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Manet sticht auf ein Doppelporträt ein, das sein Freund Degas von ihm und seiner Frau gemalt hat. Im Wettstreit mit Matisse verändert Picasso seinen Kunststil radikal und malt sein Meisterwerk »Les Demoiselles d’Avignon«. Francis Bacon und Lucian Freud verbindet nicht nur die Fixation aufs Porträt, sondern auch der Hang zum selbstzerstörerischen Exzess.
Es sind nicht nur solche Geschichten, die das Buch von Pulitzer-Preisträger Sebastian Smee über vier enge Künstlerfreundschaften zu einer so unterhaltsamen und spannenden Lektüre machen.
In Biographien von acht weltberühmten Künstlern erzählt Smees Buch von Freundschaft und Rivalität zwischen höchst unterschiedlichen Charakteren, von Bewunderung, Affären, Krisen und Triumph und von einigen der bahnbrechendsten künstlerischen Entwicklungen der Moderne.
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Seitenzahl: 533
Veröffentlichungsjahr: 2017
Édouard Manet sticht auf ein Doppelportrait ein, das sein Freund Degas von ihm und seiner Frau gemalt hat. Im Wettstreit mit Matisse verändert Picasso seinen Kunststil radikal und malt sein Meisterwerk »Les Demoiselles d’ Avignon«. Francis Bacon und Lucian Freud verbindet nicht nur die Obsession von Portraits, sondern auch der Hang zum selbstzerstörerischen Exzess. Und Jackson Pollock und Willem de Kooning, die Wegbereiter des Action Painting, finden erst in der Konfrontation ihrer gegensätzlichen künstlerischen Herangehensweisen zu ihrer je eigenen Stimme.
Sebastian Smee bietet einen großartigen Einblick in die kreativen Dramen der Kunst: Vier Portraits der engen Freundund Feindschaften zwischen einigen der berühmtesten Künstler der Moderne.
»Großartig geschrieben.« Publishers Weekly
»Ein reines Vergnügen: informativ, instruierend, witzig.« Boston Sunday Globe
Sebastian Smee, in Australien geboren und aufgewachsen, ist Kunstkritiker beim Boston Globe. Von 2001 bis 2004 lebte er in London. Autor u. a. von Lucian Freud im Atelier (2006), Freud (2015). Pulitzer-Preisträger 2011.
Sebastian Smee
KUNST UND RIVALITÄT
Vier außergewöhnliche Freundschaften
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer
Insel Verlag
Copyright © 2016 by Sebastian Smee
Titel der Originalausgabe: The Art of Rivalry. Four Friendships, Betrayals, and Breakthroughs in Modern Art
First published in the US in 2016 by Random House US
Willem de Kooning, für Auszüge aus einem Interview mit James Vallière, Partisan Review Herbst 1967 © 2016 The Willem de Kooning Foundation / Artists Rights Society (ARS) New York
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017.
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2017.
© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2017
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Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg/Gundula Hißmann
Umschlagabbildung: Getty Images, München
eISBN 978-3-458-75228-8
www.suhrkamp.de
In Liebe für Jo, Tom und Leila
INHALT
Einleitung
FREUDUNDBACON
MANETUNDDEGAS
MATISSEUNDPICASSO
POLLOCKUNDDE KOONING
Quellen und Danksagungen
Liste der Schwarzweiß-Abbildungen
Register
EINLEITUNG
Während eines Japanaufenthalts im Jahr 2013 nahm ich den Hochgeschwindigkeitszug von Fukuoka nach Kitakyushu, um mir ein Gemälde von Edgar Degas anzusehen. Wenn man für ein einzelnes Kunstwerk eine weite Reise auf sich nimmt, hat man oft unrealistische Erwartungen. Man macht sich in der frommen Vorfreude des Pilgers auf den Weg, und wenn es am Ziel der Pilgerfahrt zu der lang ersehnten Begegnung mit dem Meisterwerk kommt, fühlt man sich verpflichtet, eine Begeisterung zu empfinden, die all die geistige Einstimmung, den Zeitaufwand und die Kosten rechtfertigt. Entweder man ist glücklich oder man fühlt eine herbe Enttäuschung.
Aber bei dieser Reise nach Japan empfand ich weder das eine noch das andere. Bei dem Bild, dem ich nachgereist war, handelte es sich um ein Doppelportrait [ Bildtafel 6 ] von Degas’ Freund Édouard Manet und dessen Frau Suzanne. Es zeigt einen bärtigen, adrett gekleideten Manet, der mit auf die Hand gestütztem Kopf und angezogenem Bein halb auf einem Sofa liegt und versonnen ins Leere schaut. Suzanne sitzt mit dem Rücken zu ihm am Klavier.
Das Bild ist eher klein – man könnte es hochhalten, ohne die Arme allzu weit ausbreiten zu müssen. Und es wirkt frisch, so frisch, dass man den Eindruck hat, es sei erst gestern gemalt worden. Es hat nichts Rhetorisches und erhebt keine großen Ansprüche, sondern wirkt fast distanziert, neutral, angenehm frei von Illusionen und falschen Gefühlen.
Aus all diesen Gründen (und trotz meiner bemühten Pilgerfahrt) gab das Gemälde keinen Anlass zur Enttäuschung. Gleichzeitig weckte es auch nicht das Bedürfnis nach emotionaler Überhöhung. Stattdessen versank ich in seiner eigentümlichen Gelassenheit.
Es war mir bekannt, dass Degas und Manet enge Freunde gewesen waren. Aber dieses Bild drückt emotionale Zurückhaltung aus, die wiederum eine nicht vollkommen geklärte Ambivalenz heraufbeschwört. Es ist nicht klar, ob Manet auf dem Bild in trübseliger, stumpfsinniger Agonie, in einer Art von aufzehrender Lethargie verharrt, während er seiner Frau zuhört (die übrigens eine herausragende Pianistin war), oder ob er sich dem Genuss der Musik in entrückter Trägheit hingibt, die ihn vollkommen von allem abschottet, was sein köstliches geistiges Dahintreiben unterbrechen könnte.
Die Manets saßen ihrem Freund im Winter 1868 / 69 Portrait. Es war gerade ein halbes Jahrzehnt her, dass Édouard Déjeuneur sur l’herbe (Frühstück im Grünen) und Olympia gemalt hatte, jene beiden Werke, die bei den Kritikern nur empörte Ablehnung hervorgerufen hatten und von der Öffentlichkeit mit Spott überhäuft worden waren. (Heute sind sie indes die beiden berühmtesten Gemälde ihrer Zeit.) Mit diesen Werken hatte ein erstaunlicher mehrjähriger Schaffenssturm Manets begonnen, aber die wütende Geringschätzung der Öffentlichkeit hatte er nicht brechen können. Er festigte lediglich seinen Ruf als ruchloser künstlerischer Außenseiter.
Welchen Preis hatte er dafür gezahlt ? Malte Degas im Jahr 1868 einen von seiner herkulischen künstlerischen Kraftanstrengung erschöpften und von der allgemeinen Ablehnung zermürbten Mann ? Oder hatte er etwas Subtileres und Geheimnisvolleres im Sinn ?
An diesem Punkt muss ich erklären, dass ich nicht nach Japan gekommen war, um mir das Bild anzusehen, wie Degas es gemalt hatte : Ich wollte sehen, was davon übrig geblieben und nicht vollkommen repariert worden war. Denn nicht lange nach seiner Fertigstellung war ein Teil des Bildes mit einem Messer abgetrennt worden. Suzannes Gesicht und Körper wurden durchgeschnitten.
Es war nicht das Werk eines verwirrten Museumsbesuchers – eines jener Sonderlinge, die Säure über einen Rembrandt schütten oder eine Skulptur von Michelangelo mit einem Vorschlaghammer attackieren. Nein, der Täter war Manet selbst. Und das gibt Grund zur Betroffenheit. Denn alle Welt liebte Manet (das heißt alle, die ihn persönlich kannten, liebten ihn). Er war charmant, gesellig, unprätentiös, ein ungemein galanter und sanftmütiger Mann. Warum sollte ein solcher Mensch so etwas tun, und zwar zu einer Zeit, als er und Degas enge Freunde waren (so eng, dass sie gemeinsam an diesem intimen Portrait arbeiteten) ? Die übliche Erklärung, Manet habe sich über die wenig schmeichelhafte Darstellung Suzannes geärgert, klingt durchaus plausibel, aber sie ist nicht vollkommen befriedigend – so leicht greift man nicht zu einem Messer, um ein Gemälde zu zerstören. Da muss noch etwas anderes gewesen sein.
Ich reiste nicht nach Japan, um dieses Geheimnis zu lüften ; ich wollte mich lediglich einer Erklärung annähern. Geheimnisse sind magnetisch. Aber natürlich liefert die Auseinandersetzung damit nicht immer Beweismaterial : Oft führt sie zu weiteren Rätseln, tieferen Fragen und eigenartigeren Vermutungen.
Es dürfte niemanden überraschen, dass die Messerattacke auf das Bild zu einem Zerwürfnis zwischen Manet und Degas führte. Die beiden söhnten sich jedoch rasch wieder aus. (»Man kann nicht lange böse auf Manet sein«, soll Degas gesagt haben.) Aber ihre Beziehung wurde nie so eng wie zuvor. Und nur etwas mehr als ein Jahrzehnt später war Manet tot.
Degas starb dreißig Jahre später als vereinsamter, griesgrämiger Mann inmitten einer Sammlung, die neben dem zerschnittenen Gemälde (das er sich von seinem Freund zurückgeholt hatte, um es zu reparieren) auch drei weitere Portraits, die er von Manet gemalt hatte, sowie mehr als achtzig Bilder Manets umfasste. Beweist das nicht, dass Manet noch lange nach seinem Tod eine besondere und möglicherweise sentimentale Faszination auf Degas ausübte ? Und wenn ja, was bedeutet das ?
Ich glaube, dass die innigen Beziehungen zwischen Künstlern in den Lehrbüchern nicht ausreichend gewürdigt werden. Dieses Buch ist mein Versuch zu zeigen, wie wichtig solche Beziehungen für die Entwicklung der Kunst sein können.
Der Titel des Buches ist Kunst und Rivalität, aber hier geht es nicht um die klischeehafte männliche Rivalität unversöhnlicher Feinde, erbitterter Rivalen und starrköpfiger Männer, die an einem tiefen Groll festhalten und miteinander um eine künstlerische und soziale Vormachtstellung streiten. Vielmehr geht es in diesem Buch um die Bereitschaft nachzugeben, um Innigkeit und Offenheit für Einflüsse. Es geht um Empfänglichkeit. Die Tatsache, dass Empfänglichkeit vor allem in der Frühphase einer künstlerischen Laufbahn zu beobachten ist und eine beschränkte Lebensdauer hat – dass sie nie über einen bestimmten Punkt hinaus Bestand hat –, ist in mancher Hinsicht das eigentliche Thema dieses Buches. Denn solche Beziehungen sind zwangsläufig anfällig für Schwankungen. Sie leiden unter einer fließenden Psychodynamik und sind kaum mit historischer Präzision zu beschreiben. Und oft enden sie nicht gut. Dieses Buch handelt also nicht nur von Verführung, sondern auch von Trennungen und Betrug.
Trennungen sind immer erschreckend. Selbst wenn die Beziehung später gekittet wird, ist es nie leicht, eine Antwort auf die verzwickte Frage zu finden, wodurch der Bruch verursacht wurde. Es ist fast unmöglich, die erforderliche Distanz zu gewinnen. Vielleicht war ein zu großer Teil von uns im Spiel, und möglicherweise stehen wir noch zu tief in der Schuld des anderen. Wie können wir diese Verpflichtung akzeptieren und Klarheit darüber gewinnen, was wirklich geschehen ist, ohne den erlittenen Schaden aus den Augen zu verlieren ? Wie können wir den Schaden eingestehen, den wir selbst dem anderen Menschen zugefügt haben ? Diese Fragen klingen unerfreulich vage. Aber sie gehören zu den vier Geschichten, die ich in diesem Buch erzählen werde.
Zu Beginn des Jahrtausends lebte ich in London, wo ich den Maler Lucian Freud kennenlernte, um dessen Freundschaft mit Francis Bacon sich vermutlich mehr Legenden ranken als um jede andere Beziehung in der britischen Kunst des 20. Jahrhunderts. Auch zwischen diesen beiden Malern war es zum Zerwürfnis gekommen. Es verursachte großes persönliches Leid und viel Bitterkeit – die Wunden verheilten so schlecht, dass es noch zehn Jahre nach Bacons Tod als unklug galt, Freud darauf anzusprechen.
Aber wer Freud in seinem Haus besuchte, konnte unmöglich das riesige Gemälde von Francis Bacon übersehen, das dort an der Wand hing. Es war eine beunruhigende, gewalttätige Darstellung eines verschwommenen männlichen Liebespaars auf einem Bett. Freud hatte es in einer von Bacons ersten Ausstellungen für 100 Pfund erworben, kurz bevor die beiden Freundschaft schlossen. Er trennte sich nie davon. Und abgesehen von einer einzigen Ausnahme stellte er es im Lauf eines halben Jahrhunderts nie für eine Ausstellung zur Verfügung. Was bedeutete das ?
Was verrät es über die unbehagliche Freundschaft zwischen Jackson Pollock und Willem de Kooning – der beiden herausragenden amerikanischen Künstler des 20. Jahrhunderts –, dass de Kooning nicht einmal ein Jahr nach Pollocks Unfalltod eine Affäre mit Pollocks Geliebter Ruth Kligman begann, die jenen Autounfall als Einzige überlebt hatte ?
Und was verrät es uns über die Bedeutung von Matisse für Picasso, dass Picasso nach Matisse’ Tod im Jahr 1954 nicht nur zahlreiche komplizierte Bilder zu Ehren des Verstorbenen malte, sondern auch Matisse’ Portrait seiner jungen Tochter Marguerite – ein Gemälde, das Picassos Freunde einst zu seinem Vergnügen als Zielscheibe für Wurfpfeile verwendet hatten – an einem Ehrenplatz in seinem Haus aufbewahrte ?
Es wird dem Leser aufgefallen sein, dass die acht Hauptfiguren dieses Buches allesamt Männer sind. Wir bezeichnen die Periode, der diese Künstler angehören – die Zeit zwischen 1860 und 1950 –, als »modern«, aber die Kultur dieser Zeit war immer noch vorwiegend männlich geprägt. Es gibt zahlreiche Geschichten über faszinierende Beziehungen zwischen modernen Künstlern und Künstlerinnen und einige über Beziehungen zwischen Frauen, aber die bedeutsamsten dieser Beziehungen – hier kommen uns zum Beispiel die zwischen Auguste Rodin und Camille Claudel, zwischen Georgia O’Keeffe und Alfred Stieglitz, zwischen Frida Kahlo und Diego Rivera in den Sinn – hatten zumeist eine romantische Komponente, und diese verdeckt und kompliziert die Rivalität, die das Thema dieses Buchs ist. In Beziehungen, die annäherungsweise als »homosozial« bezeichnet werden können, kommt diese Rivalität deutlich zum Ausdruck, weil sie nicht von heterosexueller Leidenschaft oder chauvinistischer Herablassung überlagert wird. Diese homosozialen Beziehungen sind gekennzeichnet vom Wettbewerb um Status, von wachsamer Freundschaft, gegenseitiger Bewunderung, die sogar Liebe sein kann, und einer Frage nach der Hierarchie, die nie endgültig geklärt wird, selbst wenn es den Anschein haben mag.
Aber das andere Geschlecht spielt in allen vier Geschichten sehr wohl eine wichtige Rolle. Unter den Frauen, denen wir in diesem Buch begegnen, finden wir herausragende Künstlerinnen wie Berthe Morisot und Lee Krasner, wagemutige Sammlerinnen wie Sarah Stein, Gertrude Stein und Peggy Guggenheim sowie brillante, unabhängige Gefährtinnen wie Caroline Blackwood und Marguerite Matisse.
Wie allgemein bekannt, hatten die acht Künstler, mit denen wir uns beschäftigen werden, noch andere Freunde und Rivalen, und es gab noch weitere Menschen, die Einfluss auf sie nahmen und sie förderten. Aber manchmal – ich würde sogar sagen, normalerweise – gibt es im Leben eines Künstlers eine Beziehung, die bedeutsamer ist als alle anderen. Picasso wusste vermutlich, dass er ohne den verführerischen Druck von Matisse weder sein bahnbrechendes Bild Demoiselles d’Avignon gemalt noch gemeinsam mit Braque den Kubismus begründet hätte. Und es war Freud bewusst, dass er sich ohne den Einfluss seines Freundes Bacon nicht von seinem angespannten und peniblen Zeichenstil gelöst und in den großen Maler üppiger, lebendiger Fleischlichkeit verwandelt hätte. Ohne Pollocks Einfluss wäre es de Kooning kaum gelungen, sich aus der Zwangsjacke seines großen technischen Könnens zu befreien und seine atemberaubenden Meisterwerke der fünfziger Jahre zu schaffen. Und hätte ihn die Freundschaft zu Manet nicht geprägt, so hätte Degas weiter die Vergangenheit gemalt und hätte nicht sein Atelier verlassen, um das Leben auf der Straße, in den Cafés und in den Probenräumen zu studieren.
In diesem Buch geht es also um die Frage, wie Freundschaft und Rivalität zur Entwicklung dieser acht Männer beitrugen, die allesamt zu den bedeutendsten Künstlern der Moderne zählen. In vier Kapiteln erzähle ich die Geschichte von vier gefeierten künstlerischen Beziehungen, wobei jene eigentümliche Zeitblase – normalerweise drei bis vier intensive Jahre – in den Mittelpunkt rückt, die ein entscheidendes Geschehen enthält : eine Portraitsitzung, einen Austausch von Arbeiten, einen Besuch im Atelier eines anderen Künstlers oder die Eröffnung einer Ausstellung.
In all diesen Fällen entstand eine magnetische Anziehung zwischen zwei unterschiedlichen Temperamenten – zwei Arten von Charisma. Beide Künstler standen vor einem großen schöpferischen Durchbruch. Beide hatten bereits gewaltige Fortschritte gemacht, aber noch keinen unverkennbaren Stil gefunden und keine bestimmte Vorstellung von Wahrheit oder Schönheit entwickelt, die ihnen eine Sonderstellung sicherte. Es war noch alles Potenzial.
Wenn sich die Freundschaft zwischen den beiden Künstlern entwickelte – manchmal näherten sie sich einander zaghaft, manchmal stürzten sie sich Hals über Kopf in eine intensive Beziehung –, begann ein inniges Wechselspiel. Wo der eine Künstler beneidenswert gewandt war (gesellschaftlich und künstlerisch), war der andere unbeholfen. Wo der eine wagemutig voranstürmte, hinkte der andere hinterher, weil er übermäßig vorsichtig, perfektionistisch oder gehemmt war. Die Begegnung mit einem gewandteren, kühneren Kollegen war eine Offenbarung und eine befreiende Erfahrung für den, der nicht von der Stelle kam. Neue Möglichkeiten taten sich auf. Es offenbarte sich ihm eine andere Art zu arbeiten, aber auch eine andere Art, die Welt zu betrachten. Sein Leben bog in eine andere Richtung ab.
Von diesem Augenblick an wurde die Beziehung zwangsläufig kompliziert. Die ursprünglich einseitige Einflussnahme begann in beide Richtungen zu funktionieren. Der von Natur aus »beredte« Künstler setzte seinen Weg fort, begann jedoch, Defizite in seinem eigenen Repertoire zu erkennen : Nun erkannte er die Fähigkeiten, den Mut und die Unbeirrbarkeit des anderen.
Alle hier erzählten Geschichten zeichnen also eine Bewegung nach, die von der Begegnung mit einer unwiderstehlich anziehenden Person durch eine Phase der Ambivalenz zur Unabhängigkeit führte – dies ist der kreative Prozess, den wir meinen, wenn wir sagen, dass jemand »seine eigene Stimme findet«. Dieses Streben nach Unabhängigkeit und einer spirituellen Sonderstellung, das der Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Partnerschaft entgegenwirkt, ist ein natürlicher Bestandteil der Entstehung einer wirklich ausgeprägten kreativen Identität. Aber selbstverständlich hat es auch mit dem sehr modernen Bemühen um Einzigartigkeit, Originalität und Unnachahmlichkeit zu tun, mit der Sehnsucht nach Einmaligkeit und Größe.
Daher ist es kein Zufall, dass die Künstler, die ich ausgewählt habe, sowohl bedeutend als auch modern sind, denn dieses Spannungsverhältnis – zwischen gewählter Einsamkeit des Genies und Anerkennung, zwischen Einzigartigkeit und Zugehörigkeit – ist untrennbar mit der Geschichte der Moderne verbunden.
Wenn es einen grundlegenden Unterschied zwischen der künstlerischen Rivalität in der Moderne und der Rivalität in früheren Epochen gibt, so ist es der, dass die moderne Kunst eine vollkommen andere Vorstellung von persönlicher Größe entwickelt hat. Diese Vorstellung beruht nicht mehr auf der meisterhaften Beherrschung und der Erweiterung einer bildlichen Tradition, sondern auf dem Drang nach radikaler und revolutionärer Originalität.
Woher kam dieser Drang ?
Im Grunde war er eine Reaktion auf die neuen Lebensbedingungen – auf das Gefühl, dass die moderne, industrialisierte, urbane Gesellschaft, die in mancher Hinsicht einen Höhepunkt der abendländischen Zivilisation darstellte, zugleich bestimmte Möglichkeiten der menschlichen Entfaltung beschränkt hatte. Die Moderne, so ein verbreiteter Eindruck, hatte die Möglichkeit beseitigt, eine innige Beziehung zur Natur und zu den Reichtümern des spirituellen Lebens und der Phantasie zu knüpfen. Die Welt war entzaubert worden, wie Max Weber schrieb.
Daher das wachsende Interesse an alternativen Möglichkeiten. Die neuen Faszinationen erschlossen ein weitläufiges künstlerisches Betätigungsfeld. Aber indem die modernen Künstler die überkommenen Standards ablehnten, gerieten sie zwangsläufig in eine prekäre Lage. Sie waren nicht nur von den herkömmlichen Wegen zum Erfolg abgeschnitten (von den Salons, den Preisen, den Kunsthändlern, Sammlern und Mäzenen), sondern fanden auch keinen Halt mehr bei allgemein anerkannten Kriterien.
In dieser Situation rückte das Problem der Qualität in den Vordergrund. Wenn die modernen Künstler die in ihrer Kultur anerkannten Maßstäbe ablehnten, wie konnten sie dann wissen, ob ihre Erzeugnisse gut waren ? Wenn sie beispielsweise den künstlerischen Leistungen von Kindern großen Wert beimaßen (wie es Matisse tat), wie konnte dann jemand feststellen, dass ihre Kunst herausragend war – besser als die eines Kindes, besser als die eines Künstlers, der eine jahrelange Ausbildung auf sich genommen hatte, eben um die kindliche Kunst hinter sich zu lassen ?
Wenn sie wie Pollock mit einem Stab Farbe auf eine auf dem Boden ausgebreitete Leinwand träufelten, wie konnte dann irgendjemand behaupten, dass diese Art des künstlerischen Ausdrucks der Malerei von jemandem überlegen war, der einer geheiligten Tradition gehorchend jahrelang gelernt hatte, mit Farben und Pinseln und Paletten und Staffeleien umzugehen ? Natürlich gab es Kunstkritiker, aber diese waren normalerweise voreingenommen und hielten oft noch strikter an der Konvention fest als die Öffentlichkeit. Es gab wohlgesinnte Dichter und Autoren. Aber niemand verstand vollkommen, wie ein Maler diesen Kampf erlebte.
Wirklich verstehen konnten das nur andere Maler. Kollegen konnten mehr als Kunstkritiker und Sammler davon profitieren, dass ein Künstler neues imaginatives Potenzial erschloss und neue Kriterien definierte. Wenn andere Künstler für die Auseinandersetzung mit den eigenen Interessen gewonnen werden konnten, würden die neuen Kriterien glaubwürdig werden und irgendwann einen normativen Charakter erhalten. Das Publikum – der Kreis der Personen, die das Genie des Künstlers anerkannten – würde wachsen. Delacroix’ Romantik und Courbets Realismus mussten erst von anderen Künstlern angenommen werden, bevor das Establishment davon überzeugt werden konnte, und dasselbe galt für den Impressionismus, für die flachen, satten Farben von Matisse, für Picassos facettenreiche Formen und Pollocks verspritzte Farbe, für Bacons verwischte Gesichter …
Zumindest war das die Hoffnung. Also wurde aufwändige Überzeugungsarbeit geleistet. Im Drucktopf des Wettbewerbs brauchte man Charisma. Unter diesen Bedingungen wurden die Beziehungen zwischen den Künstlern natürlich inniger und angespannter : Was, wenn es ein Künstlerkollege besser verstand, die wichtigen Sammler (zum Beispiel die Steins in Paris) zu beeindrucken und für sich einzunehmen ? Was, wenn das Interesse eines Rivalen an afrikanischer Kunst oder an Cézanne eine andere Qualität hatte als der eigene Hang zu diesen Ausdrucksformen ? Was, wenn alle Welt sehen konnte, dass der Kollege besser zeichnete als man selbst oder ein besseres Gespür für Farben hatte ? Was, wenn der Freund und Rivale einfach aufgrund seines Temperaments den Erfolg anzog ?
Dies waren keine akademischen Fragen. Es waren schmerzhaft konkrete Fragen. Im Wettkampf zwischen künstlerischen Rivalen in der Moderne wurde nicht nur um die künstlerische Vorreiterrolle gekämpft, darum, wer sich besonders weit vorwagte und wer Bedeutung erlangte. Es wurde auch um weltliche, praktische Belohnungen gekämpft, wie überall zwischen Menschen. Und natürlich wurde oft um Liebe und Freundschaft gekämpft.
In der Kunst der Rivalität sehen wir also den Kampf der Vertrautheit, den unablässigen, aufreibenden Kampf darum, mit einem anderen Menschen zu verschmelzen und gleichzeitig man selbst zu bleiben.
FREUD UND BACON
Wenn man sich diese Muybridge-Figuren nicht mit einer Lupe ansieht, ist kaum zu erkennen, ob sie miteinander ringen oder Sex haben.
Francis Bacon
Das Portrait, das Lucian Freud im Jahr 1952 von seinem Freund Francis Bacon malte, hat die Größe eines Taschenbuchs [Bildtafel 1]. Besser gesagt, es hatte diese Größe. Im Jahr 1988 verschwand es aus einem deutschen Museum und tauchte nie wieder auf.
Das Bild zeigt Bacon frontal und aus nächster Nähe. »Alle Welt hatte eine verschwommene Vorstellung von Bacon«, erklärte Freud später, »aber er hatte ein ganz besonderes Gesicht. Ich wollte ihn hinter dem Schleier hervorholen.«
Bacons berühmte Pausbacken beherrschen die Fläche, und seine Ohren berühren fast den Bildrand. Er hat den Blick gesenkt, jedoch nicht auf den Boden gerichtet. Dieser zerstreute, abwesende Blick verrät dem Betrachter, dass Bacon in Gedanken versunken ist. Sein Gesichtsausdruck ist schwer fassbar, aber eindrucksvoll, denn er verbindet Traurigkeit mit einem sonderbaren Hinweis auf innere Wut.
Jahre später würde Freud mit der fleischigen Fülle seiner Bilder und mit pastos und verschwenderisch aufgetragener Farbe Weltruhm erlangen, aber im Jahr 1952, als er Bacon malte, war sein Stil noch ganz anders. Er hatte sich auf die Oberflächenspannung spezialisiert. Er malte in kleinem Maßstab und gestaltete die Übergänge so fließend wie möglich – es waren keine Pinselstriche zu sehen. Er bemühte sich um Kontrolle und achtete penibel darauf, keine Stelle in seinen Bildern besonders hervorzuheben.
Trotzdem besteht ein eigenartiger Kontrast zwischen linker und rechter Seite von Bacons markantem, birnenförmigem Kopf – und der Gegensatz wird umso bemerkenswerter, je länger man das Bild betrachtet. Seine rechte Gesichtshälfte, die in einem leichten Schatten liegt, bietet ein Bild der Gelassenheit, aber auf der anderen Seite ist alles in Bewegung. Eine S-förmige Locke – man kann die Strähnen zählen – wirft einen geschwungenen Schatten auf die linke Augenbraue. Die linke Hälfte des Mundes ist nach oben gezogen und verursacht im Mundwinkel eine sackförmige Schwellung wie bei einem Insektenstich. Der Nasenflügel schimmert schweißfeucht. Sogar das linke Ohr scheint sich zusammenzuziehen und zu winden. Am verblüffendsten ist jedoch, wie die kräftige Arabeske von Bacons linker Augenbraue in die Furche in der Stirnmitte übergeht. Das ist kein »Realismus« im buchstäblichen Sinn : So etwas tun Augenbrauen nicht. Aber hier haben wir den Motor, der das ganze Portrait antreibt – so wie das Bild der Schlüssel zur Geschichte der interessantesten, fruchtbarsten – und volatilsten – Beziehung in der Geschichte der britischen Kunst des 20. Jahrhunderts ist.
Im Jahr 1987, fünfunddreißig Jahre nach seiner Entstehung und wenige Monate vor seinem Verschwinden, wurde dieses winzige Bild nach Washington geschickt. Wäre es nicht auf eine Kupferplatte gemalt gewesen, so hätte man eine Briefmarke draufkleben, die Adresse auf die Rückseite schreiben und es als Postkarte versenden können. Stattdessen wurde es sorgfältig verpackt und in einer Transportkiste verstaut und gemeinsam mit einundachtzig weiteren Bildern auf den Weg über den Atlantik geschickt. Das Bild würde Teil einer Freud-Retrospektive sein, die Andrea Rose vom British Council im Hirshhorn Museum and Sculpture Garden an der National Mall in der amerikanischen Hauptstadt organisiert hatte.
Trotz seiner geringen Größe war das Bacon-Portrait eines der charismatischsten Ausstellungsobjekte. Dazu trug zweifellos bei, dass es ein berühmtes Modell zeigte. Francis Bacon, der damals noch lebte (er starb fünf Jahre später), war sehr viel bekannter als der Mann, dem die Ausstellung gewidmet war. Seit den sechziger Jahren waren seine Arbeiten nicht nur in seiner Heimatstadt London, sondern auch an Orten wie dem Grand Palais in Paris und dem Guggenheim sowie dem Metropolitan Museum in New York ausgestellt worden. Kein britischer Künstler des 20. Jahrhunderts wurde von der Kritik so einhellig gefeiert. Keiner hatte die dunklen Gefilde der Phantasie mit einem vergleichbar kühnen und einflussreichen Lebenswerk ausgeleuchtet. Bacon war ein Star der internationalen Kunstszene.
Lucian Freud war ein Künstler anderer Art. Der Kunstkritiker John Russell beschrieb ihn als »lästige und beunruhigende Erscheinung« : Er war halsstarrig, verderbt, unermüdlich, immun gegen Moden. Er hatte bereits mit Anfang zwanzig begonnen, seine Arbeiten in der Öffentlichkeit zu zeigen, und nahm auch im Alter von vierundsechzig Jahren regelmäßig an Ausstellungen teil. In England war er so präsent, dass er im Jahr 1985 zum Companion of Honour ernannt worden war. Aber jenseits des Ärmelkanals wurde er kaum zur Kenntnis genommen. Und in den Vereinigten Staaten war er nahezu unbekannt.
Freuds Malerei war (zumindest auf den ersten Blick) weniger wagemutig als die Bacons, und seine Treue zu den Erscheinungen ließ ihn konventioneller wirken. Seine Art zu malen – figürlich, gegenständlich, in der Beobachtung verwurzelt – war seit fast einem Jahrhundert nicht mehr in Mode. Seine unverkennbaren Vorläufer waren nicht Pollock und de Kooning (der amerikanische Maler niederländischer Herkunft, mit dem Bacon oft verglichen wurde), geschweige denn Duchamp und Warhol, die in den siebziger und achtziger Jahren den größten Einfluss auf die Kunst ausübten. Um seine Vorläufer zu finden, musste man ins 19. Jahrhundert zurückkehren, zu Courbet, Manet und vor allem Degas.
Dazu kommt, dass die Motive, die er malte, hässlich waren. Seine Art zu malen – der auf jede Schmeichelei verzichtende Realismus, die schonungslose Prüfung, die scharfäugige Konzentration auf feuchte, fleckige Haut und schlaffes Fleisch – stieß den Betrachter ab. Seine Modelle waren unverfälscht und mit Hautausschlägen übersät. Man konnte ihren Schweiß fast riechen. Diese Malerei war zweifellos nicht, was sich amerikanische Museumskuratoren unter fortschrittlicher Kunst vorstellten. Progressive Kunst war seit den sechziger Jahren minimalistisch, abstrakt, konzeptuell – und viel hygienischer.
Und trotz seiner eigentümlichen Art zu malen, obwohl er als ein Maler galt, dessen Blick in die Vergangenheit gerichtet war, hatte eine wachsende Zahl von britischen Kritikern, Kunsthändlern und Kollegen den Eindruck gewonnen, Freud nähere sich dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft. Seit fast zwei Jahrzehnten brachte er Gemälde von derart intuitiver Eindringlichkeit, von derart überzeugender Intensität hervor, dass man sie unmöglich ignorieren konnte, auch wenn sie in keine Kategorie und kein Narrativ der zeitgenössischen Kunst passten.
Um Freud auch außerhalb Großbritanniens zu Anerkennung zu verhelfen, hatte das British Council eine Sammlung seiner Arbeiten zusammengestellt, die ins Ausland geschickt werden konnte. Die Organisatoren beim British Council wählten die Bilder aus und vereinbarten die Bedingungen für die Entleihungen (die meisten Bilder Freuds befanden sich im Besitz privater Sammler). Sie stellten auch einen schönen Katalog zusammen, der einen kenntnisreichen Essay des einflussreichen Kunstkritikers Robert Hughes vom Magazin Time enthielt. Hughes kam schon im ersten Satz auf das Portrait Bacons zu sprechen. Das gleichmäßige Licht, schrieb er, habe »etwas Flämisches« an sich, und das Format beschwöre die gotische Welt der »Miniatur« herauf ; es sei »streng, exakt, akribisch und (was Ende der fünfziger Jahre, in der Zeit der eilig auf Sackleinwand hingeworfenen Gesten, ausgesprochen exzentrisch wirkte) auf Kupfer gemalt«. Aber was das Bild wirklich fesselnd mache, sei seine unverhohlene Modernität. Freud habe »eine Art von visueller Wahrheit eingefangen«, schrieb Hughes, »vollkommen klar und zugleich ausweichend inwendig, was vor dem 20. Jahrhundert in der Malerei selten war«. Irgendwie sei es ihm gelungen, Bacons birnenförmigem Gesicht »die stille Intensität einer Granate« zu geben, die »einen Sekundenbruchteil später explodieren wird«.
Das British Council organisierte Ausstellungen in Paris, London und Berlin. Aber es war schwierig, einen Ausstellungsort in den Vereinigten Staaten zu finden. Freud sei dort nicht bekannt genug, erklärten die amerikanischen Museumskuratoren. Seine fleischigen, unschicklichen Bilder würden auf das breite Publikum verstörend wirken. Außerdem sei er zu britisch, zu sehr alte Schule, zu real. Der amerikanische Kurator Michael Auping beschrieb später den allgemeinen Konsens : Sich im Kontext der amerikanischen Nachkriegsavantgarde mit Freuds Arbeit auseinanderzusetzen, sei so gewesen, »als entdecke man auf den weißen Wänden des Museums beißend riechende Schimmelflecken«.
Aber das British Council gab sich nicht geschlagen. Man wandte sich an James Demetrion, den Direktor des Hirshhorn, das zur Familie der Smithsonian-Museen in der amerikanischen Hauptstadt gehörte. Die Briten schilderten Demetrion ihre Notlage. Er hörte zu. Es überraschte ihn zu hören, dass keines der Museen in New York interessiert war. »Anscheinend war Freud außerhalb Großbritanniens nicht allzu bekannt, was mich verblüffte«, erklärte er später. Er war bereit, die Ausstellung im Hirshhorn aufzunehmen. Sie sollte sich nicht nur für Demetrion und das Hirshhorn als Glücksgriff erweisen, sondern auch ein Meilenstein in Freuds Karriere werden.
Die Werkschau im Hirshhorn – es war die erste der vier Stationen der Ausstellung im Ausland – wurde am 15. September 1987 eröffnet. Freud war 65 Jahre alt, als zum ersten Mal eine größere Zahl seiner Arbeiten außerhalb Großbritanniens zu sehen war.
Wider Erwarten wurde die Ausstellung zu einem Publikumsmagneten. Ausgezeichnete Kritiken in großen Zeitungen, Magazinen und Kunstzeitschriften an der Ostküste sowie Hughes’ Essay (der auch in der New York Review of Books erschien) und ein Artikel im New York Times Magazine trugen dazu bei, seine Werkschau in ein bedeutsames, elektrisierendes Ereignis zu verwandeln. Freud machte einen Karrieresprung. Es dauerte nicht lange, da trennte er sich von seinem englischen Kunsthändler und verkaufte seine Arbeiten nur noch in zwei renommierten New Yorker Galerien. Zehn Jahre später wurde er als der berühmteste lebende Maler Englands und vielleicht der Welt gefeiert. Im Mai 2008 wurde eines seiner Gemälde, Benefits Supervisor Sleeping, zum teuersten Bild eines lebenden Künstlers : Der russische Milliardär Roman Abramowitsch kaufte es für 33,6 Millionen Dollar. (Ein weiteres Bild vom selben Modell, Sue Tilley, wurde 2015 für 56,2 Millionen Dollar verkauft.)
Im Anschluss an ihren Aufenthalt im Hirshhorn zog die Ausstellung nach Europa weiter, wo sie in bedeutenden Museen in Paris und London Halt machte. Ihre letzte Station war Berlin, wo sie Ende April 1988 eröffnete. Der Schauplatz in der Stadt, in der Freud zur Welt gekommen war und seine ersten Lebensjahre verbracht hatte, war die Neue Nationalgalerie. In Deutschland hatten sich auch Museen in anderen Städten um die Ausstellung bemüht und ihre Bereitschaft erklärt, sämtliche Kosten zu übernehmen, aber nach Aussage von Andrea Rose wollte Freud »nichts davon wissen«. Er bestand auf Berlin ; wenn sich dort kein Platz fand, würden seine Werke in Deutschland überhaupt nicht gezeigt. Leider sträubte sich die Neue Nationalgalerie zunächst. Das Museum weigerte sich, den Großteil der Ausstellungskosten zu übernehmen, wollte nichts mit der Produktion des Katalogs zu tun haben und schickte niemanden, um sich in Washington, Paris oder London ein Bild von der Werkschau zu machen. Rose fürchtete, Freud könne in Deutschland kühl aufgenommen werden, und bestand darauf, dass der Kurator der Nationalgalerie nach London käme, während die Ausstellung im Hayward gezeigt wurde. Erst da, erinnert sich Rose, wurde den Leuten von der Nationalgalerie bewusst, »dass die Ausstellung sehr viel größer war, als sie erwartet hatten, und dass sie die räumliche Planung ändern mussten, um sie unterzubringen«. (Die Leitung des Museums hatte vorgesehen, Freuds Bilder in der Abteilung Graphiken unterzubringen, aber es wurde viermal so viel Platz benötigt.)
Das aus Glas und Stahl bestehende Gebäude der Neuen Nationalgalerie – Mies van der Rohes letztes vollendetes Bauwerk – ist Teil einer weitläufigen Anlage, in der Museen, Konzertsäle, Forschungszentren und Bibliotheken untergebracht sind. Im Norden grenzt das Areal an den Tiergarten, im Süden an den Landwehrkanal. Der Potsdamer Platz im Osten ist zu Fuß in weniger als zehn Minuten zu erreichen.
Bevor er im Alter von acht Jahren nach England umzog, hatte Freud nacheinander in zwei Wohnungen in dieser Gegend gewohnt. Als kleiner Junge hatte er im Tiergarten gespielt und war einmal beim Schlittschuhlaufen im Eis eingebrochen. (»Es war sehr aufregend«, erinnerte er sich.) Bei den Händlern am Potsdamer Platz hatte er Zigarettenbilder getauscht : »Man bekam drei Marlene Dietrichs für einen Johnny Weissmüller.«
Freuds Familie musste aus Deutschland fliehen, als Hitler an die Macht kam. Freud hatte den Diktator einmal selbst zu Gesicht bekommen, nämlich auf dem Platz, an dem Freuds Familie wohnte, genau gegenüber vom heutigen Standort der Neuen Nationalgalerie. »Er hatte riesige Männer an seiner Seite«, erinnerte sich Freud. »Er selbst war winzig.«
Die Ausstellung wurde am 29. April 1988 eröffnet. Die Mauer stand noch, Berlin war eine geteilte Stadt. Die Zeitungen und Kunstzeitschriften äußerten sich lobend über die Ausstellung, und der Katalog war nach wenigen Wochen ausverkauft. Es herrschte keine so große Begeisterung wie in den Vereinigten Staaten, aber Berlin nahm seinen vor langer Zeit verlorenen Sohn mit aufrichtiger Wertschätzung auf. Die Besucherzahl überstieg die Erwartungen.
Aber einen Monat nach der Eröffnung – es war an einem Freitag am späten Nachmittag – fiel einem Besucher etwas Eigenartiges auf. Ganz nahe beim Eingang der Freud-Ausstellung, in dem Bereich, in dem seine frühen Werke zu sehen waren, befand sich an einer Stelle, an der offensichtlich ein Bild hängen sollte, eine leere Fläche an der Wand. Der Besucher wunderte sich. Aber wen sollte er benachrichtigen ? Die Sicherheitsvorkehrungen im Museum waren lasch, es war nirgendwo ein Wärter zu sehen. In einem Bericht hieß es, zwischen elf Uhr vormittags und vier Uhr nachmittags habe kein einziger Wärter Dienst gehabt. Das Portrait war so klein, dass man es leicht in der Jackentasche verschwinden lassen konnte, um die Galerie unbemerkt mit der Beute zu verlassen.
Jener Besucher spürte schließlich einen Mitarbeiter des Museums auf, dem er seine Beobachtung meldete. Die Nachricht wurde rasch entlang der Befehlskette hinaufgereicht. Jemand rief die Polizei. Das Gebäude wurde abgeriegelt, damit alle Besucher, die sich noch im Museum aufhielten, befragt und durchsucht werden konnten.
Es half alles nichts. Langsam dämmerte den Verantwortlichen, dass sie zu spät reagiert hatten. Der Dieb oder die Diebe waren durch das Netz geschlüpft – oder, was wahrscheinlicher war, sie hatten den Tatort verlassen, lange bevor das Netz ausgeworfen worden war.
Der Direktor der Neuen Nationalgalerie, Dieter Honisch, war peinlich berührt. Trotz der Blamage wollte das Museum die Ausstellung bis zum vorgesehenen Schlusstag, der noch drei Wochen entfernt war, offen halten. Aber Freud und die Organisatoren des British Council waren dagegen. Die deutsche Seite – und der britische Botschafter in Deutschland – wollte die Ausstellung fortsetzen, aber als Freud drohte, er werde alle privaten Eigentümer auffordern, ihre Bilder zurückzufordern, gab die Nationalgalerie nach und schloss die Ausstellung.
Die deutschen Behörden und das British Council einigten sich darauf, eine kleine Belohnung für Hinweise auf den Verbleib des Bildes auszuloben. Häfen und Flughäfen wurden benachrichtigt. Man ging einigen Hinweisen nach. Aber keiner führte ans Ziel.
Nichts deutete darauf hin, dass der Diebstahl das Werk von Profis war. Niemand war eingebrochen, es waren keine Waffen benutzt worden, kein Fluchtauto war mit quietschenden Reifen von dannen gebraust. Es schien eher, als hätte einfach jemand eine günstige Gelegenheit genutzt. Andererseits war es auch nicht das Werk blutiger Anfänger gewesen. Das Bild war nicht aus dem Rahmen gerissen worden. Der Dieb hatte ein Werkzeug, vermutlich einen Schraubenzieher, verwendet, um die Spiegelplatte zu entfernen, mit der der Rahmen an der Wand befestigt gewesen war. Das deutete auf Vorsatz hin. Aber wenn es eine geplante Tat war, muss man sich fragen, warum anders als in solchen Fällen üblich kein Lösegeld gefordert wurde.
Allerdings bleiben Lösegeldforderungen auch oft aus. Die Sache war mysteriös.
Auf einen Punkt wurde immer wieder hingewiesen : Zum Zeitpunkt des Diebstahls hatten sich zahlreiche Studenten im Museum aufgehalten. Die portraitierte Person, Francis Bacon, genoss in Deutschland wie vielerorts große Verehrung. Er war eine der prägenden Figuren der modernen Kunst und hatte insbesondere bei der Jugend Kultstatus. Zweifellos war er populärer als Freud, der den meisten Deutschen – sogar Kunstliebhabern – immer noch unbekannt war. Nur sein Name (er war Sigmund Freuds Enkel) sagte der breiten Öffentlichkeit etwas. Vielleicht war der Dieb also einer der Studenten, oder hatte sich eine Gruppe zusammengetan ? Als Robert Hughes versuchte, den Maler mit der Erklärung zu trösten, der Diebstahl sei möglicherweise ein perverser Ausdruck der Anerkennung – anscheinend liebe jemand sein Bild so sehr, dass er es unbedingt für sich haben wollte –, wandte Freud ein : »Meinen Sie wirklich ? Ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen zustimmen kann. Ich glaube eher, es ist jemand, der Francis wirklich liebt.«
Dreizehn Jahre nach dem Diebstahl des Bacon-Portraits bereitete die Tate Gallery, der das Bild gehörte, eine große Freud-Retrospektive vor. Freud war mittlerweile neunundsiebzig Jahre alt. Er arbeitete an einem Portrait der Queen, das größer als das Bacon-Bild, aber immer noch klein genug war, um in eine Schuhschachtel zu passen (und tatsächlich bewahrte er es zwischen den Sitzungen in einer solchen Schachtel auf, die er unter dem Bett verstaute). Zudem arbeitete er im Wettlauf mit der Zeit an einem Portrait von Kate Moss – das Model war schwanger, und ihr Bauch wuchs täglich. Weitere Modelle waren sein Sohn Freddy, den er in Lebensgröße nackt in einer Ecke von Freuds Atelier in Holland Park malte, seine Geliebte, die Journalistin Emily Bearn, seinen Assistenten David Dawson und dessen sanftmütige, aber nervöse Whippet-Hündin Eli. Freud arbeitete immer noch unermüdlich, aber er hatte das Gefühl, dies werde möglicherweise die letzte große Werkschau sein, die ihm zu Lebzeiten gewidmet würde. Natürlich wollten sowohl er als auch die Galerie die bestmögliche Auswahl seines Lebenswerks präsentieren. Das Portrait von Bacon nahm einen zentralen Platz darin ein : Freud hatte Bacon im Jahr 1952 drei Monate lang Knie an Knie gegenübergesessen, um es zu malen. Es war eines der ersten – und zweifellos das bis dahin beste – jener Portraits, die nicht nur eine extreme Vertrautheit, sondern auch eine erbarmungslose Objektivität vermitteln, jene Qualitäten, die seine reife Kunst kennzeichnen. Dieses Portrait markierte einen Wendepunkt in seinem Leben. Zugleich war es ein Bindeglied zwischen seinen frühen Arbeiten, darunter viele Jugendwerke, und den Bildern aus seinen reifen Schaffensjahren.
Konnte das Portrait vielleicht nach all den Jahren doch irgendwie aufgespürt werden ?
Man plante eine Öffentlichkeitskampagne. Und es gab durchaus Grund zur Hoffnung. Das erfuhren die Organisatoren jedoch erst, als die Planung der Kampagne bereits begonnen hatte. Die deutschen Verjährungsbestimmungen sahen vor, dass eine solche Straftat nur zwölf Jahre lang strafrechtlich verfolgt werden konnte. Vielleicht konnte man den Dieb oder die Diebe also dazu bewegen, das Bild zurückzugeben, da sie keine Strafe mehr fürchten mussten.
Andrea Rose vom British Council und ihr Mann William Feaver, ein langjähriger Freund des Malers, der als Kurator der bevorstehenden Werkschau fungierte, hatten eine Idee : Sie wollten einen spektakulären »Steckbrief« veröffentlichen. Der Vorschlag gefiel Freud. Er machte sich sofort daran, das Plakat zu entwerfen. Auf dem fertigen Steckbrief [Abb.1] prangte über einer Reproduktion des gestohlenen Portraits, welches das gewohnte Polizeifoto ersetzte, in großen roten Buchstaben das Wort »WANTED«. Die Belohnung war großzügig : 300 000 D-Mark. Das Plakat sollte »vollkommen klar sein«, erklärte Freud, »wie die Steckbriefe in den Western, die ich so liebe«.
Abb. 1. Lucian Freud, Steckbrief, 2001 (Farblitographie).
Privatsammlung © The Lucian Freud Archive / Bridgeman Images.
Auf dem fertigen Plakat, das auf Freuds Entwurf beruhte, standen eine kurze Erklärung in deutscher Sprache und eine Telefonnummer. Das Portrait wurde schwarzweiß abgedruckt. Seit dem Verschwinden des Bildes hatte Freud nie erlaubt, es in Farbe wiederzugeben – teilweise, wie er erklärte, »weil es keine ordentliche Farbwiedergabe gab, teilweise als Ausdruck der Trauer … ich betrachtete es als scherzhaftes Äquivalent einer Trauerbinde. Sie verstehen – es ist weg !« 2500 Plakate wurden in Berlin aufgehängt. Der Steckbrief wurde auch in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt. Freud gab gegenüber der Presse auch eine Erklärung in einem für ihn untypischen ehrerbietigen Ton ab : »Würde die Person, die das Bild hat, freundlicherweise erwägen, mir die Möglichkeit zu geben, es in meiner Werkschau im kommenden Juni zu zeigen ?«
Der Steckbrief, die Belohnung, die Medienkampagne, die ungemein höfliche Bitte – es war alles umsonst. Die Werkschau in der Tate Gallery fand ohne das Bacon-Portrait statt. Aber obwohl die Kampagne ein Fehlschlag war, hing das Plakat lange Zeit unübersehbar am Eingang von Freuds Atelier. Er sah es jeden Morgen, bevor er sich an die Arbeit machte.
Kunstdiebstähle lassen uns immer ratlos zurück. Selbst wenn es brauchbare Hinweise auf die Täter gibt, bleibt immer eine Leere. Alle großen Gemälde haben eine Aura, die sie nicht zuletzt ihrer Einzigartigkeit verdanken. Es gibt nur einen Sturm auf dem See Genezareth von Rembrandt. Es gibt nur ein Das Konzert von Vermeer. Es gibt nur ein Chez Tortoni von Manet. Diese drei Bilder wurden aus dem Isabella Stewart Gardner Museum in Boston gestohlen, und ein Vierteljahrhundert später erzählen immer noch die leeren Rahmen an den Wänden des Museums von ihrer Abwesenheit, so als könnte ihre Aura irgendwie zurückbleiben, obwohl die Bilder fort sind.
Ist das fragliche Bild ein Portrait – insbesondere ein gutes –, so tritt seine Aura, sein besonderes Wesen, noch deutlicher hervor. Die Einzigartigkeit des Bildes wird durch die Einzigartigkeit der dargestellten Person verstärkt. Daher kann der Diebstahl eines Portraits das verwirrende Gefühl eines doppelten Verlusts in uns wecken. Man bemüht sich, es zurückzuholen, aber was genau will man eigentlich retten ? Das Gemälde ? Oder frühere Versionen der beiden beteiligten Personen – jenes Menschen, der für das Bild Modell saß, aber auch des Malers selbst ?
In seiner Portraitkunst schien Lucian Freud stets entschlossen, diese beiden Singularitäten als eine zu behandeln. »Meine Vorstellung von der Portraitmalerei«, sagte er einmal, »beruht auf der Unzufriedenheit mit Portraits, die Ähnlichkeit mit den dargestellten Personen hatten. Ich will ein Portrait von einem Menschen malen, nicht ein Portrait, das aussieht wie dieser Mensch. Nicht sein Abbild, ihn selbst.« Es war, als wollte er den Mythos des Pygmalion leben, jenes Künstlers, der sich in seine Skulptur verliebte.
Wie einschneidend war nun der Verlust des Bacon-Portraits, von dem der Kritiker Lawrence Gowing gesagt hatte, es übe den Zauber eines Bildes aus, »das gleichbedeutend mit dem Ding an sich ist« ?
Freud war ein Mensch, der die Wahrheit sagte. Er verabscheute die Illusion und hatte keine Zeit für Sentimentalität. Normalerweise sagte er, der Verbleib seiner Bilder sei ihm gleichgültig. Aber dieses eine Bild war ihm keineswegs gleichgültig. Es war nicht zuletzt eine Frage der Qualität. Dieses kleine, vordergründig konventionelle Portrait hatte etwas Elektrisierendes. Und das war Freud bewusst.
Aber der Verlust berührte ihn noch aus einem anderen, persönlichen Grund (obwohl dieser Grund untrennbar mit der Qualität des Bildes zusammenhängt) : Es war ein Portrait der wichtigsten Beziehung in Freuds Laufbahn.
Als junger Mann war Freud launenhaft, stürmisch und unvorhersehbar. Gefahr zog ihn an. Er wirkte auf die meisten Menschen ausgesprochen anziehend. Seine berühmte Familie hatte ihre ausgezeichneten Beziehungen spielen lassen, um im Jahr 1933 aus Hitler-Deutschland zu fliehen. Lucian Freud kam im Alter von zehn Jahren nach England. Er sprach Englisch, fühlte sich jedoch nicht daheim in der Sprache und blieb zumeist für sich. Der wilde und verschlossene Junge hatte auch eine ausgelassene, beinahe joviale Seite. Er hegte eine glühende Abneigung dagegen, die Erwartungen anderer Leute zu erfüllen. Gemeinsam mit seinen Brüdern wurde er auf das progressive Internat Dartington in Devon geschickt. Dort konnten die Schüler selbst entscheiden, wann sie am Unterricht teilnahmen, und Freud mied die Klassenzimmer. In Dartington wurden auch Pferde gehalten. Freud schlief am liebsten bei den Tieren im Stall. Morgens ritt er die unruhigsten Pferde für die nachfolgenden Reiter ein. Später berichtete er, das Ziel seiner ersten amourösen Gefühle sei der Stallknecht gewesen, und er füllte seine frühen Skizzenbücher mit Zeichnungen von Pferden und Jungen, die Pferde ritten, küssten und verehrten.
Dieser aufgeweckte schlanke Junge, der nur seinen Impulsen gehorchte und nicht das geringste Interesse an sozialen Gepflogenheiten hatte, fand in Tieren vertrautere und zugänglichere Gesellschafter als in Menschen. Im Jahr 1938 besuchte er Bryanston, eine Schule in Dorset, in der nur vier Jahre davor ein englisch-deutsches Jugendlager eingerichtet worden war, um die Beziehungen zwischen den Boy Scouts und der Hitlerjugend zu pflegen, wurde jedoch der Schule verwiesen, nachdem er in Bournemouth auf offener Straße die Hose heruntergelassen und den Passanten seinen Hintern dargeboten hatte. Schon zu dieser Zeit zeichnete er leidenschaftlich gerne. Als er sechzehn Jahre alt war, meldeten ihn seine Eltern an der Central School of Art an (er erreichte die Aufnahme mit einer aus Sandstein gemeißelten Skulptur eines dreibeinigen Pferdes), aber nach zwei oder drei Semestern brach er die Ausbildung ab, weil ihn der unflexible Unterricht langweilte. Seine Zeichnungen waren verkrampft, phantastisch und kindlich, die harten Linien liefen kreuz und quer über die Blätter wie Risse in dünnem Eis. Eine Umgebung, in der er sich wohlfühlte, fand der junge Freud erst, als er im Jahr 1939 in die East Anglian School of Painting and Drawing in Dedham in Essex eintrat, eine familiäre und informelle Kunstschule, die von Cedric Morris und Arthur Lett-Haines geleitet wurde. Morris’ ungelenker, intensiver Malstil – er schien einen verdrehten Stolz auf seinen vollkommenen Mangel an Virtuosität zu empfinden – beeinflusste Freud nachhaltig.
Freud hatte zwei Brüder, aber er war der Liebling seiner Mutter – was ihm bewusst war. Als Jugendlicher legte er das Selbstbewusstsein und die Zügellosigkeit, aber auch die Liebenswürdigkeit und die Sensibilität eines Sohnes an den Tag, der von seiner Mutter vergöttert wird. »Mir gefällt die anarchische Vorstellung, von nirgendwoher zu kommen«, sagte er einmal. »Aber das liegt vermutlich daran, dass ich eine sehr behütete Kindheit hatte.«
Der junge Freud hatte eine bemerkenswerte Wirkung auf seine Umgebung. Seine Abstammung vom Vater der Psychoanalyse erhöhte zweifellos seine Anziehungskraft, insbesondere in der Glanzzeit des Surrealismus in Großbritannien (der Surrealismus beruhte auf Sigmund Freuds Theorie des Unbewussten). Aber seine Wirkung auf die meisten Menschen war keineswegs sozialer und schon gar nicht intellektueller Natur : Sie war viszeral. Lawrence Gowing beobachtete »eine verschlungene Wachsamkeit an ihm, einen Scharfsinn, hinter dem man Bosheit vermuten konnte«. Der Kunsthistoriker John Richardson, der später Picassos Biograph wurde, registrierte mit Vergnügen, dass Freud verärgert auf die Aufmerksamkeit reagierte, die sein Exhibitionismus weckte. John Russell verglich ihn mit Tadzio, dem jungen Objekt der Verehrung in Thomas Manns Roman Tod in Venedig : »Er war der bezaubernde Jüngling, der mit seiner bloßen Gegenwart nicht nur der Inbegriff der Kreativität war, sondern auch die Cholera in Schach halten konnte [ … ]. Er weckte große Erwartungen.«
Freud war noch keine zwanzig Jahre alt, als er über seinen Freund Tony Hyndman dessen Liebhaber, den Dichter Stephen Spender, kennenlernte. Als sich Spender im Jahr 1936 entschloss, Inez Pearn zu heiraten, ging Hyndman nach Spanien und schloss sich den Internationalen Brigaden an, um im Bürgerkrieg zu kämpfen. Als er wegen Fahnenflucht vor ein Kriegsgericht gestellt wurde, reiste Spender ihm nach, um ihn zu retten. Die Mission war nur teilweise erfolgreich : Hyndman wurde zwar nicht hingerichtet, aber dafür war Spenders Ehe tot. Anfang des folgenden Jahres (1940) besuchte Spender Freud und dessen Studienfreund David Kentish auf Freuds Einladung in Nordwales. Die beiden jungen Männer verbrachten den Winter in einer kleinen und abgelegenen Bergmannshütte in Capel Curig, wo sie zeichneten und malten. Spender, der die beiden in Bryanston unterrichtet hatte, hatte gerade einen Roman mit dem Titel The Backward Son veröffentlicht und war damit beschäftigt, gemeinsam mit Cyril Connolly und Peter Watson die Literaturzeitschrift Horizon aufzubauen. Er brachte eine Nullnummer der Zeitschrift mit, die Freud beim Licht einer Laterne mit grotesken Zeichnungen von der »ausgelassenen, volkstümlichen Art« versah, die Spender nach Aussage Freuds so sehr an W. H. Auden liebte – und die Freud seinerseits an Spender bewunderte. »Er malt den ganzen Tag und ich schreibe«, berichtete Spender in einem Brief. »Ich glaube, Lucian ist der intelligenteste Mensch, dem ich seit Auden damals in Oxford begegnet bin. Er sieht aus wie Harpo Marx und ist ungeheuer talentiert – und auch klug, denke ich.«
In den Zeichnungen in der Nullnummer wimmelt es von Scherzen und zweideutigen Anspielungen, die dem Ton der Briefe entsprechen, die Freud und Spender zu jener Zeit austauschten. Diese Briefe, die im Jahr 2015 auftauchten, deuten darauf hin, dass Freud und der doppelt so alte Dichter eine sexuelle Beziehung unterhielten (so unterschrieb Freud die Briefe mit den schlüpfrigen Pseudonymen »Lucianos Fruititas« und »Lucio Fruit«) ; vielleicht flirteten sie aber auch nur.
Neben den witzigen Zeichnungen fertigte Freud in jenem Winter mehrere Portraits und Selbstbildnisse an. Eines seiner Selbstportraits erschien im folgenden Frühjahr in einer der ersten Ausgaben von Horizon. Im selben Heft veröffentlichte der Kunstkritiker Clement Greenberg seinen bahnbrechenden Essay »Avantgarde und Kitsch«.
Freud war zweimal verheiratet. Beide Ehen schloss er vor dem dreißigsten Lebensjahr. Aber im Lauf seines Lebens zeugte er etwa dreizehn Kinder und hatte so viele Geliebte, dass es dem gewissenhaftesten Biographen schwerfallen würde, eine vollständige Liste zu erstellen. Dennoch beharrte Freud im Alter von neunundsiebzig Jahren darauf, dass er sich in seinem Leben nur zwei- oder dreimal verliebt habe. »Ich spreche hier nicht über Gewohnheiten oder über Hysterie«, sagte er. »Ich spreche über eine tatsächliche, vollständige, uneingeschränkte Beziehung, in der alles an der anderen Person dein Interesse, deine Sorge oder dein Wohlgefallen weckt.«
Wer waren diese zwei oder drei Menschen ? Es ist nicht leicht, das festzustellen. Aber Freuds erste feste Freundin – die erste Person, von der er »schwärmte«, wie er es ausdrückte – war Lorna Wishart, eine reiche, abenteuerlustige, faszinierende Mutter von drei Kindern, für Peggy Guggenheim die schönste Frau, die sie je gesehen hatte. Lorna war elf Jahre älter als Freud, der über sie sagte, dass alle Welt sie gemocht habe, »sogar meine Mutter«.
Lorna war erst sechzehn Jahre alt gewesen, als sie den Verleger Ernest Wishart geheiratet hatte. Eines ihrer zwei gemeinsamen Kinder war der Künstler Michael Wishart, der 1928 geboren wurde. Ein drittes Kind hatte sie mit dem Dichter Laurie Lee, mit dem Lorna Ende der dreißiger Jahre und in den vierziger Jahren eine langjährige Affäre hatte, bevor sie Freud begegnete. Als Lee nach Spanien aufbrach, um auf Seiten der Republikaner im Bürgerkrieg zu kämpfen, schickte Lorna ihm Ein-Pfund-Noten, die sie in Chanel Nr. 5 getaucht hatte. Michael erinnerte sich, dass seine Mutter, wenn sie ihm Gute Nacht sagte, »oft klimpernde Paillettenkleider trug, weil sie tanzen gehen wollte«. Ihre Tochter Yasmin beschrieb sie als »wirklich amoralisch, aber alle Welt verzieh es ihr, weil sie ihrer Umgebung so viel Leben gab«.
Im Jahr 1944 nahm Freud Lees Platz in Lornas Herz ein. Er war erst einundzwanzig Jahre alt, Lorna war über dreißig. Die Affäre hatte eine gewaltige Wirkung auf den jungen Künstler. Lorna war nicht nur älter und erfahrener als er, sondern auch wild, romantisch und unvorhersehbar – eine inspirierende Gesellschaft für einen feurigen jungen Mann. Yasmin beschrieb ihre Mutter später als »Traum jedes Künstlers, weil sie seine Kreativität anregte. Sie war die geborene Muse, eine Inspiration.«
Freud malte Lorna im Jahr 1945 zweimal – einmal mit einer Narzisse, das andere Mal mit einer Tulpe. Von einem Tierpräparator in Piccadilly brachte sie ihm den ausgestopften Kopf eines Zebras mit, der so etwas wie ein Talisman für ihn wurde. Er bezeichnete ihn als sein »bestes Stück« und verwendete ihn für ein Bild, das Lorna bei seiner ersten Ausstellung erwarb. Das Bild zeigt eine skurrile surrealistische Szene mit einem abgenutzten Sofa, einem Zylinder, einer Palme und dem Zebrakopf (die Streifen waren nicht schwarz, sondern rot), der durch ein Fenster in den Raum ragte.
Es dauerte jedoch nicht lange, bis Lorna herausfand, dass Freud auch eine Affäre mit einer jungen Schauspielerin hatte. Sie gab ihm auf der Stelle den Laufpass, und obwohl er sich große Mühe gab, sie zurückzugewinnen – bei einer Gelegenheit tauchte er vor ihrem Haus auf und drohte, mit einer Pistole um sich zu schießen, wenn sie nicht herauskäme (er schoss tatsächlich in die Luft), ein anderes Mal brachte er ihr ein weißes Kätzchen in einer braunen Papiertüte –, blieb sie unversöhnlich.
Mit Francis Bacon kam Freud im Jahr 1945 durch den älteren Maler Graham Sutherland in Kontakt. Zu jener Zeit lebte Freud in einem Abbruchhaus in Paddington. »Ich besuchte [ Sutherland ] regelmäßig in Kent«, erinnerte sich Freud im Jahr 2006. »Jung und taktlos, wie ich war, fragte ich ihn : ›Wer ist deiner Meinung nach der beste Maler in England ?‹ Natürlich hielt er sich selbst für den Besten, und tatsächlich begannen ihn die Leute als den Besten zu betrachten. Er antwortete : ›Ach, das ist einer, von dem du noch nie gehört hast. Ein wirklich außergewöhnlicher Mann. Er verbringt seine Zeit im Casino von Monte-Carlo, und gelegentlich kommt er heim. Wenn er ein Bild malt, zerstört er es für gewöhnlich.‹ Und so weiter. Das klang interessant. Also schrieb ich ihm oder besuchte ihn, und so lernten wir uns kennen.«
Sutherland hatte einen guten Riecher : Bacon, der zu jener Zeit Anfang dreißig war, fand in diesen Jahren seinen Weg. Mag sein, dass er unter zermürbenden Selbstzweifeln litt, wie er später gestand. Aber er malte Bilder, die ihn von der Masse abhoben. Es waren gequälte und quälende Bilder, in denen aufmerksame Beobachter etwas Reptilienartiges, Bedrohliches erkannten, das zum Leben erwachte.
Wenn Freuds Biograph William Feaver Recht hat, dürften die beiden einander tatsächlich erstmals in der Victoria Station begegnet sein, von wo aus sie gemeinsam zu einem Wochenende bei den Sutherlands in Kent aufbrachen. Es ist amüsant, sich die beiden während dieser Zugfahrt vorzustellen. Zwei exotische Geschöpfe. Freud mit seiner übernatürlichen Wachsamkeit, seiner Ausstrahlung der Ungebundenheit, seiner verstörenden Kombination von Schüchternheit und Theatralik. Auf der anderen Seite der spitzbübische und ironische Bacon, der seine brutale Direktheit irgendwie in den Dienst seines noch verheerenderen Charmes stellte. Der Krieg war noch nicht zu Ende. Und Sutherlands doppeldeutige Gegenwart, ermutigend und zugleich beängstigend, hing ödipal über der Begegnung.
Beide Männer waren auffällige Erscheinungen : Bacon sah trotz seiner Pausbacken gut aus, Freuds schmales, spitzes Gesicht mit der gekrümmten Nase und den feinen Lippen wurde von einem wuscheligen Haarschopf eingerahmt. Dazu vier unglaubliche Augen – sie fielen jedermann auf. Freud hatte zu jener Zeit bereits das Interesse zahlreicher älterer homosexueller Poeten, Schriftsteller und Maler geweckt, darunter Spender und Watson und die Maler Cedric Morris und Arthur Lett-Haines, seine Lehrer an der East Anglian School in Dedham. Diese und andere Männer unterstützten im Krieg und in den Nachkriegsjahren junge, unkonventionelle englische Künstler. Zu ihnen und vielen anderen homo- oder bisexuellen Männern seiner Generation – darunter Wishart, John Minton, Cecil Beaton und Richardson – pflegte Freud enge, von Neugier und Sympathie gekennzeichnete Beziehungen.
Möglicherweise hing also eine sexuelle Spannung in der Luft. Aber wie verlief das Gespräch ? War es verhalten, zögerlich, latent kompetitiv ? Oder war es eher eine unschuldige Form der Verführung im Rahmen eines Ausflugs, der im Grunde ein Jux war ? Wir kennen die Antworten auf diese Fragen nicht. Beide Männer sind tot. Man neigt zu der Annahme, dass es ein Fehler war, nicht zu fragen – nicht nach mehr Information zu fragen, und dann erneut nachzufragen. Aber vielleicht mussten jene, die fragten, rasch feststellen, dass eben das der Fehler war. Schließlich wurde in vielerlei Hinsicht gerade die Unmöglichkeit der Bestimmung von Charakter, Beweggründen, Empfindungen oder sozialem Status – jener Eigenschaften, auf denen die Portraitmalerei seit Jahrhunderten beruhte – bald die Prämisse, von der diese beiden Künstler in ihrer Arbeit ausgingen.
Wie auch immer es dazu kam, fest steht, dass beide etwas im anderen sahen, etwas, das ungeheuer verlockend für sie war. Drei Jahrzehnte später würden sie nicht mehr miteinander sprechen. Aber jetzt begannen sie, einander fast täglich zu sehen.
Zwei Jahre nach der Trennung von Freud bewies Lorna Wishart Großmut und stellte dem Maler ihre Nichte Kitty vor. Kitty, die Tochter des Bildhauers Jacob Epstein, hatte die großen Augen ihrer Tante, aber nicht Lornas Selbstvertrauen und Lebhaftigkeit. Sie war schüchtern, und genau das gefiel Freud, der ebenfalls eine schüchterne, zurückhaltende Seite hatte. Die beiden wurden ein Liebespaar und heirateten im Jahr 1948. Im selben Jahr kam Annie zur Welt, das erste ihrer zwei Kinder. Die Familie lebte in St. John’s Wood, das westlich an den Regent’s Park angrenzt. Das Haus war eine halbe Stunde zu Fuß von Freuds früherer Wohnung in Delamere Terrace entfernt, die ihm jetzt als Atelier diente.
Die Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz erleichterte es Freud, seine Neigung zu amouröser Komplexität auszuleben. Er war noch mit Kitty verheiratet, als er eine wechselvolle, aber langjährige Affäre mit der Malerin Anne Dunn begann. Sie war die Tochter des kanadischen Stahlmagnaten Sir James Dunn. Im Jahr 1950, als sie sich auf die Hochzeit mit Lornas Sohn Michael Wishart vorbereitete, saß sie Freud Modell. Aus dem Hochzeitsfest wurde eine wilde Fete, die drei Nächte dauerte und von David Tennant, dem Begründer des exklusiven Gargoyle Clubs in Soho, den auch Freud und Bacon frequentierten, als »erste richtige Party seit dem Krieg« bezeichnet wurde. Der Bräutigam war opiumsüchtig. In seinen Memoiren mit dem Titel HighDiver erinnerte sich Wishart daran, dass der Festsaal in South Kensington »höhlenartig« und »nur spärlich mit schäbigen Chintz- und Samtsofas und Divanen möbliert war«. Es herrschte eine »Atmosphäre von vergangener Grandeur« inmitten »trister Überreste edwardianischen Glanzes«.
John Richardson beschrieb das Fest als »Geburtsstunde einer neuartigen Boheme«. Unter den Gästen waren »Parlamentsmitglieder und Professoren von All Souls [ dem Oxford-College ], dazu Strichjungen, nuttige Debütantinnen, Transvestiten«. Wishart brüstete sich damit, »zweihundert Flaschen Bollinger für zweihundert Leute« gekauft zu haben, »und nach kurzer Zeit mussten wir Nachschub anfordern, da immer mehr ungeladene Gäste auftauchten. [ … ] Ich mietete hundert vergoldete Stühle und ein Klavier. Wir tanzten drei Nächte und zwei Tage lang.«
Für Freud war es eine teuflisch komplizierte Veranstaltung. Nicht nur, dass der Bräutigam der Sohn seiner früheren Geliebten Lorna war und dass er jetzt mit deren Nichte Kitty verheiratet war, während er eine Affäre mit der Braut Anne Dunn hatte. Obendrein war er auch mit Michael Wishart liiert gewesen, mit dem er als Jugendlicher in London und nach dem Krieg in Paris zusammengewohnt hatte.
Angesichts der Tatsache, dass er nicht nur mit der Braut, sondern auch mit dem Bräutigam und dessen Mutter sexuelle Kontakte unterhalten hatte, kann es kaum überraschen, dass es Freud vorzog, der Feier fernzubleiben. Aber nach Aussage Dunns war er sehr eifersüchtig – und zwar nicht nur auf sie. Also schickte er Kitty als seine Augen und Ohren hin, und während der Party wurde sie wiederholt von anderen Gästen beobachtet, wie sie zum Telefon ging, um ihren daheimgebliebenen Ehemann über den Stand der Dinge zu informieren.
Der Schauplatz jener Party im Jahr 1950 war das Haus am Cromwell Place in South Kensington, in dem Francis Bacon wohnte. Er lebte – ein weiteres ungewöhnliches Arrangement – mit seinem älteren Liebhaber Eric Hall sowie mit Jessie Lightfoot zusammen, einer älteren Frau, die einst sein Kindermädchen gewesen war. Die Wohnung befand sich im Erdgeschoss eines Hauses, in dem früher einmal der Maler John Everett Millais gelebt hatte. Bacon nutzte einen großen Raum im hinteren Teil der Wohnung – einen ehemaligen Billardsaal – als Atelier. Derselbe Raum war auch von einem anderen früheren Bewohner, dem Fotografen E. O. Hoppé, als Studio genutzt worden. Hoppé, der zum Übergang vom weichen piktorialistischen Stil in der Fotografie zu einem klaren, scharfen Modernismus beitrug, war aus München in die britische Hauptstadt gekommen und hatte sich zum besten Portraitfotografen des edwardianischen London entwickelt. Er hatte auch Theaterkulissen entworfen. Einige der Requisiten, die Hoppé für seine exquisiten, schmeichelhaften Portraits schöner Damen der Gesellschaft und bedeutender Männer verwendet hatte – darunter Vorhänge, ein schwarzer Stoffschirm und ein großes Podium –, waren im Haus zurückgeblieben und verwandelten sich jetzt in Requisiten für eine Portraitkunst ganz anderer Art.
In diesem Atelier hatte Freud zum ersten Mal Bacons Arbeiten zu Gesicht bekommen, darunter ein gerade fertiggestelltes Gemälde, das Bacon einfach Painting genannt hatte [Bildtafel 2]. Freud erinnerte sich noch ein halbes Jahrhundert später genau an seine Begegnung mit diesem Bild. Er bezeichnete es als »das absolut wunderbare, das mit dem Regenschirm«.
Tatsächlich war es Bacons bis dahin betörendstes Gemälde. In einem Raum mit rosafarbenen Wänden, dessen Fenster von violetten Blenden verdeckt sind, sitzt unter einem Regenschirm, der einen rabenschwarzen Schatten wirft, ein Mann vor einem hängenden offenen Kadaver. Der Schirm verdeckt das Gesicht mit Ausnahme des Kinns und des weit geöffneten Mundes, in dem man die untere Zahnreihe sieht. Die Oberlippe ist zermalmt und blutig. Obwohl die Farbe großzügig aufgetragen wurde, ist die Komposition mit sehr spezifischen Details angereichert : Unter dem weißen Hemdkragen steckt eine gelbe Blume im Sakko des Mannes ; auf dem Boden liegt ein mit pointillistischem Schwung hingeworfener orientalischer Teppich ; der Halbkreis eines Geländers grenzt einen Raum ab, der wie eine Arena wirkt. (Dies war eine Vorrichtung, deren sich der theatralische Bacon in den folgenden Jahrzehnten wieder und wieder bedienen sollte.)
Freud vergaß dieses Bild nie.
Bacons Kindheit war ganz anders gewesen als die Freuds. Er war im Jahr 1909 als zweites von fünf Kindern eines pensionierten Heeresoffiziers zur Welt gekommen. Wie Freud hatte auch Bacon einen berühmten Vorfahren : den elisabethanischen Staatsmann und Philosophen, nach dem er benannt war. Sein Vater Eddy Bacon hatte als Mitglied der Durham Light Infantry vier Monate lang am Burenkrieg teilgenommen und war mit der Queen’s Medal mit Spangen ausgezeichnet worden. Kurz vor seiner Heirat mit Winnie Firth war er aus der Armee ausgeschieden. Die Familie seiner Frau hatte ein Vermögen mit Stahl gemacht, aber er bezeichnete sich weiterhin als »Captain Bacon«. Er war als übellauniger, streitlustiger Tyrann mit puritanischen Anwandlungen bekannt. In seinem Haus waren alkoholische Getränke verboten, aber er nahm sich die Freiheit, auf Pferde zu wetten, und trainierte selbst mit geringem Erfolg Rennpferde. Seinen Haushalt führte er mit militärischer Strenge.