vor den Folgen des Radikalismus als auch vor einer reaktionären Gegenbewegung zu fürchten. Sie mussten ihre Überzeugungen jetzt in einen komplexeren Kontext einordnen. Sie hatten die gewaltsame, beängstigende Zerstörung der politischen Sphäre erlebt und wünschten sich etwas Anderes, und dieses Andere wollten sie auch in ihren Bildern darstellen. Sie sahen, wie ihre konventionelleren Zeitgenossen die zerschossenen und ausgebrannten Gebäude auf Gemälden darstellten, die mit moralischen Botschaften befrachtet waren und um die Zustimmung des wiedererstarkten konservativen Establishments buhlten. Hingegen schienen sie selbst die Geschichte zu verneinen. (Manet war wie immer die Ausnahme. Aufgrund seiner journalistischen Neigungen fühlte er sich seit jeher zu einer modernen Historienmalerei hingezogen. Nun unternahm er einige Versuche, sowohl die Belagerung als auch die Kommune zu thematisieren. Aber seine Bemühungen waren auf Lithographien, Radierungen und Aquarelle beschränkt, und er schuf lediglich neue Versionen älterer Bilder. Schließlich gab er diese Versuche auf.)

Nach dem »schrecklichen Jahr« wollten die neuen Maler einschließlich Manets mehr denn je die materielle Welt darstellen, indem sie Farbe und Licht einfingen. Die Orte an der Seine westlich von Paris, die sie malten, waren im Deutsch-Französischen Krieg Schauplätze einiger der schlimmsten Blutbäder gewesen. Doch in ihren Bildern beschworen sie die Heiterkeit dieser Landschaften. Sie hatten vor allem das Prinzip des Wandels verstanden: Alles war unentwegt in Bewegung, stets an der Schwelle zu Zerfall oder Auflösung. Die Impressionisten akzeptierten Sterblichkeit und Komplikation als Teil dieses Prinzips, aber sie wandten sich von der dunklen und undurchschaubaren Vergangenheit ab und zogen es vor, stattdessen eine transparente, friedliche Gegenwart darzustellen. Ihr neuer Stil idealisierte Übergänge und Bedingtheit, versuchte gleichzeitig jedoch, die Trauer zu zerstreuen. Ihr Traum – den sie mit empirischen Fakten zu verknüpfen versuchten – war es, alles »in Licht aufzulösen«, um es mit Ralph Waldo Emerson zu sagen.

Prolog

Paris, 7. Oktober 1870

Léon Gambetta konnte nur mit einem Auge sehen. Das andere hatte er als Kind durch herumfliegende Metallsplitter verloren. (Das Werkzeug eines Arbeiters war zerbrochen, als der Junge gerade vorüberging.) Das beschädigte Auge wurde später durch eine Glaskugel ersetzt. Das Glasauge war kosmetisch gelungen, aber mit nur einem Auge fiel es Gambetta schwer, Entfernungen einzuschätzen. Ursprünglich Rechtsanwalt, war er mittlerweile ein berühmter Politiker, und wenn Fotografen, Maler und Illustratoren Porträts von ihm anfertigten, zeigten sie ihn zumeist im Profil.

Eines dieser Porträts stammt von Nadar, einem Pionier der Fotografie. Nadar war auch Karikaturist und Ballonfahrer und zählte zu den großen Selbstdarstellern des 19. Jahrhunderts. Sein Name war eigentlich Gaspard-Félix Tournachon. (Er hängte gerne zum Scherz die Silbe dar an Worte an, weshalb seine Freunde aus Tournachon Tourna-dar machten, was später zu Nadar verkürzt wurde.) Er hatte einen massigen quadratischen Schädel und dunkle, durchdringend blickende Augen. Dabei war er kurzsichtig. In seinem teigigen Gesicht fielen ein kleines Muttermal auf der linken Wange und ein großes oberhalb des rechten Wangenknochens auf. Wenn er in Erregung geriet, nahm dieses Gesicht beinahe phantastisch expressive Züge an.

Und das geschah oft. Nadar tat alles mit größter Dringlichkeit und vorbehaltloser Überzeugung. Unter anderem hatte er große Pläne für Gambetta, die den Lauf der Geschichte ändern sollten. Am Morgen des 7. Oktober 1870 würde Nadar sie verwirklichen. Aber bevor er das tat, musste er dem Schriftsteller Victor Hugo einen Besuch abstatten, einem weiteren Koloss des öffentlichen Lebens, von dem Nadar ein Porträtfoto gemacht hatte. Hugo war erst kurz zuvor von der Insel Guernsey im Ärmelkanal nach Paris zurückgekehrt. Ein unvorhergesehener Regierungswechsel und ein Augenblick der Gefahr für die Nation hatten ihn nach zwei Jahrzehnten zur eiligen Rückkehr aus dem Exil bewegt. Seine Gegenwart in der Hauptstadt genügte, um den Bürgern von Paris Mut und Entschlossenheit einzuflößen.

Hugo und Nadar kannten sich seit vielen Jahren. Als Nadar fünf Jahre früher die Streitschrift Le droit au vol (Das Recht zu fliegen) geschrieben hatte, um für das Ballonfahren zu werben, hatte er das Manuskript nach Guernsey geschickt. Mit Blick auf die Öffentlichkeitswirkung pries Hugo in seiner großmütigen Antwort Nadars Mut und verglich den Pionier mit Kolumbus und Voltaire. Er sagte voraus, die Luftfahrt werde zu einem »großartigen Wandel« und sogar zu einer »kolossalen friedlichen Revolution« führen.

Doch jetzt, nur fünf Jahre später, war Paris eine belagerte Stadt und stand unter Kriegsrecht. Und Gambettas Ballonflug war ein verzweifelter Versuch, Frankreich vor einer Demütigung zu bewahren.

Nadar kampierte seit einigen Wochen in einem Rundzelt auf der Place Saint-Pierre auf der Butte Montmartre. Von dem Hügel aus konnte man über Dächer und Kamine hinweg ganz Paris überblicken. Hugo, der seit seiner Rückkehr aus dem Exil am Fuß des Hügels von Montmartre im Haus seines Freundes Paul Meurice an der gekrümmten Avenue Frochot wohnte, begrüßte den Fotografen an diesem frischen Oktobermorgen mit gewohnt überschäumender Freundlichkeit. Nadar erwiderte den Gruß ebenso überschwänglich und fragte den Schriftsteller, ob er Briefe zu verschicken habe. Er erwähnte auch, dass die zwei Ballons, die für den Flug vorbereitet wurden, in diesem Augenblick mit Pamphleten des Dichters beladen würden. Wollte Hugo mit hinauf nach Montmarte kommen und den Start verfolgen? Nadar hatte die Ballons eigentlich am Vortag losschicken wollen, aber der Himmel war bedeckt und es war schwierig, die Windrichtung zu bestimmen. Tatsächlich waren die Bedingungen alles andere als ideal – die Ballons waren zweifellos nicht im besten Zustand –, aber zumindest schienen die Windverhältnisse jetzt günstig zu sein.

Der Dichter dankte Nadar herzlich, und die beiden Männer verabschiedeten sich voneinander. Gegen zehn Uhr vormittags machte sich der achtundsechzigjährige Hugo, mit kurzem Haar und buschigem Vollbart, die wilden Augen trotz des hohen Alters unternehmungslustig glänzend, auf den Weg, um den Hügel zu besteigen. Nach einem kurzen Fußweg erreichte er die ausgedehnte Place Saint-Pierre. Ein böiger Wind zerzauste seinen weißen Haarschopf. Hugo hatte ungewöhnlich gute Augen und war bekannt dafür, dass er kleinste Details in großer Entfernung erkennen konnte. Der legendäre Dichter war eine »so gewaltige« kulturelle Figur, »dass er den Rahmen jedes Bildes sprengt«, wie die Autorin Lucy Sante schreibt. Er wollte nicht nur als einer der Architekten der französischen Romantik, sondern als moralisches Gewissen der Nation in Erinnerung bleiben. Aber in den sechziger Jahren nahmen viele Schriftsteller und Künstler der jüngeren Generation eine kritische Haltung gegenüber Hugo ein. Auch der Romancier Émile Zola und der Maler Édouard Manet sahen ihn kritisch. Nach Meinung der beiden Freunde stand der große alte Mann stets kurz davor, »ein großspuriger Schmierfink zu werden, ein schlaffer Ballon, dem die abgestandene Luft veralteter Schwülstigkeit entweicht«, wie Sante es ausdrückt. Andererseits bewunderten sie nicht nur seine außergewöhnlichen literarischen Leistungen, sondern auch seinen unbeugsamen Republikanismus und seinen tapferen Widerstand gegen den Autoritarismus. Er hatte das Angebot ausgeschlagen, nach Frankreich zurückkehren zu dürfen, wenn er auf Kritik an Napoleon III. verzichtete. Für den Dichter und Kritiker Charles Baudelaire war Hugo »großartig, furchtbar, so gewaltig wie ein mythisches Wesen, ein Riese«. In den Augen vieler Pariser war er unantastbar.

Wenn er nicht schrieb, betätigte sich Hugo gerne als Zeichner und Maler. Er behielt diese Aktivität lieber für sich, aber die Bilder, die ihm am besten gefielen, hängte er in seinem Haus auf. Einige verschenkte er an Freunde. Doch als ihn Kunstkritiker drängten, seine Arbeiten auszustellen, lehnte er ab, denn er wollte ausschließlich als Schriftsteller gesehen werden. Die Malerei war eine private Nebenbeschäftigung. Er arbeitete für sich und verwendete alles, was zur Hand war: Tinte, Kohlepulver, zermahlene Theaterschminke, Kaffee und Spritzwasser. Er bearbeitete die Oberfläche mit seinen Fingern, mit Streichhölzern, Schablonen, zerknittertem Stoff oder Schnürsenkeln. Durch und durch Romantiker, hatte er einen Hang zu träumerischen, düsteren Bildern, die teilweise seinem Interesse am Okkulten entsprangen. In seinen Bildern sah man Anklänge der Schwarzen Gemälde aus Francisco de Goyas Spätwerk, die Vorläufer von Odilon Redon und den Surrealisten waren. Hugos produktivste Schaffensperiode als Maler waren die Jahre zwischen der europäischen Revolution von 1848 und seinem Gang ins Exil auf den Kanalinseln im Jahr 1851. Eine düstere Tuschezeichnung aus dem Jahr 1850 zeigt eine von einem erhöhten Punkt aus betrachtete endlose Weite, eine Art von imaginärer, verwaister Stadtlandschaft, in deren Mitte Hugo einen hohen Turm setzte. Eine andere Ansicht, diesmal von Paris, hätte beinahe auf der Butte Montmartre entstehen können, wo Hugo jetzt stand: Sie zeigt von einem erhöhten Blickpunkt aus ein Gewirr von Häusern, das sich in der Ferne verliert und auf halbem Weg von zwei riesigen Gebäuden überschattet wird. Im Vordergrund sieht man, von einer trüben Sonne beleuchtet, Zäune, Befestigungsanlagen und eine Straßengabelung. Diese impressionistische Phantasie mit ihrer düsteren Stimmung lässt an das denken, was der Historiker Henri Focillon später als »Trümmer der Zivilisation« bezeichnen würde.

Der Wind, der jetzt Hugos Haarschopf zerzauste, während er erneut den Blick über Paris wandern ließ, schien vielversprechend. Die Szene war weder imaginär noch gestaltlos. Sie war konkret und greifbar. In der Mitte des Platzes, der tatsächlich ein sandiges Stück Ödland war, zogen zwei riesige Ballons alle Blicke auf sich. Sie sahen aus wie auf dem Kopf stehende Vasen, die von straffen Seilen festgehalten wurden. Der eine, über dessen Oberfläche schimmerndes Licht tanzte, war grauweiß, der andere, dessen Unterseite unter dem blauen Himmel im Schatten lag, war blassgelb wie das trübe Weiß von Hugos Augen. In einer verstreuten Menschenmenge, die aus Soldaten und Zivilisten bestand, erkannte Hugo den einäugigen Gambetta, der sich niedergekniet hatte, um seine pelzgefütterten Stiefel zuzuschnüren. Beim Anblick dieser Szene wurde dem Dichter leicht ums Herz, beinahe kindliche Erregung erfasste ihn. Hier stand etwas bevor, das in die Geschichte eingehen würde – er konnte es riechen. Dies war der Anfang der Befreiung der bedrängten französischen Republik aus der Gefahr – eine Genesis vergleichbar dem nächtlichen Ritt Paul Revers im Unabhängigkeitskrieg der amerikanischen Kolonisten, eine unerwartete Bestätigung, ein Triumph über alle Widrigkeiten.

Während die Minuten verstrichen, gebar sein Verstand Worte, Sätze, Poesie. Er sah, wie sich Gambetta, der halb so alt war wie er, erhob. Sein dunkles, ungekämmtes Haar floss in turbulenten Wellen über seine Schultern. Der stolze Republikaner genuesisch-jüdischer Herkunft war erst zweiunddreißig Jahre alt, aber bereits füllig. Im vertrauten Kreis war er sehr gesellig; der Maler Pierre-Auguste Renoir bezeichnete Gambetta später als den »einfachsten und liebenswürdigsten Mann, dem ich je begegnet bin«. Wenn er entspannt war, wirkte sein Gesicht offen und beinahe schläfrig. Aber wenn er auf einer Bühne stand und von rechtschaffener Erregung erfüllt war, war er dynamisch, aufgebracht, unvergesslich.

Vor den jüngsten Umwälzungen war er ein Stammgast im Café de Londres unweit der Place Vendôme gewesen, wo er gelegentlich Manet traf, der wie er ein leidenschaftlicher Republikaner und ebenfalls mit Nadar befreundet war. (Auf eines seiner frühen Bilder mit spanischen Themen hatte Manet über seine Signatur die Widmung »Für meinen Freund Nadar« gekritzelt.) Als Gambetta begonnen hatte, das Café zu frequentieren, war er ein Angestellter von Manets Cousin Jules de Jouy gewesen, und er traf sich regelmäßig mit Manets Bruder Gustave, den er aus seiner Zeit als Jurist kannte, im Café Procope am linken Seineufer, das einst ein Treffpunkt der Jakobiner gewesen war.

Gambetta genoss Manets Gesellschaft. »Wenige Männer sind so einnehmend wie er«, erklärte Manets Kindheitsfreund Antonin Proust. Die Augen des Malers schienen stets zu zwinkern und hatten einen amüsierten Ausdruck. Seine Wangen waren von einem weichen blonden Bart bedeckt. Es hieß, er sei einer der wenigen Männer, die in der Lage seien, sich ungezwungen mit einer Frau zu unterhalten. Aber als Künstler war Manet für Skandale berüchtigt. Seit fast einem Jahrzehnt reichte er beim jährlichen Salon kühne, bizarr wirkende Bilder ein, löste Kontroversen aus und geriet in Konflikt mit staatlichen Einrichtungen. Er hatte begonnen, eine Gruppe junger Maler um sich zu scharen, die bald eine neue Schule begründen würden. Seine Rolle als führender Kopf dieser Gruppe verdankte er ebenso seiner unwiderstehlichen Persönlichkeit wie seinem Wagemut vor der Leinwand. Hugo hatte zweifellos von ihm gehört, so wie er von seinem engsten Freund Paul Meurice viel über Gambetta gehört hatte. Gambetta und Manet waren beide häufig in Meurices Haus in der Avenue Frochot zu Gast, wo der Maler auch an den Abendgesellschaften von Meurices berühmt-berüchtigter Nachbarin Apollonie Sabatier teilnahm. Sabatier, eine Kurtisane, die sich auch als Modell für Gemälde verdingte, war von 1857 bis 1862 die Muse und Geliebte von Manets engem Freund Baudelaire gewesen. Zu den Gästen ihres Salons zählten Hugo, die Schriftsteller Gustave Flaubert und Edmond de Goncourt (der ihr den Spitznamen »La Présidente« gegeben hatte), der Komponist Hector Berlioz, der Maler Ernest Meissonier und der Bildhauer Auguste Clésinger, für dessen Skulptur der nackten Sabatier, die sich vor Schmerzen infolge eines Schlangenbisses – oder in Ekstase – krümmte, der Körper des Modells direkt mit Gips abgeformt worden war.

Gambetta trug einen dicken Wintermantel, hielt eine Pelzmütze in der Hand und hatte eine Ledertasche auf dem Rücken. Er trat an den graugelben Ballon heran, der zu Ehren eines glühenden Republikaners und Helden der Revolution von 1848, der vor einigen Monaten gestorben war, auf den Namen Armand Barbès getauft worden war. (Barbès war nach einem Aufstand im Jahr 1839 zum Tode verurteilt worden, aber dank Hugos Fürsprache war die Strafe herabgesetzt worden.) Gambetta zwängte sich durch die Takelage in die Gondel, wo bereits sein Sekretär Jacques-Eugène Spuller und der Pilot Platz genommen hatten. Der Pilot, ein junger Mann namens Trichet, nahm Gambetta die Tasche ab und band sie an die Takelage. Die Gondel war zum Bersten gefüllt. Am Boden des Korbs türmten sich 100 Kilo Post. Über der Gondel hing ein Käfig an der Takelage, in dem sechzehn gurrende Tauben saßen. Der Taubenzüchter gab der Besatzung letzte Anweisungen dazu, wann sie die Vögel füttern sollten und wie man die Briefe richtig an den Schwanzfedern befestigte. Als er sich zurückzog, beugte sich Gambetta vor, um den Blick über die Menschenmenge schweifen zu lassen, die sich versammelt hatte, um ihn zu verabschieden. Der Platz hatte sich mit Menschen gefüllt. Ein Teil der Zuschauer hatte in der Hoffnung auf einen besseren Blick Position auf dem angrenzenden steilen Hügel bezogen, über den sich der Solferino-Turm erhob.

Nadar stand ein Stück entfernt neben einem Laternenmast. Hinter ihm sah man die Rundzelte, in denen er und seine Mitarbeiter in den vergangenen Wochen übernachtet hatten. Er war an Spektakel gewöhnt – tatsächlich war es sein Lebenszweck, Spektakel zu inszenieren. Er liebte es, im Mittelpunkt zu stehen. Doch an diesem Morgen machte er einen sorgenvollen Eindruck. Er war der Hauptverantwortliche für das, was geschehen würde. Nadar war nicht nur ein Pionier der Ballonfahrt: Er war auch einer der Ersten gewesen, die das kommerzielle Potential der Fotografie gesehen hatten, die zu jener Zeit noch in den Kinderschuhen steckte. Zwölf Jahre früher hatte er seine Leidenschaften miteinander verbunden und war in einem Dorf am Stadtrand von Paris in einem Fesselballon 80 Meter aufgestiegen, um das erste Luftbild der Welt aufzunehmen. Doch diese Show, dieses Spektakel war etwas ganz anderes. Hier ging es um mehr als die Ballonfahrt, um mehr als die Fotografie, um mehr als seinen persönlichen Ruhm. Nadar hatte das Schicksal Frankreichs in der Hand. Und er fürchtete, dass die Mission schlecht enden würde.

Der zweite Ballon, der weiße, trug den Namen George Sand nach der Schriftstellerin, die ebenso berühmt war wie Hugo und das Vorwort zu Le droit au vol geschrieben hatte. (Nadar verstand es, die Werbetrommel für seine Vorhaben zu rühren.) An Bord der George Sand waren die Amerikaner William Reynolds und George May, zwei Angestellte des Waffenhändlers Schuyler, Hartley & Graham, der gerade einen großen Rüstungsvertrag mit der neuen französischen Regierung geschlossen hatte. Reynolds und May waren froh, das Geschäft unter Dach und Fach gebracht zu haben, aber sie waren weniger glücklich darüber, die Heimreise in einem von Nadars altersschwachen Ballons antreten zu müssen.

Nach seinem Besuch bei Hugo war Nadar versuchsweise in einem Fesselballon aufgestiegen, um sich ein Bild von den Windverhältnissen zu machen. Der Wind war böig, aber die Bedingungen schienen ihm durchaus günstig. Es hing viel davon ab, ob es gelang, Gambetta, die Amerikaner und die Post aus Paris herauszubringen. Dies war der Zeitpunkt, um zu handeln. Nadar vergewisserte sich erneut, ob die Piloten und ihre Passagiere bereit waren, und gab das Signal. Eine Crew von Matrosen löste die Leinen, und die Ballons hoben sich ruckelnd vom Boden. Die Seeleute klammerten sich weiter an die Seile und versuchten, die Fluggeräte zu lenken und zu stabilisieren. Es war wichtig, dass die Ballons möglichst senkrecht aufstiegen. Wenn sie zu früh seitwärts abtrieben, bestand die Gefahr, dass die Gondeln mit den Dächern der an den Platz angrenzenden Häuser kollidierten. Dann wurde die Armand Barbès von Böen erfasst und begann, wie ein Pendel auszuschlagen. Gambetta klammerte sich an den schwankenden Korb. Die Menge schrie »Vive la République!« und »Vive Gambetta!«. Gambetta versuchte, das Gleichgewicht zu finden, und streckte einen Arm zum Gruß aus. Wenige Sekunden später hatten die Ballons eine ausreichende Höhe erreicht, Trichet rief »Lachez tout!«, und die Seeleute am Boden ließen die Leinen los.

Mehrere Minuten lang stiegen die Ballons auf. Doch der Wind drehte und trug sie in nördlicher Richtung, wo eine größere Gefahr als die Hausdächer von Montmartre drohte. Während die Armand Barbès aufstieg und sich sanft in der kühlen Herbstluft drehte, betrachtete Gambetta die Welt zu seinen Füßen. Der Anblick, der sich seinem einen Auge bot, war faszinierend: Etwas Vergleichbares hatte er noch nie gesehen. Er sah Paris in einer vollkommen neuen Perspektive. Die massiven architektonischen Sehenswürdigkeiten, die geradlinigen neuen Boulevards, die herrlichen Anhöhen und bekannten Blicklinien – all das war jetzt auf ein sonderbar flaches, schwer entzifferbares Muster reduziert. Alle vertrauten Texturen – Äste, Dachgiebel, Mansardenfenster – waren bedeutungslos, winzig, trivial. Später berichtete Gambetta über seine Fassungslosigkeit angesichts des »völligen Verschwindens des Pittoresken in der grenzenlosen Weite unter mir«.

Er erkannte die Seine und Notre-Dame auf der Île de la Cité, und dann die Île Saint-Louis. Er sah die langen Linien der von Baron Haussmann angelegten Boulevards, welche die Stadt wie gewagte Schnitte zerteilten. Irgendwo dort unten musste das Café de Londres sein. Er konnte den Bois de Boulogne sehen, der jetzt, nachdem die Bäume für Feuerholz gefällt worden waren, wie ein kahlgeschorener Schädel wirkte. Die Wiesen waren von Tierherden bedeckt, die auf Gambetta wirkten wie Insektenkolonien. Er erkannte auch die Linien der Befestigungsanlagen, die sich jenseits der Vororte rund um die Stadt zogen, ein Ring von Festungen, die ins Auge sprangen. Jenseits der Forts erstreckten sich Wälder und Wiesen. Und dann tauchten die Stellungen der feindlichen Armee auf, die sich rund um die Stadt eingegraben hatte, in einer Linie, die er dort, wo sie nicht erkennbar war, vor seinem inneren Auge zog.

Viele Soldaten dieser Armee, die allesamt deutsch sprachen, schauten zu Gambetta hinauf, während er in seinem zusammengeflickten Ballon über sie hinwegflog. Sie hatten Gewehre, die sehr gefährlich waren für jemanden, der in einem mit Kohlegas gefüllten Ballon über sie hinwegschwebte. Die Befehlshaber dieser Armee, Otto von Bismarck und sein entschlossener Generalstabschef Helmuth von Moltke, hatten den Befehl ausgegeben, die Ballons abzuschießen.

Teil I

Der Salon von 1869

Kapitel1

Der Balkon

Teile von Der Balkon funktionieren nicht. (Das war Manets ewiges Problem.) Aber jene Teile, die funktionieren, sind so frisch, so lebhaft, beinahe durchtrieben, dass sie entwaffnend wirken – entwaffnend wie eine ein wenig beleidigende Andeutung, die, wenn ihr Empfänger in der geeigneten Stimmung ist, fast als charmante Provokation verstanden werden kann. Man betrachtet das Bild und ist nicht sicher, ob Manet überhaupt möchte, dass man es ernst nimmt. Es ist im Wesentlichen farblos: zwei bauschige weiße Kleider und die schwarze Jacke eines Mannes, deren Konturen mit dem pechschwarzen Hintergrund verschwimmen. Daher überrascht es, dass das eigentlich Fesselnde an Der Balkon – das, was jeder Betrachter in Erinnerung behält – die intensive, beinahe funkelnde Wirkung des Grüns ist. Manet malte die geöffneten Fensterläden, die Streben der Balustrade, die Blätter einer Pflanze, ein Halsband und einen geschlossenen Sonnenschirm in verschiedenen graugrünen Tönen. Dort, wo das Grün kühl ist, wird seine minzige Frische durch blaue und lila Flecken hervorgehoben (die Krawatte des Mannes, die Hortensie). Dort, wo es wärmer ist, wird der Schimmer durch blass- oder braungelbe Flächen verstärkt (die Handschuhe der Frau).

Das Bild zeigt drei Erwachsene auf einem Balkon, und im Hintergrund ahnt man eine dritte, jüngere Person, die im Dunkel des Raums jedoch kaum zu sehen ist. Die Anordnung ist sonderbar. Die beiden hervorstechenden stehenden Figuren, die steif und leblos wirken, sehen wir auf einer Ebene, so als stünden wir auf der anderen Straßenseite auf derselben Höhe auf einem Balkon. Die Hände des Mannes – in der linken hält er eine Zigarette – verharren in einer Geste der Überraschung oder des Zögerns, und sein Blick ist über den Kopf der Frau zu seiner Linken hinweg auf einen entfernten Punkt gerichtet. Diese Frau, die Handschuhe trägt und einen Sonnenschirm hält, sieht uns direkt an. Aber ihr Blick ist so wie der des Mannes vollkommen ausdruckslos. Die Gesichtszüge beider Figuren sind kaum ausgearbeitet, kaum mehr als dunkle Linien (Augen, Nasenlöcher, Lippen) auf hellem Grund, und das fast ohne Übergänge.

Die dritte Figur hingegen brennt sich dem Betrachter durch ihre Lebhaftigkeit ins Gedächtnis ein. Ihre dunklen Augen und Augenbrauen und das schimmernde schwarze Haar, das in dichten Locken über ihre Schultern fällt, verleihen ihr eine Art von absoluter Präsenz. Ihr leuchtendes Gesicht lässt alles andere erblassen, zerfallen und verschwinden, so als wäre es sich seiner Substanzlosigkeit, seiner Bedeutungslosigkeit bewusst. Etwas zu ihrer Rechten hat ihre Aufmerksamkeit geweckt. Und während wir kaum einen Gedanken auf die Frage verschwenden, worauf der Blick des hinter ihr stehenden Mannes gerichtet ist, haben wir ein starkes Bedürfnis herauszufinden, was ihre Neugier geweckt hat.

Die Frau ist die Malerin Berthe Morisot.

Berthe saß gerne auf der Terrasse hinter dem Haus ihrer Eltern in Passy, wo sie auf die gusseiserne Balustrade gestützt den Blick über Paris wandern lassen konnte. Das Geländer der Terrasse, die an einem steilen Felsabhang lag, wurde von einem quadratischen Pilaster begrenzt, auf dem eine neoklassische Steinvase stand. (Berthe malte später mehrere Bilder von der Terrasse und dem Panoramablick.) Selbst an einem wolkenlosen Tag wirkte die Stadt von dort aus betrachtet eher wie ein grauer Flickenteppich als wie ein Gitter klarer Linien. Sie war großartig und weitläufig. Aber wie in Manets Bildern schien sie verschwommen und unbestimmt, unvollendet – und das nicht nur physisch.

Die Familie Morisot war wohlhabend und hatte ausgezeichnete Verbindungen, aber im politisch turbulenten Frankreich des 19. Jahrhunderts konnte man sich seines gesellschaftlichen Status nie vollkommen sicher sein. Die Stadt selbst verwandelte sich seit 1853 unentwegt: Napoleon III. hatte den Baron Georges-Eugène Haussmann mit einer umfassenden Neugestaltung von Paris beauftragt, und Haussmann hatte die Hauptstadt in eine gewaltige Baustelle verwandelt. Das Donnern und Klopfen der Abriss- und Bauarbeiten schallte bis in die Hügel oberhalb der Stadt hinauf und war im Haus der Morisots an der Rue Benjamin Franklin zu hören. Die Familie von Berthes Mutter Cornélie besaß seit 1832 mehrere Häuser in Passy, vor allem an der Rue Franklin. Berthes Eltern hatten sich im Jahr 1852 in Passy niedergelassen, das zu jener Zeit noch ein Dorf außerhalb der Stadtgrenzen war. Als Berthes Vater Tiburce Morisot vierzehn Jahre später einen Posten als leitender Berater beim französischen Rechnungshof erhielt, zogen sie aus der Rue Franklin 12 über eine Straßenkreuzung in die Nummer 16 um. Zu dieser Zeit hatte sich Passy nicht zuletzt dank der Anbindung an das Eisenbahnnetz in einen wohlhabenden Vorort verwandelt, wo ein Mann »in einer fast ländlichen Gegend mit frischer Luft das Haus seiner Familie einrichten und zugleich weiter seiner Tätigkeit im Stadtzentrum nachgehen konnte«, wie es ein Historiker ausdrückt. Im Jahr 1860 wurde Passy gemeinsam mit fünfzehn weiteren Vororten eingemeindet, aber der zwischen Versailles im Südwesten und dem Bois de Boulogne im Westen gelegene Ort hatte seinen ländlichen Charakter noch nicht eingebüßt. Abhängig von der Windrichtung trug die Brise manchmal den Gestank der Stadt und den Staub der Bauarbeiten bis Passy, aber normalerweise konnten die Bewohner die angenehmen Düfte der umliegenden Felder und Wälder genießen.

Das große, quadratische und weiß getünchte Haus der Morisots mit dem weiten Blick über die Stadt stand auf dem Hügel von Chaillot. In einem besonders arbeitsaufwändigen Vorhaben von Haussmann war ein Teil des angrenzenden Hügels abgetragen worden, um dort die Place du Roi-de-Rome anzulegen (die heutige Place du Trocadéro). Dieses monumentale Bauvorhaben wurde erst 1869 abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Paris bereits 1,5 Millionen Einwohner – doppelt so viele wie am Ende der Herrschaft des ersten Napoleon im Jahr 1815. Es war die reichste, glamouröseste Stadt in Europa. Seit dem 18. Jahrhundert wurde es auch als »die Stadt des Lichts« bezeichnet, ein Name, den es seiner Vorreiterrolle in der Aufklärung verdankte.

Aber in den vierziger und fünfziger Jahren erhielt der Beiname eine neue Bedeutung, als entlang der Boulevards Laternen aufgestellt wurden und die Stadt nachts im Licht der Gaslampen aufblühte, als wäre sie vom Licht betrunken, wie Charles Baudelaire schrieb. Dank der Gaslampen erwachte die Stadt tatsächlich zu nächtlichem Leben. Bei Sonnenuntergang entzündeten sich automatisch zwanzigtausend an ein unterirdisches Netz von Gasleitungen angeschlossene Laternen, und weitere dreitausend wurden von Lampenanzündern von Hand zum Leuchten gebracht. Die neuen Lampen konnten ein sehr viel größeres Gebiet als in der Vergangenheit beleuchten, und die erhöhte Sicherheit änderte die Vorstellung der Pariser von den Möglichkeiten, die ihnen die Stadt bot. Der Glanz der ohnehin berühmten Unterhaltungskultur der französischen Hauptstadt strahlte noch heller, und betörte Besucher berichteten über die unglaubliche Modernität von Paris. Joachim Schlör sprach von einer »Insel des Lichts« inmitten der Dunkelheit.

Im Jahr nach dem Staatsstreich, der ihn zum Kaiser gemacht hatte, hatte Napoleon III. die Umwandlung des Bois de Boulogne in einen englischen Park mit Seen, Wasserfällen, Hügeln und einem Zoo im Nordteil in Angriff genommen. Anschließend hatte er sich gemeinsam mit Haussmann darangemacht, der alten mittelalterlichen Stadt mit drastischen Eingriffen ein vollkommen neues Gesicht zu geben. »In jedem Viertel«, hieß es in einem zeitgenössischen Reiseführer, »wächst ein verblüffend neues Paris.«

In den Jahren, in denen die Stadt zerstört und neu erbaut wurde, traf sich Haussmann fast täglich mit dem Kaiser. Auf Anweisung der beiden Männer wurden zwanzigtausend Gebäude abgerissen und dreißigtausend neue errichtet. Haussmann hatte Napoleon davon überzeugt, dass sich Paris in einen Brennpunkt des geistigen und künstlerischen Lebens verwandeln musste. Also erhielten neue Theater Vorrang vor Fabriken, die an den Stadtrand verlegt wurden. Dank seiner Operetten, Puppentheater und Cafékonzerte wurde Paris zur Unterhaltungs- und Vergnügungshauptstadt Europas.

In Les Halles, dem sogenannten »Bauch von Paris«, entstand in acht neuen Pavillons ein neuer Markt. Um die am anderen Ende des Verdauungsprozesses anfallenden Abfallprodukte zu bewältigen, entwarf Haussmann ein modernes Abwassernetz, das derart beeindruckend war, dass es zu einer Touristenattraktion wurde. Zudem wurden zwei neue Systeme für die Wasserversorgung errichtet: Eines diente der Trinkwasserversorgung und beförderte Quellwasser aus dem Einzugsgebiet der Vanne durch ein neues Aquädukt zu einem riesigen Reservoir, von dem aus neue Leitungsrohre mit einer Länge von mehreren hundert Kilometern die Stadt mit Wasser versorgten. Ein zweites System für Straßenreinigung sowie Bewässerung von Parks und Gärten brachte Wasser aus der Seine und der Ourse in die Stadt.

Mit beeindruckenden neuen Prachtstraßen, die sich auf einer Gesamtlänge von 65 Kilometern durch Paris zogen, wollte Haussmann die Engpässe im Verkehr beseitigen, die Infrastruktur modernisieren und die anarchischeren Elemente der Stadt eliminieren. Die langen, geraden Boulevards, die von einheitlichen cremefarbenen Häusern und neuen gepflasterten Gehwegen gesäumt wurden, verliehen Paris einen vornehmen, stattlichen Charakter und öffneten seinen Einwohnern den Blick in die Ferne.

Doch das »anarchische Element« – gemeint war die Lebenswirklichkeit der Menschen am unteren Ende der wirtschaftlichen Hierarchie – war hartnäckig. In den Augen von Besuchern mochte Paris eine imposante Stadt sein, doch auch nach fast zwei Jahrzehnten der stabilen Herrschaft zitterte es unter den Spannungen zwischen den Gesellschaftsklassen. Politisch war die Stadt instabiler, als ihren Einwohnern bewusst war. Haussmanns Projekt kurbelte die Wirtschaft an, wovon viele Arbeiter profitierten, aber es stellte auch das Leben vieler Menschen auf den Kopf und zerstörte nachbarschaftliche Beziehungen und alte Gewohnheiten. Viele Menschen, die durch die Umgestaltung verdrängt und benachteiligt wurden, sehnten sich nach der früheren Stadt zurück. Die Atmosphäre im Quartier Latin war mit der Wut von Studenten aufgeladen, die ein unsicheres, instabiles Leben führten. Die Erwerbsarmen sahen sich zur Abwanderung nach Belleville und Montmartre gezwungen, wo die Abneigung gegen Staat, Kirche und Bürgertum Jahr für Jahr wuchs und in Cafés und Versammlungshäusern hinausgeschrien wurde.

Jene, die den Kaiser hassten, seien sie Arbeiter, Dissidenten oder gescheiterte Künstler, verabscheuten die Selbstherrlichkeit der imperialen Ästhetik, die überall zum Ausdruck kam: in der von der Jury des Salons bevorzugten Kunst, in Statuen und öffentlichen Gebäuden und im massiven, mit Ornamenten überladenen Opernhaus von Charles Garnier, dessen Fassade mit großem Trara im Jahr 1867 bei der Weltausstellung enthüllt worden war. Die Opéra Garnier, deren Bau 1862 begonnen hatte und die vom Schriftsteller Louis Veuillot als »in Orgiennächten gezeugter monströser Fötus« bezeichnet wurde, war das Vorzeigemonument des Second Empire. In den Augen der Anhänger der Republik war sie das scheußliche Herzstück und Symbol des korrupten und protzigen Imperiums Napoleons III., das sie ablehnten.

Wenn Berthe Morisot auf der Terrasse des elterlichen Hauses stand, konnte sie die golden schimmernde Kuppel des Invalidendoms und weiter entfernt die kurz zuvor restaurierte Kathedrale von Notre-Dame sehen. Wandte sie sich nach links und richtete den Blick über die im Vorjahr eingeweihte Kirche von Saint-Augustin hinaus, so konnte sie den Bezirk Batignolles am Fuß der Butte Montmartre ausmachen, der etwa eine Stunde zu Fuß entfernt war. Irgendwo dort versammelten sich Édouard Manet und seine Freunde und Anhänger an jedem Freitagabend im Café Guerbois. Das verrauchte Lokal, in dem Billard gespielt und Bier getrunken wurde, war zum Treffpunkt und Nervenzentrum von Manets schillerndem Kreis geworden. Morisot beneidete die jungen Maler und Schriftsteller, die ihre Abende in Gesellschaft Manets im Guerbois verbringen und freimütig und unzensiert über Malerei und ihre republikanische Gesinnung debattieren konnten.

Manet war ein sehr einnehmender Gesellschafter. Der mit ihm befreundete Journalist Théodore Duret beschrieb ihn als Mann von »überschäumender Lebhaftigkeit«, erfüllt von »einer Freude, einer Begeisterung, einer Hoffnung, einer Sehnsucht, Licht auf alles Neue zu werfen, und das machte ihn sehr anziehend«. Und mit seinem dunkelblonden Bart, seiner hohen Stirn und dem zurückgekämmten Haarschopf war er eine imponierende Erscheinung. Er kleidete sich stets elegant, gab sich jedoch gerne zwanglosen Vergnügungen hin und bediente sich einer absichtlich ungehobelten Sprache, so als wolle er (mit bewusster Ironie) gegen die Regeln des Großbürgertums verstoßen, dem er angehörte. Dazu kamen weitere anscheinend widersprüchliche Wesenszüge. Er verteidigte seine Unabhängigkeit erbittert und war gleichzeitig entwaffnend unsicher. Er befleißigte sich urbaner Ironie, war zugleich jedoch ernst und aufrichtig. Hinter der Fassade seines Selbstbewusstseins verbarg sich Verwundbarkeit. Sein Sozialverhalten konnte aufreizend sein: Vieles schien einfach an ihm abzuprallen, als wäre er ein gleichgültiger Mensch. Doch vermutlich war das ein Täuschungsmanöver, und unter der verführerisch komplexen Oberfläche schlummerten Selbstzweifel, Scham und Leidenschaft.

Manet orientierte sich an den Vorstellungen seines engen Freundes Charles Baudelaire und betrachtete sich als einen flâneur, als ironisch distanzierten Beobachter einer Stadt, deren Gemütszustand in stetigem Fluss war, als Enträtseler ihrer verborgenen Beziehungen. Bei seinen Wanderungen machte er regelmäßig Halt im schicken Café Tortoni am Boulevard des Italiens, das für seine samtige Eiscreme berühmt war, und im Café de Suède, wo sich Radikale, Journalisten, Künstler und Schriftsteller trafen. Er wohnte mit seiner niederländischen Frau Suzanne und dem gemeinsamen Sohn Léon in der Rue de Saint-Pétersbourg, unweit des kurz zuvor erweiterten Bahnhofs Saint-Lazare. Die komfortable Wohnung teilte sich die kleine Familie mit Édouards verwitweter Mutter Eugénie-Désirée. Diese war die Tochter eines ehemaligen französischen Konsuls in Schweden und die Patentochter Charles Bernadottes, jenes Generals, Marschalls und Botschafters von Napoleon Bonaparte, der die schwedische Krone angenommen und damit das Herrscherhaus Bernadotte begründet hatte. Eugénies Ehemann Auguste Manet war ein hochrangiger Richter gewesen, der aufgrund einer Syphiliserkrankung im Jahr 1862 stumm und gelähmt gestorben war. Dieselbe Krankheit sollte später auch seinen Sohn quälen. Nach Augustes Tod hatte sich Eugénie langsam in ihre neue Rolle als Witwe gefügt. Édouards Liebe zu ihr ging über die Zuneigung eines Sohnes zu seiner Mutter hinaus, wie Léon später schreiben würde: Es war »wirkliche Besessenheit«. Die Mutter veranstaltete musikalische Soireen, die stets am Donnerstagabend stattfanden. Seit einiger Zeit waren Berthe Morisot und andere Mitglieder ihrer Familie unter den Gästen.

Ein weiterer regelmäßiger Besucher bei diesen wöchentlichen Abendgesellschaften war Manets Freund Edgar Degas. Die beiden Männer hegten Bewunderung füreinander und hatten in jüngster Zeit eine enge Beziehung geknüpft. Vieles verband sie. Degas entstammte ebenfalls einer wohlhabenden Familie. Doch anders als Manet hatte er seine Mutter, die aus einer bekannten kreolischen Familie in Louisiana stammte, früh verloren. Er war erst dreizehn Jahre alt gewesen, als sie starb. So war er umgeben von Männern aufgewachsen. Degas hatte die beste Schule in Paris besucht, aber der begabte Zeichner hatte sich mit anfangs widerwilliger Unterstützung seines Vaters für eine künstlerische Laufbahn entschieden. Von mürrischem Charakter und ironischer Intelligenz, hatte er wenig für oberflächliches Geplauder übrig und verabscheute Heuchelei.

Im Vorjahr, genauer gesagt im Winter 1868, war Degas mit Staffelei und Farben in Manets Wohnung in der Rue de Saint-Petersbourg erschienen, damit Édouard und seine Frau ihm für ein Doppelporträt Modell saßen. Zu jener Zeit wandte sich Degas der Porträtmalerei zu, aber er hatte kein Interesse an Porträts, die den Status und die familiären Verbindungen einer Person zur Schau stellen. Er wollte moderne, psychologisch treffende Bilder malen, in denen er den Charakter der porträtierten Person kühl sezierte. Das Bild des Ehepaars Manets zeigte Édouard, der gelangweilt, frustriert oder verträumt auf einem Sofa faulenzt (sein Gemütszustand ist schwer zu bestimmen), während Suzanne am Klavier sitzt. Etwas an dem Bild störte Édouard. Vielleicht schien ihm die Darstellung seiner Frau wenig schmeichelhaft, vielleicht war das Bild (was quälender gewesen wäre) ein etwas zu unverhohlener Kommentar zu einer Ehe, in der Degas womöglich Lieblosigkeit oder Entfremdung sah. Manet nahm das Bild als Geschenk an. Aber zurück in seinem Atelier, geriet er in unerklärliche Wut, griff zu einem Messer und schnitt die Hälfte von Suzannes Gesicht und Körper ab. Als der erstaunte Degas entdeckte, was sein Freund getan hatte, forderte er das Porträt zurück. Der Zwischenfall hatte zur Folge, dass die Freundschaft zwischen den beiden Männern abkühlte. Eine Weile sprachen sie nicht miteinander. Wie alle Freunde Édouards konnte Berthe Morisot nur vermuten, was seine wütende Reaktion ausgelöst hatte. Aber sie war ein wenig besorgt, dass ihre jüngste Aufnahme in seinen Kreis möglicherweise etwas damit zu tun hatte. Sowohl Manet als auch Degas hatten spielerisch mit ihr geflirtet. Ein wenig Unruhe und Klatsch empfand Morisot als anregend, aber vor offenen Konflikten scheute sie zurück.

Degas konnte bissig sein. Bei Morisot weckte seine unnahbare, unzugängliche Art Bewunderung und Abneigung gleichermaßen. Der Umgang mit Manet war ebenfalls nicht einfach, denn er legte abwechselnd frustrierende Kälte und ein wenig zu große Kühnheit an den Tag. Beide Männer besaßen Tiefe, Talent und einen unübersehbaren Glauben an sich selbst. Und auf sehr unterschiedliche Art hatten sie beide eine Art von Intelligenz, die Morisot nie zuvor bei einem Menschen aufgefallen war. Sie verstand instinktiv, dass sie als Malerin von beiden Männern viel lernen konnte. Und möglicherweise spürte sie (wie beide Männer ahnten), dass auch sie Manet und Degas etwas beibringen konnte.

Im Frühjahr 1869 schien die Wunde, die der Vorfall mit dem zerschnittenen Bild aufgerissen hatte, langsam zu heilen. Cornélie Morisot sah die beiden Maler zusammen und berichtete ihrer Tochter, sie hätten sich anscheinend »zusammengerauft«. (Degas spielte die Affäre später herunter: »Manet kann man unmöglich auf Dauer böse sein«, sagte er.) In jüngster Zeit hatte sich ein reizvoller Kreis gebildet. Eugénie Manets wöchentliche Abendgesellschaften bekamten Konkurrenz, denn Degas’ verwitweter Vater hatte ebenfalls begonnen, in seiner spärlich eingerichteten, aber eleganten Wohnung Soireen mit verschiedenen Musikern zu veranstalten, darunter berühmte Künstler wie der Sänger und Gitarrist Lorenzo Pagans. Und Berthes Mutter richtete ihrerseits Abendgesellschaften in ihrem Haus aus, bei denen die Familien Manet und Degas regelmäßige Gäste waren.

Morisot beneidete ihre neuen Freunde dafür, dass sie sich völlig frei in der Stadt bewegen konnten. Nicht, dass sie im mütterlichen Haus eingesperrt gewesen wäre, aber als unverheiratete weibliche Angehörige des Großbürgertums konnte sie sich an den Orten, die ihre männlichen Freunde besuchten, nicht sehen lassen, ohne sich zu kompromittieren. Daher verbrachte sie viele Abende daheim. Sie saß gerne auf dem Balkon, während in ihrem Rücken die Sonne unterging. Das schwächere Abendlicht strengte ihre Augen weniger an. In letzter Zeit machten ihr die Augen zu schaffen. Es war nicht klar, welcher Art das Gebrechen war, aber es zwang sie, im Haus zu bleiben und die geschlossenen Augenlider mit Umschlägen vor dem Tageslicht zu schützen.

»Meine Augen machen mich zu einer Gefangenen«, schrieb sie an ihre Schwester Edma, die in der Bretagne lebte. »Es ist unerwartet gekommen, und meine Geduld ist sehr begrenzt.«

Draußen blühte der Flieder, bald würden sich die Kastanienknospen öffnen. Vielleicht war eine Pollenallergie die Ursache von Berthes Problem. Oder hatte es mit den Tränen zu tun, die sie über den Verlust Edmas vergossen hatte? Es war noch nicht lange her, dass ihre Schwester weggezogen war, und Berthe trauerte. Aber vielleicht ist es übertrieben, von Trauer zu sprechen. Schließlich war Edma nicht gestorben, sondern hatte einfach geheiratet. Ihr Ehemann Adolphe Pontillon, ein Kapitänleutnant in der Kriegsmarine, war zufällig ein alter Bekannter Manets. Die beiden hatten sich zwanzig Jahre früher angefreundet, als Manet im Bemühen um Aufnahme in die Marineakademie an Bord eines Schulschiffes nach Rio de Janeiro gesegelt war. Mittlerweile war Manet ein berühmt-berüchtigter Maler, während Pontillon immer noch in der Marine diente.

Die Heirat fand am 9. März 1869 im Rathaus von Passy statt. Einer der Trauzeugen war nach Darstellung von Berthe Morisots Biographin Anne Higonnet der Staatsmann Adolphe Thiers, ein Freund von Edmas und Berthes Eltern (da sich sein Name nicht in der Heiratsurkunde findet, nahm er möglicherweise nur als Gast an der Zeremonie teil). Drei Jahrzehnte früher hatte Thiers als Innenminister unter Louis-Philippe I. einen Aufstand der Seidenweber in Lyon niedergeschlagen. Es war die zweite Revolte der Weber innerhalb von drei Jahren gewesen. Sie hatten überall in der Stadt Barrikaden errichtet, Kasernen der Armee sowie ein Arsenal gestürmt und Teile Lyons in befestigte Enklaven verwandelt. Thiers war ein geduldiger Mann und entschloss sich, die Truppen abzuziehen und rund um Lyon zu stationieren. Er befahl der Artillerie, die Stadt zu beschießen, und schickte die Truppen anschließend mit der Anweisung in die Stadt zurück, die von den Aufständischen kontrollierten Viertel der Reihe nach unter Kontrolle zu bringen. Dabei sollte eingesetzt werden, was immer nötig war: Kanonen, Sprengstoff, Gewehre, Bajonette. Die Taktik funktionierte, der Aufstand wurde niedergeschlagen. Aber hunderte Einwohner fielen Massakern zum Opfer – diese Tage der Gewalt gingen als »Blutwoche« in die Geschichte ein.Der Aufstand regte die Phantasie großer Schriftsteller wie Honoré de Balzac, Victor Hugo und George Sand an. (Sand besuchte nicht nur den Prozess gegen die Aufständischen im Jahr 1835, sondern hatte auch eine Affäre mit dem Anwalt Michel de Bourges.) Der Aufstand der Seidenweber wirkte sich auch auf das politische Denken einiger radikaler Theoretiker wie Louis-Auguste Blanqui, Karl Marx und Friedrich Engels aus.

Nachdem Edma Morisot und Adolphe Pontillon einander das Jawort gegeben hatten, reisten sie nach Lorient an der Küste der Bretagne, wo Pontillon stationiert war. Die achtundzwanzigjährige Berthe, die noch unverheiratet war, vermisste ihre Schwester sehr. Die beiden waren zum ersten Mal in ihrem Leben getrennt. Ihre Mutter Cornélie bemerkte, dass Berthe weniger aß und in teilnahmslose Trägheit verfallen war. Die Eröffnung des Salons, in dem Manet seine Arbeit Der Balkon der Öffentlichkeit vorstellen würde, stand kurz bevor. Berthe freute sich darauf, aber der Gedanke, dass Edma nicht an ihrer Seite sein würde, wenn sie durch die Ausstellungssäle schlenderte, war ihr unerträglich. Wann immer sie versuchte, sich den Tag auszumalen, geriet sie in einen Zustand nervöser Erregung und litt unter Magenverstimmung.

Der Salon, der jeden Sommer in den weitläufigen Hallen des zwischen der Seine und den Champs-Élysées gelegenen Palais de l’Industrie stattfand, war eine spektakuläre Ausstellung zeitgenössischer Kunstwerke, die von einer aus ernannten Mitgliedern bestehenden Jury ausgewählt wurden. Der Salon lockte hunderttausende Besucher an. Die Presse verfolgte das Ereignis mit brennendem Interesse. Ein Künstler, dessen Arbeit akzeptiert und an einem vorteilhaften Platz ausgestellt wurde, konnte viel Geld verdienen. In den Pariser Tages- und Wochenzeitungen erschienen Besprechungen und Abbildungen. Über manche Bilder wurde monatelang gesprochen.

Der Salon war eigentlich keine kommerzielle Ausstellung, aber er lenkte die Aufmerksamkeit auf Künstler, die auf der Suche nach Käufern waren. Ein junger Künstler, der von seiner Arbeit leben wollte, brauchte einen Erfolg im Salon, weshalb Maler und Bildhauer sorgfältig planten, welche Arbeiten sie einreichen würden. Wer bereits in zwei oder mehr Salons eine Auszeichnung erhalten hatte, konnte eine Arbeit seiner Wahl ausstellen, ohne sie der Jury zur Bewertung präsentieren zu müssen. Wer noch keine Auszeichnungen erhalten hatte, musste seine Arbeiten einreichen und auf das Wohlwollen der Jury hoffen.

Ein Teil der Jurymitglieder wurde abhängig von der Größe des Gremiums, die sich von Jahr zu Jahr änderte, vom Staat ausgewählt. Die übrigen Mitglieder wurden von einer Gruppe von Künstlern gewählt, die in der Vergangenheit Auszeichnungen erhalten hatten. Das hatte zur Folge, dass die Jury eher konservativ war. Maler, die Aufsehen erregen wollten, indem sie statt mythologischen und biblischen Szenen moderne Motive malten, die etablierten Hierarchien des Genres durcheinanderbrachten oder einfach in einem neuen, unkonventionellen Stil malten, wurden wiederholt abgelehnt.

Angestachelt durch das, was sie über die Kunstwerke lasen und hörten, suchten viele Besucher des Salons nach Ausstellungsobjekten, die sie verspotten konnten. Und Berthe Morisot wusste, dass die Spötter seit fast einem Jahrzehnt meistens bei der neuesten Schöpfung Manets fündig wurden.

Morisot und Manet hatten einander im Jahr 1868 in den Galerien des Louvre kennengelernt. Dies war einer der wenigen öffentlichen Orte, an denen Maler beider Geschlechter einander ungehindert als Gleichgestellte begegnen konnten. Berthe besuchte gemeinsam mit der befreundeten Malerin Rosalie Riesener die große Galerie, in der Rubens’ Medici-Zyklus beheimatet war. Sie kopierte gerade Austausch der beiden Prinzessinnen von Frankreich und Spanien, wobei sie sich vollkommen auf die Figur der Najade im Vordergrund konzentrierte, als sie in ihrem Rücken Schritte und Stimmen hörte. Als sie sich umdrehte, sah sie ein ihr bekanntes Gesicht. Es war Henri Fantin-Latour, ein Maler Anfang dreißig, der für seine raffinierten und harmonischen Blumenbilder bekannt war. Es war fast ein Jahrzehnt her, dass Morisot Fantin-Latour erstmals im Louvre begegnet war. Er hatte vor kurzem ein Ganzkörperporträt seines engen Freundes Édouard Manet fertiggestellt. Bevor sich Edma Morisot mit Pontillon verlobt hatte, war Berthe zu Ohren gekommen, dass Fantin-Latour in ihre Schwester verliebt war. Er war nicht der einzige Verehrer Edmas.

Jetzt stellte Fantin-Latour der jungen Malerin seinen Begleiter Manet vor. Dieser hatte bereits von den Schwestern Morisot gehört und kannte sogar ihre Landschaftsbilder, die er im Salon und in Alfred Cadarts Galerie gesehen hatte. Sie waren erfrischend und einfühlsam, mit Anklängen an Camille Corot, den Doyen der französischen Landschaftsmalerei. Zweifellos hatte Berthe ihrerseits Édouards Bilder gesehen (er war derart berüchtigt, dass sie es kaum hätte vermeiden können), aber es interessierte sie nicht besonders, was andere von seiner Arbeit hielten. In einem Brief an ihre Schwester beschrieb sie die Wirkung, die Manets Bilder auf sie hatten: Diese wirkten wie »eine wilde oder sogar etwas unreife Frucht. Sie missfallen mir keineswegs.«

Nachdem ihr gemeinsamer Freund sie einander vorgestellt hatte, kamen Morisot und Manet ins Gespräch. Sie waren beide im Januar geboren, aber er war neun Jahre älter als sie. Wir wissen nicht, worüber sich die beiden unterhielten. Der Journalist Paul Alexis beschrieb Manet später als einen »von fünf oder sechs Männern der heutigen Pariser Gesellschaft, die noch wissen, wie man mit einer Frau spricht«. (»Die übrigen von uns«, fügte Alexis hinzu, »sind zu verbittert, zu abgelenkt, zu tief in ihren Obsessionen versunken: Mit unserer gezwungenen Galanterie wirken wir wie Bären, die Polka tanzen.«) Morisot ihrerseits verstand sich auf ungezwungene Unterhaltung und verband einen geradlinigen Scharfsinn mit entwaffnender Verwundbarkeit. Ihre Bewegungen strahlten die Sicherheit einer Malerin aus, die daran gewöhnt ist, mit Pinsel und Palette umzugehen und farbverschmierte Kittel zu tragen. Sie bemerkte Manets dunkelblonden Bart, seine hohe Stirn, den zurückgekämmten Haarschopf und den offenen Ausdruck seiner lächelnden Augen. Vielleicht kommentierte einer von beiden den Rubens, vor dem sie standen, oder sie sprachen über Rubens’ gewaltigen Einfluss auf Manets Vorbild Delacroix (der ein enger Freund von Rosalie Rieseners Vater war), oder über das nicht weit entfernt hängende Gemälde Madonna mit dem Kaninchen, ein wunderbares Bild Tizians, das sowohl Rubens im 17. Jahrhundert als auch Manet als Student kopiert hatten. Vielleicht sprachen Berthe und Édouard auch über ein Thema, das nichts mit Kunst zu tun hatte. Fest steht, dass der Raum zwischen ihnen mit einer unerklärlichen Spannung aufgeladen schien, und einige Minuten hatte es den Anschein, als existierten Fantin-Latour und Riesener nicht.

Viele Jahre später versuchte Berthe Morisot zu erklären, in welchem Gemütszustand sie sich in den sechziger Jahren befunden hatte. »Ich wüsste gerne, wie ich dachte, als ich 20 war«, schrieb sie. »Ich glaube, dass ich sehr töricht war, und trotzdem identifizierte ich mich sehr mit Shakespeares Frauen; jedenfalls hegte ich eine wilde Begierde, das Leben zu kosten, was stets attraktiv wirkt.« Daran, wie Manet sie später malte, sieht man deutlich, dass er bei ihr ebendiesen Wunsch sah, das Leben zu »kosten«. Ihre Lebhaftigkeit erhöhte ihre Attraktivität. Manet sah großes Potential in ihrer faszinierenden nervösen Energie: »Ich bin deiner Meinung«, schrieb er kurze Zeit nach der ersten Begegnung mit ihr in einem schelmischen Moment an einen gemeinsamen Freund. »Die Morisot-Schwestern sind charmant. Zu schade, dass sie keine Männer sind. Aber auch als Frauen können sie der Sache der Malerei dienen, indem sie Mitglieder der Akademie heiraten und Zwietracht unter den alten Knaben säen.« Edma war hinreißend, aber Édouard fühlte sich vor allem zu Berthe hingezogen. Mit ihren dunklen Augen – ihm gefiel die Vorstellung, sie könnte spanischer Herkunft sein – und ihren feinen Gesichtszügen sah sie aus, als sei sie aus einem Gemälde Goyas gestiegen. Und kaum war ihm dieser müßige Gedanke durch den Kopf gegangen, da entschloss sich Manet, die Idee mehr oder weniger zu verwirklichen, und er bat Berthe Morisot, ihm für ein Bild Modell zu sitzen, das er als Hommage an Goya malen würde.

Es heißt – und möglicherweise war es tatsächlich so –, dass Manet auf die Idee für Der Balkon kam, als er während eines Familienurlaubs in Boulogne im Jahr 1868 eine Gruppe von Personen sah, die sich auf einem Balkon versammelt hatten. Aber zweifellos dachte er auch an Goyas Majas auf einem Balkon, das zwei attraktive junge Frauen zeigt, die den Betrachter anschauen und sich etwas zuzuflüstern scheinen. Die Frauen in Goyas Bild sind Kurtisanen. Im Hintergrund lauern im Schatten zwei bedrohlich wirkende männliche Gestalten in Umhang und Dreispitz.

Goya war seit vierzig Jahren tot, aber in Paris war er Ende der sechziger Jahre in aller Munde. Zu jener Zeit klang Manets Begeisterung für alles Spanische ab. Ein Jahrzehnt lang hatte er sich intensiv mit den Spaniern Diego Velázquez und Francisco de Goya beschäftigt. Die Schriftsteller und Maler der vorangegangenen Generation – Figuren wie Victor Hugo und Théophile Gautier, Delacroix und Courbet – hatten seine Besessenheit von den Spaniern gefördert. Gautier hatte in seinen vielgelesenen Reiseberichten aus Spanien die Armut in dem Land romantisiert und voller Bewunderung berichtet, in Spanien trage »der erbärmlichste Bettler seine Kutte wie ein römischer Kaiser seinen Purpur«. Diese Vorstellung gefiel Manet. Er hatte sowohl Gautiers Reiseberichte als auch die Kunstkritiken gelesen, in denen sich der ältere Literat als glühender Anhänger Goyas zu erkennen gab. Gautiers Schilderungen des Stierkampfes verschmolzen in Manets Phantasie mit Goyas Gemälden und Radierungen zum selben Thema und inspirierten viele seiner späteren Bilder, darunter Episode aus einem Stierkampf und Mademoiselle V … im Kostüm einer Stierkämpferin. Der Dichter Alfred de Musset hob inspiriert von Goya in einer jugendlichen Beschreibung seiner eigenen – imaginären – Reiseerfahrungen in Spanien den besonderen Reiz der spanischen Frauen hervor. Als de Mussets Geliebte George Sand Delacroix für ein Porträt Modell saß, zeigte ihr der Maler eine Kopie von Goyas Los Caprichos, die Sand augenblicklich in ihren Bann schlug. Und als Sand und de Musset endgültig miteinander brachen, malte sich Sand in ihrer Phantasie aus, wie sie sich in eine von Goyas Frauen verwandeln würde, um ihren Geliebten zurückzugewinnen.

Delacroix und andere Maler der Romantik wurden nicht nur von Goyas Technik inspiriert. Sie waren auch von der politischen Dimension seiner Arbeiten hingerissen und wollten Goyas explizite, oft bittere Anprangerung von Unrecht und mörderischer Raserei auf ihre Darstellung der französischen Gesellschaft anwenden. Besonders fasziniert waren sie von der Vorstellung, dass Goya nicht einfach ein distanzierter Beobachter gewesen war, sondern aktiv am von ihm dargestellten Geschehen teilgenommen hatte.

Manets Empfänglichkeit für das »spanische Aussehen« Morisots hing mit alldem zusammen. Majas auf einem Balkon war im Jahr 1838 nach Frankreich gekommen, nachdem im Louvre eine spanische Galerie eröffnet worden war. Der Baron Isidore Taylor, ein Philanthrop, Maler, Dramaturg, Soldat, Reisender und Pionier der Romantik, der während der Revolution mit seinem englischen Vater und seiner belgischen Mutter nach Frankreich gekommen war, gründete die Galerie auf Anregung Louis-Philippes I., der ein Spanienliebhaber war, und kaufte das Gemälde direkt von Goyas Sohn. Er erwarb auch Zeit der alten Frauen, das fesselnde Gegenstück zu Majas auf einem Balkon, in dem Goya die ehemals hübschen jungen majas in die abgezehrten und verhärmten alten Frauen verwandelt hatte, die sie (in Goyas bitterböser satirischer Vorstellung) unweigerlich werden würden. Die Maler strömten herbei, um die Werke zu sehen, die Taylor aus Spanien mitgebracht hatte. Die Bilder blieben bis Januar 1849 für die Öffentlichkeit zugänglich; nach der Absetzung Louis-Philippes wurden sie aus dem Louvre entfernt. Manets Freund Baudelaire bedauerte den Verlust. »Das spanische Museum«, hatte er noch im Jahr 1846 geschrieben, »vergrößerte die Spannweite an allgemeinen Vorstellungen von der Kunst, die man besitzen sollte.« Und in seinen Augen diente es dem Frieden: »Ein Museum der ausländischen Kunst ist ein internationaler Ort der Brüderlichkeit, an dem zwei Völker einander entspannter beobachten und studieren, einander kennen lernen und sich ohne Streit verbrüdern können.«

Diese Vorstellung hätte Goya vielleicht ein ironisches Lächeln entlockt. Er war Zeuge von Plünderung, Vergewaltigung, Hunger und erbarmungsloser Gewalt gewesen und wusste mehr als die meisten über die »internationale Freundschaft«.

Zu den Merkmalen der spanischen Kunst, die den fortschrittlichen französischen Künstlern gefielen, zählte die Verweigerung idealisierender Darstellungen. Anders als die Meister der italienischen Renaissance waren die großen spanischen Maler nicht an die von der griechischen und römischen Antike vorgegebenen Maßstäbe von Schönheit und Sittlichkeit gebunden. »Kein anderes Land hat weniger von der Antike entlehnt«, schrieb der Kunstkritiker Charles Blanc. Manet teilte die Bereitschaft, darzustellen, wovor andere künstlerische Traditionen zurückschreckten. Zum Beispiel war Zeit der alten Frauen so weit vom französischen klassischen Ideal entfernt wie nur irgend möglich. Manet fand auch Gefallen daran, wie Goya und insbesondere Ribera und Velázquez Menschen aus allen Gesellschaftsschichten Würde verliehen hatten. Diese Betrachtungsweise entsprach seinem instinktiven Egalitarismus, seinem Gerechtigkeitssinn, seinem Republikanismus.