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Die philosophischen Schriften Rudolf Steiners enthalten die Grundlegung der Anthroposophie. Ihre Reihenfolge zeigt eine siebengliedrige Entwicklungslogik, durch die sie einen spirituellen Schulungsweg des aufgeklärten, wissenschaftlichen Denkens darstellen. »Die Reihe Steiner studieren möchte das Studium der Anthroposophie unterstützen. Sie möchte zeigen, wie mit Rudolf Steiners Werk gearbeitet werden kann und zu welchen Ergebnissen solche Studien gelangen.«
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Seitenzahl: 76
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Der zitierte Wortlaut Rudolf Steiners folgt der im Rudolf Steiner Verlag erschienenen Gesamtausgabe (GA) Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung, Dornach/Schweiz.
Zu dieser Reihe
Die Reihenfolge der philosophischen Schriften Rudolf Steiners als spiritueller Schulungsweg
Thema und Hintergrund
Die Wesensglieder des Menschen als Verständnis- und Entwicklungsprinzip
Die Anthroposophie als ein lebendiger Organismus - Komposition im Werk Rudolf Steiners
Die sieben philosophischen Schriften
Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften
(1884-97)
Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung
(1886)
Wahrheit und Wissenschaft
(1892)
Die Philosophie der Freiheit
(1894)
Die Philosophie der Freiheit, das höhere Selbst und das esoterische Christentum
Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit
(1895)
Goethes Weltanschauung
(1897)
Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert
(1900-01)
Philosophie als Initiation
Zeittafel
Literatur
Die Anthroposophie ist ein Mensch, der durch eine Freiheitstat geschaffen wird.(Rudolf Steiner)
Die sieben »Planetensiegel« Rudolf Steiners zur Übung eines bildhaften und beweglichen Denkens. (Versuchen Sie, die Formen ineinander umzugestalten und dabei ihren jeweils unterschiedlichen Ausdruck zu erleben.)
Rudolf Steiner (1961-1925) schuf das bisher größte gedruckte Werk eines einzelnen Autors: 45 Bände mit Schriften, Aufsätzen und Briefen sowie knapp 310 Bände mit über 6.000 Vorträgen, die mitstenographiert oder aus Hörernotizen zusammengestellt wurden. In schier unüberschaubarer Fülle und Tiefe stellte Steiner Ergebnisse und Methoden seiner spirituellen Forschungen dar, die sich auf die tiefsten Fragen des Menschseins und des Kosmos beziehen.
Die anthroposophische Geisteswissenschaft ist das groß angelegte Projekt, neu über Mensch und Welt und das Verhältnis zwischen beiden denken zu lernen - einerseits durch eine an die Wurzeln des Erkennens heranreichende Philosophie und eine aus diesen Wurzeln entspringende geistige Schau, andererseits durch eine praktisch alle Bereiche des menschlichen Lebens und Wissens umfassende Empirie.
Allerdings machte es Steiner seinen Lesern nicht leicht. Es ging ihm nicht in erster Linie um die Verbreitung neuer Gedankeninhalte, sondern darum, ein neues Denken zu inaugurieren, das so lebendig und reich an inneren Erfahrungen ist, dass es in sich selbst das Geistige als Wirklichkeit erfassen kann und dann erkennend erlebt, dass dieses Geistige im Menschen und in der Welt wirksam ist. Steiner wollte, dass schon das Studium seiner Schriften und Vorträge ein erster Schritt auf dem Weg der inneren Erweckung zu einem neuen, spirituellen Leben sein sollte.
Heute ist die Anthroposophie in diversen Praxisfeldern weltweit erfolgreich: Von der Waldorfpädagogik über die Demeter Landwirtschaft und die anthroposophische Medizin und Heilpädagogik bis hin zu anthroposophisch orientierten Hochschulen, Banken u.a.m. Das sind Früchte von Steiners Geisteswissenschaft, aber die Wurzeln und der Stamm, aus denen sie hervorgewachsen sind, sind vielen Zeitgenossen immer noch praktisch unbekannt oder mit großen Vorurteilen belegt. Das liegt auch daran, dass das Studium der Geisteswissenschaft keine einfache Angelegenheit ist.
Die Reihe Steiner studieren, herausgegeben von der Akanthos-Akademie für anthroposophische Forschung und Entwicklung e.V. in Stuttgart, möchte dieses Studium unterstützen. Sie möchte zeigen, wie mit Rudolf Steiners Werk gearbeitet werden kann und zu welchen Ergebnissen solche Studien gelangen. Der klare, gedankliche Zugang zu Steiners Ausführungen soll dabei das Ziel unserer Darstellungen sein, Gründlichkeit und Tiefe ihre Methode. Wir wollen sowohl für anthroposophisch vorgebildete Leser Anregungen geben als auch für nicht-Anthroposophen Einblicke in Steiners Werk ermöglichen. Wir hoffen, damit einen Beitrag zum Verständnis und zur Erforschung der Anthroposophie als einer modernen Wissenschaft des Geistes zu leisten.
Tübingen, im Dezember 2017 Christoph Hueck Andreas Neider
1 Überarbeitete und stark erweiterte Version eines Aufsatzes, der an Ostern 2015 in der Zeitschrift Anthroposophie erschien.
Bevor Rudolf Steiner seine esoterisch-geisteswissenschaftliche Lehre, die Anthroposophie, entfaltete, schuf er eine solide, erkenntnistheoretische Grundlage in einer Reihe philosophischer Untersuchungen: Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften (1884-97), Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (1886), Wahrheit und Wissenschaft (1892), Die Philosophie der Freiheit (1894), Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit (1895)› Goethes Weltanschauung (1897), sowie Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert (1900-012). Gemäß Steiners Bestimmung der Anthroposophie als eines Erkenntnisweges, »der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen möchte«3, untersuchte er schon in seinen philosophischen Schriften die Verbindungen, die zwischen dem Menschen und der Welt im Erkennen und Handeln bestehen.
Steiner ging von Goethe aus, da er schon früh mit der Herausgabe von dessen naturwissenschaftlichem Werk betraut wurde. Dort fand er eine ganzheitliche Naturanschauung, die von der genauen Beobachtung der einzelnen, sinnlichen Erscheinungen zur Anschauung ihres gemeinsamen, geistigen Wesens strebt. Goethe hatte sich ausführlich mit dem Wesen des Lebendigen beschäftigt und durch vergleichende Betrachtung von Pflanzen das Prinzip der Metamorphose entdeckt. In unterschiedlichen pflanzlichen Organen, in Laub-, Kelch-, Blüten- und Fruchtblättern hatte er ein gemeinsames Bildungsprinzip erkannt, von dem er sagte: »Alles ist Blatt«, und von dem er Friedrich Schiller gegenüber behauptete, dass er es »wie mit Augen sehen« könne.4 Rudolf Steiner sah darin den Beginn einer exakt fundierten Forschungsmethode, die zur übersinnlichen Anschauung führt, denn das Gemeinsame der verschiedenen Organe lässt sich nicht mit sinnlichen, sondern nur mit den »Augen des Geistes« anschauen.
Allerdings reichte die Idee der geistigen Einheit in der natürlichen Mannigfaltigkeit nicht aus, um auch zu verstehen, nach welchen Gesetzen sich die verschiedenen Blattformen ineinander umbilden; dazu benötigte Goethe noch die weitere Idee der sukzessiven Ausdehnung und Zusammenziehung.
In ähnlicher Weise kann man von Rudolf Steiners philosophischen Schriften sagen: Alles ist Selbsterkenntnis des Menschen in seinem Verhältnis zur Welt. Aber gibt es auch ein Verwandlungsprinzip dieser Schriften? Gibt es einen Grund, warum es gerade sieben Werke sind? Warum verfasste Steiner drei Schriften (Grundlinien, Wahrheit und Wissenschaft, Philosophie der Freiheit) zur Bedeutung des Denkens im Erkenntnisprozess? Warum schrieb er nach 1897 noch einmal über Goethes Weltanschauung? Warum schließlich ein wie aus der Reihe fallendes, ausführliches Buch über Friedrich Nietzsche? War dieses lediglich Steiners Begegnung mit Nietzsche geschuldet oder gar, wie manche vermuten, einem opportunistischen Bemühen, sich als Nietzsche-Herausgeber zu empfehlen?
Reihen sich Steiners Schriften also mehr oder weniger zufällig aneinander, oder gibt es eine bestimmte Gedankenbewegung, gar einen inneren Entwicklungsweg, den der Autor in ihrer Abfolge vollzog und für den Leser nachvollziehbar machte?
Goethe fand das Gesetz der Pflanzenmetamorphose, indem er die Umbildungen der pflanzlichen Formen in »innerlicher Beweglichkeit der Gedankenkräfte«5 nachgestaltete. Er hatte dazu langjährige Studien betrieben und sich mit immer neuem Interesse in die Betrachtung der verschiedensten Pflanzenarten vertieft, bis er schließlich ihr gemeinsames Bildungsprinzip entdeckte. Steiner machte darauf aufmerksam, dass eine solche Betrachtung nun nicht nur die Bildung und Umbildung der Pflanzen beschreibt, sondern darüber hinaus auch den erkennenden Menschen mit der erkannten Natur verbindet. Goethe habe nämlich »der menschlichen Erkenntnis etwas zugeschrieben, wodurch diese nicht bloß eine äußere Betrachtung der Weltwesen und Weltvorgänge ist, sondern mit diesen zu einer Einheit zusammenwächst.« (036\334)6
Wer in goethescher Weise die Natur betrachtet, der lernt sich dadurch zugleich selbst kennen und erkennen.
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Zur Rechtfertigung der vorliegenden Darstellung seien einige persönliche Bemerkungen erlaubt. Durch meine nun bereits 35 Jahre währende Beschäftigung mit der Anthroposophie sowie mit Goethes Naturwissenschaft durfte ich erleben, wie man ein organisch-bewegliches und doch in folgerichtigen Entwicklungsschritten verlaufendes Denken ausbilden kann. Das ging einher mit einer zunehmenden Sensitivität für eine Entwicklungslogik, die sich an dem siebengliedrigen Wesensbild des Menschen orientiert, wie es von Rudolf Steiner dargestellt wurde (siehe unten).
Da ich die Anthroposophie von ihren Grundlagen her nachvollziehen wollte, habe ich Steiners philosophische Schriften intensiv studiert. Ihr ganz unterschiedlicher Duktus wurde mir dabei immer deutlicher.
Außerdem hatte ich das Glück, mich aus beruflichen Gründen über viele Jahre ausführlich mit der Menschenkunde der Waldorfpädagogik beschäftigen zu dürfen. Anhand der Idee der Dreigliederung des Menschen lernte ich die imaginative Betrachtungsweise kennen und - zumindest in ersten Anfängen - auch anzuwenden. In der Imagination werden geistige Zusammenhänge in Bildern ausgedrückt, mit welchen die sinnliche Wahrnehmungswelt ›durchschaut‹ werden kann. Das Denken wird lebendiger und fließender und die Wahrnehmung durchsichtiger als in der abstrakten Verstandeserkenntnis, ohne dabei jedoch an Klarheit und Stimmigkeit zu verlieren. Steiners Ausführungen zur Waldorfpädagogik sind durchweg imaginativ. Da sie sich auf den wahrnehmbaren Menschen beziehen, kann man an ihnen lernen, sinnlich Wahrnehmbares mit geistig Erkanntem imaginativ zusammenzuschauen.
Langjährige meditative Praxis ermöglichte mir schließlich, zu intuitiven Erfahrungen bestimmter anthroposophischer Inhalte zu kommen und dabei zumindest für gewisse Fragestellungen eine in sich selbst gegründete Erkenntnissicherheit zu gewinnen. Ich darf daher sagen, dass ich durch den systematischen und geduldigen Umgang mit Rudolf Steiners Darstellungen lernen durfte, zumindest manche seiner Ideen »wie mit Augen« sehen zu können.
Auf dieser Grundlage fiel mir auf, dass sich in der Reihenfolge der philosophischen Schriften Rudolf Steiners eine siebengliedrige Entwicklungslogik verfolgen lässt, die ich im Folgenden darstellen möchte.