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Magisch. Episch. Drachenstark.
Einst beherrschten sagenumwobene Drachen die Magie, nach der auch die Menschen von Galecia strebten. Als das Königreich ins Wanken gerät, beginnt die Suche nach den fantastischen Wesen. Doch die gefährliche Reise bringt Düsteres ans Licht.
Nachdem Remy und Prinzessin Gem das Gewitter am Ende der Welt knapp überlebt haben, erhalten sie einen Hinweis auf das Versteck eines Wahren Drachen. Gemeinsam folgen sie der Spur bis in scheinbar verlassene Gebiete der schwebenden Welt.
Während Gem hofft, mithilfe der magischen Kreatur den Absturz ihrer Heimat verhindern zu können, nutzt Remy die Zeit, um sich mit seinem Drachen auf einen Einsatz als Himmelsritter vorzubereiten.
Doch als sie ihr Ziel erreichen, kommt alles anders als erwartet – und das Wissen um einen schrecklichen Verrat zwingt die Kinder zu einem Beweis, dass aus ihnen inzwischen ein Team geworden ist.
Der zweite Band des epischen Drachenabenteuers für alle Fantasyfans ab 10 Jahren
Alle Bände der Storm Dragons-Reihe:
Storm Dragons – Gewitter am Ende der Welt (Band 1)
Storm Dragons – Verrat am Anfang der Zeit (Band 2)
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 379
Veröffentlichungsjahr: 2025
Julie Kagawa
Verrat am Anfang der Zeit
Aus dem amerikanischen Englisch von Tamara Reisinger
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© 2025 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »Storm Dragons – Firebred« bei Disney Hyperion, einem Imprint von Buena Vista Books, Inc.
published in agreement with the author, c/o BARORINTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A.
Text: Copyright © 2025 by Julie Kagawa
Übersetzung: Tamara Reisinger
Redaktion: Elena Bruns
Coverillustration und -gestaltung: Melanie Korte
ah · Herstellung: AW
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-31616-7V001
www.cbj-verlag.de
Für Nick, der Drachen genauso liebt wie ich
Der große Drache spürte die Blicke der anderen Drachen, die nun auf ihm und auf dem massigen Schatten lagen, der vor ihnen allen aufragte. Grauen und Entsetzen erfüllten ihn, zwei Dinge, die er seit Jahrhunderten nicht mehr empfunden hatte. Dieser Plan, Malacaths Plan, war nicht nur Wahnsinn, er war absolut entsetzlich.
»Das kannst du nicht tun, Malacath«, sagte Aerunal, als er die Sprache wiederfand.
Ein tiefes Grollen schwoll um ihn herum an, es kam von den anderen Drachen. Das lauteste Grollen kam von Ravanar, Malacaths engstem Vertrauten, der ihn wütend aus seinen goldenen Augen anfunkelte. Hatten sie wirklich gedacht, Aerunal würde diese Gräueltat gutheißen? Hatte Malacath sie wirklich alle davon überzeugt, dass dies der einzige Weg war?
»Und was sollen wir deiner Meinung nach stattdessen tun, Aerunal?« Malacaths tiefe Stimme war vergleichsweise ruhig. In den Schatten und der Finsternis, die in dieser unterirdischen Höhle herrschten, konnte Aerunal nur seine Augen sehen, die wie Kohlestücke in der Dunkelheit rot aufglühten. »Sollen wir weiterhin dahinsiechen und sterben, sollen die Drachen zu einer Erinnerung verblassen, bis wir gänzlich in Vergessenheit geraten? Soll unsere gesamte Art ausgelöscht werden?«
»Natürlich nicht! Aber das ist nicht richtig, Malacath. Es muss einen anderen Weg geben. Einen Kompromiss.«
»Einen Kompromiss?« Malacaths Stimme schwoll an, seine Wut schlug über Aerunal zusammen wie eine kalte Flutwelle. »Wo war dieser Kompromiss beim Großen Beben, als das kurzlebige Geschlecht uns verraten hat?«, grollte er. »Wo war dieser Kompromiss, als sie uns Drachen zu einem langsamen Aussterben verurteilt haben? Unwissenheit ist keine Entschuldigung, weder für sie noch für das, was sie uns angetan haben.« Malacath machte einen Schritt nach vorn, wobei seine riesigen Klauen einen tiefen Graben in den Steinboden rissen. »Das ist der einzige Weg, die Drachen zu retten, du bist ein Narr, wenn du das nicht verstehen willst.«
»Nein.« Aerunal schüttelte den Kopf und sah dem großen Schatten, der sich vor ihm aufbaute, direkt entgegen. »Ich kann nicht zulassen, dass du das tust, Malacath. Wir waren einst wie Brüder, doch du hast dich in deinem Hass verloren, und was du vorschlägst, ist eine Gräueltat. Bitte, um unserer Freundschaft willen, überdenke noch einmal, was du tust. Das ist nicht …«
»Genug!«
Malacath schlug so schnell zu, dass Aerunal den Hieb nicht einmal kommen sah, doch der Schmerz war mit nichts zu vergleichen. Im einen Moment war er noch unversehrt, im nächsten schien ein Feuer in seiner Schulter zu explodieren, als Malacaths Klauen seinen Flügel zerfetzten. Er stolperte zurück und biss die Zähne fest zusammen, als die Drachen um sie herum vor Angst und Schrecken erstarrten. Schmerz breitete sich in Wellen über seine Seite aus, doch er weigerte sich, auch nur einen Laut von sich zu geben. Stattdessen richtete er sich auf und sah Malacath aus zusammengekniffenen Augen an. Sein Flügel hing jetzt nur noch schlaff herab, die Spitzen schrappten über den Boden und eine kalte, schreckliche Gewissheit erfüllte ihn: Er würde nie wieder fliegen.
Malacath seufzte und Rauch stieg aus seinen Nasenflügeln in die Luft. Einen Moment lang glaubte Aerunal, Bedauern in Malacaths loderndem Blick zu erkennen, doch dann schüttelte dieser den Kopf und wandte sich ab.
»Wenn du nicht auf meiner Seite stehst, dann stellst du dich gegen mich«, sagte er, offenbar hatte er bereits mit ihm abgeschlossen. »Schade. Ich hätte dich gern an meiner Seite gewusst, wenn ich die Drachen zu ihrer wahren Größe zurückführe, aber wie es aussieht, wählst du lieber die Seite der Verräter.« An Ravanar gewandt fuhr er fort: »Schaff ihn mir aus den Augen. Ich will diesen Verräter nie wieder sehen.«
Unsere Inseln sind in Gefahr«, sagte die Prinzessin mit ernster Miene. »Die Kristalle, die sie über Wasser halten, versagen. Wenn wir nichts dagegen unternehmen, wird unsere ganze Welt in den Mahlstrom stürzen und für immer verloren sein. Sir Bartello, Ihr seid vielleicht der einzige Mensch, der weiß, wie man die Welt retten kann.«
Remy wurde ganz flau im Magen. Neben ihm starrten auch Bart und Sturmblitz Gem schockiert an, als erwarteten sie, dass das alles nur ein Scherz war. Doch die Prinzessin des Königreichs, Gemillia Sonnenwind Gallicia XIV., stand ihnen an Deck der Wilden Königin unnachgiebig gegenüber, während der Wind an ihren dunklen Haaren zerrte. Ihre Miene war ernst, ihre blauen Augen noch ernster, und nichts an ihr machte den Eindruck, als wäre das alles nur ein Scherz.
Sie waren gerade erst Jhaeros entkommen, einem schrecklichen Piraten, der zwei von Remys Freunden entführt hatte. Einer von ihnen war Bartello, der alte Mann, den Remy seit Jahren als »Brummbart« kannte, ein Geschichtenerzähler im Salzfass – einer Spelunke auf der Halsabschneider-Insel.
Der andere war Sturmblitz.
Sturmblitz war ein Drache. Ein blau-silberner Drache mit leuchtenden Blitzen auf dem Rücken und den Flügeln. Jhaeros hatte sowohl Sturmblitz als auch Bart aus der Piratenstadt auf der Halsabschneider-Insel entführt und war mit ihnen auf seinem Himmelsschiff, der Windhai, davongeflogen. Remy hatte daraufhin geschworen, seine Freunde zurückzuholen, und sich einer anderen Piratencrew angeschlossen, um ihnen hinterherzujagen. Er hatte nicht gewusst, dass auch die Prinzessin des Königreichs an Bord desselben Schiffs war und nach Bart suchte. Gemeinsam hatten sie sich auf die Windhai geschlichen, Bart und Sturmblitz gefunden und es geschafft, zu entkommen. Natürlich hatte es ein paar Schwierigkeiten gegeben, und sie wären beide beinahe gestorben, aber am Ende waren sie heil davongekommen. Sie waren in Sicherheit.
Das hatte Remy zumindest geglaubt.
»Die Kristalle versagen?«, wiederholte Bart tonlos. Der weißhaarige alte Mann, der einen zerschlissenen Kapitänsmantel trug, sah die Prinzessin mit großen Augen an. »Wie? Warum? Was ist mit ihnen passiert?«
»Wir wissen es nicht«, erwiderte Gem. »Mein Vater … der König …« Sie senkte die Stimme, als wollte sie vermeiden, dass jemand anders ihre Worte hörte. »Der König und die Erzmagier haben das Versagen untersucht. Die Krone hat die Lage zu einem geheimen Notfall erklärt. Sie haben alle verfügbaren Sturmmagier in die Hauptstadt gerufen, um die Kristalle aufzuladen, aber die Kristalle werden trotzdem immer schwächer. Die Inseln sinken in den Mahlstrom.« Gem hielt inne und biss sich auf die Lippe, ehe sie leise fortfuhr: »Erzmagier Aetrius glaubt, sie könnten innerhalb eines Jahres komplett versagen.«
»Aber …« Remy sog scharf die Luft ein und ein kalter Schauer rieselte ihm über den ganzen Körper. Der Mahlstrom war ein wogendes, wirbelndes Meer aus Wolken, Wind und magischen Blitzen, das die ganze Welt umfasste. Man konnte ihm nicht entrinnen. Egal, wohin man sich auch wandte, der Mahlstrom war da. Er lauerte unter jeder Insel, unter jedem Schiff, unter jedem Stein, so weit das Auge reichte. »Wenn die Inseln in den Mahlstrom stürzen …«
»Dann werden wir alle sterben«, sagte Gem sanft. »Ja. Uns ist der Ernst der Lage bewusst.« Sie sah zu Bart. »Jetzt wisst Ihr, warum ich Euch gesucht habe, Sir Bartello. Mein Vater tut alles, um den Magiern in der Hauptstadt zu helfen und eine Lösung zu finden, doch wegen seiner Position hat er dort alle Hände voll zu tun. Deshalb habe ich beschlossen, mich selbst darum zu kümmern und nach Antworten zu suchen. Je mehr Menschen an einer Lösung arbeiten, desto besser.«
»Prinzessin …« Bart schüttelte langsam den Kopf. Seine Stimme war ganz schwach und seine Haut aschfahl geworden. Plötzlich sah er viel älter und gebrechlicher aus, als er sich gegen den kalten Wind stemmte, der über das Deck fegte. »Warum glaubt Ihr, dass ich Euch bei dieser Sache helfen kann?«, fragte er. »Ich bin kein Magier. Ich weiß sehr wenig über Magie und noch weniger über Sturmkristalle.«
»Aber Ihr wisst etwas über Drachen«, erwiderte Gem. »Über Wahre Drachen. Ihr habt mit ihnen gesprochen. Auf einer Insel im Mahlstrom.«
Sturmblitz sah abrupt auf und seine violetten Augen weiteten sich. Wahre Drachen?, wiederholte er, und seine Stimme hallte klar und deutlich in Remys Kopf nach. So wie ich?
Remys Magen zog sich zusammen. Die Sehnsucht in Sturmblitz’ Stimme war regelrecht greifbar. »Ich dachte, die Wahren Drachen wären ausgestorben«, sagte Remy. »Alle erzählen, sie wären beim Großen Beben vor zweitausend Jahren gestorben.«
»Das sollten wir zumindest alle glauben«, sagte Bart. Er war immer noch ganz blass im Gesicht. »Aber nein, die Prinzessin hat recht. Die Wahren Drachen existieren. Niemand weiß, wo sie sich aufhalten oder wie sie überleben, aber sie sind nicht ausgestorben. Sturmblitz ist der Beweis dafür.«
Remy schwirrte der Kopf. Das alles fühlte sich so unwirklich an. Es war noch gar nicht so lange her, da waren die einzigen Drachen, von denen Remy je gehört hatte, kleiner, weniger intelligent und sprachen nicht. Sie wurden von reichen Adeligen und Himmelsrittern als Reittiere genutzt und ähnelten mehr Pferden als den uralten Wahren Drachen aus den Legenden. Genau wie Tendril, das große Ungeheuer, das im Mahlstrom hauste, existierten die Wahren Drachen nur in Mythen und abenteuerlichen Himmelsgeschichten.
Sturmblitz war der erste Wahre Drache, den Remy je gesehen hatte, der erste Wahre Drache, den überhaupt irgendjemand – außer vielleicht Bart – in zweitausend Jahren gesehen hatte. Aber wenn Gem die Wahrheit sagte, dann waren da draußen noch andere Wahre Drachen. Irgendwo.
»Die Insel.« Bart war noch blasser geworden. Sein Blick richtete sich in die Ferne und ein gequälter Ausdruck erschien auf seinen Zügen. Einen Moment lang fürchtete Remy, der alte Mann würde entweder zusammenbrechen oder wie festgefroren stehen bleiben und nichts weiter sagen. Als er schließlich doch weitersprach, war seine Stimme kaum mehr als ein heiseres Flüstern. »Das war … vor sehr langer Zeit«, wisperte er. »Ich … ich wollte diesen Teil meines Lebens vergessen. Diese Erinnerungen bereiten mir nichts als Schmerz.« Er sah zu Sturmblitz und presste die Lippen zusammen. »Ihr habt einen Wahren Drachen direkt vor Euch, Prinzessin«, sagte er und deutete auf Sturmblitz. »Ich höre seine Stimme so klar wie jede andere. Ich muss Euch nicht in den Mahlstrom führen, um nach einem anderen zu suchen.«
»Sturmblitz ist noch ein Baby«, wandte Gem ein, und der blaue Drache schnaubte entrüstet.
Bin ich nicht, widersprach er und breitete seine Flügel aus. Seht, ich bin jetzt groß. Wenn ich mich auf Remy draufsetze, würde ich ihn unter mir begraben.
Remy unterdrückte ein Lächeln. Es war schwer zu glauben, dass Sturmblitz, als er ihn vor nicht allzu langer Zeit gefunden hatte, gerade einmal so groß wie eine Katze gewesen war. So klein, dass er sich um Remys Schultern geringelt und kaum etwas gewogen hatte. »Schade«, sagte er zu dem Drachen. »Du hast einen guten Schal abgegeben.«
Ich bin kein Schal. Sturmblitz rümpfte die Nase. Kein Schal, keine Echse, kein Baby. Ich bin ein Drache.
»Entschuldige, Sturmblitz«, sagte Gem rasch. »Ich wollte dich nicht als Baby bezeichnen. Ich wollte damit nur sagen, dass du immer noch ein sehr junger Wahrer Drache bist. Du hast nicht das Wissen, das die ältesten Wahren Drachen besitzen. Oder?« Sie legte den Kopf schief, Hoffnung lag auf ihrem Gesicht. »Hast du das Wissen, nach dem wir suchen?«
Sturmblitz blinzelte verwirrt. Ich verstehe die Frage nicht.
»Die Wahren Drachen lebten schon in der Zeit vor dem Großen Beben«, fuhr die Prinzessin fort. »Es heißt, sie besitzen uraltes Wissen. Es heißt, sie haben den Menschen Magie beigebracht. Sie sind vielleicht die Einzigen, die wissen, wie wir verhindern können, dass die Kristalle versagen und unsere Inseln in ihr Verderben stürzen.« Sie lehnte sich vor, plötzlich war sie vollkommen ernst. »Sturmblitz, wenn du irgendetwas darüber weißt, wie wir das Versagen der Kristalle aufhalten können, dann müssten wir nicht zu dieser Insel reisen«, sagte sie. »Wir könnten mit dem Wissen in die Hauptstadt zurückkehren und das Königreich jetzt sofort retten.«
Doch der Drache schüttelte den Kopf. Ich weiß nicht einmal, woher ich komme, sagte er traurig. Ich kann mich an kaum etwas erinnern, bevor ich Remy kennengelernt habe. Ich weiß nur noch, dass ich Angst hatte und … vor irgendetwas geflohen bin. Er stieß seufzend Rauch in die Luft und beobachtete die Sonne, die langsam am Horizont versank. Ich habe viele Fragen, die ich den anderen Wahren Drachen stellen will, sagte er, und selbst seine Stimme klang müde. Aber ich weiß nicht, wo sie zu finden sind. Ich weiß nicht einmal, wo ich suchen soll.
Remy legte dem Drachen eine Hand auf die schuppige blaue Schulter. »Wir finden einen«, versicherte er seinem Freund, als der ihn traurig ansah. »Immerhin wissen wir, wo wir hinmüssen, oder, Bart?« Er sah zu dem alten Mann, der seinem Blick jedoch auswich. »Die Insel, auf der du gestrandet warst. Du hast gesagt, es gab dort Wahre Drachen.«
»Einen«, flüsterte Bart. »Es gab einen Wahren Drachen auf dieser Insel. Er war …« Kurz schloss er die Augen, bevor sein Gesicht hart wurde. »Ich will nicht darüber reden«, endete er tonlos.
»Ihr müsst, Sir Bartello.« Die Stimme der Prinzessin war voller Mitgefühl, aber sie blieb hartnäckig. »Ich verstehe, dass es für Euch eine sehr schwierige Zeit gewesen sein muss, gestrandet auf dieser Insel, aber es geht um das Wohl des Königreichs. Bitte. Wir müssen mit einem Wahren Drachen sprechen. Wir müssen diese Insel finden, und Ihr seid der Einzige, der uns den Weg zeigen kann.«
Bart schwieg lange, und Remy bemerkte, dass seine Hände bebten.
Schließlich atmete Bart tief und zittrig ein. »Wie es aussieht, habe ich keine andere Wahl«, flüsterte er rau. »Wenn die Prinzessin des Königreichs es verlangt und das Schicksal des Königreichs davon abhängt …« Seine gebrechlichen Hände ballten sich zu Fäusten. »Ich werde auf diese Insel zurückkehren«, fuhr er leise fort. »Und mich den Konsequenzen dessen stellen, was ich dort zurückgelassen habe.«
Was er dort zurückgelassen hat? Remy tauschte einen Blick mit Sturmblitz, und er wusste genau, dass der Drache sich dasselbe fragte. Was verheimlichte Bart ihnen? Was hatte er auf dieser Insel zurückgelassen? Dies war nur ein weiteres Geheimnis, ein weiterer Teil seiner Vergangenheit, die er mit niemandem geteilt hatte. Remy hatte geglaubt, er würde Brummbart, den alten Geschichtenerzähler aus dem Salzfass, kennen. Aber jetzt wurde ihm bewusst, dass er Bart ganz und gar nicht kannte.
»Vielen Dank, Sir Bartello.« Gems Stimme war sanft. »Ich werde nie nachvollziehen können, was Ihr durchgemacht habt, aber ich bin Euch dennoch dankbar für Eure Hilfe.«
»Dankt mir noch nicht, Prinzessin«, entgegnete Bart. »Ich fürchte, es wird keine einfache Aufgabe.« Er drehte sich um und deutete auf den Horizont, auf die Sonne, die unter die Wolken sank. »Der Bereich des Himmels, in dem sich die Insel befindet, ist heimtückisch und beinahe unmöglich zu erreichen. Er ist ständig von Stürmen umgeben, und die Insel selbst verharrt nicht an einem Ort, sondern treibt durch den Himmel. Ich habe damals nach meiner Rettung wochenlang nach einem Kapitän gesucht, der mich zu der Insel zurückbringen würde, doch alle in der Hauptstadt haben sich geweigert. Sie hielten mich für himmelsverrückt.« Barts Lippen verzogen sich zu einem humorlosen Lächeln. »Vielleicht war ich das auch.«
Kurz legte sich Stille übers Deck.
»So bin ich schließlich auf der Halsabschneider-Insel gelandet« fuhr er fort. »Und hatte das Pech, vor Ferus’ Tür einzuschlafen.« Er schürzte die Lippen, als würde er sich an etwas Unschönes erinnern, bevor er den Gedanken an den Wirt des Salzfasses abschüttelte. »Der Punkt ist, Prinzessin, es gibt nicht viele Kapitäne, die eine Reise zu dieser Insel riskieren würden. Sie müssten entweder außergewöhnlich mutig, waghalsig oder verzweifelt sein. Oder vielleicht sogar alles zusammen.«
Remy warf einen Blick zu der rothaarigen Frau in dem violett-schwarzen Mantel, die Befehle an den Rest der Crew erteilte. »Captain Flinke Klinge würde es tun«, meinte er, während Gem die Lippen zusammenpresste. »Sie war mutig genug, es mit Jhaeros und der Windhai aufzunehmen. Wir hätten Sturmblitz nie zurückbekommen, wenn sie uns nicht geholfen hätte. Wenn jemand durch einen gefährlichen Bereich des Himmels fliegen kann, dann sie.«
»Sie könnte es vermutlich.« Gem klang nicht überzeugt und verschränkte nachdenklich die Arme. »Die Herausforderung wird sein, sie dazu zu überreden. Ohne ihr im Gegenzug die Hälfte der Reichtümer des Königreichs versprechen zu müssen.« Sie verdrehte die Augen. »Aber es sollte einfacher sein, jetzt, da Jhaeros tot ist.«
Sturmblitz fauchte und fletschte die Zähne. Der schreckliche Pirat ist nicht tot, grollte er.
»Was?« Gem sah Remy mit großen Augen an. »Jhaeros ist noch am Leben? Aber ich dachte, Sturmblitz …«
Remy verzog das Gesicht. Als Jhaeros Sturmblitz entführt hatte, war der Drache noch ein Baby gewesen. Er hatte Sturmblitz dazu benutzen wollen, einen Wahren Drachen hervorzulocken, um diesen dann zu töten und ihm die Magie zu rauben. Remy hatte Sturmblitz gerettet, bevor der Piratenmagier seinen fürchterlichen Plan hatte in die Tat umsetzen können, aber sie waren entdeckt worden, und in dem Chaos, das daraufhin ausgebrochen war, waren Remy und Sturmblitz über Bord gegangen und in den Mahlstrom gestürzt.
Remy hatte immer noch das Heulen des Mahlstroms in den Ohren, das Knistern der violetten Magieblitze, die auf allen Seiten an ihm vorbeigeschossen waren. Er hatte gedacht, er würde sterben. Doch anstatt Sturmblitz und ihn zu Asche zu verbrennen, hatten die unbändigen Kräfte des Mahlstroms aus dem Babydrachen einen jungen Drachen gemacht. Und da Sturmblitz nun fliegen konnte, hatte er Remy zurück auf Jhaeros’ Schiff gebracht und den Piratenmagier zum Kampf herausgefordert.
»Ich habe gesehen, wie Sturmblitz Jhaeros mit einem Blitz getroffen hat«, sagte Gem und blickte von Remy zu dem Drachen und wieder zurück. »Er hat ihn fast über das gesamte Deck geschleudert. Das hat ihn … nicht umgebracht?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Remy. »Als wir davongeflogen sind, haben Sturm und ich … einen Schatten auf dem Deck gesehen. Wir konnten ihn nicht deutlich erkennen – es waren überall Rauch und Flammen –, aber … ich glaube, es war Jhaeros.«
Bart blickte zurück in die Richtung, in der sie die Windhai zuletzt gesehen hatten. »Wenn Jhaeros am Leben ist«, sagte er grimmig, »dann müssen wir uns beeilen. Dieser Mann vergisst nicht, was wir getan haben. Sobald sein Schiff wieder flugtüchtig ist, wird er uns jagen. Und Sturmblitz.«
Sturmblitz fauchte und fletschte erneut die Zähne, und Remys Magen zog sich zusammen. Sie alle hatten sich einen sehr mächtigen Piraten zum Feind gemacht. Er würde sich von nichts und niemandem aufhalten lassen, bis er das bekommen hatte, was er wollte. Er hatte Sturmblitz haben wollen, doch jetzt wollte er vermutlich auch Rache an denen, die seine Pläne durchkreuzt hatten.
Gem nickte. »Wir können es uns gerade nicht leisten, von ihm eingeholt zu werden«, murmelte sie. »Wir brauchen ein schnelles Schiff und einen fähigen Kapitän, wenn wir Jhaeros entkommen und die Insel finden wollen.« Sie schwieg kurz, dann seufzte sie. »Ich schätze, es ist an der Zeit, Captain Flinke Klinge die Lage zu erklären.«
»Aye«, sagte jemand hinter ihnen. Als sie sich umdrehten, stand die Piratenkapitänin höchstpersönlich auf den Stufen zum Vorderdeck, ihr langer Mantel und ihre roten Haare flatterten im Wind. »Es ist höchste Zeit, dass ihr das tut.«
Gemillia Sonnenwind Gallecia XIV., einzige Tochter von König Gallus und Prinzessin des Königreichs, hatte noch nie jemanden getroffen, der so unerschütterlich war wie Captain Flinke Klinge. Selbst als sie erfahren hatte, dass die Welt enden könnte, war ihre einzige Reaktion eine gehobene rote Augenbraue.
»Du willst mir also sagen, dass innerhalb eines Jahres jede einzelne Insel im Königreich Gallecia in den Mahlstrom stürzen und für immer verloren sein könnte«, fasste die Piratin zusammen und sah zu Gem, die schwer schluckte. »Dass das Leben, so wie wir es kennen, enden und nichts mehr davon übrig bleiben wird, wenn die Sturmkristalle versagen.«
»Im Grunde genommen, ja.«
Sie standen in der Kajüte der Kapitänin, und Flinke Klinge starrte sie über den großen Mahagonitisch in der Ecke hinweg an. Neben Gem wechselte Remy unruhig von einem Bein aufs andere. Die Piratin machte ihn offenbar immer noch nervös. Bart lehnte in der Ecke hinter ihnen, und Sturmblitz kauerte vor der Tür und lugte herein, da er zu groß war, um durch den Rahmen zu passen. Gem vermutete, dass von den dreien niemand Captain Flinke Klinge widersprechen oder mit ihr diskutieren würde, es war also an ihr, die Kapitänin davon zu überzeugen, ihnen zu helfen.
Kopfschüttelnd drehte Flinke Klinge sich um, nahm eine Flasche mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit aus dem Regal und schenkte sich großzügig ein.
»Nun, das ist schlecht«, murmelte sie, während sie sich setzte und die Füße auf den Tisch legte. »Wäre schön gewesen, wenn ich diese Information schon früher gehabt hätte. Zum Beispiel, als ich mein Schiff riskiert habe, um dir zu helfen. Ich nehme an, du hast mir jetzt alles erzählt, weil du immer noch etwas von mir willst.«
»Captain.« Gem trat einen Schritt vor. »Es tut mir leid, dass ich dir bisher nichts davon erzählen konnte«, sagte sie zerknirscht, als Flinke Klinge sie über den Rand des Glases hinweg musterte. »Aber ja, wir brauchen deine Hilfe jetzt dringender denn je. Wir müssen die Wahren Drachen finden. Die Wahren Drachen sind uralt und überaus mächtig, sie sind vielleicht die Einzigen, die wissen, wie man das Königreich retten kann.«
Andere Wahre Drachen, rief Sturmblitz vom Türrahmen aus. Wir müssen andere Wahre Drachen finden. Ich bin auch ein Wahrer Drache, schon vergessen?
Captain Flinke Klinge schwenkte die Flüssigkeit in dem Glas in ihrer Hand. »Und wie sollen wir Kreaturen finden, von denen es heißt, dass sie längst ausgestorben sind?«, fragte sie und ignorierte Sturmblitz’ Einwand.
»Sir Bartello war auf einer Insel«, erwiderte Gem, während Flinke Klinge sie weiterhin ungerührt ansah. »Auf dieser Insel lebt ein Wahrer Drache, aber es ist sehr schwer, durch den Himmel dort zu navigieren. Wir müssen diese Insel finden und mit dem Wahren Drachen sprechen. Ich kenne niemand anderen, der geschickt genug wäre, uns dorthin zu bringen.«
»Ach? Wie schön für mich.« Die Kapitänin leerte das Glas, schwang die Füße vom Tisch und stützte sich mit dem Kinn auf dem Handrücken auf den Tisch. »Und was genau habe ich davon?«
Obwohl Gem damit gerechnet hatte, war sie überrascht. »Die … die Sturmkristalle versagen«, stammelte sie. »Die Inseln werden vom Himmel in den Mahlstrom stürzen, jedes einzelne Lebewesen darauf wird sterben. Du würdest helfen, das Königreich zu retten. Das ist doch sicher Belohnung genug.«
Flinke Klinge lächelte bloß. »Vielleicht«, sagte sie. »Aber wenn ich mich selbst und meine Crew in Gefahr bringe, schon wieder, dann mache ich das nicht ohne Gegenleistung. Mein Schiff hat bereits Schaden genommen, meine Crew ist vom letzten Kampf noch erschöpft, und jetzt willst du, dass wir in einen unberechenbaren Bereich des Himmels fliegen und uns noch mehr Risiken aussetzen.« Ihre grünen Augen waren unverwandt auf Gem gerichtet. »Vergiss bitte nicht unsere Abmachung, Prinzessin«, sagte sie. »Wenn das alles vorbei ist, wenn wir es tatsächlich schaffen, die Welt vor dem sicheren Untergang zu retten, dann werden wir Heldinnen und Helden sein. Ich möchte also auch die Belohnung einer Heldin, damit sich das alles überhaupt lohnt.«
Gem biss die Zähne zusammen. Sie musste sich in Erinnerung rufen, dass Flinke Klinge eine Piratin war, und das durch und durch. Gem wusste nicht, warum sie etwas anderes erwartet hatte. »Ich bin mir sicher, der König wird dir alles geben, was du verlangst«, sagte sie steif. »Wenn das Königreich bis dahin nicht in den Mahlstrom gestürzt ist.«
»Gut.« Captain Flinke Klinge schob den Stuhl zurück und stand lächelnd auf. »Dann sind wir uns ja einig. Aber bevor wir irgendetwas tun, muss ich mein Schiff reparieren lassen. Und da die Wilde Königin den ganzen Weg zurück zum Randbezirk nicht schaffen wird, ohne von Piraten angegriffen zu werden, machen wir einen Halt auf einer der unbewohnten Inseln. Das heißt, wir gehen wahrscheinlich ein paar Tage an Land. Schiffsreparaturen brauchen Zeit.«
Gem nickte. Sie wollte so bald wie möglich aufbrechen, aber sie verstand Flinke Klinges Argument. Die Wilde Königin war schnell und wendig, aber nicht mit gerissenen Segeln und eingedrücktem Rumpf. Wenn sie in einen gefährlichen Sturm segelten, um eine mysteriöse Insel zu finden, dann musste das Schiff in einwandfreiem Zustand sein.
»Ich gebe der Crew Bescheid, dass wir für Reparaturen haltmachen«, sagte die Kapitänin und trat hinter dem Tisch hervor. »Es gibt mehrere kleine Inseln zwischen hier und dem Randbezirk. Sobald wir eine erreichen, können wir zu Atem kommen und prüfen, wie stark das Schiff beschädigt ist.« Sie hielt kurz inne und musterte Gem mit hochgezogener Braue. »Ich gehe davon aus, dass du nicht willst, dass sich der drohende Untergang des Königreichs unter der Crew herumspricht?«
Gem nickte. »Das wäre vermutlich das Beste. Es sei denn, du bist davon überzeugt, dass sie es nicht weitererzählen.«
»Lysander auf jeden Fall«, murmelte Flinke Klinge. »Ich glaube, es gibt nichts, was diesen Jungen schockieren könnte. Und er kann Geheimnisse normalerweise gut für sich behalten.« Sie verdrehte die Augen. »Hauptsächlich, weil er keine Lust hat, sich mit Menschen außerhalb der Kristallkammer zu unterhalten.«
Lysander war der mürrische Magier, der den Sturmkristall des Schiffs antrieb. Er war nur ein paar Jahre älter als Gem, aber er war ein talentierter Sturmmagier, der sich selbst Magie beigebracht hatte. Außerdem war er unhöflich und ungehobelt, und er hatte eine Abneigung gegenüber allen Adeligen, auch gegenüber Gem. Zum Glück blieb Lysander meistens in der Kristallkammer des Schiffs und verirrte sich nur selten an Deck.
Gem unterdrückte eine Grimasse. So wie sie den Sturmmagier kannte, konnte sie sich bereits lebhaft vorstellen, wie er ihr die Schuld daran gab, dass die Inseln vom Himmel stürzten. »Bist du dir sicher, Captain?«
»Wenn ich Lysander befehle, kein Wort weiterzuerzählen, dann wird er das auch nicht«, erwiderte Flinke Klinge und schnaubte. »Widerwillig. Aber er sollte die ganze Situation kennen, wenn wir diesen Plan weiterverfolgen. Der Rest der Crew …« Sie dachte kurz darüber nach, dann verzog sie die Lippen. »Besser, sie wissen nichts davon. Unwissenheit ist schließlich ein Segen.«
Wie wahr, dachte Gem.
»Der Plan steht also«, fasste Captain Flinke Klinge noch einmal zusammen und klang dabei viel fröhlicher, als Gem angebracht fand. »Wieder einmal fliegen wir in einen extrem gefährlichen Bereich des Himmels, setzen unsere Leben und unsere geistige Gesundheit aufs Spiel, und das, um etwas zu finden, von dem es heißt, es ist ausgestorben.« Sie hob das Glas und prostete Gem zu. »Du hast mein Leben in letzter Zeit auf jeden Fall ziemlich durcheinandergebracht, Prinzessin.«
Der Flug zu der unbewohnten Insel dauerte länger als erwartet. Die Segel des Schiffs und einer der Pfeilflügel an den Seiten waren beschädigt, weshalb die Wilde Königin trotz Lysanders Bemühungen in der Kristallkammer viel langsamer vorankam als sonst. Doch irgendwann entdeckte Gem die Insel in der Ferne: ein treibendes Stück Land mit ein paar wild wuchernden Bäumen und einer flachen, sandigen Fläche, die groß genug war für ein Himmelsschiff. Sie gingen mit der Wilden Königin vor Anker, was nach Himmelsschiffsmanier bedeutete, dass sie dank ihres Sturmkristalls ein paar Fuß über der Erde verharrte. Die Crew machte sich direkt an die Reparaturarbeiten, sodass Gem und den anderen nichts anderes übrig blieb, als sich zurückzulehnen und zu warten.
Als die Crew über das Schiff wuselte, gähnte Sturmblitz plötzlich herzhaft und breitete seine Flügel aus. Ich bin hungrig, verkündete er. Wann gibt es Abendessen?
Gem zuckte kaum merklich zusammen. Sie musste sich immer noch daran gewöhnen, dass Sturmblitz reden konnte. Und er klang auch noch so … menschlich. Abgesehen davon, dass die Stimme des Drachen durch ihren Kopf hallte, konnte man mit ihm wie mit jedem anderen Kind sprechen. Einem, das noch ungeduldiger und ungestümer war als Remy.
»Du hast gerade erst etwas gegessen«, sagte Remy, doch Sturmblitz hatte sich bereits umgedreht und sah sich neugierig auf der Insel um. Etwas krabbelte über eine Baumwurzel, was den Drachen sofort aufmerken ließ. Er kauerte sich flach an den Boden, sein Schwanz zuckte über das Deck, dann spannte Sturmblitz sich an und sprang ab.
»Drache!«, rief Bart mit solch herrischer Stimme, dass Gem zusammenzuckte.
Sturmblitz erstarrte und wandte den Kopf zu dem alten Mann um.
»Flieg nicht unbedacht herum«, sagte Bart warnend und sah den Drachen finster an. »Denk daran, Jhaeros ist immer noch da draußen und vermutlich sehr wütend auf uns. Er wird nach Drachen Ausschau halten, also sollten wir nicht unnötig Aufmerksamkeit erregen.« Er bedachte Sturmblitz mit einem strengen Blick und hob einen Finger. »Es wird nicht geflogen. Verstanden?«
Sturmblitz ließ die Flügel hängen. Es wird nicht geflogen?, wiederholte er traurig.
»Ganz genau.«
Was ist mit Gleiten? Wenn ich nicht mit den Flügeln schlage, ist es nicht wirklich Fliegen, oder?
»Nein!« Bart knurrte. »Es wird nicht geflogen. Sture Echse. Willst du, dass Jhaeros uns findet?«
Remy legte dem Drachen eine Hand auf den Rücken. »Schon gut«, sagte er beruhigend. »Wir können die Insel auch erkunden, ohne zu fliegen. Sie ist nicht besonders groß.« Er warf einen fragenden Blick in Gems Richtung. »Willst du uns begleiten, Gem?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich muss nach Schneewolke sehen«, erwiderte sie. »Ich glaube, er hat sich im Kampf gegen die Piraten einen Flügel verletzt.«
Schneewolke war Gems Drache. Er war kein Wahrer Drache wie Sturmblitz, der sprechen, denken und Blitze speien konnte. Gewöhnliche Drachen wurden eher als Haustiere betrachtet, wie Hunde oder große geflügelte Pferde. Doch für Gem war Schneewolke mehr als nur ein schuppiges Pferd. Auch wenn er nicht sprechen konnte, war er intelligent und einfühlsam, und er verstand genau, was sie von ihm wollte. Er war unverzichtbar gewesen, als sie Sturmblitz und Bart aus Jhaeros’ Fängen befreit hatten. Ohne Schneewolke hätten sie das nie geschafft.
»Bist du dir sicher?«, fragte Remy. »Wir können auch warten …« Doch in diesem Moment stieß Sturmblitz ein aufgeregtes Quietschen aus und stürzte ins hohe Gras davon. Remy verzog das Gesicht und schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln.
Gem schüttelte bloß den Kopf. »Geh schon«, sagte sie. »Gegen einen hungrigen Drachen kommst du nicht an. Du holst ihn lieber schnell ein, bevor er einen Hasen oder etwas anderes über die Inselkante jagt.«
»Danke.« Remy wandte sich um und folgte Sturmblitz ins hohe Gras. Die Halme raschelten, als sowohl Drache als auch Mensch aus ihrem Blickfeld verschwanden.
»Pah.« Bart schnaubte und richtete sich auf. »Verantwortungslos, alle beide«, murmelte er. »Dieser Junge wird lernen müssen, seinen Drachen zu bändigen.«
Gem runzelte die Stirn. Etwas an Barts Formulierung klang falsch. »Aber … Sturmblitz ist nicht wirklich Remys Drache, oder?«, fragte sie. »Ich meine, Wahre Drachen können sprechen und denken und ihre eigenen Entscheidungen treffen, also gehört Sturmblitz niemandem, oder?«
Bart antwortete nicht, doch sein Gesicht war noch finsterer geworden, als sie die Wahren Drachen erwähnt hatte. Er murmelte eine Entschuldigung, dann drehte er sich um und ließ sie einfach stehen.
Gem sah ihm verwirrt nach. Schließlich machte sie sich allein auf den Weg in den Laderaum, der wegen der Flugmanöver, die sie hatten durchführen müssen, um dem Kanonenfeuer der Windhai auszuweichen, ein einziges Chaos war. Regale waren umgekippt und Kisten und deren Inhalte lagen überall auf dem Boden verstreut. Gem schlängelte sich durch die Trümmer bis in eine dunkle Ecke, in der etwas Großes und Schuppiges eingerollt auf einem Strohhaufen lag.
»Hey, mein Junge«, sagte Gem sanft, und der Drache hob den Kopf. Ein müder Ausdruck lag auf seinem Reptiliengesicht. Schneewolkes Schuppen waren weiß, die Hörner bläulich; zwei saphirblaue Augen glühten in der Dunkelheit des Laderaums. Gem streichelte ihm über den Nasenrücken, wobei sie die weichen Schuppen unter den Fingerspitzen deutlich spürte.
Schneewolke stieß leise, gurgelnde Laute aus und schob die Schnauze unter ihren Arm.
Gem lehnte sich seufzend an ihn. »Tja, jetzt gibt es wohl wirklich kein Zurück mehr«, sagte sie zu dem Drachen, der leise trillerte. »Bart führt uns zu der Insel, und dann können wir hoffentlich endlich mit einem Wahren Drachen reden.« Sie zog die Nase kraus. »Einem anderen als Sturmblitz. Ich hoffe, dieser Wahre Drache weiß, was wir tun können. Mir fällt nämlich nichts ein, was wir sonst noch tun könnten. Wenn das nicht funktioniert, werde ich wohl nach Hause gehen und mich meinem Vater stellen müssen.«
Als Gem im Laderaum stand, zusammen mit ihrem Drachen, bekam sie einen Moment lang Heimweh. Wie lange war es jetzt schon her, seit sie das Schloss verlassen hatte? Seit sie ihren Vater zuletzt gesehen hatte? Wenn der König wüsste, was sie gerade tat, wäre er wütend auf sie? Stolz? Gut, er war nie besonders warmherzig gewesen, aber sie fragte sich doch, ob er sie überhaupt vermisste.
Gem wünschte, sie könnte ihm eine Nachricht schicken. Nur eine paar Zeilen, um ihn wissen zu lassen, dass es ihr gut ging, dass er sich keine Sorgen um sie machen musste. Sie könnte ihm natürlich keine Details verraten, aber sie wollte, dass er verstand, was sie zu erreichen versuchte. Dann wüsste er zumindest, dass sie hier draußen war, um das Königreich zu retten.
»Hier bist du.«
Gem drehte sich um. Ein junger Mann stand nur wenige Schritte von ihr entfernt und sah sie mürrisch an. Die silbernen Haare, die ihn als Sturmmagier kenntlich machten, hatte er zu einem Zopf zusammengebunden, aus dem sich die meisten Strähnen gelöst hatten und die jetzt wild von seinem Kopf abstanden. Seine Augen waren zu sturmgrünen Schlitzen verengt, als er sie aus den Schatten heraus anfunkelte.
»Ich habe gerade mit Captain Flinke Klinge gesprochen«, erklärte Lysander, und es klang beinahe wie ein Vorwurf. Seine Kiefer waren angespannt und seine Augenbrauen zusammengezogen, als er einen Schritt auf sie zumachte. »Sie hat mir etwas sehr Interessantes erzählt, also wollte ich mich mit eigenen Augen davon überzeugen.« Er legte den Kopf schief und musterte sie abschätzig. »Du bist also kein verwöhntes, reiches adeliges Mädchen aus Wyndhaven«, fuhr er fort. »Du bist die Prinzessin höchstpersönlich. König Gallus’ Tochter.« Er rümpfte die Nase, als hätte er etwas Schlechtes gerochen. »Kein Wunder, dass sich Captain Flinke Klinge nahezu überschlägt, um dich bei Laune zu halten.«
Gem runzelte die Stirn, als sie die offene Verachtung in seiner Stimme hörte. Sie hatte gedacht, Lysander würde sich langsam an sie gewöhnen. Aber jetzt schien der Magier sie sogar noch mehr zu hassen als zuvor. »Warum hast du ein Problem damit, dass ich eine Prinzessin bin?«, fragte sie. »Es macht keinen Unterschied, ob ich die Prinzessin bin oder Mary Federwind. Ich bin immer noch dieselbe wie vorher.«
Mary Federwind war ihr Deckname an Bord der Wilden Königin. Abgesehen von der Kapitänin wusste niemand von der Crew, dass sie in Wirklichkeit Prinzessin Gemillia war. Sie hielten sie für ein adeliges Mädchen aus Wyndhaven, das Captain Flinke Klinge angeheuert hatte, um einen seit Jahren verschollenen Verwandten zu suchen. Es war einfacher, wenn niemand wusste, dass sie die Prinzessin war. Sonst behandelten sie sie vielleicht anders.
So wie jetzt.
Lysander schnaubte. »Natürlich, keinen Unterschied.« Er verdrehte die Augen. »Es macht überhaupt keinen Unterschied, ob man die Tochter des Königs oder irgendjemand anders ist. Außer dass du reicher bist als alle anderen im Königreich – abgesehen vom König selbst. Außer dass du in einem gigantischen Schloss lebst mit Hunderten von Bediensteten, die dir jeden Wunsch erfüllen. Und obwohl du das alles schon hast, wurdest du auch noch mit Magie gesegnet, was dich noch außergewöhnlicher macht. Und wahrscheinlich wurdest du auch noch von den besten Magiern und Magierinnen des Königreichs unterrichtet. Ohne die ganzen Mühen und Nöte von uns armem Fußvolk.« Er verschränkte die Arme, Feindseligkeit strahlte in Wellen von ihm aus. »Du bist nicht wie wir. Versuch also gar nicht erst, so zu tun. Aber das ist es nicht, was mich stört.«
Gem war es leid. Sie vermisste ihr Zuhause, sie vermisste ihren Vater, aber trotz ihrer Entschlossenheit machten sich der Druck und die Ungewissheit, ob sie es schaffen würde, die Inseln zu retten, langsam bemerkbar. Sie hatte gerade keinen Nerv für die unhöflichen Bemerkungen des Magiers. »Was willst du dann?«, fragte sie seufzend, während Schneewolke besorgt gurgelte und sie mit der Schnauze anstupste.
Lysanders Augen verengten sich. »Captain Flinke Klinge hat mir von den Sturmkristallen erzählt«, fuhr er leiser fort, als könnte jemand in der Nähe sein und sie belauschen. »Es stimmt also? Die Inseln drohen in den Mahlstrom zu stürzen?«
Gem nickte geschlagen. »Ja«, sagte sie. »Die Sturmkristalle verlieren ihre Magie und die Inseln sinken.«
»Also hat der König dich geschickt.« Lysanders Stimme war kalt. »Typisch. Schicken wir die Prinzessin des Königreichs, um alle zu retten. Auch wenn sie keine Ahnung von der Welt hat oder wie es hier draußen wirklich ist. Aber alle werden sich überschlagen, um ihr zu helfen, also kann sie eine Heldin sein.«
»Der König weiß nicht, dass ich hier bin!«, platzte es aus Gem heraus, die nun endgültig die Geduld verlor. »Mein Vater wollte nicht, dass ich nach den Wahren Drachen suche, aber ich bin trotzdem gegangen, weil ich mich nicht einfach zurücklehnen und nichts tun konnte. Ich weiß nicht, was mein Vater gerade tut, ich weiß nicht, was in der Hauptstadt vor sich geht, ich weiß nicht, was unternommen wird, damit die Kristalle nicht versagen. Aber ich bin hier, mit Piraten und Halsabschneidern, man jagt mich, man schießt auf mich, man schleudert mich mit Magie durch die Luft. Was natürlich nichts ist, worauf sie einen auf der Akademie vorbereiten.«
Ihre Schulter pochte, ein Andenken an den schrecklichen Kampf auf der Windhai. Sie konnte immer noch die Angst spüren, die nackte Panik, als sie Jhaeros höchstpersönlich gegenübergestanden hatte und ganz genau wusste, dass der Piratenmagier weitaus mächtiger war als sie. Seine Kontrolle über die Sturmmagie war beeindruckend, aber auch Furcht einflößend – genau wie die Hilflosigkeit, als sie wie eine Stoffpuppe hin und her geworfen worden war, ohne auch nur irgendetwas dagegen tun zu können. Erst Sturmblitz’ und Remys Eingreifen hatte den einseitigen Kampf beendet. Sie waren im Sturzflug herangeflogen und der Piratenmagier hatte seine Magie sofort auf den Wahren Drachen gerichtet. Nur um erkennen zu müssen, dass Wind und Blitze Sturmblitz anscheinend nicht im Geringsten etwas anhaben konnten.
Schneewolke schien Gems schmerzvolle Gedanken zu spüren, denn der Drache stieß ein besorgtes Trillern aus und drückte sich enger an sie. Er schlug nervös mit den Flügeln, und Gem legte ihm beruhigend eine Hand auf den Hals. »Mich auf Piratenschiffe schleichen«, fuhr sie fort und funkelte Lysander müde an, »gegen Piratenmagier kämpfen, Abmachungen treffen, die ich nicht treffen dürfte? Ich wollte nichts davon machen. Aber das habe ich, weil irgendjemand die Wahren Drachen finden muss, selbst wenn es nur den Hauch einer Chance gibt, dass sie helfen können.« Sie verengte die Augen und sah Lysander an, der immer noch mit verschränkten Armen vor ihr stand. »Manche von uns können nicht einfach an Bord eines Himmelsschiffes gehen und alles ignorieren, was draußen vor sich geht«, warf sie ihm an den Kopf. »Manche von uns haben ein Zuhause und Menschen, die wir beschützen wollen.«
Stille legte sich über den Laderaum. Ein paar Herzschläge lang starrte Lysander sie nur an, ohne die Miene zu verziehen. Dann, ohne Vorwarnung, trat ein schiefes Lächeln auf sein Gesicht, und er ließ die Arme sinken.
»Also, die Prinzessin des Königreichs ist hier und widersetzt sich dem König.« Der Magier lachte leise und schüttelte den Kopf. Überraschenderweise hatte er ein angenehmes Lachen, auch wenn Gem nicht damit gerechnet hatte, dass er noch etwas anderes konnte außer finster dreinzublicken oder spöttisch zu grinsen. »Das hätte ich nicht von dir erwartet, Hoheit.«
»Nenn mich nicht Hoheit.« Gem seufzte. »Oder Prinzessin. Ich will nicht, dass noch jemand weiß, wer ich bin. Nenn mich einfach Gem oder Mary Federwind.«
»Natürlich, Hoheit.« Lysander grinste. Das tat er nur, um ihr zu widersprechen, da war Gem sich sicher. »Was immer du sagst.«
Gem biss die Zähne zusammen. Doch als Schneewolke sich dem Magier zuwandte und eins seiner Hörner die Prellung an ihrer Schulter streifte, durchzuckte sie ein heftiger Schmerz. Sie sog scharf die Luft ein, was den Drachen alarmiert kreischen ließ.
Lysanders Augenbrauen schossen nach oben. »Bist du verletzt?«
»Das ist nichts«, brachte Gem hervor und versuchte, Schneewolke zu beruhigen, dessen Augen weit aufgerissen und voller Sorge waren. Das Pochen in ihrem Arm ließ bereits wieder nach, auch wenn die Erinnerung daran frisch und schmerzhaft war. »Als ich auf der Windhai war, hat Jhaeros mich mit seiner Sturmmagie quer über das Deck geschleudert«, erklärte sie, während sie Schneewolke über die Nase strich. »Ich habe ein paar Prellungen davongetragen, nichts Ernstes.«
Lysander schüttelte den Kopf. »Dann hast du mir nicht zugehört. Ich habe dir doch gesagt, dass sowohl deine als auch Jhaeros’ magische Kraft durch den Vortex verstärkt wird«, polterte er aufgebracht. »Hast du nicht einmal versucht, Jhaeros’ Magie abzuwehren? Oder deine eigene Sturmmagie gegen ihn einzusetzen?«
»Ich wusste nicht, wie.« Gem streichelte weiter Schneewolke, ohne sich zu dem Magier umzudrehen. Lysander würde sich nur noch mehr über ihre magischen Fähigkeiten lustig machen. »Ich war erst im ersten Jahr an der Akademie. Ich habe das alles noch nicht gelernt.«
Lysander seufzte. »Was bringen die euch an der Akademie für Magie überhaupt bei?«, murmelte er kopfschüttelnd. »Einfach nur armselig.« Er schwieg mehrere Sekunden lang, als würde er innerlich mit sich ringen, dann stieß er hörbar die Luft aus. »Hör zu, Prinzessin, wenn wir schon durch gefährliche Bereiche fliegen und nach Wahren Drachen suchen, dann musst du auch wissen, wie du deine Magie einsetzt. Vor allem, wenn Jhaeros uns auf den Fersen ist. Ich muss unter Deck bleiben, um den Schiffskristall anzutreiben, also kann ich keine magischen Kämpfe für dich führen. Wenn wir angegriffen werden und Jhaeros dieses Schiff betritt, dann musst du ihn selbst bekämpfen.« Er hielt kurz inne, und aus dem Augenwinkel sah Gem, dass er sich die silbernen Haare raufte. »Was, wenn man bedenkt, dass die Akademie dir absolut nichts Brauchbares beigebracht hat, eine schreckliche Vorstellung ist. Also werde wohl ich dir alles beibringen müssen.«
Perplex drehte Gem sich nun doch um und starrte Lysander mit großen Augen an. »Wirklich?«, fragte sie.
Lysanders Miene verdüsterte sich. »Was? Glaubst du, ich kann das nicht? Nur weil ich nicht an der Akademie gelernt habe?«
»Nein«, versicherte Gem ihm hastig. »Es ist nur … Ich bin nur überrascht, mehr nicht. Ich dachte, du magst mich nicht.«
»Ich tue dir damit keinen Gefallen, Prinzessin.« Lysander verschränkte wieder die Arme und sein Blick wurde hart. »Das ist zum Wohle von Captain Flinke Klinge, des Schiffs und der Crew. Solange du nicht weißt, wie du deine Magie nutzt, bist du eine Gefahr für alle, nicht nur für dich selbst. Aber damit eine Sache klar ist: Ich bin kein netter, sanfter Akademielehrer, und nichts von dem, was ich dir beibringe, zählt als ›richtige‹ Ausbildung. Erwarte nicht von mir, dass ich Rücksicht auf dich nehme, nur weil du die Tochter des Königs bist. Wenn ich es auf die harte Tour lernen musste, dann gilt das auch für dich.«
»Das ist schon in Ordnung.« Gem nickte. Diese unerwartete Wendung der Ereignisse musste sie erst einmal verdauen. »Vielen Dank, Lysander.«
Er lachte trocken. »Bedank dich nicht, Prinzessin«, sagte er und wandte sich zum Gehen. »Warte, bis du flach auf dem Rücken liegst und dich nicht mehr rühren kannst, weil deine Magie außer Kontrolle geraten ist. Dann sehen wir ja, wie dankbar du mir wirklich bist.«
Er schlängelte sich durch das Chaos im Laderaum und verschwand nach draußen. Gem lauschte seinen Stiefelschritten, als er die Stufen zum Deck hinaufstieg, und lehnte sich an Schneewolke. Worauf hatte sie sich da nur eingelassen?
Sturmblitz war schon wieder verschwunden.
»Wo ist dieser Drache nur?«, murmelte Remy und stapfte durch das hüfthohe Gras, das in großen Flecken auf der Insel wuchs. Es war gerade hoch genug, um ein gutes Versteck für einen Drachen zu bieten, wenn dieser sich flach an den Boden drückte wie eine Katze, die einen Vogel durchs Gebüsch verfolgte. Nicht dass es hier irgendwelche Vögel auf der Insel gegeben hätte. Oder Ratten oder Mäuse oder überhaupt irgendwelche kleinen Tiere. Aber das hielt Sturmblitz nicht davon ab, nach welchen zu suchen. Das Trockenfleisch an Bord der Wilden Königin schien dem Drachen nie genug zu sein, er hatte immer Hunger. Und wenn Sturmblitz Hunger hatte, dann wurde er rastlos und schlich sich davon, um selbst auf Beutejagd zu gehen. Es war nicht das erste Mal, dass Remy ihn suchen musste.
»Sturm!«, zischte er und spähte finster durch die Halme. Seine Arme juckten und Insektenschwärme summten um seinen Kopf. »Wo bist du? Hör auf, Spielchen zu spielen. Das ist nicht witzig.«
Ein leises Rascheln war alles, was er als Warnung bekam, bevor ein großer blau-silberner Drache aus dem Nichts herausbrach. Remy schrie überrascht auf, als Sturmblitz sich auf ihn stürzte und ihm die Krallen leicht ins Hemd bohrte. Er landete auf dem Rücken und starrte direkt in die violetten Augen seines Drachen.
Hab dich. Sturmblitz wirkte übertrieben selbstzufrieden. Er legte den Kopf schief und bedachte Remy mit einem drachenhaften Grinsen. Du bist viel zu laut. Ich glaube, ein Wildschwein würde weniger Lärm machen als du.
»Runter von mir.« Remy schnaufte und drückte gegen den Oberkörper des Drachen. »Sehe ich wie ein Wildschwein aus?«
Nein. Sturmblitz seufzte traurig. Wenn du eins wärst, könnte ich dich essen. Der Drache sprang von Remy herunter und machte ein paar Schritte zurück.