Plötzlich Rebell – Das eiserne Schwert - Julie Kagawa - E-Book

Plötzlich Rebell – Das eiserne Schwert E-Book

Julie Kagawa

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Beschreibung

Dem Feenreich droht höchste Gefahr! Die Dämmerung rückt immer näher heran und lässt ganze Bereiche des Nimmernie verschwinden, für immer. Für Ash und Meghan ist die Situation ungleich schwerer, denn ihr Sohn Keirran, der König der Vergessenen Feen, wurde entführt. Nur gemeinsam mit Puck haben sie eine Chance, ihn wiederzusehen und die Dämmerung aufzuhalten.

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Seitenzahl: 465

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Das Buch

Für seine Liebe hat Feenprinz Ash alles aufs Spiel gesetzt. Seit er damals Meghan begegnete, der in der Menschenwelt aufgewachsenen Tochter von Oberon, König des Sommerreichs, war es um den Winterprinzen geschehen. Für ihre Liebe mussten Meghan und Ash bis an die Enden der Feenwelt reisen – und dorthin kehren sie nun zurück, wenn auch nur unfreiwillig. Als sie Nachricht vom Verschwinden ihres Sohnes Keirran im Schleier zwischen den Welten erhalten, setzen sie alles in Bewegung, um ihn wiederzufinden. Doch dahinter steckt mehr, wie Ash und seine Freunde schon bald herausfinden – denn etwas Uraltes zerstört nach und nach ganz Nimmernie. Wenn Ash jetzt nicht seine Rivalität mit Puck überwindet, könnte für alle Feen das letzte Stündlein geschlagen haben …

Die Autorin

Schon in ihrer Kindheit gehörte Julie Kagawas große Leidenschaft dem Schreiben. Nach Stationen als Buchhändlerin und Hundetrainerin machte sie ihr Interesse zum Beruf. Mit ihren Fantasy-Serien »Plötzlich Fee« und »Plötzlich Prinz« wurde sie rasch zur internationalen Bestsellerautorin. Nach mehreren anderen Romanen kehrt sie mit »Plötzlich Rebell« in ihre bekannteste Fantasy-Welt zurück. Julie Kagawa lebt mit ihrem Mann in Louisville, Kentucky.

Julie Kagawa

DAS EISERNE SCHWERT

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Charlotte Lungstrass-Kapfer

Deutsche Erstausgabe

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe: THEIRONSWORD (THEIRONFEY: EVENFALL 2)Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 03/2023

Redaktion: Jennifer Jäger-Schenk

Copyright © 2022 by Julie Kagawa

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN978-3-641-28412-1V002

www.heyne.de

Für Nick, auf immer.

ERSTER TEIL

1 DER VERSCHOLLENE KÖNIG

Ich lebe schon sehr lange.

Nicht ganz so lange wie manch andere Fee. Robin Goodfellow zum Beispiel hat mir ein paar Jahrhunderte voraus (auch wenn man es nicht meinen sollte, so wie er sich aufführt). König Oberon, Königin Titania und Königin Mab sind noch älter, Wesen aus uralten Zeiten, deren Macht im Nimmernie ihresgleichen sucht. Ich bin weder so alt noch so mächtig wie die Herrscher des Feenreiches, aber selbst nach unseren Maßstäben lebe ich schon ziemlich lange. Im Land der Feen ist mein Name allgemein bekannt, bei einigen sogar gefürchtet. Ich habe das Feenreich bis in den hintersten Winkel erkundet, ich habe Dinge gesehen, die niemand sonst je erblickt hat – albtraumhafte Gestalten, Drachen, das Ende der Welt. Ich habe unlösbare Prüfungen bestanden, unüberwindliche Herausforderungen gemeistert, unsterbliche Monster getötet.

Nichts von alledem hat mich darauf vorbereitet, was es bedeutet, Vater zu sein.

Meghan starrte Glitch wortlos an. Im fahlen Licht des Wilden Waldes wirkte ihr Gesicht blass. Stumm sah sie die Eiserne Fee an, deren Worte gerade unsere gesamte Welt auf den Kopf gestellt hatten. Ankerstein existiert nicht mehr. Prinz Keirran, der König der Vergessenen, ist verschwunden.

»Erklär mir das, Glitch«, befahl Meghan ruhig. Ihre Stimme war hart wie Stahl, vermutlich war ich der Einzige, der das leise Zittern darin bemerkte. »Was soll das heißen: Keirran ist verschwunden? Was ist denn mit Ankerstein passiert?«

»Eure Majestät.« Glitch neigte respektvoll den Kopf, und die Blitze in seinen Haaren verloren einiges von ihrem grell violetten Strahlen. »Verzeiht mir, aber ich weiß auch nur das, was der Bote uns mitgeteilt hat – dass Ankerstein verschwunden und von Prinz Keirran nirgendwo eine Spur zu finden ist. Ich wünschte, ich könnte Euch mehr sagen.«

Keirran. Nackte Angst breitete sich in mir aus. Nicht um mich selbst, sondern um meinen Sohn, der es trotz aller Versprechungen offenbar nicht schaffte, Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Bereits vor seiner Geburt war prophezeit worden, dass er zu einem Retter oder Zerstörer heranwachsen würde, weshalb das gesamte Nimmernie stets genau im Blick behalten hatte, was davon Wirklichkeit werden würde. Über Jahre hinweg hatten Meghan und ich ihn mit diesem Wissen im Hinterkopf großgezogen, hatten versucht, uns nicht davon beeinflussen zu lassen, und waren uns doch immer bewusst gewesen, dass wir uns eines Tages den Konsequenzen stellen mussten, die Keirrans Entscheidung für uns alle haben würde.

Die Prophezeiung wurde konkreter, als sich ein mächtiger neuer Feind erhob und das gesamte Feenreich bedrohte. Die Herrin, einst erste Königin des Nimmernie, scharte in ihrem Zorn darüber, dass die Feen auch ohne sie weiterexistiert hatten, die Vergessenen um sich und erklärte allen Höfen den Krieg. Eine neue Welt versprach sie ihnen, eine Welt, in der die Menschen uns Feen wieder fürchten und verehren würden, in der kein Feenwesen dem Schwund anheimfallen würde, der einsetzte, wann immer unsereins vergessen wurde. Sie verlangte die Auflösung der drei Reiche und die Abdankung ihrer Monarchen, die sie als alleinige Königin des Nimmernie anerkennen sollten. Natürlich waren die Herrscher damit nicht einverstanden, und so begann der Krieg gegen die Vergessenen.

In jenem Moment traf Keirran seine Entscheidung, und er wurde zum Zerstörer. Er verriet seine Heimat, wandte sich von seiner Familie ab und schloss sich der Herrin bei ihrem Eroberungsfeldzug an. Und auch wenn ich gewusst hatte, dass es geschehen konnte, auch wenn die Prophezeiung es so vorhergesagt hatte, war es doch ein vernichtender Schlag für Meghan und mich. Keirran war stur und idealistisch, und wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, gab es für ihn daran nichts mehr zu rütteln. Trotzdem hatte ich nicht geglaubt, dass er dazu fähig wäre, unseren gesamten Feenhof zu verraten.

Meghan holte tief Luft. Ich spürte, wie sie mit sich rang: Auf der einen Seite musste sie wissen, was mit unserem Sohn passiert war, auf der anderen Seite drängten die Pflichten der Eisernen Königin. Das Feenland wurde bedroht. Wir hatten gerade erst ein bösartiges neues Monster besiegt, das uns beinahe alle getötet hätte. Mir tat immer noch alles weh, die brutalen Attacken dieser Kreatur hatten jeden einzelnen Muskel in Mitleidenschaft gezogen. Zu fünft waren wir gewesen – ich selbst, die Eiserne Königin, Robin Goodfellow, eine Eiserne Fee namens Kohlefresser und eine Vergessene mit dem Namen Nyx – und trotzdem war es uns nur mit großer Mühe gelungen, dieses Wesen zu besiegen. Um dann im Anschluss festzustellen, dass damit die Bedrohung keineswegs ausgemerzt war. Eigentlich hatte alles gerade erst begonnen.

Meghan wusste das. Ein dunkler Schatten hatte sich über das Feenreich gelegt, der Widerhall einer neuen Prophezeiung schwebte über uns allen wie ein drohendes Unwetter. Das Ende ist eingeläutet. Die Dämmerung bricht an. Das Feenreich und alles Leben unter der Sonne sind dem Untergang geweiht.

Ich schob mich hinter Meghan und legte beide Hände auf ihre Schultern; spürte, wie sie zitterten. Entschlossen beugte ich mich vor und raunte ihr zu: »Ich kann ihn finden, Meghan. Wenn du nach Mag Tuiredh zurückkehren musst, nehme ich Puck und Grim mit, und wir machen uns auf die Suche nach Keirran. Grim kann uns nach Ankerstein führen, dort werden wir dann sehen, was mit seiner Hauptstadt geschehen ist und wohin Keirran verschwunden sein könnte. Du musst uns dieses Mal nicht begleiten.«

»Nein.« Sie drückte kurz meine Hand. »Ich muss wissen, was mit Ankerstein passiert ist, warum es so plötzlich verschwunden ist. Wenn eines dieser Monster für seine Vernichtung verantwortlich ist, werdet ihr meine Hilfe brauchen, um mit ihm fertig zu werden. Außerdem …«, sie unterbrach sich, und für einen Moment spiegelte sich der innere Schmerz auch in ihrem Gesicht wider. »Wenn Keirran etwas zugestoßen ist, wenn eine dieser Kreaturen ihn erwischt hat, so wie Puck, dann will ich es wissen. Dann will ich es mit eigenen Augen sehen. Und wenn wir diesmal beide da sind, reicht das vielleicht aus, um ihn zurückzuholen.«

Kälte breitete sich in mir aus. Das Monster, das wir nach einem zermürbenden Kampf getötet hatten, war anders als alles, was mir bislang begegnet war: die körperliche Manifestation von Hass, Zorn, Furcht und Verzweiflung. Es vergiftete den Boden, auf dem es stand, verseuchte alles mit seinem finsteren, aus negativen Emotionen geborenen Schein. Und das Schlimmste war: Es brachte die dunkelsten Seiten in den Lebewesen hervor, die es berührte. Das hatte ich bei Puck gesehen, der danach von Eifersucht, Wut und bösartigem Trotz zerfressen wurde. Er hatte sich in den Robin Goodfellow von früher verwandelt. Den Robin Goodfellow, der noch immer wütend auf mich war, weil ich ihm Meghan genommen hatte, und der voller Groll auf die vielen Gelegenheiten zurückblickte, bei denen ich versuchte hatte, ihn zu töten.

Was ich ihm absolut nicht vorwerfen konnte.

Zum Glück war es Puck gelungen, sich aus dieser Finsternis emporzukämpfen und zu seinem normalen, unbeschwerten, respektlosen Selbst zurückzufinden. Aber ich wusste genau, welche Gedanken Meghan nun umtrieben, und ich teilte diese Furcht. Keirran hatte schon einmal bewiesen, dass er dazu in der Lage war, alles zu verraten, was er liebte. Wenn wir nun also in den Zwischenraum traten … würden wir dann feststellen müssen, dass unser Sohn erneut zu einem seelenlosen Feind geworden war?

Wieder beugte ich mich zu Meghan vor, und ihre Finger schlossen sich noch fester um meine Hand. »Wir werden ihn finden«, versicherte ich ihr leise. »Wir werden ihn finden, und wir werden ihn nach Hause holen, was es auch kosten mag.«

Sie nickte knapp, dann löste sie sich von mir und blickte auf Glitch hinab, der noch immer vor ihr kniete. »Du hast richtig gehandelt«, erklärte sie dem Eisernen Leutnant. »Kehre jetzt nach Mag Tuiredh zurück und sorge dafür, dass unser Volk in Sicherheit ist. Ich werde nach Prinz Keirran suchen. Sobald ich kann, komme ich zurück.«

»Selbstverständlich, Majestät«, nickte Glitch, obwohl ich genau wusste, dass er am liebsten protestiert hätte. Dem Ersten Leutnant gefiel es grundsätzlich nicht, wenn beide Herrscher von Mag Tuiredh das Eiserne Reich auf unbestimmte Zeit verließen. Aber er stand lange genug in Meghans Diensten, um nun einfach eine knappe Verbeugung anzudeuten und zu erwidern: »Dann wünsche ich Euch viel Glück und eine sichere Rückkehr. Ich werde die Stadt schützen, bis Ihr wieder bei uns seid.«

Meghan drehte sich um und musterte den Rest unserer Gruppe. Puck stand mit verschränkten Armen unter einem Baum; sein leuchtend rotes Haar ließ ihn selbst in dem trüben Zwielicht deutlich hervorstechen. Neben ihm wartete eine Gestalt mit dunkler Kapuze, die beinahe mit den Schatten verschmolz und das Geschehen schweigend beobachtete. Es dauerte einen Moment, bis Meghan sie ausmachen konnte. »Nyx, du bist eine Vergessene und gehörst Keirrans Hofstaat an. Es scheint, als wäre Ankerstein ausgelöscht worden und Keirran verschwunden. Kannst du den Schleier teilen und uns in den Zwischenraum bringen?«

Die Fee mit dem silbernen Haar, der Haut in der Farbe der Dämmerung und den golden schimmernden Augen hob den Kopf und erklärte mit eiserner Entschlossenheit: »Jawohl, Eure Majestät. Wenn Keirran in Gefahr schwebt, muss ich ihn schnellstmöglich finden. Wann möchtet Ihr aufbrechen?«

»Sofort.« Meghan wandte sich an Puck und Kohlefresser, die sie aufmerksam musterten. »Ungewisse Zeiten stehen uns bevor«, begann sie. »Das Feenreich wird bedroht. Irgendetwas kommt da auf uns zu, und niemand weiß, um was es sich handelt oder wann es uns erreichen wird. Wir wissen nur, dass es schon sehr nahe ist. Die Herrscher und Anführer der Feen müssen vor dieser Bedrohung gewarnt werden. Kohlefresser …«, sie wandte sich der massigen Eisernen Fee zu, die sich sofort erwartungsvoll aufrichtete, »… ich weiß, dass du uns bei der Suche nach Keirran helfen möchtest, aber du musst bitte in die Obsidianebenen zurückkehren und Schienenstift berichten, was geschehen ist. Er muss informiert werden, denn falls es nötig wird, die Eiserne Herde einzuschalten, sollte er vorbereitet sein.«

»Jawohl, Eure Majestät.« Der große Mann neigte den Kopf, und für einen Moment schien seine wahre Gestalt aufzuflackern – ein riesiges Schlachtross, geschmiedet aus schwarzem Eisen, angetrieben von züngelnden Flammen. »Die Eiserne Herde wird sich bereithalten, um Euch gegen jeden Feind beizustehen. Wir werden an Eurer Seite kämpfen, solange es nötig ist.«

Meghan nickte dankbar, bevor sie sich der rothaarigen Fee zuwandte, die neben ihm stand. »Puck?«

»Komm schon, Prinzessin.« Robin Goodfellow ließ sein breites Grinsen aufblitzen. »Du weißt doch genau, wo ich stehe. Da musst du gar nicht erst fragen.«

»Ich denke, ich werde mich ebenfalls anschließen.«

Eine flauschige graue Katze schlich heran und zuckte mit ihrem übermäßig buschigen Schwanz. Der Kater musterte uns gelangweilt. »Sollte Ankerstein tatsächlich verschwunden sein, möchte ich das mit eigenen Augen sehen«, verkündete Grimalkin. »Außerdem sollte wohl jemand mit einem Funken Verstand anwesend sein, um die logischen Zusammenhänge herzustellen und euch auf das Offensichtliche hinzuweisen. Und euch auf den richtigen Weg zurückzuführen, wenn ihr euch verlauft. Ohne die Fähigkeiten der Vergessenen anzweifeln zu wollen, werdet ihr doch einen Führer brauchen, falls ihr vom Weg abkommt.«

Die Eiserne Königin nickte entschlossen. »Dann lasst uns gehen«, bestimmte sie. »Ich fürchte, uns läuft die Zeit davon, und je länger wir warten, desto schwieriger dürfte es werden, Keirran zu finden. Nyx«, sie gab der Vergessenen ein Zeichen, »wenn du so weit bist, bringe uns bitte in den Zwischenraum.«

Sofort trat Nyx in Aktion. Sie schloss die Augen und streckte die Hand aus, die Finger weit gespreizt, als suche sie nach etwas, das sich nur ertasten ließ. »Keirran hat mir beigebracht, wie man den Zwischenraum betritt«, sagte sie leise, während sie ein paar Schritte vorwärts ging. »Er meinte, nur die Vergessenen könnten das noch, und dass die Herrin ihm diese Gabe geschenkt habe. Man muss einen Punkt finden, an dem der Schleier besonders dünn ist.«

»So etwas wie einen Steig?« Puck meinte damit die magischen Pfade zwischen dem Nimmernie und der Welt der Sterblichen.

»Ähnlich«, murmelte Nyx, die sich noch immer mit erhobener Hand voranschob. Wir folgten der Vergessenen, die mit festen Schritten weitersuchte. »Der Schleier ist eine Art Nebel«, fuhr sie fort, »immer in Bewegung, ständiger Veränderung unterworfen. Diese Schwachstellen sind vermutlich nicht mehr da, wenn man ein zweites Mal zu ihnen zurückkehren möchte. Aber wenn man lange genug sucht, kann man eigentlich immer … Dort.«

Sie blieb stehen, zögerte kurz. Dann schob sie ihre Finger in das Gewebe der Welt und schob es auseinander wie einen Vorhang; ich hatte schon ein oder zwei Mal gesehen, wie Keirran das machte. Wo sie den Schleier teilte, entstand ein schmaler Spalt, hinter dem absolute Finsternis wartete. Feine Nebelschwaden glitten aus dem Loch hervor und lösten sich wabernd auf.

Nyx, die direkt vor der aufklaffenden Leere stand, schüttelte verwirrt den Kopf. »Der Zwischenraum fühlt sich irgendwie … anders an«, stellte sie leise fest. »Zorniger als früher. Das ist nicht gut.« Sie öffnete die Augen und sah uns an. Einen Moment lang wirkte sie besorgt, dann aber verdrängte ernste Entschlossenheit alles andere aus ihrer Miene. »Haltet eure Emotionen in Zaum«, ermahnte sie uns. »Reinigt euren Geist und eure Gefühle. Der Zwischenraum kann starken Emotionen eine körperliche Gestalt verleihen. Wenn ihr nicht aufpasst, werden wir vielleicht mit euren schlimmsten Ängsten konfrontiert, oder mit den dunkelsten Seiten eures Zorns.«

Ich atmete einmal tief durch, um das Gefühlschaos in meinem Inneren zu bezwingen, dann suchte ich nach der leeren, eisigen Gelassenheit des Winterprinzen in mir. Früher war es einfacher gewesen, auf sie zurückzugreifen – in der Zeit vor Meghan und Keirran, als ich mich einzig und allein um mich selbst hatte kümmern müssen und es kaum etwas gab, das mir Angst machte. Damals hatte es mir absolut nichts ausgemacht, mich dem Unbekannten zu stellen. Was auch immer mich erwartete, ob Monster, Albtraum oder grauenhafte Missgeburt, nichts von alledem konnte mir Schlimmeres zufügen als den Tod. Und es war extrem schwer, mich zu töten. Deshalb hatte ich auch nur äußerst selten um mein Leben gefürchtet.

Heute war das anders. Ich hatte eine Familie. Ich hatte eine Frau und einen Sohn, und diese beiden bedeuteten mir mehr als alles andere, sie waren meine ganze Welt. Schwebten sie in Gefahr, wollte ich nichts anderes tun als sie zu beschützen, wollte das Böse vernichten, das sie bedrohte, damit es ihnen niemals wieder ein Leid antun konnte. Und auch jetzt spürte ich, wie eben dieser Zorn in mir aufstieg, wie er meine Gedanken beherrschte. Ich atmete tief durch, um meine Mitte zu finden. Wenn Keirran dort draußen war, würden wir ihn finden, und ich würde alles niedermachen, was sich uns in den Weg stellte. So einfach war das.

Puck stieß einen übertrieben tiefen Seufzer aus und sah mich an. »Tja, Eisbubi, dann ziehen wir mal los. Auf ins nächste Abenteuer, bei dem sich das Feenreich sicher wieder von seiner schlimmsten Seite zeigt. Oh, warte mal, du warst ja vorher noch nie im Zwischenraum, stimmt’s?« Er grinste breit, und seine grünen Augen funkelten spöttisch, als er auf das Portal zutrat. »Nun, dann kannst du dich auf ein paar spaßige Überraschungen freuen.«

2 DIE HALB VERSCHWUNDENE STADT

Pucks Annahme war nicht ganz korrekt. Ich war sehr wohl schon im Zwischenraum gewesen. Sogar schon mehrmals. Bei beiden Gelegenheiten hatte ich zusammen mit Meghan Ankerstein besucht, die Hauptstadt von Keirrans neuem Reich. Zwar durfte Keirran das Nimmernie nicht mehr betreten, das hinderte uns aber nicht daran, ihn im Zwischenraum aufzusuchen. Allerdings zog der König der Vergessenen es meistens vor, uns in der Welt der Sterblichen zu treffen, anstatt uns in Ankerstein zu empfangen. Vermutlich wollte er nicht, dass wir uns Sorgen um ihn machten. Keirran schämte sich weder für sein Königreich noch für seine Untertanen, aber Ankerstein war nun einmal ein Ort der Schatten, an dem ewige Dunkelheit herrschte. Zumindest hatte ich bei meinen wenigen Besuchen dort diesen Eindruck gewonnen. Die Stadt hatte etwas Trostloses und Düsteres an sich, dort lag eine bedrückende Melancholie in der Luft, die sich auch in den gotisch anmutenden Gebäuden widerspiegelte. Geschwungene Simse, hohe Torbögen und grinsende Wasserspeier prägten das Stadtbild von Ankerstein, und die Vergessenen schlichen zwischen den rauen Steinmauern und in den schlammigen Straßen umher wie Ausgeburten kindlicher Albträume.

Ja, Ankerstein war ein wahrhaft trister Ort, was meiner Meinung nach der Grund dafür war, dass Keirran uns meistens bat, ihn im Reich der Sterblichen zu treffen. Doch auch wenn sie düster und voller dunkler Schatten war, auch wenn man die Trübsal an diesem Ort beinahe greifen konnte, war und blieb die Hauptstadt der Vergessenen eben genau das – eine Stadt. Dort gab es Straßen, Häuser und unverkennbare Bauten.

Und sie ähnelte keinesfalls der flachen, inhaltslosen Leere, in der ich mich nun wiederfand.

»Der Zwischenraum.« Meghan sprach so leise, dass sie kaum zu verstehen war. Um uns herum war nichts zu erkennen außer Nebel und Dunst, der sich endlos in der Leere erstreckte. Nirgendwo gab es Licht, keinerlei Geruch hing in der Luft, außer unseren Stimmen gab es keinen Laut. »So sieht er also in Wahrheit aus.«

»Herzerfrischend, nicht wahr?« Pucks Worte dröhnten regelrecht in dem endlosen Hohlraum. »Oh, aber lasst euch von dieser morbiden Idylle nicht täuschen – der Zwischenraum kann einige richtig fiese Monsterchen ausspucken, wenn man nicht aufpasst. Sag es ihnen, Pelzkugel.«

Grimalkin strafte Puck mit einem Blick voll kätzischer Herablassung, dann erklärte er naserümpfend: »Goodfellow hat recht.« Es schien ihm zutiefst zuwider zu sein, das aussprechen zu müssen. »Die Vergessene hat euch ja bereits davor gewarnt, was hier passieren kann, aber offensichtlich liegt es an mir, das genauer darzulegen … mal wieder.« Er reckte den Kopf, was wohl bei einer Katze einem tiefen Seufzer gleichkam. »Der Zwischenraum ist lebendig«, begann er dann. »Er hat kein wirkliches Bewusstsein, was bedeutet, dass er jenen, die sich innerhalb seiner Grenzen befinden, keine Empfindungen wie Boshaftigkeit oder Missgunst entgegenbringt. Doch er kann lebendige Dinge erschaffen. Der Zwischenraum ist dazu in der Lage, eurer aktuellen Gefühlslage eine körperliche Gestalt zu geben. Aus diesem Grund empfehle ich euch, kraftvolle Emotionen wie Zorn, Angst, Trauer oder Verzweiflung auf ein absolutes Minimum zu reduzieren – soweit ihr denn dazu fähig seid. Es sei denn natürlich, ihr wollt plötzlich einem Wesen gegenüberstehen, das aus euren persönlichen Albträumen kreiert wurde. Auch wenn ich befürchte, dass eine Fee ihre Emotionen ebenso wenig unter Kontrolle halten kann wie ein Hund seinen Speichel.« Fast schon resigniert zuckte der Kater mit dem Schwanz. »Trotzdem solltet ihr es zumindest versuchen.«

Ich sah zu Meghan hinüber und entdeckte in ihrem Blick eine kaum verhüllte Mischung aus Angst und Wut; die Sorge um Keirran gepaart mit dem Zorn darüber, dass wieder einmal jemand oder etwas versuchte, ihn uns zu entreißen. Hinzu kam der finstere Entschluss, ihn um jeden Preis aufzuspüren. Obwohl sie durch ihre Herrschaft über das Eiserne Reich eine Menge gelernt hatte, tat sich die Eiserne Königin noch immer schwer damit, ihre Gefühle zu verbergen oder zu unterdrücken, vor allem, wenn es um ihre Familie ging. Ich hatte da wesentlich mehr Übung, denn ich hatte meine Emotionen und Erinnerungen ein Leben lang mit einem dicken Eispanzer überzogen. Trotzdem fiel es auch mir schwer, nun gleichgültig zu bleiben. Mein Sohn war verschwunden. Ich musste ihn finden. Doch danach würde ich denjenigen aufspüren, der ihn bedrohte, und würde ihn auslöschen, ein für alle Mal.

Ein kalter Windstoß streifte meinen Rücken. Als ich mich umdrehte, teilte sich der Nebel, und eine trostlose Szene tat sich vor mir auf: wahllos aufgestapelte Leichen, von Menschen und Feen gleichermaßen, alle zu Eis erstarrt, die Augen weit aufgerissen und voller Furcht. An der Spitze dieses grotesken Berges lag ein langgestreckter Körper, aus dessen Rücken ein mir nur allzu gut bekanntes Schwert ragte. Strahlend hell schimmerte es im Halbdunkel, die Klinge war in eisblaues Licht gehüllt. Und während ich die Szene betrachtete, betrachten musste, da ich nicht in der Lage war, mich von ihr abzuwenden, kam plötzlich Leben in den Blick all dieser Toten, und ihre leeren Augen richteten sich vorwurfsvoll auf mich.

Schuldbewusst fuhr ich zusammen, doch im selben Moment senkte sich der Nebel über den Leichenberg und entzog ihn meinem Blick. Als er sich einen Augenblick später wieder hob, war alles verschwunden.

»Ash.« Meghan stieß einen leisen Seufzer aus, was mir verriet, dass sie es ebenfalls gesehen hatte. »Wirst du klarkommen?«, fragte sie mich sanft.

Reiß dich zusammen, Ash, ermahnte ich mich. Der Zwischenraum kann deine dunkelsten Ängste und Emotionen zum Leben erwecken. Niemand will das sehen, du selbst am allerwenigsten.

Wieder regte sich Zorn in mir, doch ich unterdrückte ihn. Erst Keirran finden, dann die Bedrohung ausschalten, was auch immer es war. Darauf musste ich mich konzentrieren. Ich sah Meghan an und schenkte ihr ein schmales, beruhigendes Lächeln. »Es geht mir gut«, versicherte ich ihr. »Mach dir um mich keine Sorgen – lass uns einfach nur Keirran finden.«

Nyx trat vor. Ihre Augen leuchteten gelblich in dem trügerischen Zwielicht. »Ankerstein liegt in dieser Richtung«, erklärte sie uns. »Folgt mir.«

Also wanderten wir stumm hinter der Auftragsmörderin her durch die Leere. Wie lange das so ging, weiß ich nicht genau. Im Zwischenraum sah einfach alles gleich aus, egal wohin man sich auch wandte: Eine graue Landschaft voll wabernder Nebelschwaden, die über rein gar nichts dahinglitten. Hin und wieder lichtete sich der Dunst und enthüllte seltsame Umrisse und Schemen. Bäume und Büsche, Schneemänner, ausgebleichte Tierknochen. Doch auch wenn manches davon leicht beunruhigend aussah, erwachte doch nichts zum Leben, nichts sprang uns aus dem Nebel an, und wir setzten unseren Marsch durch den Zwischenraum vollkommen unbehelligt fort.

Ja, ruhig und still war der Zwischenraum, doch er war auch eindeutig zornig. Ich fühlte es, genau wie Nyx gesagt hatte. Aber vielleicht war das auch nur meine eigene Gemütslage, mit der ich auf die unterschwellige Bedrohung durch diesen Ort und die Ungewissheit in Bezug auf Keirran reagierte. Warum schwebte meine Familie eigentlich ständig in Gefahr? Immerhin hatten wir gerade erst einen Krieg beendet, in dem wir nicht nur gegen eine ganze Armee von Feen und eine sehr mächtige Ex-Königin hatten kämpfen müssen, sondern mein eigener Sohn auch noch alles und jeden verraten hatte. Und schon tauchte die nächste Bedrohung auf und versuchte, mir alles zu entreißen, was mir kostbar war. Würde ich etwa für alle Zeiten kämpfen müssen, um meine Familie zu schützen? Stets in dem Bewusstsein, dass ich eines Tages versagen und alles verlieren könnte?

Der leise Groll in meinem Inneren wurde zu schwelendem Zorn. Doch genau in diesem Moment blieb Nyx stehen und sah sich stirnrunzelnd in der umfassenden Leere um.

»Hier stimmt etwas nicht«, murmelte sie. Während sie angestrengt in den Dunst starrte, drehte sie sich langsam um die eigene Achse und schüttelte dann entschieden den Kopf. »Nein, es liegt nicht an mir. Hier stimmt etwas nicht.«

Wie Nyx versuchte ich, in den Nebelschwaden etwas zu erkennen, doch es gelang mir nicht. »Was meinst du damit?«

»Wir befinden uns hier am Rand der Hauptstadt«, erklärte Nyx und sah mich ernst an. »Vor wenigen Sekunden hätten wir die Stadtgrenze überqueren müssen.« Ihr schlanker Finger zeigte umher und deutete auf … nichts. »Dort müsste ein Tor sein, und eine Straße, die sich durch die ganze Stadt zieht, bis zum Marktplatz. Wir sollten uns jetzt eigentlich in Ankerstein befinden.«

Ein ungutes Gefühl breitete sich in mir aus. Meghan musterte die Stelle, auf die Nyx noch immer deutete, mit spürbarer Sorge. »Glitch hat zwar gesagt, dass die Hauptstadt der Vergessenen nicht mehr existiert«, sagte sie mit zitternder Stimme, »aber mir war nicht klar, dass er das wörtlich gemeint hat.«

Die Vergessene war sichtlich blasser geworden, doch bevor sie antworten konnte, flammte ein flackerndes Licht im Nebel auf, genau an der Stelle, an der sie stand. Nyx wich mit einem Sprung nach hinten aus, während ich meine Waffe zog. Plötzlich teilte sich der Nebel, und direkt vor uns erschien wie aus dem Nichts ein steinernes Tor. Auf seinen Säulen thronten zwei grinsende Wasserspeier, die mit riesigen, gefletschten Hauern zu uns herabglotzten.

Seufzend ließ Puck seine Dolche sinken und warf dem Bauwerk, das sich unserer Gruppe so spontan angeschlossen hatte, einen finsteren Blick zu. »Verdammt noch eins, daran werde ich mich niemals gewöhnen«, brummte er. »Also, wessen Manifestation ist das, und warum fürchtet sich derjenige vor Torbögen? Oder sind vielleicht die Gargoyles das Problem? Ich meine, klar, die können verdammt hart zuschlagen, aber …«

Nyx blinzelte verwirrt. »Das … das ist das Stadttor«, erklärte sie fassungslos. »Oder zumindest ein Teil davon.« Ihr Blick huschte nach rechts und links als suche sie nach der Mauer, die sich eigentlich daran anschließen sollte. »Ich verstehe nicht, was hier passiert.«

»Es ist das Tor«, bestätigte Grimalkin und musterte gelangweilt die grinsenden Wasserspeier. »Und ich denke, ich kann diese Frage beantworten.« Gelassen sprang er auf einen geborstenen Steinblock, setzte sich und legte den Schwanz um die Pfoten. »Wird im Zwischenraum«, begann er belehrend, »ein Anker zerstört, dann verschwindet auch alles, was mit ihm verbunden ist, korrekt? Was geschieht aber, wenn der Anker nur beschädigt wird? Wie wirkt sich das auf sein Umfeld aus?«

»Vermutlich passiert dann das, was wir hier vor uns sehen«, riet Puck und zeigte auf das Stadttor, das flackerte wie eine sterbende Kerzenflamme und für einen Moment ganz verschwand, sodass Grim auf den Boden plumpste. Als es wieder auftauchte, fehlte einer der Gargoyles an seiner Spitze. »Eine Stadt, die nicht weiß, ob sie hier sein möchte oder nicht.«

»Aber wenn der Anker beschädigt wurde …« Ruckartig hob Nyx den Kopf; sie war leichenblass geworden. »Der Anker befindet sich im Herrenhaus von Ankerstein«, flüsterte sie. »Keirran …«

Ein gellender Schrei drang durch den Nebel zu uns.

Alle zogen ihre Waffen, und Grimalkin verschwand ebenso schnell wie eben noch das Stadttor. Wir liefen los, durchquerten das flackernde, halb eingestürzte Tor und suchten uns einen Weg in die Stadt hinein.

Oder das, was einmal eine Stadt gewesen war.

Das Ankerstein, das jenseits des Tores lag, schien fast vollständig der Leere verfallen zu sein, die den Zwischenraum ausmachte. Hohe Steinbauten tauchten flackernd vor uns auf, nur um gleich wieder zu verschwinden – einen Moment lang waren sie da, dann nicht mehr. Alles wirkte irgendwie verschwommen an den Rändern, ausgefranst, und feine Nebelfäden stiegen von den Kanten empor. Im Stadtzentrum ragte ein prachtvoller Brunnen auf, der allerdings leicht durchscheinend wirkte. Die sprudelnde Wasserfontäne zerfiel zu feinem Dunst, bevor sie das Becken erreichte.

Aber die Stadt schwand nicht einfach nur dahin. Als wir tiefer in sie vordrangen und uns dem Herrenhaus näherten, sah ich die beunruhigenden Spuren eines Angriffs. Ganze Gebäude waren eingestürzt oder von einer mächtigen Kraft zertrümmert worden. Bäume am Straßenrand lagen zerbrochen wie kleine Stöckchen umher. Einer von ihnen ragte nur noch als verkohltes Skelett aus der Erde, seine Zweige waren kaum mehr als Ascheflocken, die der Wind mit sich forttrug. Über allem hing eine bedrückende, leblose Stille. Die Szenerie wirkte wie ein Foto, mit dem die Zerstörung festgehalten werden sollte, aber nicht wie eine lebendige, atmende Stadt.

»Wo sind die Vergessenen?«, fragte Meghan. Ihre blauen Augen nahmen die Details der Zerstörung in sich auf. Bei meinem letzten Besuch hier in Ankerstein hatte zwar nicht gerade Gedränge geherrscht, aber ein paar Vergessene hatten sich schon in den Schatten herumgedrückt. Jetzt war alles still und leer, die Straßen wirkten verwaist. »Haben sie etwa alle die Stadt verlassen? Irgendjemand muss doch noch hier sein.«

Ich antwortete nicht. Die Vergessenen waren mir in diesem Moment vollkommen egal. Meine Sorge galt allein Keirran; erst wenn er in Sicherheit war, würde ich mir Gedanken um seine Untertanen machen.

Schließlich tauchte das Herrenhaus von Ankerstein im Nebel vor uns auf, ein alter Prachtbau, der auf einem Hügel über der Stadt aufragte. Im Inneren war es eigentlich recht hübsch, hell und gemütlich, wenn auch vielleicht etwas spärlich möbliert. Keirrans Bedienstete – natürlich alles Vergessene – waren sehr scheu und ließen sich kaum sehen, weshalb bei unseren Besuchen im Herrenhaus eigentlich nie jemand außer Keirran und uns anwesend gewesen war. Von außen ähnelte das Herrenhaus mit seinen Spitzbögen, Türmchen und hohen Fenstern allerdings einem typisch gotischen Prunkbau. Und so zeichnete es sich jetzt bedrohlich und imposant vor dem trüben Mondlicht ab, kauerte wie ein riesiger Wasserspeier über der Stadt.

»Das Herrenhaus steht noch«, stellte Meghan fest, als wir die lange, gewundene Straße zum Haus hinaufgingen. Zaghaft hoffend fügte sie hinzu: »Vielleicht ist Keirran ja noch dort drin.«

Zu gerne hätte ich ihren Optimismus geteilt, auch wenn alle Anzeichen dagegensprachen: die Zerstörung in den Straßen und an den Gebäuden, die verlassene Stadt. Und die Tatsache, dass ganz Ankerstein flackerte und schwankte als müsste es sich mit aller Kraft an seine Existenz klammern. Doch ich wusste auch, wie stark Keirran war – wie unüberwindbar seine Willenskraft und seine Magie sein konnten. Deshalb gab ich die Hoffnung nicht auf, ihn vielleicht lebendig in den qualmenden Ruinen seiner Stadt zu finden.

Denn gelang uns das nicht, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Nur, dass irgendjemand, irgendwo dann dafür bezahlen würde.

Wir erklommen den Hügel, und meine Hoffnung schwand, als ich das riesige Loch im Haupttor sah. Steine waren zerschmettert, Bäume entwurzelt worden. Etwas Riesiges, Mächtiges hatte die Erde rund um das Haus aufgewühlt. Im Haus war alles dunkel, und auch hier herrschte diese erstickende Stille. Wir schoben uns durch das zerstörte Tor auf den Vorplatz und blickten an der Fassade des Hauses hinauf, suchten nach einem monströsen Schatten auf dem Dach, entdeckten dort aber nichts außer tiefer Finsternis und Dunstschwaden. Wer auch immer hier seiner Zerstörungswut gefrönt hatte, er war bereits wieder verschwunden.

Nyx atmete einmal tief durch und wandte sich dann abrupt einer bestimmten Ecke des Hauses zu, an der ein niedriger Zaun aufragte, hinter dem einige Steine herumlagen. Auf mich wirkte das Ganze wie ein willkürlich zusammengetragener Haufen, aber Nyx schüttelte bei dem Anblick betroffen den Kopf. »Der Anker wurde beschädigt«, bestätigte sie, »aber er scheint nicht komplett zerstört zu sein. Vielleicht konnte Keirran ihn noch retten.«

»Aber wo ist Keirran?« Meghan ging entschlossen auf die düstere Eingangstür zu. »Wenn er noch hier wäre, hätten wir ihn inzwischen doch bestimmt gesehen.«

»Und kommt das nur mir so vor, oder wird dieser Nebel langsam etwas aggressiv?«, stellte Puck fest.

Tatsächlich wurden die Dunstschleier um uns herum immer dicker; mehr und mehr von ihnen schoben sich über den Boden zu uns heran. Sekunden später hatten sie uns umzingelt, tauchten den Vorplatz in trübes Weiß und machten es uns unmöglich, weiter als ein paar Schritte zu sehen. Außerdem wirkte dieser Nebel … zornig. Eine brodelnde Masse aus Wut und Hass hüllte uns ein und streckte geisterhafte Finger nach uns aus, während sie immer dichter herandrängte.

Mein Schwert leuchtete blau auf, als ich es aus der Scheide zog. Meghan folgte meinem Beispiel. Neben mir griff Puck nach seinen Dolchen, während Nyx beide Arme hob und zwei geschwungene Mondlichtklingen in ihren Händen erschienen.

Aus dem dicken Nebelteppich schälten sich schattenhafte Gestalten heraus, blind um sich tastend wie torkelnde Zombies. Ein leises Wispern setzte ein, das sich schnell zu einem wütenden Knurren und Ächzen steigerte, als ganze Horden der schattenhaften Wesen aus dem Nebel auftauchten. Sie sahen aus wie Vergessene – schwarze, gesichtslose Silhouetten mit glühenden goldenen Augen –, wirkten aber irgendwie verkrüppelt, als hätte man sie wortwörtlich verdreht. Ihre Körper waren in grotesken, unmöglichen Posen erstarrt, die Gliedmaßen überdehnt oder ausgekugelt. Trotzdem gelang es ihnen, sich zu bewegen. Bei einer der Kreaturen war das Rückgrat komplett in die falsche Richtung gebogen, die langen Arme an den Ellbogen verdreht, sodass es insgesamt einer bizarren Spinne glich. Eine andere torkelte auf zwei Beinen auf mich zu, den Kiefer quasi ausgerenkt, weil ihr Mund sich wie das Maul einer Schlange ausklappte, während sie klagende Laute hervorstieß. Zischende Laute stiegen auf, ein verworrenes, abgehacktes Flüstern, einzelne Wortfetzen, unverständlich wie in einem heulenden Sturm.

Nyx musterte mit weit aufgerissenen Augen die taumelnden Gestalten. »Sind das Vergessene?«, flüsterte sie ungläubig. »Wer hat ihnen das angetan?« Eine Kreatur näherte sich ihr, den Kopf in einem unmöglichen Winkel abgeknickt, sodass er beinahe auf Kniehöhe hing. Nyx wich entsetzt zurück und starrte den heranschlurfenden Schatten gequält an, bevor sich eiserne Härte in ihren Blick schlich. »Was ist hier passiert?«, rief sie der Horde entgegen. »Wo ist König Keirran?«

»Betrüger.«

Ich konnte unmöglich sagen, welche der Kreaturen das gewispert hatte, aber nun begann auch der gesamte Rest zischelnd zu flüstern:

»Er ist kein Vergessener.«

»Keiner von uns.«

»Du bist auch keine von uns.«

»Verräter.«

Immer dichter drängten die verkrüppelten Schattenfeen heran, immer lauter und wütender klangen ihre Stimmen. »Du verbündest dich mit jenen, die uns vernichten wollen«, zischten sie. »Du sperrst uns in diese Leere, damit wir dahinschwinden und vergessen werden. Aber wir werden nicht schwinden, wir werden nicht verzeihen. Wir werden uns erheben und uns zurückholen, was geraubt wurde.«

Beunruhigt kniff ich die Augen zusammen. Das klang stark nach kriegerischer Revolte, und anscheinend sah Meghan das ebenso, denn da trat die Eiserne Königin vor. Ihre Macht füllte die Leere ringsum wie die knisternde Energie vor einem Unwetter. »Wir haben Frieden geschlossen, Vergessene«, sagte sie, woraufhin sich die leeren gelben Augen sofort auf sie richteten. »Der Krieg ist beendet, und die Feenreiche betrachten euch nicht länger als Bedrohung. Es gibt keinen Grund für weitere Konflikte zwischen uns.«

»Königin des Eisens.« Nun stieß der ganze zusammengewürfelte Haufen ein lautes Zischen aus, in dem so viel Zorn, Hass und Furcht zum Ausdruck kam, dass ich automatisch mein Schwert fester packte. »Herrin der Verderbnis. Du würdest uns ebenfalls dem Schwund ausliefern, genau wie alle deiner Art.«

Zorn flackerte in mir auf. Ein kalter, gefährlicher Zorn, den ich seit Jahren nicht mehr gespürt hatte. Der Zorn des Dunklen Prinzen.

»Niemand möchte, dass ihr dahinschwindet.« Meghan trat noch einen Schritt vor, was dem Mob umso mehr Klagen und Fauchen entlockte. »Niemand will euch vernichten. Die Herrin ist fort, und im Nimmernie herrscht Frieden.«

»Wir waren vor euch da.« Es wurde zunehmend schwierig, ihre Worte zu verstehen, da sie vom ansteigenden Heulen und Zähneknirschen der Horde übertönt wurden. »Wir waren da, und das Nimmernie gehörte uns. Nun wird es wieder uns gehören. Frei von Verderbnis, frei von den Giftbringern, von der Pest, mit der es infiziert ist. Ihr tut nichts, und damit lasst ihr zu, dass wir schwinden. Du bist die Königin des Nichts, genau wie der König, der im Zwischenraum herrschte.«

»Wo ist Keirran?«, fragte Meghan streng. Offenbar versuchte sie es nicht länger mit Freundlichkeit, wobei ich voll und ganz auf ihrer Seite war. »Wo ist der König der Vergessenen? Sagt es mir. Sofort.«

»Betrüger!«, zischten die Kreaturen wieder. »Keiner von uns! Zu euch gehört er, der König des Nichts. Herrscht über nichts, tut nichts. Wir kennen die Wahrheit. Wir werden die Unterdrücker stürzen! Wir werden uns erheben und uns alles zurückholen!«

Wie ein kalter Strom schoss der Zorn durch meine Adern und ließ jeden Gedanken an Nachsicht oder Gnade erfrieren. Möglichweise waren diese Kreaturen einmal Feen gewesen, aber jetzt waren sie Monster. Sie wussten, wo Keirran war, weigerten sich aber, es uns zu sagen. Schlimmer noch: Sie hatten bewusst meine Familie bedroht, die Königin, die an meiner Seite kämpfte. Dafür verdienten sie den Tod. Und ich würde ihn ihnen bringen.

Ich holte tief Luft, nahm den von Hass durchtränkten Schein in mich auf, der hier alles überzog, und rammte mein Schwert in die dunkle Erde zu meinen Füßen. Der eisige Impuls der Wintermagie ließ die Kreaturen, die uns am nächsten waren, sofort zu Eis erstarren, zu grotesk deformierten, funkelnden Statuen werden. Als ich mein Schwert hochriss, zerplatzten die reglosen Figuren mit dem schrillen Klirren brechender Eiszapfen.

»Hey! Mann, Eisbubi!« Robin Goodfellow stieß einen überraschten Schrei aus und hob die Hand vor sein Gesicht, um sich vor den herumfliegenden Eissplittern zu schützen. »Kommst gleich mit der richtig fiesen Magie daher, wie? Was ist denn aus der vernunftbetonten Strategie geworden? Ich denke nicht, dass Keirran sonderlich begeistert sein wird, wenn wir seine Untertanen in Eis am Stiel verwandeln.«

Wieder atmete ich tief durch und spürte dabei drängende Gewaltbereitschaft in mir, den kalten Zorn, der mein Herz umschloss. »Sie waren vielleicht mal Feen, aber jetzt sind sie verloren«, erklärte ich, während die verbliebenen Schatten nach der tödlichen Demonstration meiner Magie ängstlich zurückwichen. »Mit denen kann man nicht vernünftig reden.«

Eine knappe Geste, und spitze Eispfähle schossen aus dem in Nebelschwaden gehüllten Boden und spießten mehrere Schattenmonster auf, die sich sofort in Rauch auflösten. Mit einem letzten Klagelaut verloren sie sich in der Leere. Ich ging los und teilte mit meinem Schwert eine der Albtraumgestalten in zwei Hälften, stieß es dann in den offenen Mund einer weiteren Kreatur, der beinahe halb so groß war wie ihr ganzer Körper. Beide wurden klagend vom Wind davongetragen und ließen nicht mehr zurück als ein paar dunkle Rauchfäden.

»Ash, hör auf.« Meghans Stimme durchdrang den eisigen Zorn, und ich hielt inne. »Sie ziehen sich zurück«, erklärte sie mir, woraufhin ich das Schwert sinken ließ. »Sie flüchten. Es muss also niemand mehr sterben.«

Als ich aufblickte, sah ich, dass sie recht hatte. Die Horde zog sich zurück. Heulend und zähneknirschend schlurften sie in den Nebel hinein, der sie schnell unseren Blicken entzog. Nur ihr hasserfülltes Zischeln drang wie Gift weiter auf uns ein.

»Betrüger.«

»Keiner von uns.«

»Wir werden uns erheben, und die Reiche werden fallen.«

»Wir holen zurück, was uns gehört.«

Ich steckte das Schwert weg und atmete tief ein, um meinen Zorn zu zügeln, der wie ein kalter Stein in mein Innerstes hinabsank. Jetzt standen wir wieder allein in den wabernden Nebelschwaden, doch ich wusste, dass diese schattenhaften Wesen, die früher einmal Vergessene gewesen waren, noch immer dort draußen lauerten und uns beobachteten. Eiserne Entschlossenheit packte mich. Sollten sie noch einmal angreifen, würde ich sie niedermachen. Nichts und niemand durfte meine Freunde oder meine Familie bedrohen, nicht einmal die Untertanen meines eigenen Sohnes.

»Tja, das war ja mal gruselig.« Puck durchbrach das finstere Schweigen. »Die verleihen dem Begriff ›verdreht‹ eine ganz neue Bedeutung.« Seufzend fuhr er sich durch das kurze rote Haar. »Verdammt. Eigentlich wollte ich jetzt fragen, was sie denn wohl so wütend gemacht hat, aber ich fürchte, ich kenne die Antwort bereits. Und sie gefällt mir kein bisschen.«

»Das Monster war hier«, stellte Nyx fest. »Oder etwas, das dem Monster ähnelt. Der Schein hier ist genauso verseucht wie bei unserer letzten Begegnung mit ihm. Und diese Vergessenen … sie waren anders als früher.« Für einen kurzen Moment hatte sich ein leises Zittern in ihre Stimme geschlichen, dann aber atmete sie einmal tief durch, und es verschwand. »Wie viele von diesen Monstern gibt es wohl?«, überlegte sie.

»Keine Ahnung.« Selbst Puck klang bedrückt, was vollkommen untypisch für ihn war. »Aber ich weiß, dass ich möglichst nicht noch einmal gegen eines kämpfen will. Glaubst du denn, das hässliche Mistvieh ist noch hier?«

»Der König würde die Stadt nur dann wehrlos zurücklassen, wenn es absolut unvermeidlich wäre«, erklärte Nyx leise. »Falls das Monster tatsächlich hier ist, muss Keirran …«

Sie brachte den Satz nicht zu Ende, und Meghan schloss für einen Moment die Augen. Verbissen drängte ich die nackte Angst zurück, die in mir aufsteigen wollte, und trat einen Schritt vor. »Das werden wir erst mit Sicherheit wissen, wenn wir das Ding finden, das für all das hier verantwortlich ist«, betonte ich. »Irgendetwas muss noch da sein. Irgendjemand, der uns sagen kann, was hier geschehen ist. Nyx …« Ich sah die Vergessene auffordernd an. »Du hast hier gelebt. Gibt es hier einen Ort, der verschont geblieben sein könnte? Oder jemanden, der vielleicht geblieben ist?«

»Ich denke, an diesem Punkt kann ich aushelfen«, verkündete Grimalkins vertraute Stimme. Den Kater hatte ich über die Schattenwesen komplett vergessen, da er ja immer verschwand, wenn sich ein Kampf abzeichnete. Ich sah zu, wie er sich zwischen den Nebelschwaden materialisierte; sein flaumiges Fell schien beinahe mit dem Dunst zu verschmelzen. Eigentlich wirkten nur seine Augen, die quasi körperlos im Halbdunkel schwebten, wirklich real.

»Ich habe jemanden aufgetan«, erklärte Grimalkin weiter. »Während ihr euch mit sinnlosen Drohungen gegen die örtliche Bevölkerung aufgehalten habt, konnte ich jemanden aufspüren, der noch bei klarem Verstand ist. Und ich denke, ihr solltet euch anhören, was sie zu sagen hat.«

Erst jetzt entdeckte ich eine verschwommene, im trüben Licht kaum auszumachende Gestalt hinter Grimalkin. Zögernd kam sie näher: eine hoch gewachsene, schmale Vergessene mit zarten Libellenflügeln. Wie die anderen auch war sie kaum mehr als eine schemenhafte Silhouette. Mit weit aufgerissenen, furchtsamen Augen starrte sie uns an.

»Eiserne Königin«, flüsterte sie. »Ihr seid gekommen.« Die Flügel an ihrem Rücken bebten leise, als sie sich Meghan zuwandte. »Bitte verzeiht mir, Eure Majestät. Ich habe versucht, dem König zu helfen. Ich habe es versucht, aber… es ging alles so schnell. Es tut mir leid.«

»Was ist hier passiert?«, wollte Meghan von ihr wissen – mit ruhiger Stimme, aber unnachgiebiger Härte im Blick. »Wo ist der König der Vergessenen?«

»Der König.« Die Vergessene begann zu zittern. »Er ist nicht hier«, flüsterte sie. »Er ist verschwunden. Er hat die Stadt verlassen, zusammen mit den Überlebenden. Nach … nach dem Angriff.«

Stille breitete sich aus, bevor die Vergessene berichtete: »Mein Name ist Elaith, und ich war König Keirrans persönliche Assistentin. Ich war hier an dem Abend, als es geschah, bin wie immer meinen Pflichten im Herrenhaus nachgegangen. Der König war in seinem Arbeitszimmer und wollte nicht gestört werden. Plötzlich flog die Tür auf und er kam herausgestürmt, wütend und offenbar zutiefst beunruhigt. Er wies mich an, so viele Vergessene einzusammeln wie möglich und sie aus der Stadt zu führen. Und dann …« Wieder unterbrach sie sich und schlug die Hände vor das Gesicht, offenbar überwältigt von Scham oder Furcht. Meghan wartete geduldig ab, während ich sie am liebsten angetrieben hätte, endlich fortzufahren. »Und dann spürte ich, wie es sich näherte«, wisperte Elaith schließlich. »Ich kann es nicht erklären, es war einfach …«

»Ach ja«, seufzte Puck. »Es. Wir wissen genau, was du meinst. Leider.«

Elaith zitterte am ganzen Körper, und ihre angsterfüllten, riesigen Augen stachen scharf aus ihrer dunklen, schemenhaften Gestalt hervor. »Ich habe die Kreatur gar nicht richtig gesehen, was auch immer das war«, fuhr sie leise fort. »Ich habe … einfach nur gefühlt, dass sie kam. Ihren Zorn, diese ungezügelte Wut und den abgrundtiefen Hass auf alles Lebendige. So sehr habe ich mich gefürchtet. Aber Keirran sagte mir wieder, ich müsse unser Volk versammeln, jeden, der mitkommen wolle, und dann außerhalb von Ankerstein wieder mit ihm zusammentreffen. Anschließend ist er losgestürmt, hinein in die Stadt, um das Monster zu stellen. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen.«

Ich kniff fragend die Augen zusammen, nachdem die Vergessene mit gequälter, von Schuldgefühlen überschatteter Miene verstummt war. »Was ist passiert?«

»Ich … Ich weiß es nicht!«, stieß sie hervor und schlug wieder die Hände vor die Augen. »Bitte verzeiht mir, ich war zu verängstigt, um das Herrenhaus zu verlassen. Ich spürte, was dort draußen geschah, und da habe ich es einfach nicht über mich gebracht, zu gehen.«

»Du hast dich einem direkten Befehl widersetzt«, stellte Nyx fassungslos fest. »Der König hat dir aufgetragen, die Überlebenden einzusammeln, und du hast ihn verraten.«

»Ihr versteht das nicht.« Elaith sah uns mit großen Augen an. »Ich habe die Schreie gehört, habe die Angst und das Entsetzen gespürt, und als ich nur kurz hinausgesehen habe, herrschte überall in Ankerstein das nackte Chaos. Vergessene waren zu Monstern geworden, zu pervertierten Versionen ihrer selbst, und sie griffen alles an, was nicht so war wie sie. Ich konnte da einfach nicht rausgehen. Und dann …« Ihre Stimme zitterte. »Dann habe ich es gesehen. Das Monster. Es war riesig, und wo immer es hinkam, verwandelten sich die Vergessenen in diese grotesken Zerrbilder. Habt ihr sie denn nicht gesehen?« Fragend sah sie uns an. »Sie sind immer noch dort draußen, streifen überall in der Stadt herum. Einige von ihnen haben sogar versucht, den Anker zu zerstören. Wenn ich das Herrenhaus verlasse, werden sie mich auch angreifen.«

»Was ist mit Keirran geschehen?« Nun klang Meghan nicht mehr sanft und freundlich.

»Er ist geflohen«, gestand Elaith. »Raus aus Ankerstein, irgendwo in den Zwischenraum. Kurz vor Sonnenaufgang, als die Kreatur noch immer in der Stadt wütete, habe ich gespürt, wie ein Loch in den Schleier gerissen wurde, größer als jeder Spalt, den ich je erfühlt habe. Ich denke, das war Keirran, der den Schleier geteilt und alle hindurchgeführt hat, die er aus Ankerstein mitnehmen konnte, um sie so vor dem Monster in Sicherheit zu bringen.« Die Vergessene sank auf die Knie und schlang die Arme um den Körper. Ihre Libellenflügel zitterten. »Es tut mir so leid, mein König. Ich wollte dir dienen, aber ich hatte solche Angst. Wäre ich deinem Befehl gefolgt, wäre ich jetzt noch bei dir.«

Ich sah zu Meghan hinüber, in deren sorgenvoller Miene ein Fünkchen Hoffnung aufflammte. Keirran war hier gewesen, und soweit sich das sagen ließ, war er noch am Leben. Dass er von einem unbezwingbaren Monster verfolgt wurde, war natürlich nicht gerade ideal, aber ich kannte meinen Sohn. Vor seiner Verbannung hatte er oft Dummheiten gemacht und sich anschließend irgendwo verkrochen, weshalb ich ihn schon im gesamten Nimmernie, in der Menschenwelt, im Wilden Wald und im Zwischenraum hatte aufspüren müssen. Ich wusste also aus eigener Erfahrung, wie schwer es war, ihn zu erwischen.

Vorerst musste ich einfach darauf vertrauen, dass er noch lebte.

»Also«, meinte Puck schließlich, »wie sollen wir Keirran finden? Der Zwischenraum ist riesig. Ich meine sogar, mich zu erinnern, dass Keirran einmal erwähnt hat, er wäre unendlich.«

»Korrekt«, bestätigte Grimalkin, der gerade damit beschäftigt war, seinen buschigen Schwanz zu putzen. »Es gibt Feen, die sich in ihm verirrt haben und jahrhundertelang ziellos durch den Nebel wandern mussten. Es wäre höchst unklug, jemanden im Zwischenraum zu verfolgen, wenn man keine Ahnung hat, wo derjenige sich aufhält oder wohin er sich wenden könnte. Allerdings«, fuhr er nahtlos fort, »gibt es jemanden, der den Zwischenraum besser kennt als jeder Einzelne von euch. Der sich länger hier aufgehalten als alle anderen, ausgenommen vielleicht die Vergessenen. Zudem ist mir dieser Jemand momentan eine ziemlich große Gefälligkeit schuldig.«

Puck zuckte nervös zusammen. »Oh nein. Denken wir gerade an dieselbe Person? Denn die könnte zurzeit möglicherweise nicht ganz so gut auf mich zu sprechen sein.« Er dachte kurz darüber nach und stellte dann schulterzuckend fest: »Andererseits ist sie eigentlich nie gut auf mich zu sprechen.«

»Leanansidhe«, begriff Meghan, »ja, natürlich. Sie lebt im Zwischenraum. Und sie verfügt über ein weit verzweigtes Netzwerk aus Informanten und Spionen, die so ziemlich alles im Blick haben.«

»Ganz genau«, bestätigte Grimalkin. »Wenn jemand Informationen oder Neuigkeiten über den König der Vergessenen und seinen aktuellen Aufenthaltsort haben könnte, dann ist Leanansidhe sicher die vielversprechendste Kandidatin. Und sie würde ihr Wissen bestimmt gerne mit uns teilen. Zu einem angemessenen Preis natürlich.«

Zu einem angemessenen Preis. Wieder regte sich Zorn in mir. Auch wenn ich schon sehr lange ein Teil des Feenreiches war und deshalb genau wusste, dass man die Dinge schon seit Anbeginn des Nimmernie so gehandhabt hatte, stieß mir der Gedanke, einen Preis bezahlen zu müssen, um an Informationen über mein verschwundenes Kind zu gelangen, bitter auf. Umso mehr, da es sich um Leanansidhe handelte. Die Dunkle Muse, wie sie auch genannt wurde, verfügte zwar nicht über die gleiche Macht wie Mab oder Titania, doch sie war trotzdem eine Feenkönigin. Nur eine selbst ernannte, aber innerhalb ihres Einflussbereiches war sie immer noch mächtig. Ihr Hofstaat bestand aus Exilanten, Ausgestoßenen und Halbblutfeen, und sie hortete Informationen wie Grimalkin Gefälligkeiten.

Der Kater hatte allerdings recht – Leanansidhe war wirklich die beste Informationsquelle, wenn es um Keirran ging. Doch sie würde sicher einen unverschämt hohen Preis fordern. Den ich selbstverständlich zahlen würde. Für das Wohl meiner Familie war mir kein Preis zu hoch. Ich hoffte bloß, dass Meghan dadurch keinen Schaden nehmen würde, oder einer der anderen.

Nyx musterte uns ernst. »Ich habe schon von dieser Leanansidhe gehört«, sagte sie. »Die Königin der Exilanten, richtig? Keirran hat sie ein oder zwei Mal erwähnt. Bedauerlicherweise hatte ich noch nicht das Vergnügen, ihr zu begegnen, deshalb weiß ich auch nicht, wo sich ihr Hof befindet. Letzten Endes könnte ich ihn sicher finden, aber der Zwischenraum ist sehr groß, und es würde eine Weile dauern. Es sei denn, einer von euch kennt den Weg dorthin?«

»Keine Sorge.« Grimalkin erhob sich mit einem gereizten Seufzen. »Wie üblich werde ich euch hinführen. Dazu müssen wir allerdings den Steig zu Leanansidhe nutzen, und den erreichen wir am schnellsten durch die Menschenwelt.«

Meghan warf einen kurzen Blick auf Elaith, die noch immer auf dem Boden kauerte, die Arme eng um den Körper geschlungen. Ich sah, wie die Eiserne Königin mit sich rang, dann aber streckte sie der Vergessenen die Hand entgegen. »Du kannst uns gerne begleiten, Elaith«, bot sie ihr an. Bewundernswerterweise war ihr keinerlei Widerwille anzumerken. »Leanansidhe ist die Königin der Exilanten, sie ist es also gewöhnt, Feen bei sich aufzunehmen, die sonst nirgendwo hinkönnen. Du könntest vorerst bei ihr bleiben und in den Zwischenraum zurückkehren, wenn wir Keirran gefunden haben.«

Doch die Vergessene schüttelte abwehrend den Kopf. »Ich kenne diese Leanansidhe. Die Königin der Exilanten hält nicht viel von uns Vergessenen. Schlimme Dinge könnten passieren, wenn ich bei ihr bliebe. Nein, ich werde hierbleiben und darauf warten, dass mein König zurückkehrt. Solange Ankerstein nicht vollständig verschwindet, werde ich ihn hier erwarten.«

Meghan nickte. »Es ist deine Entscheidung«, betonte sie. »Ich werde dich nicht zwingen. Aber wir müssen jetzt gehen. Hoffentlich kann die Königin der Exilanten uns sagen, wohin Keirran verschwunden ist. Grim …« Sie wandte sich dem Kater zu, der sie träge beobachtete. »Bring uns zu Leanansidhe.«

3 ALBTRAUMELFEN

Dicke Tropfen fielen auf meinen Kopf und meine Schultern, als wir die Leere des Zwischenraums hinter uns ließen und in die reale Welt eintauchten. Nachdem wir uns so lange im Zwischenraum aufgehalten hatten, war die Kombination aus Regen, Wind und der Geräuschkulisse dieser Welt im ersten Moment regelrecht überwältigend. Finstere Wolken verdunkelten den Himmel, und über unseren Köpfen schimmerte eine trübe Straßenlaterne. Hohe, graue Gebäude ragten um uns herum auf.

»Und natürlich muss es eine Stadt sein«, maulte Puck, während Grimalkin an ihm vorbeischoss, um unter ein Vordach zu flüchten. Irgendwo ertönte eine Autohupe, was Nyx erschrocken zusammenfahren ließ. Instinktiv verkrampfte sie sich, verfiel in Kampf-oder-Flucht-Modus. »Nie landen wir auf einer sonnigen Wiese oder in einem hübschen Obstgarten. So viel zu meiner Hoffnung auf einen kleinen Snack, bevor wir wieder in der großen Leere verschwinden.«

»Wo sind wir?«, wollte Nyx wissen. Sie entspannte sich zwar wieder ein wenig, musterte die Umgebung aber weiterhin wachsam. »Was ist das für ein Ort?«

»Ach ja, richtig, du warst noch nie in einer Stadt, oder?«

»Nicht in so einer.« Mit großen Augen nahm die Vergessene die vielen neuen Eindrücke und Geräusche in sich auf. »Sind sie denn immer so … laut?«

»Manche mehr, manche weniger«, erklärte ihr Puck schulterzuckend. »Aber grundsätzlich schon, ja. Sie haben wenig mit einer friedlichen Waldlichtung gemein, das ist mal sicher. Warum beharrt Leanansidhe eigentlich darauf, ihre Steige immer in überfüllten Städten zu verankern und nicht irgendwo in der Wildnis, wie es jede Fee tun würde, die noch bei klarem Verstand ist?«

»Vermutlich befinden sich in den Städten mehr Exilanten und Halb-Feen«, antwortete Meghan. Sie vollführte eine knappe Geste, woraufhin sich herumliegender Metallabfall und kleine Stahlteilchen in die Luft erhoben und wie funkelnde Insekten um sie herumschwirrten, um sich schließlich über ihrem Kopf zu einer Art Regenschirm zusammenzufügen. Nyx riss erstaunt die Augen auf, was Meghan aber gar nicht bemerkte. »Außerdem lebt ein Großteil ihrer Informanten in Städten, da ist es nur logisch, dass sie dort auch mehr Steige unterhält.«

»Netter Trick, Prinzessin.« Blinzelnd sah Puck zu dem Schirm hinauf, den die Eiserne Königin soeben aus dem Nichts erschaffen hatte. Nyx schien das allerdings ziemlich zu beunruhigen. »Lässt sich aber kaum mit einer menschlichen Tarnung vereinbaren«, fuhr er fort. »Dann geben wir uns diesmal also nicht so viel Mühe, uns anzupassen?«

Ein schmales Lächeln huschte über Meghans Gesicht. »Das habe ich überhaupt nicht bedacht«, gab sie zu. »Ich war jetzt so lange nur im Eisernen Reich, da werden gewisse Dinge einfach zur Gewohnheit. Aber du hast recht, wir werden uns diesmal nicht tarnen.« Sie kam zu mir herüber und hob den Schirm ein Stück an, sodass ich den Griff packen konnte; nun waren wir beide vor dem Regen geschützt. »Wir werden uns nicht lange hier aufhalten, nur bis wir den Steig gefunden haben, der uns zu Leanansidhe bringt. Deshalb war ich davon ausgegangen, dass wir Schein einsetzen, bis wir wieder im Zwischenraum sind.«

»Was wesentlich schneller der Fall sein wird, wenn wir uns endlich in Bewegung setzen«, merkte Grimalkin an. Er musterte uns von einem Müllcontainer herab und peitschte ungeduldig mit dem Schwanz. »Wenn ihr also ausreichend erörtert habt, wie ernst die Lage ist, folgt mir. Es sollte nicht weit sein bis zu dem Steig.«

»Genau.« Puck verzog kurz das Gesicht, dann nahm er völlig überraschend Nyx’ Hand. Sie sah ihn erstaunt an, entzog sich aber nicht seinem Griff. Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln. »Mischen wir uns unter das ahnungslose Menschenvolk. Nicht in Panik geraten, schön bei mir bleiben, und bitte niemanden abstechen – wie groß die Versuchung auch sein mag.«

Wir folgten Grimalkin, der aus der schmalen Gasse auf einen Bürgersteig hinauslief, wo wir sofort von Menschen umgeben waren, die in verschiedenen Richtungen an uns vorbeihasteten. Natürlich konnten sie uns nicht sehen. Der Schein ließ uns für das menschliche Auge unsichtbar werden. Solange wir also niemandem begegneten, der über den Blick verfügte, konnten wir uns in unserer normalen Gestalt frei durch die Stadt bewegen. Was ein richtiger Segen war, denn ich war heute absolut nicht in der Stimmung, mich mit Menschen zu befassen. Ich wollte bloß zu Leanansidhe und herausfinden, was sie über die Vorgänge im Zwischenraum wusste und wohin Keirran verschwunden sein könnte. Ich wollte meinen Sohn finden. Kam mir dabei ein unfreundlich bis feindselig eingestellter Mensch in die Quere, konnte das zu einer echten Belastungsprobe für meine Geduld werden und für den ahnungslosen Menschen eventuell übel enden.

»So viele Sterbliche«, murmelte Nyx. Sie hatte ihre Kapuze übergezogen, um ihr Haar und ihr Gesicht zu verdecken, und trotz Unsichtbarkeit und Schein wirkte sie angespannt. »Keirran hat mir erzählt, dass es in der Menschenwelt Tausende solcher Städte gibt, aber ich konnte das einfach nicht glauben.« Sie sah einem jungen Passanten hinterher, der sich schützend ein Notizbuch über den Kopf hielt, während er an uns vorbeirannte. »Vielleicht sollten wir uns einfach bei Leanansidhe treffen, ich finde bestimmt auch alleine dort hin.«

Puck lachte leise. »Keine Chance, Miss Stoikantia Meuchelmord.« Er hob demonstrativ ihre ineinander verschlungenen Hände. »Das ist eine Gruppenarbeit, und du gehörst jetzt zum Team. Wenn wir diese Menschenhorden erdulden müssen, musst du mit uns zusammen leiden.«