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4000 Jahre in der Zukunft ... Wir befinden uns in der Mitte des 23. Jahrhunderts Neuer Galaktischer Zeitrechnung. Die Menschen leben in Frieden und Freiheit. Von der Erde aus haben sie ein Netz aus Handelsbeziehungen und Bündnissen geschlossen, das zahlreiche Planeten in der Milchstraße umfasst. Perry Rhodan – der Mann, der die Menschheit zu den Sternen geführt hat – beabsichtigt, mit dem Prototypen einer neuen Klasse von Kurierschiffen die Verbindungen zwischen den Mitgliedern seines galaxienübergreifenden Bundes von San zu verstärken. Doch ehe der PHOENIX zu seinem Jungfernflug starten kann, attackiert aus dem Nichts heraus die Leun Shrell die Erde: Sie zündet das Brennende Nichts, das binnen vier Jahren Erde und Mond verschlingen wird, wenn nicht Perry Rhodan in ihre Heimat fliegt, um den dortigen Tyrannen zu töten. Dieser Tyrann sei Reginald Bull, Rhodans ältester Freund, und ihre Heimat, die Agolei, ist weiter entfernt, als selbst der PHOENIX fliegen kann. Shrell stattet das Raumschiff deshalb mit einem Verstärkungsmodul aus, und notgedrungen begibt sich Rhodan auf den Weg zur Agolei. Auf der Erde wächst indessen das Brennende Nichts: Als Cameron Rioz und Bonnifer das Nichts wieder verlassen, in dem sie eigentlich hätten sterben müssen, ist das eine Sensation – wenn auch niemand weiß, wie das möglich sein konnte. Die beiden Schicksalsgefährten stellen sich der neuen Realität. Zu ihr gehört aber leider auch DIE SCHATTENHAND ...
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Seitenzahl: 170
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Nr. 3309
Die Schattenhand
Helfer oder Todbringer – ein Terraner bringt ein dunkles Geschenk
Ben Calvin Hary
Cover
Vorspann
Die Hauptpersonen des Romans
Jasmin: Vor zwei Jahren
Cameron: Jetzt und hier
Hintergedanken I
Jasper: Inzwischen
Cameron: Kurz darauf
Jasper: Währenddessen
Hintergedanken II
Cameron: Unterdessen
Die folgenden Tage
Hintergedanken III
Jasper Cole: Am selben Tag
Cameron Rioz: Augenblicke später
Hintergedanken IV
Cam und Jazz: 28. Juli 2250 NGZ, 20.13 Uhr
Gedenken
Fanszene
Leserkontaktseite
Glossar
Impressum
PERRY RHODAN – die Serie
4000 Jahre in der Zukunft ...
Wir befinden uns in der Mitte des 23. Jahrhunderts Neuer Galaktischer Zeitrechnung.
Die Menschen leben in Frieden und Freiheit. Von der Erde aus haben sie ein Netz aus Handelsbeziehungen und Bündnissen geschlossen, das zahlreiche Planeten in der Milchstraße umfasst.
Perry Rhodan – der Mann, der die Menschheit zu den Sternen geführt hat – beabsichtigt, mit dem Prototypen einer neuen Klasse von Kurierschiffen die Verbindungen zwischen den Mitgliedern seines galaxienübergreifenden Bundes von San zu verstärken. Doch ehe der PHOENIX zu seinem Jungfernflug starten kann, attackiert aus dem Nichts heraus die Leun Shrell die Erde: Sie zündet das Brennende Nichts, das binnen vier Jahren Erde und Mond verschlingen wird, wenn nicht Perry Rhodan in ihre Heimat fliegt, um den dortigen Tyrannen zu töten.
Dieser Tyrann sei Reginald Bull, Rhodans ältester Freund, und ihre Heimat, die Agolei, ist weiter entfernt, als selbst der PHOENIX fliegen kann. Shrell stattet das Raumschiff deshalb mit einem Verstärkungsmodul aus, und notgedrungen begibt sich Rhodan auf den Weg zur Agolei.
Auf der Erde wächst indessen das Brennende Nichts: Als Cameron Rioz und Bonnifer das Nichts wieder verlassen, in dem sie eigentlich hätten sterben müssen, ist das eine Sensation – wenn auch niemand weiß, wie das möglich sein konnte. Die beiden Schicksalsgefährten stellen sich der neuen Realität. Zu ihr gehört aber leider auch DIE SCHATTENHAND ...
Cameron Rioz – Ein Idol wird zum Gefallenen.
Jasper Cole – Ein Fan will sein Idol retten.
Bonnifer – Der Conduit stellt sein Wissen zur Verfügung.
Icho Tolot
Jasmin
Vor zwei Jahren
Es ist ein langer Weg nach unten, wenn du auf der Spitze eines terranischen Wohnturms stehst.
Das begreifst du in diesem Augenblick. Nein – nicht, wie weit man fällt, wenn man den Schritt ins Nichts wagt. Sondern, wie tief du schon gestürzt sein musst, bevor du auf die Brüstung steigst.
Es ist ein Julitag. Über dir erstreckt sich blauer Himmel. Die Sommersonne scheint, in Terrania herrschen herrliche 29 Grad Celsius. Für den Abend sieht die Wetterkontrolle Niederschlag vor, aber bis dahin sind es noch Stunden hin. Beim Hinausgehen hat deine Mutter dir trotzdem den Regenmantel in die Hand gedrückt. Weil Mütter so sind.
Vor der Tür hast du ihn fallen lassen. Was kümmert dich der Regen? So lange wirst du nicht auf dem Dach bleiben.
In den Straßen herrscht Leben.
Du atmest. Du schaust hinab und zählst die Gleiter in der Straßenschlucht unter dir. Du stellst dir die Leute vor, die darin sitzen und malst dir ihr Dasein aus. Ihre Sorgen, Freuden, Freunde und jene, die sie lieben.
Und du weißt, dass du nicht dazugehörst.
Von der Sommerwärme spürst du beinahe nichts. Am Boden ist es windstill, doch auf dem Dach, in Hunderten Metern Höhe, herrscht meist Sturm. Bö um Bö verwirbelt deine Strähnen und weht sie dir ins Gesicht. Dein Freund mag dich mit langen Haaren. Du wolltest sie immer kurz.
Ihr seid beide 17, Junge und Mädchen, erste Liebe, große Pläne. Nach dem Studium will er mit dir nach Ferrol. Ehevertrag. Gemeinsames Haus. Kinder. Die Zukunft steht in den Sternen.
Dein Herz ist so kalt wie die Höhenluft.
Du streckst die Arme aus, schiebst den Fuß über die Brüstung, die Sohle hängt halb im Nichts. Normalerweise kann man sich in der Hauptstadt der terranischen Menschheit nicht einfach von einem Bauwerk stürzen. Du hast gewartet, bis die Gebäudetechniker die Antigravsicherungen für ihre jährliche Wartung abgeschaltet haben. Eigentlich dürftest du gar nicht an diesem Ort sein, aber du hast dich durch die Absperrungen geschlichen. Niemand hat dich gesehen, keiner weiß Bescheid. Kein Mensch könnte dich aufhalten, wolltest du es wirklich tun.
15 Sekunden. So lange würde es dauern, bis du unten bist. Das hast du ausgerechnet, immer wieder. Davor würdest du ein flaues Gefühl im Bauch spüren, wie wenn man zu schnell durch einen Antigravschacht sinkt, nur tausendmal stärker. Du überlegst, dir vorher die langen Haare abzudesintegrieren, aber was sollten alle denken, sobald sie dich mit Glatze unten auflesen würden? Sie zerreißen sich sowieso das Maul über dich.
Nicht nur über deine Frisur und wie sie dir steht. Auch über alles andere. Darüber etwa, wie das Oberteil sich über deinen Brüsten spannt und was das mit den Jungs anstellt. Du bist kein Kind mehr. Du bist aufgeblüht. Kerle drehen sich nach dir um, aber sie sehen dir nicht ins Gesicht. Sie schauen dir auf den Hintern. Weil Männer so sind.
Ein Schritt. Lehn dich an die Leere! Alles wird gut.
Natürlich tust du es nicht. Wozu auch? Dein Leben ist perfekt! Aber der Gedanke ist da, und du verstehst nicht, warum.
Was stimmt nicht mit dir?
Du aktivierst das Multifunktionsarmband und blätterst durch dein Holoalbum, mit Bildern deiner Familie: ein gemeinsamer Urlaub auf Plophos. Du und deine Schwester, auf einem Schwebeboot im Goshun-See. Papas Geburtstag. Die Erinnerungen wollen dich zum Lächeln bringen, aber es gelingt ihnen nicht. Du lächelst auch auf keinem der Bilder. Obwohl alle um dich herum es tun.
Im Nachrichtenstrom wechseln Kanäle von Nachrichtenportalen, echten Prominenten und Trividdern mit denen deiner Familie und Freunde. Eine laufende Bildübertragung fällt dir ins Auge. Der Junge im Holo kommt dir bekannt vor, obwohl du nicht mehr weißt, seit wann du ihm folgst. Es ist nur einer von den unzähligen hübschen Kerlen, die dir aus den Kanalempfehlungen entgegengrinsen und deren Inhalte du beiläufig abonnierst, um sie sofort wieder zu vergessen.
Trotzdem vergrößerst du das Bild und aktivierst den Ton. Die Übertragung ist erst vor Sekunden gestartet.
»Hi, Cam-Fans!« Der Junge ist ein paar Jahre älter als du. Seine Haut ist dunkelbraun, seine Augen sanft. Er wirkt aufgebracht, aber auf eine gute Art. Als wollte er jeden Moment in Jubel ausbrechen und könnte sich nur mit Mühe zurückhalten.
»Nach nur einer Woche haben wir es auf dreihunderttausend Fans gebracht. Danke, dass ihr mir zuseht. Danke für jedes Emot und jeden Holokommentar. Ob wir bis Monatsende die halbe Million knacken?« Er triumphiert mit der erhobenen Faust. Der Bildfilter macht seine Zähne weißer als Elfenbein. Am unteren Bildrand steht sein Name: Cameron Rioz.
Du setzt dich auf die Brüstung und hörst ihm zu. Die Höhe, der Wind und der Abgrund in dir sind für kurze Zeit vergessen.
Er redet viel: wie er bei einer Agentur unter Vertrag gekommen ist, welche Kniffe seine neue Managerin – eine gewisse Lyta – ihm beibringt. Dass er neulich auf der Straße erkannt wurde. Es ist belangloses Zeug, wie Trividder häufig vor sich hinblubbern. Kaum sagt er einen Satz, hast du ihn schon wieder vergessen. Aber seine Stimme ist melodisch, und seine Energie reißt dich mit. Sein Grinsen, die Grübchen, das Augenzwinkern und die leichte Ironie, mit der er alles vorträgt, nehmen dich gefangen.
»Ginge es nach meinen Eltern, würdet ihr mich gar nicht kennen«, sagt er schließlich. »Die haben so ein Bild von mir. Für sie bin ich der brave Schüler, demnächst Student, der immer hilft, wo er kann. Sie sagen, als Trividder helfe ich niemandem. Dass ich den Ruhm doch nicht brauche für mein Ego. Dass ich mir zu schade dafür sein sollte, den Kasper für euch zu spielen. ›Du könntest so viel mehr sein, Cam.‹«
Seine Augen sind traurig, aber er lacht. Er schlägt sich gegen die Brust. »Sie bilden sich ein, dass eines Tages dieser wunderschöne Schmetterling aus mir wird, während in diesem Kokon bestenfalls eine Motte steckt. Manchmal frage ich mich, ob sie mich überhaupt sehen.«
Du stoppst den Trivid-Strom. Springst zurück. Hörst dir die letzten Sekunden noch einmal an. Sie waren kaum tiefsinniger als der ganze Rest, den Cameron Rioz von sich gegeben hat. Aber er hat so ehrlich geklungen, so echt.
Als würde er nicht zu dreihunderttausend Fremden sprechen, sondern nur mit dir.
Als hätte er dich gesehen.
Du wiederholst den Teil noch ein paarmal, lässt ihn sacken. Dann spielst du den Rest von Cameron Rioz' Übertragung ab, aber du hörst gar nicht mehr zu. Deine Gedanken sind in Aufruhr.
Du hast nie darum gebeten, ein Schmetterling zu sein. Keiner kann verlangen, dass du einer zu sein hast.
Irgendwann steigst du von der Brüstung. Du willst überhaupt nicht springen, du hattest es nie vor.
Aber so weitermachen kannst du auch nicht.
Also kehrst du zu deiner Familie zurück, nimmst allen Mut zusammen und stellst dich ihnen erstmals vor.
Es ist nicht alles, was du brauchst. Aber es ist ein Anfang.
Cameron
Jetzt und hier
Ich weiß nicht, was schlimmer ist: gar keine Hand zu haben – oder dieses abscheuliche Irgendwas, das gar nicht zu mir gehört.
Das Schicksal treibt seine Scherze mit mir. Ich habe das Brennende Nichts überlebt. Und zwar nicht ein-, sondern zweimal. Beim ersten Versuch wollte es mich umbringen. Aber es hat nur meine Rechte bekommen und mich mit einem Schwarzen Mal gezeichnet.
Beim zweiten Mal hat es mir ein Souvenir mitgegeben: eine brandneue Hand, als Ersatz für das verlorene Original. Doch sie ist scheußlich. Wie ein Loch im Universum, das die Form meiner ursprünglichen Hand hat, aber kein Licht reflektiert und eigentlich gar nicht da zu sein scheint. Allein es zu beschreiben, stellt mich schon vor Schwierigkeiten.
»Was ist das für ein Ding, Bonnifer?« Ich sitze im Schatten einer Ruine auf dem Boden, balle die Rechte zur Faust und öffne sie wieder.
»Shrell hätte es eine Schattenhand genannt.« Bonnifer kauert mit untergeschlagenen Beinen vor einer Mauer und sieht mir zu. Statt des roten Rocks, in dem ich ihn kennengelernt habe, trägt er terranische Kleidung. Sie schlackert lose um seine Schultern. »Das habe ich dir gestern schon verraten. Ich habe Bilder davon in den Datenbanken der ELDA-RON gesehen. Ich weiß ebenso wenig darüber wie über die Schwarzen Male. Aber sie sind wohl sehr selten. Shrell würde vermutlich für eine von ihnen töten.«
Er umfasst sein Handgelenk und macht mit der anderen Hand eine Greifbewegung – eine Geste, die ich nicht sofort begreife. Dann wird mir klar, dass er Shrells Prothese meint. Meist verbirgt sie das künstliche Gliedmaß, aber ich habe sie ohne ihren Handschuh gesehen.
Ich nicke. »Dann ist es gut, dass ich sie nicht schon hatte, als ich ihr Gefangener war!«
Mit Bonnifers Antwort bin ich trotzdem unzufrieden. Diese Schattenhand ist jetzt ein Teil von mir, und ich will verdammt noch mal wissen, woher sie kommt und was es damit auf sich hat. Was kann ich über sie herausfinden?
Nicht viel, wie sich zeigt. Ich kralle mich in den Nanotextilstoff des zu engen Hemds, das ich nach unserer Rückkehr aus der Anomalie zu tragen gezwungen bin, raffe Staub vom Boden und lasse ihn fallen. Ich kratze mich und spüre die Berührung auf der Haut. Die Hand gehorcht mir, ich kann sie bewegen und damit zugreifen wie mit meiner echten. Aber ich habe keinerlei Gefühl darin. Testweise schlage ich beide Handflächen gegeneinander.
Das Geräusch, das eine einzelne klatschende Hand macht? Es ist ein dumpfes, enttäuschendes »Puff«. Womit auch diese jahrtausendealte Menschheitsfrage abschließend geklärt wäre.
Von fern dringt verhaltener Donner. Der Untergrund, auf dem ich sitze, vibriert. Wir haben im Freien geschlafen.
Unsere Angst, dass eines der leer stehenden Gebäude einstürzt und uns unter sich begräbt, war zu groß. Dies ist die Sperrzone rings um das Brennende Nichts in Atlan Village.
Ich hebe den Blick und schaue nach Osten. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie die Silhouette des Nosmo-Towers am Rand der Anomalie in sich zusammenstürzt. Abertausende Tonnen Terkonit, Nanokunststoffe und Glassit folgen der Schwerkraft. Trümmer krachen hin, mit einer Wucht, die bis hierher spürbar ist. Das Nichts hat das zwei Kilometer hohe Gebäude angeschnitten und seiner Statik beraubt.
Eine braungraue Wolke steigt an seiner Stelle in die Höhe und wölbt und bauscht sich auf, fast wie der Flammenpilz nach einer großen Explosion. Der Wind verweht sie und treibt sie als Dunst in unsere Richtung.
»Wir sollten aufbrechen.« Ich quäle mich vom Boden und klopfe mir den Staub aus den fremden Klamotten. Sie passen mir nicht, sind viel zu eng und spannen um Brust und Oberschenkel.
Unsere behelfsmäßige Kleidung und ein Multifunktionsarmband stammen aus einer verlassenen Wohnung in der Nähe. Meinen Zuschauern hätte ich mich in diesem Aufzug nie gezeigt, aber ich kann nicht wählerisch sein. Bonnifers Pentaferer und unsere sämtlichen Klamotten hat das Brennende Nichts vernichtet. Nur wir haben überlebt.
Wir orientieren uns und streben den Rand des Katastrophengebiets an.
Es ist früher Morgen. Zumindest vermute ich das, denn Bonnifer und ich sind gerade aufgewacht. Wie lange wir geschlafen haben, weiß ich nicht, aber inzwischen ist es hell. Die Sonne steht irgendwo im Westen tief am Himmel und unterhalb jener Wohntürme, die das Brennende Nichts noch nicht verschlungen hat. Wie klagend gestreckte Finger weisen ihre Schatten in Richtung der Anomalie.
Illustration: Swen Papenbrock
Im Osten droht gestaltlose Schwärze. Die Welt endet dort. Ich habe keine Ahnung, wie groß das Brennende Nichts mittlerweile ist, aber es hat einen viel größeren Teil von Atlan Village vernichtet als vor unserem Schritt ins Innere.
»Hier habe ich schreiben und lesen gelernt«, sage ich, als wir am Hof der Yart-Fulgen-Grundschule vorbeikommen. »Gestern lag all dies noch weit außerhalb des Katastrophengebiets.« Mein Atem schlägt sich in der Morgenluft nieder, ich fröstele.
Offenbar funktioniert die Wetterkontrolle seit dem Ende NATHANS nur unzureichend. Das Klima in der Zentralgobi ist kontinental, selbst mit der Klimasteuerung sind die Morgenstunden oft empfindlich kalt.
»Gestern«, weiß ich natürlich, liegt über ein Realjahr zurück. Die Anomalie breitet sich kontinuierlich aus, ihr Umfang ist entsprechend gewachsen.
Aber akzeptieren kann ich das nicht. Es fühlt sich nicht an wie ein Jahr. Für mich liegt Shrells Anschlag buchstäblich erst Stunden zurück.
Seit der Katastrophe auf Luna komme ich nicht zur Ruhe. Vom Tod Lytas zum Absturz der Solaren Residenz. Vom Kampf gegen Shrell in der Wohnung meiner gestorbenen Eltern zur Entführung auf die ELDA-RON. Dann folgte die Befreiung durch Sichu Dorksteiger und Gucky. Es war ein Ritt voll Schweiß, Tränen und Adrenalin.
Zuletzt haben wir den unheimlichen Lockrufen aus dem Brennenden Nichts nachgegeben, die ich und Bonnifer als Einzige gehört haben. Er hat mich an der Hand genommen und in die Anomalie gezerrt. Nur so würde Shrell glauben, dass wir beide tot seien. Damit sie aufhörte, uns nachzustellen.
Und als er das sagte, wirkte er, als wüsste er, was wir tun müssten. Ob ihm klar war, dass das Nichts uns wieder ausspucken wird? Und das, obwohl es jeden anderen bei der ersten Berührung tötet?
»Warum sind wir noch am Leben?«
»Glück«, behauptet Bonnifer. »Ich folgte einer begründeten Vermutung. Der Sirenenchor in unseren Köpfen mag das Ergebnis psionischer Interferenz sein. Eine Illusion, die unsere Gehirne erzeugen, für die Eindrücke aus der Anomalie nicht verstehbar sind. Aber diese Illusion muss eine Ursache haben. Etwas befindet sich im Innern, das über nihilistisches Nichtsein hinausgeht.«
»Was immer das heißt.« Wenigstens sind die Stimmen fort. Zumindest für mich.
Bonnifer berichtet, dass er den atonalen Chor im Geist noch immer hört. »Bloß dich, deinen Missklang, nehme ich nicht länger wahr. Dein Schwarzes Mal ist fort, du bist daher kein Conduit mehr. Deswegen nimmst du die Stimmen auch nicht länger wahr.«
Ich höre auf, ihn zu löchern, denn offensichtlich wirft er nur mit aufgeschnappten Begriffen um sich. Antworten hat er keine. Die Schattenhand und das Schwarze Mal sind zwei völlig verschiedene Dinge. Das ist alles, was ich für mich herausziehe.
Aber warum sind seit unserem Gang in die Anomalie zwölf Monate vergangen? Haben wir einen Zeitsprung absolviert? Oder sind nur die Erinnerungen fort? Was haben wir erlebt?
Schweigend ziehen wir weiter.
Es gibt nicht nur Ruinen in der Sperrzone. Zerstört sind lediglich die Straßenzüge und Häuser, die von herabstürzenden Trümmern getroffen wurden. Das passiert nur dort, wo Wohntürme unmittelbar an die Anomalie grenzen. Keine zehn Okrills bringen mich dahin zurück!
Die Northstar Road wirkt hingegen wie immer, sieht man davon ab, dass auch sie evakuiert wurde. Wir passieren leer stehende Geschäfte und aufgegebene Restaurants, Parks und geräumte Wohngebiete. Wir begegnen keinem Menschen. Unsere Schritte hallen dumpf von den Fassaden wider. Eine Staubdecke bedeckt die Straßen und Dächer, er stammt von ringsum eingestürzten Wohntürmen. Das Grau schluckt den Schall, wie frisch gefallener Schnee. Die Stille ist gespenstisch.
Deswegen höre ich den Roboter eine ganze Weile, bevor er in Sichtweite kommt.
Die Maschine schwirrt hoch über unseren Köpfen. Vom Boden aus wirkt sie kaum größer als ein Punkt, aber ich erahne die Bauform: Es ist ein TARA, eine dieser kegelförmigen Kampfmaschinen, wie ich sie auch in der Solaren Residenz gesehen habe und die die Evakuierung geleitet haben.
Das Sperrgebiet ist mit einem Schutzschirmzaun abgeriegelt, der ständig mit der wachsenden Anomalie erweitert wird. Das war der Status vor meinem und Bonnifers Gang ins Brennende Nichts. Nach allem, was das erbeutete Mehrzweckarmband und mit ihm die Nachrichtenkanäle uns verraten, hat sich daran seit einem Jahr wenig geändert. Trotzdem gibt es immer wieder Abenteurer, die die Absperrung überwinden und sich in der Evakuierungszone herumtreiben. Die Regierung setzt TARAS als Wächter ein, um Zurückgebliebene zu bergen und Schaulustige daran zu hindern, dem Nichts zu nahe zu kommen.
Eigentlich müssten wir winken und dafür sorgen, dass die Kamera uns erfasst oder der Roboter unsere Anwesenheit meldet. Dass jemand alarmiert wird, der uns abholt und durch den Schutzschirm bringt.
Zurück zu den Menschen, die mich vermissen.
Mir wird heiß und kalt.
Ich packe Bonnifer am Kragen und ziehe ihn mit mir. Sein Körper ist humanoid, aber nicht menschlich, der Stoff sitzt lose um seinen Leib. Es fühlt sich an, als zerrte ich an einem halb vollen Sack. Widerstandslos folgt er mir.
Wir hasten über eine niedrige Mauer und kauern uns in ihren Schutz. Ich hebe den Finger vor die Lippen. Hoffentlich versteht Bonnifer die Geste. Ob die Schwebekamera Mikrofonfelder einsetzt, weiß ich nicht. Vermutlich wären sie ohnehin nicht empfindlich genug, unsere Worte zu erfassen, aber sicher ist sicher!
Der Blick aus Bonnifers glutroten Augen huscht suchend über mein Gesicht. Ratlosigkeit zeichnet seine violettschwarzen Züge.
Andere Dinge haben sich verändert, wie ich inzwischen dank des Armbands weiß. Während der TARA suchend über uns schwebt, blättere ich durch alte Artikel und hole weiter Wissen auf.
Einer der Nachrichtentexte stammt vom Juni letzten Jahres: In den ersten Stunden und Tagen nach der Katastrophe sei die Priorität gewesen, Shrell zu schnappen und zu ergründen, was es mit ihrem zweiten »Geschenk« auf sich hatte. Zeitgleich, wenn auch selbstverständlich im Verborgenen, waren aber der TLD und die anderen Ermittlungsbehörden aktiv geworden: So, wie sich Shrells Anschlag abgespielt hat, hätte es im Vorfeld Mitwisser geben müssen! Ich lese und erfahre so, was wirklich hinter der urbanen Legende vom »Geisterschiff« steckt. Bonnifer sitzt nickend neben mir und bestätigt alles:
Shrell hat es vor fünf Dekaden nach einem mehrjährigen, intensiven Anhörungs- und Genehmigungsmarathon geschafft, dass ihr und Bonnifer ein unbefristeter Aufenthalt auf Terra gestattet worden war. Da die Leun auf Diskretion Wert gelegt hatte, war das zwar alles andere als geheim gewesen, man hatte es aber auch nicht an die große Glocke gehängt.
Dazu hätte ohnehin keine Veranlassung bestanden. Denn das allgemeine Interesse an einem solch alltäglichen Verfahren, so der Artikel weiter, hätte sich ohnehin in Grenzen gehalten. Derlei Anträge würden in jedem Jahr zu Hunderten gestellt, die ELDA-RON war nur einer von vielen Fällen gewesen. Behörden und Angehörige der Raumhafenverwaltung aber seien, entgegen der scherzhaften Verschwörungstheorie, immer wieder an Bord gewesen.
Bonnifer bestätigt auch das: »So einmal im Monat hat jemand nach dem Rechten gesehen, später alle zwei Monate. Am Ende geschah das fast nur noch über Funk. Shrell hat mich meistens außer Sichtweite gehalten, unter dem Vorwand der angeblich sakrosankten Privatsphäre.« Inzwischen ist die Entfernung des TARAS zu uns gewachsen, sodass wir uns flüsternd zu unterhalten wagen. Der Wyconder lacht bitter. »Als hätte ich es je gewagt, offen gegen sie vorzugehen und sie zu verraten. Dazu war ich viel zu verängstigt.«