Pinguine frieren nicht - Andrej Kurkow - E-Book
SONDERANGEBOT

Pinguine frieren nicht E-Book

Andrej Kurkow

0,0
11,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Viktor und der Pinguin Mischa, die beiden Helden von Picknick auf dem Eis, sehen sich nach einer turbulenten Suche wieder. Doch bis die beiden ihr Glück finden, wird noch einiges passieren

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 597

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Andrej Kurkow

Pinguinefrieren nicht

Roman

Aus dem Russischen von

Sabine Grebing

Titel der

2002 im Folio-Verlag, Charkow,

erschienenen Originalausgabe: ›Zakon Ulitki‹

Die deutsche Erstausgabe

erschien 2003 im Diogenes Verlag

Umschlagfoto von

Tim Flach/Stone/Getty Images

(Ausschnitt)

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23473 2 (4.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60320 0

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Nach der viertägigen Schiffsüberfahrt durch die Drakestraße brauchte Viktor noch etwa drei Tage, um wieder zu sich zu kommen. Die Polarforscher, die mit ihm auf dem Schiff ›Horizont‹ aus dem argentinischen Hafenstädtchen Ushuaia herübergekommen waren, hatten sich auf ihrer Polarstation schon eingelebt und waren an ihre wissenschaftliche Arbeit gegangen. Sie hatten es eilig, vor der hereinbrechenden Polarnacht noch irgendwelche Messungen und Analysen durchzuführen. Viktor dagegen lag immer noch auf dem Bett seines Zimmers in der Wohnetage des Hauptgebäudes. Er verließ sein Zimmer nur zum Essen und um einen Blick in die Runde zu werfen. Man behandelte ihn normal, tat, als gehörte er zum Team. Er freundete sich sogar mit einem richtigen Polarforscher an; der war Biophysiker und beschäftigte sich mit der Erforschung des menschlichen Überlebens unter Extrembedingungen. Viktor schien es auszureichen, zu diesem Zweck ein paarmal die stürmischen Wasser der Drakestraße zu überqueren, die vermutlich auch noch breiter war als das Schwarze Meer. Aber dieser Wissenschaftler interessierte sich nicht für die Überfahrt, obwohl auch er gestand, daß er die ganzen vier Tage mit umnebeltem Kopf und leerem Magen in seiner Koje zugebracht hatte.

[6] Ganz allmählich erkundete Viktor die Station. Schließlich wagte er sich sogar ins Freie. Hierzu händigte man ihm einen knallroten Anzug mit gelben, reflektierenden Streifen aus. Und schärfte ihm die eiserne Regel ein: Vor jedem Verlassen der Station – sei es auch nur für zehn Minuten – unbedingt auf der Tafel links vom Eingang eintragen. Mit Name und Uhrzeit. Man erklärte ihm, daß, wenn einer nach einer Stunde nicht zurückkäme, alle losgingen, um ihn zu suchen.

Überhaupt hatte die Wernadski-Station eine ziemlich tragische Geschichte, und Viktor glaubte allmählich zu verstehen, warum England sie der Ukraine vermacht hatte. Die Engländer hatten hier eindeutig kein Glück gehabt. In den Jahren, seit es die Station gab, waren sechzehn Polarforscher umgekommen und zwei Flugzeuge mit Apparaten und Nachschub zerschellt. Man brauchte bloß ans Wasser hinunterzugehen und zurückzuschauen, und dieser Komplex aus mehreren kleinen und dem einen größeren, zweistöckigen Gebäude mit Lagerspeicher weckte sofort Gedanken an eine Gefängnisinsel vergangener Zeiten.

Nur an einem Ort auf der Polarstation konnte man entspannen und ein wenig herumsitzen: in der Bar des Wohngebäudes. Aber diese Bar war auch nicht ganz von dieser Welt. Alkoholisches wurde hier nicht ausgegeben, einen Barmann gab es auch nicht. Man konnte mit seinem eigenen Schnaps hierher kommen und ein bißchen am Tresen hängen. Man konnte trinken und an der Traube aus Büstenhaltern verschiedener Größen schnuppern, die von einem Stützpfeiler direkt beim Tresen herabhingen. Alle [7] Büstenhalter waren mit Autogrammen ihrer ehemaligen Besitzerinnen versehen – eine etwas merkwürdige Tradition der Station: Jede Frau, die hierher kam, hinterließ ein solches Kleidungsstück an der Bar – wohl als Provokation für die erotischen Träume der Polarforscher.

Auch Viktor fühlte sich von den BHs provoziert. Aber nicht zu nächtlichen Träumen. Seine Hände streckten sich wie von selber nach dem feinen, aber doch festen Gewebe aus, das die entsprechenden, von den Männern so geschätzten Formen gehalten hatte. Und auch wenn es jetzt nur mit Luft gefüllt war, überkam Viktor schon bei der Berührung mit den Fingerspitzen ein Gefühl von Frühling. Er hatte direkt den Duft von Kirschblüten in der Nase.

Vielleicht hätte ihn seine Fantasie auch noch weiter getragen, aber da setzten sich schon zwei Polarforscher an den Tresen, ein paar Flaschen mit argentinischem Bier im Arm. Sie boten Viktor etwas an, aber der lehnte ab.

»Das wirst du noch bereuen, mein Lieber«, sagte einer der beiden mitleidig. »Das ist das letzte Bier, danach gibt es keins mehr!«

Der Biophysiker und Extremologe hieß Stanislaw, oder, einfacher, Stas. Er fand Viktor etwa zwei Stunden später und lud ihn ein, mit ihm spazierenzugehen.

Sie liefen hinunter zu den hölzernen Planken, dem ›Slip‹, wo die motorgetriebenen Schlauchboote auf einem Aluminiumgestell zu Wasser gelassen und wieder heraufgezogen wurden. Dort sah Viktor seine ersten antarktischen Pinguine; im Vergleich zu Mischa waren sie klein, wie Spielzeugfiguren.

[8] »Das sind Adéliepinguine«, erklärte Stas. »Wir sind ja auf einer Insel, das ist noch nicht die echte Antarktis.«

Sie gingen weiter zu dem Generatorhäuschen, in dem der Dieselmotor brummte, dann kamen sie an ein verschlossenes Laboratorium, in dem Magnetfeldmessungen gemacht wurden.

»Hier auf der Station ist ein Mann aus Moskau, mein Namensvetter«, sagte Stas plötzlich, nachdem er sich nach allen Seiten umgesehen und sich davon überzeugt hatte, daß niemand in der Nähe war. »Es geht ihm ziemlich mies, er liegt im Krankentrakt. Ich habe ihm von dir erzählt, und er wollte dich gern kennenlernen. Besuchst du ihn mal?«

»Warum nicht?« sagte Viktor achselzuckend.

Sie kehrten ins Hauptgebäude zurück. Viktor ging auf sein Zimmer, und Stas versprach, ihn in einer Stunde abzuholen.

Der kranke Moskauer erwies sich als großgewachsener Mann um die Vierzig. Die Pritsche der Krankenabteilung war für ihn ein bißchen zu kurz. Er lag auf dem Rücken und hatte die Beine leicht angewinkelt. Sein großes Gesicht war so bleich, daß das Wort ›krank‹ in Viktors Kopf gleich eine ernstere Bedeutung bekam.

Stas, der Extremologe, verschwand und ließ sie allein.

»Und was machst du hier?« fragte der Moskauer ruhig und traurig, während er Viktor aus geschwollenen Augen ansah.

»Nur so, mich mal umsehen…«

»Ach komm, lassen wir das.« Der Moskauer seufzte. »Ich bin der Bankier Stanislaw Bronikowski. Ich verstecke [9] mich hier. Zu Hause haben sie mich reingelegt. Siehst du, ich sage dir gleich die Wahrheit. Und was machst du hier?«

»Ich verstecke mich auch«, gestand Viktor, entwaffnet durch die Ehrlichkeit des Bankiers.

»Das ist gut«, sagte Bronikowski.

»Was ist daran gut?« wunderte sich Viktor.

»Nichts. Es ist einfach gut, daß wir Kollegen sind. Du hättest ja auch jemand sein können, den sie geschickt haben, um mich zu töten…«

Viktor betrachtete den Bankier mitfühlend, aber verständnislos.

»Ich weiß ja, daß das nicht stimmt… Na ja, sie haben mich schließlich auch hier gekriegt…«

Es herrschte eine Pause von einigen Minuten, und Viktor schickte sich schon an, dieses stille Krankenzimmer zu verlassen, aber der Bankier hatte Viktors Absicht gespürt und wandte ihm wieder den Blick zu.

»Komm öfter mal vorbei. Ich habe ein Schachspiel hier… Ich kann dir helfen!« sagte er geheimnisvoll.

Viktor ging, nachdem er versprochen hatte, in ein paar Stunden wiederzukommen. Von da an ging er wirklich oft zu Bronikowski – Zeit hatte Viktor ja reichlich. Es war ziemlich kalt draußen, wenn auch viel wärmer, als er gedacht hatte. Nur minus fünfzehn Grad. Aber die Heizung im Wohngebäude funktionierte hervorragend. Und in der Krankenabteilung erst recht. So spielten er und Bronikowski Schach und unterhielten sich dabei über alles mögliche. Viktor merkte manchmal, daß der Bankier ihn mit seinen Fragen ausforschte, doch das war nicht weiter sonderbar. Bronikowski litt eindeutig an [10] Verfolgungswahn. Und das in fortgeschrittenem Stadium. Viktor selbst hätte nie gedacht, daß man ihm, Viktor Solotarew, einen Killer in die Antarktis hinterherschicken könnte. Wer war er denn schließlich? Aber dieser Bankier war tatsächlich eine wichtigere Figur. In der Schachsprache ausgedrückt – eine Königin. Also waren Bronikowskis Befürchtungen vielleicht gar nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt. Außerdem schritt seine seltsame Krankheit weiter fort, und der Arzt stopfte ihn zwar mit Antibiotika voll, konnte aber keine genaue Diagnose stellen. Er redete auch einmal von einer Fahrt zu den Amerikanern auf der Station ›Palmer‹, das war dreihundert Kilometer entfernt, ließ die Idee dann aber selber fallen.

Der Bankier klagte zu dem Zeitpunkt über Bauchschmerzen und aß fast nichts. Allein seine Körperfülle machte es ihm offenbar möglich, von den früher im Körper angesammelten Vorräten zu zehren wie ein Kamel.

Eines Tages bemerkte Viktor, daß Bronikowskis Blässe einen neuen, bläulichen Ton angenommen hatte. An dem Tag flüsterte der Bankier Viktor zu: »Ich weiß, wer mich vergiftet hat!« Aber weiter sagte er nichts mehr.

Er bezwang die Schmerzen und spielte mit Viktor Schach – und verlor schweigend. Nach dem Spiel holte er unter dem Bett eine halbvolle Flasche argentinischen Wodka heraus. Viktor hatte dieses Getränk hier schon probiert und keinen großen Gefallen daran gefunden.

»Hör zu«, sagte Bronikowski, während er den Wodka in zwei Tassen goß. »Ich habe einen Vorschlag und gleichzeitig eine Bitte an dich!«

Viktor sah den kranken Bankier aufmerksam an.

[11] »Es ist alles vorbereitet, meine Abreise und Papiere auf einen anderen Namen, morgen kommen sie mit einem Motorboot. Da ist ein Pole, Wojtek. Er soll mich von hier mitnehmen, aber wenn er mich so sieht…« Bronikowski seufzte schwer. »Also, ich komme hier nicht mehr weg, aber wenn du willst, kannst du für mich fahren. Wenn du mir versprichst, daß du tust, worum ich dich bitte…«

Viktor nickte. Bronikowski erklärte, daß er Viktor einen Brief für seine Frau sowie eine Kreditkarte geben wollte, mit der Viktor für die Reise etwas Geld abheben konnte, die er dann allerdings seiner Frau überlassen sollte.

»Aber auf den Papieren ist doch dein Foto?«

»Wojtek ersetzt es in einer Minute durch deins. Er ist ein Fachmann auf dem Gebiet.«

Nachdem Viktor ein paar Minuten nachgedacht hatte, nickte er. Im selben Moment sah er auf Bronikowskis bleichem Gesicht ein schmerzliches Lächeln.

2

So stieg Viktor fast einen Monat später die steilen Waggonstufen auf den Bahnsteig des Kiewer Bahnhofs hinunter. In den Hosentaschen steckten zwei Pässe. In der rechten ein polnischer, in der linken der hellblaue, ukrainische. Die Sporttasche wog nicht schwer über der Schulter, auf ihrem Grund lag ein Tütchen mit Kasinojetons, daneben ein Notizbuch und eine Packung polnischer Kekse.

Ein düsterer Himmel hing über dem Kiewer Bahnhof, ohne Gewitter oder Regen zu verheißen.

[12] Viktor trat auf den Platz hinaus und blieb stehen. Wäre er nicht stehengeblieben, sondern ›auf Autopilot‹ gegangen, hätten ihn seine Füße jetzt zur Bushaltestelle und dann zu seiner Haustür getragen. Aber der Autopilot funktionierte nicht. Genauer gesagt, das Leben hatte ihn ausgeschaltet, und deshalb fühlte sich Viktor bei seinen ersten Schritten über den Bahnhofsvorplatz wie ein unerfahrener Kosmonaut bei den ersten Schritten auf dem Mond. Er fühlte eine irritierende Unsicherheit, und der Asphalt war so verdächtig weich unter den Füßen, als könne er im nächsten Moment einsinken. Wie konnten bloß die anderen so ruhig und zügig an ihm vorbeigehen? Bei ihnen funktionierte wohl der Autopilot, bei Viktor aber nicht, das war das Problem.

Trotzdem mußte er irgendwo hin. In der Tasche lagen die ukrainischen Griwni, die am Südpol ›übernachtet‹ hatten. Wenn während der antarktischen Polarnacht inzwischen nicht die Regierung gewechselt und es keinen neuen politischen Erdrutsch in Richtung Rußland gegeben hatte, dann konnte man mit diesen Griwni noch für ein paar kleine Freuden des Lebens, eine Busfahrt etwa, bezahlen. Nur wohin sollte er als erstes fahren?

Viktor sah sich um und erblickte einen Zeitungskiosk. Sofort festigte sich der Asphalt unter seinen Füßen, und über diesen wieder festen Boden begab sich Viktor zum Stand der ›Nationalen Presse‹.

Sein Blick machte unter den drei Dutzend auf dem Ladentisch aufgefächerten Zeitungen sofort die vertrauten ›Hauptstadtnachrichten‹ aus.

Er trat einen Schritt vom Kiosk zurück, schlug die [13] Zeitung auf und stand so eine halbe Stunde da. Gebannt sog er die Kiewer Nachrichten in sich ein.

Das Leben hatte sich nicht verändert. Wenigstens konnte man aus dieser Zeitungsausgabe schließen, daß hier, in der Hauptstadt Kiew, alles seinen gewohnten Gang ging. Ausländische Gäste brachten ein paar Schulen humanitäre Hilfe, zwei Abgeordnete des ukrainischen Parlaments waren wegen dunkler Bankengeschäfte in einem deutschen Gefängnis gelandet, in Cherson war die Familie eines Geschäftsmannes erschossen worden, und im Stadtteil Obolon eröffnete ein luxuriöser Supermarkt für Gartenmöbel und Gartengeräte. Nur zwei kleine Nekrologe auf der vorletzten Seite verdrossen Viktor mit ihrem eintönigen Wortschatz und dem unbeholfenen Gestammel des unbekannten Autors, der sich hinter seinem, Viktors, einstigem persönlichen Pseudonym ›Der engste Freundeskreis‹ versteckte. Und im Impressum der Zeitung fehlte Igor Lwowitsch. Chefredakteur war jetzt ein gewisser Waizman, P.D.

Als süße Erinnerung blitzte in seinem Kopf das Bild eines vergangenen Begräbnisses auf: Er und Mischa am Grab eines weiteren bedeutenden Toten, die Sonne scheint herab, es erklingt die Trauerrede eines Freundes oder Verwandten, nur, daß die Worte vorbeifliegen, denn er und Mischa gehören quasi nicht dazu, sie sind Teil des Rituals, genauer gesagt, der Pinguin Mischa gehört zum Ritual, und er, Viktor, gehört zum Pinguin Mischa. Und deshalb hören sie nichts, sie warten das Begräbnis ab, warten die Zeit ab, warten das Leben ab, als wäre es ewig.

Viktor dachte wieder an Mischa. Wo war er jetzt? In der [14] Klinik in Teofania? Wohl kaum… Am ehesten machte er gerade Pause zwischen zwei Begräbnissen. Das hieß, man mußte ihn auf dem Baikowofriedhof suchen, zu einem Zeitpunkt, wo dort eine Mercedesflotte wartete. Das Leben hatte sich ja nicht geändert.

Unerwartet drang die Sonne mit ihren Strahlen durch den düsteren Himmel, und Viktor hob den Kopf. Die Himmelsstimmung veränderte sich. Die dunklen Wolken verwandelten sich allmählich in Schäfchenwölkchen.

Nachdem er die Zeitung in die Tasche gepackt hatte, blinzelte Viktor noch ein Weilchen in die hervorlugende Sonne. Dann verschwand sie, aber offensichtlich nicht für lange. Schließlich war noch Sommer. Auch wenn der Herbst schon im Anmarsch war.

›Der Herbst ist unterwegs – genau wie ich‹, dachte Viktor und sah sich nach dem Busbahnhof um.

Jetzt mußte er entscheiden, wohin es weitergehen sollte. Er hatte Lust, nach Hause zu fahren und ein Bad zu nehmen. Dann, in der Reihenfolge der Prioritäten, mußte er Mischa finden und sich davon überzeugen, daß es ihm gutging. Er stand schließlich in seiner Schuld. Er, Viktor, hatte Mischas Platz im Flugzeug eingenommen und war in dessen Heimat geflogen. Dabei war der Anlaß für diesen Platztausch durchaus ein ernster gewesen. Aber er würde diese Schuld bei Mischa begleichen, unbedingt. Er beglich seine Schulden immer. Schade nur, daß niemand in seiner, Viktors, Schuld stand.

Da zog schon die Stadt am Busfenster vorbei. Die Mittagssonne leuchtete auf dem Asphalt und den Gehsteigen. Neben ihm saß ein älterer Mann in Jeans und weißem [15] T-Shirt, in den Prospekt einer Firma vertieft, die sich auf die Emigration nach Kanada spezialisiert hatte. Der Prospekt glich einem Test. Oder eher einem Fernsehgewinnspiel. Frage: »Welche Ausbildung haben Sie?« Drei mögliche Antworten: »Höhere technische – drei Punkte«, »Mittlere technische – zwei Punkte«, »Höhere geisteswissenschaftliche – ein Punkt«. Viktor schielte unten auf das Ende der Seite. »Zählen Sie Ihre Punkte zusammen, und wenn Sie 15 und mehr erreicht haben, zögern Sie nicht, sich an uns zu wenden – Sie haben ausgezeichnete Chancen, Bürger des Landes mit dem Ahornblatt zu werden!«

Viktor nickte. Dann schielte er trotzdem noch mal nach den Fragen und zählte seine Punkte. Mit Mühe kamen acht zusammen. Ihm winkte das Land des Ahornblatts nicht. Er seufzte erleichtert. Das Fehlen von Chancen machte viel freier als eine Fülle davon.

Von der Bushaltestelle bis nach Hause waren es etwa dreihundert Meter. Man mußte an einem Kindergarten, einer Schule und einem kleinen Platz vorbei.

Viktor hatte keine Lust, sich zu beeilen. Am Kindergarten blieb er stehen und betrachtete ein Grüppchen, das unter Anleitung einer jungen Erzieherin ›Eisenbahn‹ spielte. Die Zwei- und Dreijährigen liefen lustig schwankend, die Hände auf die Schultern des Vordermanns gelegt, auf einer unsichtbaren Spur um den Sandkasten herum. Genau wie Pinguine.

Viktor vertiefte sich in die Gesichter der Kinder. Er dachte an Sonja, erinnerte sich an Mischa-Nichtpinguin. Komisch, daß Pinguine länger lebten als Nichtpinguine… Allerdings war auch das fraglich, er mußte sich [16] erst noch davon überzeugen, daß es Mischa-Pinguin gutging.

Nachdem er ein Weilchen dagestanden und die Kinder beobachtet hatte, ging Viktor weiter. Es lief sich nun leicht. Als Viktor vor seiner Haustür haltmachte, schaltete sich der bis dahin funktionierende Autopilot wieder aus, und im Bewußtsein trat Verwirrung ein. Er hob den Kopf und sah zu seinen Fenstern hinauf. Ein Gewicht senkte sich förmlich von dort auf seine Schultern herab. Viktor seufzte und betrat den Hausflur.

Auf der Treppe kam ihm von oben die Nachbarskatze Maschka entgegen. Viktor entspannte sich einen Moment lang, aber kaum war er bei seiner Etage angelangt, da war jegliche Entspanntheit wie weggeblasen. Er stand vor der ihm vertrauten, unbezwingbar scheinenden Eisentür. Alles wie immer. Nur daß jetzt ein zweites Schloß eingesetzt war, einen halben Meter unterhalb des alten. Viktor musterte es vorsichtig. In der Jackentasche hielt er den alten Schlüssel umklammert, aber es war, als ob dieses neue Schloß mit seiner Öffnung den schweren, von der Handfläche gewärmten Messingschlüssel direkt auslachte.

Viktor trat einen Schritt zurück und sah sich die Fußmatte vor der Tür an. Eine neue, aus Gummi, mit der reliefartigen Gummischrift Welcome. Nachdem er ein paar Sekunden so dagestanden hatte, hörte Viktor, wie unten eine Tür zuschlug, und dieser Knall vermittelte ihm das jähe Gefühl von Gefahr, von Furcht. Viktor erstarrte, während er auf irgendwelche Schritte lauschte. Jemand stieg, mit dem Schlüsselbund klimpernd, hinauf in den dritten Stock. Eine Tür klappte auf und wieder zu. Es wurde [17] wieder still, und Viktor stieg vorsichtig die Treppe hinunter. Er sah auf den Hof hinaus. Die Angst war noch nicht weg, aber es war keine normale Angst. Es war die alte Angst aus der Vergangenheit. Sie war aus den Tiefen des Gedächtnisses aufgestiegen und hatte Viktor vereinnahmt. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes, durch den zwischen Betonpfeilern Schnüre zum Wäschetrocknen gespannt waren, leuchteten grün die frischgestrichenen Türen des Nachbarhauses. Dort, im ersten Stock rechts, wohnte Mama Tonja, die Mutter seines Sandkastenfreundes Tolik. Sie hatte ihr Leben lang Milch verkauft. Hier, in ihrem Hof. Ab sechs Uhr morgens drang ihre schallende Stimme in die offenen Fenster. »Mi-ilch! Mi-ilch!« schrie sie. Damals hieß dieser Ruf das gleiche wie »Aufstehen!«. Nur, daß »Aufstehen!« seine Mutter sagte, während das Wort »Milch!« anderthalb Stunden früher in sein Zimmer geflogen kam und ihn aufs Aufstehen vorbereitete.

Viktor lief mit raschen Schritten über den Hof und die Treppe in den ersten Stock hinauf.

»Witja?« freute sich Mama Tonja, als sie die Tür aufmachte. »Komm rein! Komm rein! Und ich dachte schon, du bist ganz weg!«

›Von wegen Mama‹, dachte Viktor. Tonja war sorgfältig gekleidet, man sah, daß sie auf sich hielt. Milchverkäuferinnen bewahren lange Jugendlichkeit und eine glatte Haut. Es muß ein gesunder Beruf sein. ›Sie ist sicher bald sechzig‹, überlegte Viktor.

»Willst du was essen?« fragte Mama Tonja. »Ich habe gerade Bouillon gekocht. Ich habe ein Huhn gekauft, das hat sich als uralt entpuppt, taugt nur noch für eine Suppe.«

[18] Viktor nickte. Auf dem Weg in die Küche warf er einen Blick ins Wohnzimmer, wo auf der Anrichte ein Porträt von Tonjas ewig jungem Sohn Tolik stand. Vor vielen Jahren war er von einem Baum gefallen und zu Tode gestürzt. Damals standen um diese Häuser herum viele alte Bäume, und auf ihren obersten Ästen hatten sie, die kleinen Jungen von damals, sich Hütten gebaut. Sie fanden eine passende Astgabel, verlegten einen Bretterboden darin und blickten aus zwanzig Meter Höhe auf die kleine Welt der erwachsenen ›Erbauer des Kommunismus‹ hinab.

Es war eigentlich schon damals klar, daß die Leute diesen Kommunismus jeder für sich selbst erbauten. Das hatte etwas von einem heimlichen Wettbewerb: Wer erbaut bei sich zu Hause am meisten Kommunismus? Bei wem finden sich am meisten Räucherlachs und Krimsekt im Kühlschrank? Großer Gott, das war ja alles ewig her!

Auch die Hühnersuppe erinnerte ihn an irgend etwas aus ferner Vergangenheit. Nicht mal an irgend etwas, sondern einfach an die Vergangenheit, die gute, häusliche Kindheit. Dieses zähe Hühnerbein, in dem die Zähne hängenblieben, und diese schwimmenden gelben Hühnerfettaugen auf der Oberfläche des Bouillonsees.

»Ich hab noch kalten Reis«, sagte Mama Tonja. »Soll ich welchen reintun?«

Viktor nickte, und sie ließ zwei Eßlöffel gekochten Reis in seine Bouillon fallen, wo er sofort auf den Grund sank.

»Wo wohnst du denn jetzt?« fragte sie.

»Na, hier«, antwortete Viktor.

»Ach so, du hast Untermieter? Und ich dachte, du hast die Wohnung verkauft!«

[19] Viktor überlegte.

»Nein, da wohnt die Nichte meines Freundes mit ihrem Kind…«

»Ja, sie hat so einen netten Mann, einen großen… ein Milizionär, wie’s aussieht, oder bei der Armee…«

»Mann? Milizionär?« fragte Viktor verwundert. »Von einem Mann weiß ich nichts.« Und er warf einen leicht beunruhigten Blick durch das Küchenfenster auf die Fenster seiner Wohnung im Haus gegenüber.

»Kann ich von hier mal telefonieren?« fragte er.

»Ja, dort, das Telefon steht auf dem Kühlschrank…«

Viktor stand auf und wählte seine Nummer.

»Hallo?« erklang im Hörer Sonjas helles Stimmchen.

»Sonja?« Viktor lächelte in den Hörer.

»Onkel Kolja?« fragte Sonja.

»Nein, Onkel Witja.«

Es entstand eine Pause, nach der Sonjas Stimmchen noch lebhafter klang.

»Onkel Witja?! Wo bist du?«

»In Kiew. Und du?«

»Zu Hause. Ist Mischa bei dir?«

»Nein… Er ist hier irgendwo in der Stadt…«

»Hast du ihn verloren?«

»Mhm, aber ich finde ihn wieder!«

»Du mußt ihn finden und nach Hause bringen! Nina hat nämlich eine Katze mitgebracht, und die kratzt. Mischa hat nie gekratzt!«

»Ja«, bestätigte Viktor düster, »Mischa hat nie gekratzt. Ist Tante Nina da?«

»Nein, sie ist einkaufen. Kommst du?«

[20] »Ja«, versprach Viktor. »Nur nicht gleich. Und vielleicht dann, wenn Tante Nina und dieser Onkel Kolja nicht da sind… Bei euch wohnt jetzt also Onkel Kolja?«

»Ja«, sagte Sonja. »Aber er ist nett, er hat mir Rollschuhe gekauft. Gestern ist er weggefahren, für zwei Tage, und er hat versprochen, daß er mir Muscheln mitbringt.«

»Aha, also ist er am Meer… Arbeitet er wirklich bei der Miliz?«

»Nein, das sieht nur so aus. Er ist so ein Wächter, aber kein einfacher, ein Chef… Oh, Tante Nina kommt! Willst du mit ihr reden?«

»Nein, Sonjetschka, ich rufe wieder an!« Viktor beendete das Gespräch abrupt und legte den Hörer zurück auf den Apparat.

Er sah hinüber zu Mama Tonja, die ganz ungerührt am Herd stand. Er setzte sich wieder an den Tisch und heftete den Blick auf seine Fenster.

»Wenn du magst, kannst du hier übernachten, dorthin willst du ja vielleicht jetzt nicht«, sagte Mama Tonja und drehte sich zu ihm um.

»Danke… Ich lasse die Tasche hier, ja? Bis morgen, und morgen komme ich wieder. In Ordnung?«

»Natürlich, komm nur wieder her!« antwortete sie und nickte.

3

Er mußte die Anspannung loswerden. Ohne Ballast wanderte Viktor den Kreschtschatik entlang, nur die zwei [21] Pässe steckten in je einer Hosentasche. Und in der Jacke klimperten die Kasinojetons, die mit ihm in die Antarktis und zurück gereist waren. Als er von Mama Tonja fortging, hatte er das Tütchen mit den Jetons aus der Sporttasche gezogen und eingesteckt. Das war fast automatisch geschehen, aber während er jetzt über den abendlichen Kreschtschatik spazierte, der ihm mal vertraut, mal ganz fremd vorkam, verliehen die Jetons in der Tasche seinem Spaziergang einen Hauch von Leidenschaft und Abenteuer. In der Innentasche der Jacke steckte noch ein bedeutenderes Stück – die Visacard des Bankiers und Polarreisenden Bronikowski. ›Neunundachtzig siebenundneunzig‹ murmelte Viktor ihren Pin-Code vor sich hin. Sein Gedächtnis funktionierte noch normal. Im Umschlag neben der Karte steckte der Brief des Bankiers an seine Frau. Viktor hatte ihn nicht mal gefragt, ob er Kinder hatte. Das würde er schon noch erfahren, wenn er nach Moskau kam, die Frau fand, ihr den Brief gab und ihr alles erzählte. Vermutlich würde sie dann weinen… Aber zuerst mußte er Mischa finden, ihn um Verzeihung bitten und alles wiedergutmachen, wenn er konnte. Vielleicht flog ja schon bald die nächste Expedition in den fernen, kalten Süden dieses kleinen Planeten?

»Wie wäre es mit einem Hundertprozent-Gewinnlos?« ertönte in der Nähe eine aufdringliche Stimme.

Viktor blieb stehen. Ein junger Mann von etwa zwanzig, in Jeans, kariertem Hemd und lässig übergeworfenem Jackett wies lächelnd mit dem Blick zur Seite. Viktor sah hin und erblickte die traute Runde von Losbetrügern, die sich neben dem Klapptischchen herumdrückte. [22] Als sie seinen Blick auffingen, ›spielten‹ sie sofort lebhaft los.

»Danke, Hundertprozent-Gewinnlotterie spiele ich nicht«, entgegnete Viktor. »Und ich gewinne ohnehin immer!«

»Das kann man ändern«, sagte der junge Mann.

»Kann man, muß man aber nicht.« Viktor schenkte dem Mann ein aufrichtiges Lächeln, machte einen Bogen um ihn und ging weiter.

Es war seltsam, aber dieser Wortwechsel munterte Viktor auf. Er dachte daran, wie ungerührt er damals im Roulette gewonnen, welche Erschöpfung die endlose Gewinnserie bei ihm ausgelöst hatte. Das Glück lächelte den Narren und Anfängern. Als Anfänger konnte er ja nun nicht mehr gelten, als Narr dagegen schon. Aber das ist ja auch kein Schimpfwort. Jeder Mensch ist ein Narr, nur machen sich die einen gelegentlich aus Spaß zum Narren, die anderen in vollem Ernst und lebenslang.

Viktor wanderte ins Podol-Viertel hinunter, aber hier wartete eine böse Überraschung auf ihn: Es gab die Weinbar ›Bacchus‹ nicht mehr. An ihrer Stelle glänzte jetzt ein teures Kleidergeschäft mit schicken Schaufenstern. Er ging über die Konstantinowska-Straße, stieg in einen Bierkeller hinunter und entdeckte zu seiner Zufriedenheit, daß man auch in einer Bierstube nach Herzenslust Wein trinken konnte. Ein Glas Moldauer Cabernet erwies sich als genau das richtige. Die Zeit blieb stehen. Ringsum betranken sich die freien Bürger der Stadt Kiew, kamen und gingen die Gesichter als rote Flecken. Und Viktor badete in der weinseligen Wärme, es war, als ob er den ganzen [23] durchlebten und dabei gar nicht so grimmigen antarktischen Frost auftaute. In seinem Kopf klang noch das Stimmchen von Sonja nach, die nach Mischa fragte und sich über die kratzende Katze beschwerte.

Die Bierstube hatte keine Fenster. Unter der dunklen Decke brannten gelbe Lämpchen, und ganz unpassend leuchtete über dem Tresen die grüne Neonschrift: Heineken. ›Was denn bloß für Heineken?‹ dachte Viktor lächelnd. Hier war doch alles ureigen, heimisch, vertraut und billig. Das Bier, der Wein und auch der mitgebrachte Wodka, mit dem ein paar Gäste nach alter sowjetischer Tradition unauffällig ihr Bier anreicherten. Für den verstärkten Effekt, der auch unweigerlich eintrat. In einer Ecke der Bierstube schnarchte schon ein Mann von gleichzeitig abgerissener und intelligenter Erscheinung. Jemand trat zu ihm und beugte sich über ihn. Viktor sah interessiert hin und erwartete, daß der Schläfer nun hinausbefördert würde. Aber der sich über den Schläfer beugende Mensch wollte nichts als die Zeit in Erfahrung bringen. Er hob die willenlose linke Hand des Mannes, schob den Jackettärmel hoch, studierte die Zeiger auf dem Zifferblatt und legte die Hand wieder an ihren Platz.

Für ein drittes Glas Wein reichte Viktors Geld nicht. Er begab sich über die steilen Stufen wieder hinauf ins Freie und sah sich um. Die Straße füllte sich mit abendlichen Lichtern, von den Schaufenstern fiel ein sanfter Schein auf die Trottoirs. Wenn er jetzt nach links ging, kam er nach etwa dreihundert Metern ans Ufer des Dnjepr. Dort würde ihn der kühle Wind vom Fluß wieder munter machen.

Etwa eine Stunde schlenderte Viktor am Ufer entlang [24] Richtung Metro-Brücke. Neben ihm jagten die Autos vorbei. Er ging und dachte nach, über sich und seine Rückkehr. Die Tatsache, daß sein Platz zu Hause besetzt war, trug er ziemlich gelassen. Sein Haus war eben nicht mehr sein Haus. Dort war jetzt eine andere Welt entstanden, und vielleicht hatte er kein Recht, sich da einzumischen. Nur Sonja fühlte er sich jetzt näher als damals vor seiner Abreise. Nur sie gehörte nirgendwohin, genau wie er. Das verband sie miteinander, wie die Vergangenheit und der verstorbene Mischa Nichtpinguin, dessen Gesicht schon aus Viktors Gedächtnis verschwunden war. Aber in anderer Weise erinnerte sich Viktor an ihn, zum Beispiel an seine Stimme. Und Sonja war jetzt alles, was Mischa der Welt zur Erinnerung an sich hinterlassen hatte. Nein, nicht der Welt, sondern ihm, Viktor…

An der Brücke setzte Viktor sich in die U-Bahn und fuhr zur Station ›Lewobereschnaja‹. Von da trugen ihn seine Füße direkt ins Kasino ›Johnny‹.

Hier hatte sich nichts verändert. Er erinnerte sich an keine Gesichter, aber die Aufteilung des Foyers, der Durchgang hinter den schweren Vorhängen, die Umtauschkasse – alles war noch genauso. Der Wache am Saaleingang drückte Viktor wortlos ein paar Jetons aus seinem Tütchen in die Hand.

Er blieb am ersten Roulettetisch stehen, machte seinen Einsatz und betrachtete die drei betrunkenen jungen Männer, die ebenfalls ihre Jetons auf die numerierten Felder verteilten. Die Kugel sprang im Kreis. Der junge Croupier verfolgte sie gleichmütig aus zusammengekniffenen Augen. Ihn langweilte das Spiel, und seine ganze Gestalt [25] sagte: ›Wartet nur. Erst in drei Stunden geht es hier richtig rund!‹

Auch Viktor verfolgte die Kugel völlig gleichmütig. Allerdings hielt sie auf der Zehn, und Viktor begriff, daß seine Jetons nun in den Besitz der Bank wechselten. Erstaunt holte er weitere Jetons heraus und machte ein paar Einsätze. Wieder verlor er, und das ernüchterte ihn. Die jungen Leute neben ihm verloren auch, aber völlig ungerührt, als wären sie zu ebendiesem Zweck hergekommen. Und warum war er selber hier? Weil er hier seine letzten Kiewer Tage und Nächte verbracht hatte. Damals hatte er seinen bevorstehenden Tod gefeiert, und deshalb hatte er gewonnen, aber jetzt? Der Tod, so schien es, war in seinem anderen, vergangenen Leben zurückgeblieben. Genau wie offenbar auch sein Glück.

Viktor spielte noch ein paarmal und wieder ohne Erfolg. Einer der Burschen gewann sogar plötzlich ein Dutzend Jetons, während der Croupier Viktors Jetons mechanisch mit seinem Rechen einstrich und sie in das Loch schob, in dem alles Verlorene verschwand. Der, dem das alles in den Schoß fiel, mußte mit jedem Spiel reicher werden.

›Nein, das reicht‹, dachte Viktor und stoppte seine Hand, die schon zu seinem Jetontütchen in der Jackentasche unterwegs war. Er trat einen Schritt zurück und beobachtete noch etwa zehn Minuten das Spiel der anderen. Eine Kellnerin kam mit einem Tablett – der Gratischampagner sollte die Verbitterung über die andauernde Glücklosigkeit versüßen. Viktor ging zur Umtauschkasse.

Zuerst spähte er in das Fensterchen und überzeugte sich davon, daß jemand drin saß.

[26] »Wechseln Sie Jetons wieder ein?« fragte er.

»Sie haben gewonnen?« kam zur Antwort.

»Ja.« Viktor schob eine Handvoll bunter Jetons aus seinem Tütchen ins Fenster. »Das sind noch nicht alle.«

»Sie hatten Glück!« bemerkte der Wechsler, aber seine Stimme klang angespannt.

»Zehn Prozent für dich«, sagte Viktor, beugte sich vor und sah dem Mann direkt in die Augen.

Der Mann nickte, und da zog Viktor auch die restlichen Jetons aus der Tasche.

»Ziemlich viel«, sagte der Mann leise.

»Zähl erst mal, dann sehen wir weiter…«

Viktor richtete sich auf. Er hörte den schweren Atem des Mannes, der hinter dem Fenster die Jetons nach Farben sortierte und zählte.

»Das wären achthundert Dollar«, kam die Stimme des Mannes.

Viktor lächelte großzügig. Nach seiner Rechnung hatte der Mann sich um das Dreifache ›vertan‹, aber er würde nicht mit ihm streiten.

»Also gut, gib mir achthundert…«

Im Foyer begab Viktor sich zur Toilette, schloß sich in eine Kabine ein und zählte die grünen Scheine, wobei er feststellte, daß der Wechsler ihm von den versprochenen achthundert nur siebenhundertsechzig gegeben hatte, aber auch das rief keinen Protest in ihm hervor. Er betrachtete sich ohnedies als Gewinner – er hatte ja Spielgeld in echtes Geld getauscht und nicht umgekehrt.

Das einzige, was ihn ein wenig bedrückte, war das Resultat seines heutigen Spiels: Mit seinem Glück war es [27] offensichtlich vorbei. Das war natürlich kein endgültiges Urteil, er konnte immer noch versuchen, beim Schicksal Berufung einzulegen. Aber wie das dann überprüfen? Ins Kasino würde er nicht mehr gehen. Zweimal im Leben reichte völlig, ein erstes Mal und ein letztes.

4

Offenbar war auf Viktors Gesicht sogar im Halbdunkel der abendlichen Stadt abzulesen, daß er fast achthundert Dollar in der Tasche hatte. Jedenfalls ging er aufrecht mit festem Schritt die Kreschtschatik-Straße entlang, ohne den Entgegenkommenden auszuweichen, die einen Bogen um ihn schlagen mußten, und unterwegs wurde er zweimal von diesen sogar für einen Sommerabend viel zu leicht gekleideten Mädchen angesprochen. Fünf Minuten hinter dem Café ›Grotte‹ sprach ihn ein drittes Mädchen an. Sie trug einen Bubikopf und eine riesige, auf die Stirn hochgeschobene Sonnenbrille: »Nicht so eilig, du übersiehst mich ja!« Erstaunt blieb er stehen und betrachtete sie: klein, zart, in allem eine Miniaturausgabe.

»Na?« sagte er, und sie lächelte strahlend und ließ die monströse Brille auf die Nase rutschen, was jetzt nicht nur ihre Augen, sondern fast das ganze Gesicht verbarg. Nur das Lächeln unterhalb der Brille blieb.

»Weißt du, wo man hingehen kann?« fragte Viktor plötzlich, ohne ihre Antwort abzuwarten. Und es wäre ja auch irgendwie peinlich gewesen, auf so ein »Na?« zu antworten.

[28] »Ja«, nickte das Mädchen. »Komm!«

»Warte.« Viktor fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Unterlippe und überlegte. »Und was weiter? Wieviel soll es kosten?«

»Du hast genug.« Das Mädchen schob die Brille wieder nach oben. »Steck es weiter rein, sonst verlierst du es noch.« Sie beugte sich vor, streckte ihre kleine Hand nach seiner linken Jackentasche aus, zog den dort hervorlugenden grünen Hunderter heraus und wedelte mit ihm vor Viktors Gesicht herum; dann faltete sie den Schein in der Mitte zusammen und schob ihn wieder zurück in Viktors Jacke.

»Willst du protzen?« fragte sie.

»Nein, ich bin ein zerstreuter Mensch. Wie heißt du denn?«

»Sweta, und du?«

»Witja…«

»Na gut, Witek, dann mal los!«

Sie liefen zum Kinotheater ›Freundschaft‹ hinauf. Weiter führte Sweta Viktor über die Luteranskaja Richtung Petscherskviertel. Viktor ging einen halben Meter hinter Sweta und betrachtete abwechselnd die Umgebung und das Mädchen. Sie drehte sich von Zeit zu Zeit halb nach ihm um, wie um zu überprüfen, ob er noch da war.

»Was machst du eigentlich so?« fragte sie, als sie sich wieder mal nach ihm umsah. Sie fragte gleichmütig, ohne Neugier.

»Ich?« Viktor holte tief Luft, dachte nach, und plötzlich kam ihm das notwendige Wort von selbst über die Lippen. »Ich bin Polarforscher…«

[29] »Polarforscher?« fragte Sweta verwundert. »Was meinst du? Warst du im Knast oder was?«

»Ich habe dort überwintert, eigentlich: übersommert.«

»Auf einer Eisscholle?«

»Beinah. In der Antarktis, auf einer Expedition. Die Ukraine hat da eine Datscha, weißt du, namens ›Faraday‹. Ich war zuständig für die Rechte der Pinguine.«

»Eine Datscha? In der Antarktis? Du willst mich verscheißern!« Das Mädchen lachte laut heraus.

»Erstens mag ich keinen Gossenslang, und zweitens verscheißere ich dich nicht! Ich bin gerade erst zurück.«

Sweta blieb auf einmal stehen, und ihre runden Augen strahlten.

»Also, du Polarforscher, wir sind da!«

Viktor sah sich um und erkannte, daß sie vor den weit offenstehenden Toren eines Kindergartens haltgemacht hatten. Der Schein der Straßenlaternen reichte mit letzter Kraft bis zu den Sandkästen und Schaukeln. In den Fenstern des zweistöckigen Gebäudes brannte kein Licht. Viktor sah Sweta an, dann spähte er noch mal hinüber zu dem hölzernen Vordach hinter dem Kinderspielplatz. Der Verdacht beschlich ihn, Sweta wolle ihn mit nächtlicher Teenie-Straßenromantik ›bewirten‹. Und darauf verspürte er nicht die geringste Lust. Er mochte die offene Weite nicht, ob in der Antarktis oder im Zentrum von Kiew. Besonders, wenn hinter dieser Weite die Dunkelheit lauerte.

»Und jetzt?« fragte Viktor, und in seiner Stimme klang leichter Unmut. »Was machen wir hier?«

»Keine Angst, Witek«, zwitscherte Sweta. »Ich habe einen Zauberschlüssel!«

[30] Mit leichten Schritten lief sie zum Seiteneingang des Kindergartens. Geschickt öffnete sie die Tür und verschwand mit einem einladenden Winken in der Dunkelheit. Viktor folgte ihr.

Drinnen war es erstaunlich still, und diese Stille kam Viktor bedrohlich vor.

»Keine Sorge, hier ist keiner!« flüsterte Sweta und winkte ihn weiter.

Sie stiegen hinauf in den ersten Stock und liefen einen langen Flur entlang, während sie auf das Knarren des Parkettbodens unter ihren Füßen horchten. Dann öffnete Sweta eine Tür, und sie betraten einen Raum. Viktors Augen, die sich schon an das Halbdunkel gewöhnt hatten, bot sich ein Schlafsaal mit ein paar Dutzend Kinderliegen in zwei Reihen, militärisch akkurat bezogen. Die zu Dreiecken aufgestellten Kopfkissen standen in Reih und Glied und erinnerten Viktor sofort an die Pionierlager seiner sowjetischen Kindheit.

»Was stehst du so da?« fragte Sweta. »Wir müssen umbauen, sonst ist es unbequem!«

Sie begann, die Bettchen zusammenzuschieben. Ihre Absicht war klar. Wenn man fünf dieser Bettchen mit den Seiten aneinanderschob, ergab das quer ein normales Doppelbett. Als Sweta fertig war, drehte sie sich um.

»He, Polarforscher, zieh dich aus, sonst frierst du noch ein!«

Viktor fühlte sich plötzlich unbehaglich. Er sah sich wieder nach allen Seiten um, lauschte auf die Stille, betrachtete die von Swetas Tun nicht berührten übrigen Kinderliegen, die links von ihnen in geometrisch exakter Reihe standen.

[31] »Ist das hier immer noch ein Kindergarten?« fragte er und sah Sweta an.

Sie stand schon im Schlüpfer vor ihm.

»Von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends, ja«, sagte sie.

»Und von sechs Uhr abends bis acht Uhr morgens?«

»Was ist los, Witek?« In ihr Erstaunen mischte sich Unmut. »Stört dich irgendwas?«

»Nein.« Viktor riß sich zusammen, verbannte jeden Gedanken aus seinem Hirn und zog sich schnell aus.

Sie lagen schon nebeneinander auf dem improvisierten Bett und Viktor atmete den Duft des fremden Parfüms, als Sweta ihn endlich sacht an der Brust berührte, sich zu ihm drehte und flüsterte: »Keine Angst, das hier ist kein Bordell! Und übrigens arbeite ich tagsüber auch hier.«

»Als was?« Viktor drehte sich zu ihr um und berührte mit dem Finger ihre Lippen.

»Nicht als Erzieherin«, antwortete sie und drückte einen Kuß auf seinen Finger. »Ich singe mit den Kindern. Spiele ihnen Mazurkas und Polkas auf dem Klavier vor, und sie tanzen, einfach toll. Man könnte richtig neidisch werden!«

»Wirst du dafür bezahlt?«

»Ja, fünfzehn Scheine im Monat, einheimische. Aber die Heimat liebt man ja nicht fürs Geld, oder?«

»Welche Heimat?« fragte Viktor verständnislos.

Sweta umarmte ihn und zog ihn an sich.

»Meine Heimat, das ist dieser Kindergarten! Hier habe ich fünf Jahre meines Lebens verbracht, erst in der Krippe, dann in den Gruppen. Meine Eltern haben mich morgens [32] um acht hier abgeliefert und abends um sechs wieder geholt.«

»Aber warum arbeitest du hier?« wunderte sich Viktor. »Du verdienst doch wohl auch so nicht schlecht!«

»Ach, zum Teufel«, sagte Sweta plötzlich ärgerlich. »Du hast mir noch keine Kopeke gezahlt und zählst schon mein Geld! Also, jetzt schnell an die Arbeit!«

Sie lachte und drehte Viktor auf den Rücken, dann rutschte sie auf seinen Bauch, beugte sich zu ihm und küßte ihn auf den Mund.

»Du bist ein Schwätzer, kein Polarforscher!« sagte sie beinah zärtlich.

»Nein. Ich habe nur so lange den Mund nicht aufgemacht.«

Das Knarren der Mattengeflechte echote von den Wänden des geräumigen Schlafsaals. Plötzlich gefiel es Viktor, daß Sweta so klein und zierlich war. Er rollte sie mit Leichtigkeit von sich fort auf die andere Seite und drückte sie dort von neuem an sich, schmiegte sich an sie, suchte ihre Augen und ihre Lippen. Das ging lange so, bis plötzlich irgendwo aus der Dunkelheit ein fernes Telefonklingeln zu ihnen drang. Es klingelte dreimal und verstummte. Aber Viktor erstarrte mit hochgerecktem Kopf und lauschte.

»Keine Angst, das ist das Telefon der Direktorin… Da hat sich jemand verwählt. Willst du was essen?«

Überrascht von der Frage, entspannte Viktor sich ein wenig, legte sich wieder hin und sah Sweta an.

»Und welches Menü ist heute vorgesehen?«

»Das Menü besteht hier seit [33] neunzehnhundertdreiundsiebzig unverändert: Grießbrei mit einem Klacks Butter und Erdbeerkompott in der Mitte. Die Gierigen naschen die Mitte weg und trinken das Kompott, die Klugen verrühren das Ganze und essen den Teller leer…«

»Warum nicht? Das wäre was!« Viktor lachte.

»Wieso ›wäre‹?« Sweta reagierte gekränkt. »Glaubst du mir nicht? Los, gehen wir! Das Waschbecken ist im Flur rechts, da sind auch die Töpfe.«

Sie zogen sich an und liefen hinüber in den anderen Flügel des Gebäudes, und dort, in der unbeleuchteten Kindergartenküche, kochte Sweta ›blind‹ Grießbrei. Nur als sie den Kühlschrank öffnete, um die Milch herauszunehmen, fiel gelber, heimeliger Lichtschein auf den Boden. Auch die bläulichen Flämmchen des Gaskochers hatten etwas Gemütliches. Aber als Viktor später im Speisesaal an einem kleinen Kindertisch saß und sich mit einem Aluminiumlöffel echten Grießbrei mit Erdbeerkompott in den Mund schob, da war das gemütliche Gefühl schon verflogen. Ihm gegenüber saß Sweta, die es dank ihrer Miniaturgröße an dem Tischchen ganz bequem hatte. Viktor lächelte sie an und verspürte den Drang zu reden.

»Bist du absichtlich nicht größer geworden? Weil du im Kindergarten bleiben wolltest?«

»Aber sicher!« antwortete sie fröhlich. »Erstens ist man Kindern nicht böse. Zweitens verzeiht man ihnen vieles. Und drittens will man ihnen nicht weh tun, im Gegenteil, sie werden verwöhnt. Alles klar?«

»Und wie kann ich dich verwöhnen?« fragte Viktor.

»Nein, jetzt verwöhne ich dich erst mal, weil du so ein eingefrorener Vogel, na, ein Polarforscher bist. Siehst du, [34] ich verwöhne dich mit Grießbrei. Und ich will von dir nicht viel – fünfzig Grüne sind genug!«

»Ist das nicht ziemlich viel?« fragte Viktor lachend nach.

»Alter, bei mir ist kein Rabatt für Polarforscher vorgesehen… Aber wenn du drauf bestehst, wird sich etwas finden!«

»Nein, nein. Das war nur Spaß…«

Viktor erwachte auf dem ›Bett‹. Irgendwo auf dem Boden piepte ein Wecker. Als er die Augen aufschlug, wurden sie sofort von einem Sonnenstrahl getroffen, und Viktor wandte sich mit zusammengekniffenen Lidern ab. Er beugte sich vor, suchte mit dem Blick den Boden ab und begriff, daß der Wecker in Swetas Tasche übernachtet hatte. Sweta schlief noch, die Stupsnase fest ins Kissen gedrückt.

Viktor stand auf, öffnete die Tasche, nahm den kleinen Wecker heraus und stellte ihn ab. Dann legte er ihn wieder zurück und wurde auf die Autoschlüssel und einen Ausweis in der Tasche aufmerksam. Er drehte sich zu der immer noch schlafenden Sweta um und schlug den Ausweis auf.

Es war der Studentenausweis von Swetlana Aljochina, Studentin im dritten Jahr am ›Internationalen Wirtschaftskolleg‹.

›Drittes Jahr?‹ überlegte Viktor und sah wieder hinüber zum Bett.

Die Sweta Aljochina auf dem innen klebenden Foto war ein finster dreinblickender, mißmutiger Teenager.

Nachdenklich legte Viktor den Ausweis zurück in die [35] Tasche, erhob sich und ging zum Fenster. Er räkelte sich, ließ den ungewohnt wachen Blick über das Gelände des Kindergartens schweifen und sprang im nächsten Augenblick zurück Richtung Bett. Das Gelände betraten gerade munter plaudernd zwei ältere Frauen.

Er beugte sich über Sweta und berührte sie an der Schulter. »Sweta, aufstehen! Da kommt jemand!«

Sweta schlug träge die Augen auf. »Hat der Wecker noch nicht geklingelt?«

»Doch, vor einer Viertelstunde.«

»Was?« Sweta sprang auf, zog sich rasch an und sah sich nach Viktor um. »Was stehst du so da! Schnell, hilf mir, die Betten richtig hinstellen!«

Unter ihrer geschickten Anleitung verwandelten sie das große Doppelbett wieder in fünf Kinderliegen, die sie schnell an ihren Platz schoben. Dann richtete Sweta mit ein paar flinken Griffen das Bettzeug. Viktor bemerkte nur, daß die Kissenhütchen auf den Betten der ›unberührten‹ Reihe akkurater standen.

Sie huschten durch eine Hintertür ins Freie. An der Tür trafen sie auf zwei kräftige Burschen, die große Kartons ins Gebäude hineintrugen. Sweta rief ihnen »Hallo!« zu und sprang an ihnen vorbei. Viktor ließ die Männer herein und lief dann Sweta hinterher.

»Wer sind die?« fragte er.

»Eine Firma hat den Keller als Lagerraum gemietet. Computer!« erklärte Sweta. Dann sah sie auf die Uhr und wandte Viktor ihr noch nicht ganz ausgeschlafenes Gesicht zu – in den Augen ein leichtes, schläfriges Bedauern, das schon den notwendigen Abschied vorwegnahm.

[36] »Witek, und wo bleibt mein ehrlich Verdientes?« fragte Sweta.

Viktor zog gehorsam die Scheine aus der Tasche, fischte einen grünen Fünfziger heraus und streckte ihn ihr hin.

»Entschuldige, ich muß mich beeilen«, sagte sie schon herzlicher. »Wenn du dich runterbeugst, kriegst du einen Kuß!«

Viktor beugte sich zu der lieben kleinen Gestalt. Sie gab ihm einen Kuß auf den Mund.

»Vielleicht sehen wir uns wieder?« fragte Viktor.

»Gib mir deine Nummer, ich rufe dich an«, schlug Sweta vor.

Viktor hätte fast seine Telefonnummer genannt, aber er unterbrach sich gleich. Sein Telefon war ja jetzt das Telefon von Nina, Sonja und irgendeinem Wachmann, der aussah wie ein Milizionär.

»Ich habe kein Telefon, zur Zeit…«

»Wieso läßt du dich denn so hängen?« wunderte sich Sweta. »Ehe du dein ganzes Polargeld an die Mädchen verschleuderst, kauf dir doch ein Handy!«

»Und du?«

Sweta seufzte. »Bei mir schläft Mama neben dem Telefon, und sie mag es nicht, wenn man sie weckt…«

»Na gut«, sagte Viktor, »ich finde dich schon!«

»Versuch es!« Sweta lächelte. »Wenn du mich findest, kriegst du einen Kuß!«

Sie gingen bis zur Schelkowitschnaja-Straße. Sweta hüpfte auf die Fahrbahn und wedelte mit der Hand; sofort hielt ein Wagen mit einem abrupten Schlenker Richtung Bordstein neben ihr. Sweta wurde sich mit dem Fahrer [37] einig, winkte Viktor noch mal zu, setzte sich ins Auto und fuhr davon.

Viktor folgte dem Wagen mit dem Blick, holte tief Luft und schlenderte die Straße entlang weiter. Bog in die Luteranskaja und kam hügelabwärts wieder zurück auf den Kreschtschatik.

5

Im gerade öffnenden Kellercafé ›Alt-Kiew‹ herrschte angenehme Kühle. Die Herrin über die große ungarische Kaffeemaschine schichtete gähnend Kuchen vom Vortag in die Auslage.

Sie hatte einen scheußlichen Kaffee gekocht. Dafür warf sie die Zuckerwürfel selbst hinein, und mehr als nötig. Zum Glück rührte sie nicht um.

Viktor befand sich immer noch im Bann der letzten Nacht, dachte an Sweta, an ihre seltsame und so natürliche Kindlichkeit. Nur der Studentenausweis fügte sich so gar nicht ins Bild. Als ob er eine gewöhnliche Fälschung wäre, für eine ermäßigte Monatskarte der U-Bahn. Das war ja durchaus möglich. Auf der Petrowka konnte man mühelos jeden Ausweis kaufen, ob fürs Innenministerium oder den Geheimdienst. Man mußte nur noch das Foto einkleben und irgendeinen Stempel hineindrücken. Danach tu damit, was du willst. Im vernünftigen Rahmen, versteht sich.

Viktor trank einen Schluck von dem Kaffee, der seltsamerweise keine Spur von der Bitterkeit auf der Zunge hinterließ, die Kaffee sonst an sich hat. Statt dessen tauchte [38] auf einmal der Geschmack des nächtlichen Grießbreis mit Erdbeerkompott auf, der Geschmack der Kindheit.

Die letzte Nacht ließ Viktor nicht los. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er viel zu einfach und natürlich eine Nacht des Glücks und der Leidenschaft ›gekauft‹. Und da war kein unangenehmer Nachgeschmack, keinerlei Gewissensbisse. Keine Scham, kein Schmerz, keine Kränkung. Was hatte Bronikowski gesagt? Das Alter kommt, wenn man es nicht mehr umsonst kriegt und sich noch schämt zu bezahlen? Viktor lachte finster. Da hatte Bronikowski sich geirrt. Und Viktor hatte auch gar nicht das Gefühl, daß er bezahlt hatte. Ja, er hatte diesem netten Mädchen einen halben Hunderter gegeben, einfach so geschenkt, aus Dankbarkeit für die schönen Momente. Oder sollte er ihr dankbar sein für die Sorglosigkeit, mit der er sich von dem grünen Schein getrennt hatte? Es war alles so leicht gegangen, so selbstverständlich, als hätten sie sich schon gekannt und als wäre alles nur ein weiteres Rendezvous in einem Kindergarten gewesen, in dem in Abwesenheit der Kinder offenbar allerhand Merkwürdiges und Romantisches passierte, wo im Keller mit Computern gehandelt wurde und man nachts Grießbrei kochte. Sicher spielte sich dort auch auf dem Dachboden lauter Ungesehenes, Unhörbares, Unbemerktes ab. Das Leben war so wunderbar geheimnisvoll. Aus irgendeinem Grund waren diese Geheimnisse vor der Antarktis nicht da gewesen. Vielleicht, weil Viktors zurückgezogenes und durchaus vollständiges Leben als Mitglied einer schon nicht mehr existierenden Familie ihn davon abgeschnitten hatte. In jenem Leben hatte er Verpflichtungen gehabt: Er fütterte den Pinguin Mischa und [39] schrieb traurige Nekrologe, bei deren Lektüre er manchmal die eine oder andere kümmerliche Träne über die künftigen Toten vergoß. Er kümmerte sich um Sonja und versorgte Nina mit Geld und dem Status einer Hausfrau und Ehefrau. Er hatte die Schlüssel zu seiner eigenen kleinen Welt gehabt. Jetzt war an der Tür zu seiner alten Welt ein neues Schloß aufgetaucht, er war zum Flüchtling geworden. Aber gestern abend hatte man ihn auf der Flucht aufgehalten und ihm ein bißchen Glück angeboten.

In seinen Gedanken tauchte ein anderer Kindergarten auf, auch zweistöckig, mit den gleichen Sandkästen und Schaukeln, aber jetzt voller Kinder, dazwischen er selbst mit Topfhaarschnitt, braunen kurzen Hosen und blauem Pulli. Es gab Mittagessen, Grießbrei mit Erbeerkompott unter einem schmelzenden Eisberg aus Butter. Dann war Ruhestunde, und nach der Ruhestunde lernten sie das Häschenlied.

›Was Sonja wohl gerade macht?‹ überlegte Viktor. Sie war nie in den Kindergarten gegangen, spielte nicht mit anderen Kindern; ihre Kindheit sah so ganz anders aus.

Viktor verließ das Café und sah sich um, bis er ein Telefon fand. Er ging hin und rief bei sich zu Hause an.

Die langen Freizeichen machten ihn nervös. Wenn jetzt Nina dranginge? Was sollte er mit ihr reden? Vielleicht konnte er ja einfach fragen: ›Wie geht’s? Was gibt es Neues?‹

Zum Glück nahm Sonja den Hörer ab. Sie verkündete fröhlich, daß Nina irgendwohin gegangen war und Onkel Kolja weder zu Hause übernachtet noch angerufen hatte; sie hatte die Katze hinausgelassen, und die Katze kratzte [40] zwar, war aber auch sehr gescheit, sie ging allein spazieren und kam irgendwann zurück und schabte an der Tür, bis man ihr aufmachte.

Als sie alle neuesten Nachrichten erzählt hatte, fragte Sonja plötzlich: »Und wann kommst du nach Hause?«

Viktor geriet ins Stottern und zögerte mit der Antwort. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Vielleicht in ein paar Tagen…«

»Komm, wenn keiner da ist!« schlug Sonja ihm vor. »Ich mache dir Rührei! Das kann ich schon, Tante Nina war für zwei Tage weg und hat mir nur Eier dagelassen und Brot. Und ich habe mir selber Rührei gemacht, ich bin schon groß. Hast du Mischa gesehen?«

»Noch nicht«, antwortete Viktor. »Ich fahre heute zu ihm…«

»Sag ihm viele Grüße, und er soll zurückkommen. Ohne ihn ist es langweilig.«

»Ich sag es ihm«, versprach Viktor. »Und ich komme dich besuchen, wenn keiner da ist!«

»Ruf oft an!« bat Sonja.

»In Ordnung, morgen früh rufe ich dich wieder an!«

Als Viktor den Hörer aufgelegt hatte, war ihm traurig zumute. Er wollte nach Hause. Eigentlich wollte er zurück in sein altes Leben, nur alles ein bißchen ruhiger und sicherer, ohne ›Kreuzchen‹ und Begräbnisse mit Pinguin. Oder wenigstens nur ›Kreuzchen‹, ohne Begräbnisse. Aber in die Vergangenheit konnte man nur in Gedanken und Erinnerungen zurück. Jetzt mußte er sich einen Ruck geben, tief Luft holen und herausfinden, wo Mischa war. Was war noch da, aus der Vergangenheit, und wie konnte man sich in diese Gegenwart wieder einleben, einpassen, [41] anpassen? Was sollte er tun, wenn alle Schulden beglichen waren? Und auch diese Schulden waren ja keine große Sache! Eine Reise nach Moskau zur Frau, genauer, zur Witwe des Bankiers Bronikowski. Die Hauptschuld bei Mischa zu begleichen war schon komplizierter, aber er würde es versuchen. Und heute damit anfangen. Der Morgenkaffee, auch wenn er scheußlich gewesen war, hatte seine Wirkung getan. Viktor war aufgewacht. Aufgewacht fürs weitere Leben.

6

Teofania empfing Viktor mit vereinzelten Sonnenstrahlen zwischen dicken Wolken. Ein kühler Wind blies ihm ins Gesicht. Über seinem Kopf rauschten die Blätter und lärmten die Vögel in den Bäumen. Auf dem Gelände der Universitätsklinik gingen die Patienten spazieren. Ein hochgewachsener Greis im blauen Morgenmantel schlurfte langsam die Allee entlang, hielt nach jedem Schritt inne und bewegte lautlos die Lippen, bevor er den nächsten Schritt machte.

›Herzinfarkt‹, dachte Viktor, während er den Alten überholte.

Etwas weiter vorn befand sich die Tierklinik. Man mußte nur rechts um das Hauptgebäude herum und über den Hof gehen. Dort gab es ein eigenes Gelände, auf dem vor ein paar Monaten Mischa-Pinguin unter sorgsamer ärztlicher Aufsicht seine Spaziergänge absolviert hatte.

Viktor war nervös. Irgendwas schnürte ihm die Brust [42] zusammen, als ob ihn ein unsichtbarer seelischer Nerv mit einem Schuldgefühl drückte. Er blieb stehen und sah in die Baumkronen hinauf, wartete, bis das Schuldgefühl ihn loslassen oder sich wenigstens etwas beruhigen und zurückziehen würde. Aber der bedrängte Nerv schmerzte bis in die Augen. Viktor verzog das Gesicht. Ihm war zum Heulen. Er blinzelte diesen Wunsch fort und ging weiter.

Hinter dem Hauptgebäude führten zwei Krankenpfleger drei Hunde über den kurzgeschnittenen Rasen. Einer der Hunde hinkte stark mit einer Vorderpfote.

Viktor grüßte die Krankenpfleger und fragte sie nach dem Arzt Ilja Semjonowitsch. Die Pfleger schickten ihn in den ersten Stock zum Büro des Stationsarztes.

Auf dem Flur warf Viktor einen Blick in das Zimmer, in dem Mischa einst gelegen hatte. Neue Patienten konnte er keine erkennen. Er sah nur die Kinderbettchen und einen verchromten fahrbaren Tisch mit medizinischer Apparatur neben einem der Betten. Das Summen zeigte, daß die Apparatur auf dem Tisch arbeitete. Ein weiterer Kampf um das Leben eines vierbeinigen Patienten wurde geführt.

Viktor fand Ilja Semjonowitsch tatsächlich im Stationsarztbüro. Der Arzt erkannte Viktor nicht gleich, begrüßte ihn aber sehr freundlich.

»Erinnern Sie sich, Sie haben den Pinguin Mischa operiert?« brachte Viktor sich in Erinnerung.

»Mischa?« wiederholte Ilja Semjonowitsch, und auf seinem Gesicht erschien ein trauriges Lächeln. »Natürlich erinnere ich mich. In all den Jahren hatten wir hier nur einen Pinguin! Und Sie… ich wußte doch noch Ihren Namen…«

[43] »Solotarew«, soufflierte Viktor.

»Richtig! Man hat hier damals drei Wochen lang auf Sie gewartet…«

»Wer?«

»Ich weiß nicht, Herren vom sportlich-geschäftsmäßigen Typ, wie man so sagt… Einer war ständig da. Die anderen beiden kamen morgens, sind mit Mischa spazierengegangen und abends wieder fortgefahren.«

»Und dann?«

»Dann? Dann war Mischa wieder bei Kräften. Und sie haben ihn mitgenommen. Kamen in zwei Geländewagen und zahlten noch für die Medikamente und die Behandlung, alles sehr korrekt. Zum Schluß haben sie noch mal nach Ihnen gefragt und, wenn ich mich nicht irre, etwas für Sie dagelassen… Nein, es war anders, ich hatte es schon vergessen… Die einen haben auf Sie gewartet, und die anderen haben Mischa mitgenommen. Und den Umschlag haben die dagelassen, die auf Sie gewartet haben! Wie kompliziert!« Der Arzt lächelte. »Wie man so sagt – da bräuchte es schon ein Gläschen für den Durchblick!«

»Wo ist denn der Umschlag?«

Der Arzt warf einen Blick hinüber zu dem verglasten Bücherschrank, dann sah er auf seinen Schreibtisch. Er setzte sich an den Tisch und zog erst eine, dann eine andere Schublade auf. Er zog einige Röntgenbilder heraus und dann einen braunen Umschlag. Den hielt er Viktor hin.

»Da, hier geht nichts verloren… außer dem Gewissen…«

Viktor nahm den Umschlag und sah den Arzt fragend an.

[44] »Ja, ja, außer dem Gewissen«, wiederholte der. »Erst gestern mußte ich wieder zwei Hilfen davonjagen, sie haben Hundefutter aus der Küche geklaut! Natürlich ist es nicht ihre Schuld…« Der Arzt lachte finster. »Da hilft wahrscheinlich bloß noch die Genmanipulation…«

Viktor hörte Ilja Semjonowitsch schon nicht mehr zu. Er zog ein mit Computer ausgedrucktes Blatt und einen zusammengefalteten Zeitungsausschnitt aus dem Umschlag.

›Rufen Sie bis 20.Mai die Nummer 488-03-00 an. Es ist in Ihrem Interesse.‹ Keine Unterschrift.

Er faltete den Zeitungsausschnitt auseinander und verspürte einen Stich in der Brust. Aus einem schwarzen Trauerrahmen sah ihm vom Papier sein Ex-Chef Igor Lwowitsch entgegen. Der kurze Nekrolog informierte über seinen tragischen Tod bei einem Autounfall auf der Borispoler Chaussee. Der Chauffeur war zu schnell gefahren und hatte nicht mehr bremsen können, als ein Kipplaster mit Sand unerwartet auf die Fahrbahn gebogen war.

Viktor faltete den Zeitungsausschnitt wieder zusammen und steckte ihn in den Umschlag.

»Und wann haben sie Mischa geholt?« fragte er den Arzt.

»Das ist schon ein Weilchen her. Er war insgesamt sechs Wochen bei uns, rechnen Sie nach. Sie haben ihn ja damals selbst gebracht…«

Viktor nickte und gab Ilja Semjonowitsch zum Abschied die Hand.

Draußen im Hof blieb er stehen. Die Pfleger führten [45] immer noch die Hunde aus. Es waren kräftige Kerle, und sie erinnerten in ihren weißen Kitteln eher an Metzger als an Mitarbeiter einer Tierklinik. Einer der beiden musterte Viktor plötzlich scharf, und Viktor wurde unbehaglich zumute. Er wandte sich ab und ging rasch auf das Tor zu.

7

Vom Krankenhaus zum Friedhof ist es nicht weit. Selbst wenn man gesund ist. Und immer, wenn man zum Friedhof fährt, macht man sich Gedanken über das Leben. Über das eigene oder ein anderes, jedenfalls über das Leben und seinen Sinn. Und diese Gedanken stehlen die Zeit und die Aufmerksamkeit. Die Straßenbahn ratterte monoton und schläferte Viktor mit ihrem Dahinzuckeln ein. Und erst als vor den Fenstern die rote Ziegelsteinmauer auftauchte, dahinter die übervölkerte Stadt der Toten, flatterten die Gedanken über das Leben und seinen Sinn wie verschreckte Krähen davon. Die Straßenbahn wurde traurig langsamer und hielt zwanzig Meter vor dem Haupteingang der Totenstadt endgültig an.

Die Krähen krächzten. Es ging ein leichter Wind. Alte Frauen verkauften Ranunkeln und Stiefmütterchen. Straßenkinder boten frisch von den Gräbern geklaute Blumensträuße an.

Viktor blieb am Tor stehen. Ihm schien, er würde Pidpalyjs Grab problemlos wiederfinden. Trotzdem war es wohl ein Weg von fünfzehn, zwanzig Minuten.

[46] Er trat zu einer buckligen alten Frau in einer alten blauen Wattejacke. Vor ihr stand ein Holzkasten mit Blumensetzlingen fürs Grab, Stiefmütterchen und Immortellen.

»Wieviel?« fragte er.

»Fünf Griwni das Dutzend.«

Viktor holte einen Fünfer heraus und nahm ein paar blühende Stiefmütterchenpflanzen.

»Warte!« sagte die alte Frau, zückte eine Tüte mit der Aufschrift ›Marlboro‹, zerriß sie in zwei Hälften und wickelte eine davon um die Wurzeln der Stiefmütterchen.

Viktor ging ohne Hast die Friedhofsallee entlang. Seine Beine führten ihn von selbst zum Grab des Pinguinologen. Auf dem Grabhügel wuchs Gras. Viktor hockte sich hin und legte die Stiefmütterchen auf die Erde. Irgendwo in der Ferne klingelte die Straßenbahn.

Viktor sah sich um – kein Mensch war in der Nähe. Nur die Krähen lärmten, und in den Wipfeln der mächtigen Bäume rauschte der Wind.

›Ich habe keine unerledigten Geschäfte!‹ kamen ihm Pidpalyjs Worte in den Sinn. Viktor seufzte. Hier an diesem Grab, mit Pidpalyjs Begräbnis, hatte für ihn und Mischa ihr Schattenleben begonnen. Zumindest für ihn, Viktor, war dieses andere Leben längst zu Ende. Irgendwo hier schlief jetzt auch Igor Lwowitsch den ewigen Schlaf. Sicher hatte er jede Menge unerledigte Geschäfte und nie ausgeführte Pläne hinterlassen, außerdem eine Frau und einen Sohn in Italien, wo er sie vor der heutigen ukrainischen Wirklichkeit versteckt hatte. Er hatte es bestimmt nicht zufällig eilig gehabt, nach Borispol zu kommen – zum Flughafen. Und [47] da hatte man ihm in Form eines Kipplasters ein Bein gestellt. Jede Geschichte hat ihren Schlußpunkt. Nicht unbedingt ein Finale, der Punkt ist wichtiger. Und einen dickeren Punkt als den Tod gibt es nicht.

Etwa dreißig Meter von Pidpalyjs Grab lag ein säuberlich gefegter ›Wirtschaftsplatz‹ – ein Abfallcontainer, voll mit trockenen Zweigen und anderen Gartenabfällen. Neben dem Container ragte ein Wasserhahn aus der Erde. Unter dem Hahn standen ein Eimer und eine große eiserne Gießkanne mit leuchtendroten Registriernummern. Und am Container lehnte ein alter Spaten.

Viktor nahm den Spaten und pflanzte die Stiefmütterchen rings um das Grab herum. Dann begoß er sie großzügig. Schließlich setzte er hier, so schien es ihm, auch Pidpalyj ein Denkmal. Wohin man ringsum blickte, nichts als Marmor und ovale Fotografien, nur hier so ein fast namenloses Grab. Nur ein Täfelchen mit Nachnamen und Initialen des Toten auf dem vor Nässe dunklen Holz, das war wie eine provisorische Kennkarte. Ein Denkmal dagegen, das war schon ein Paß für die Ewigkeit. Der wurde nicht mehr umgetauscht.

Wieder setzte sich ein Schuldgefühl in Viktor fest, diesmal gegenüber Pidpalyj. Viktor wurde es schwer ums Herz, und nach einem Abschiedsblick auf das Grab machte er sich auf den Rückweg in Richtung Ausgang. Er kam an einem gewaltigen, zwei Meter hohen Marmordenkmal vorbei, das einen Verstorbenen in voller Lebensgröße zeigte. Im Adidas-Trainingsanzug und die Autoschlüssel eines Mercedes in der Hand. Der Mercedes selbst lugte hinter seinem Rücken hervor.

[48] Viktor blieb stehen und betrachtete das monumentale Porträt des Verstorbenen, da fiel es ihm ein: Das war doch jener Tote, der Mischa und ihn mit Ljoscha zusammengebracht hatte! Von hier aus hatte Ljoscha sie zum ersten Mal in seinem Wagen nach Hause gefahren.

RASTOROPOW, PJOTR WITALJEWITSCH. 15.03.1971–11.10.1997.

›Der elfte Oktober‹, überlegte Viktor. ›Sie haben ihn sicher am dritten Tag beerdigt… am dreizehnten… ein Unglückstag…‹

Wieder klingelte in der Ferne eine Straßenbahn, und Viktor setzte seinen Weg durch die Friedhofsallee fort. Über seinem Kopf flogen lärmend die Krähen. In ihr Gekrächz mischte sich ein ferner Trauermarsch, und als Viktor sich umsah, erblickte er weit hinten auf dem Friedhof eine Ansammlung von Menschen. Wieder wurde jemand in die Ewigkeit verabschiedet.

Zehn Minuten später, als schon die Eingangstore vor ihm auftauchten, sah Viktor, wie etwa anderthalb Dutzend große ausländische Wagen, darunter ein luxuriöser Leichenwagen, in den Friedhof hineinfuhren. Am Ende der Kolonne folgten vier identische schwarze Geländewagen. Der letzte hielt, und zwei Männer sprangen heraus. Sie stellten sich zu beiden Seiten des Tores auf, und der ganze Zug bewegte sich weiter die Allee zur Kirche und zum Krematorium hinunter.

Viktor lächelte beinahe, als ihm ein plötzlicher Gedanke kam. ›Ein bedeutendes Begräbnis ohne Pinguin…?‹ dachte er, während er der Wagenkolonne aufmerksam hinterhersah.

[49]