Politische Philosophie des Gemeinsinns - Oskar Negt - E-Book

Politische Philosophie des Gemeinsinns E-Book

Oskar Negt

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Beschreibung

Das Denken von Oskar Negt wird Zeit seines Lebens von zwei intellektuellen Größen angetrieben: Kant und Marx. Seine Auseinandersetzung mit Kants Transzendentalphilosophie aus der Perspektive eines an Marx geschulten Sozialphilosophen reicht von Negts Studienzeit bis zu seiner letzten Vorlesung an der Universität Hannover im Sommersemester 2002. Die Philosophie des Königsberger Aufklärers war immer wieder Gegenstand von Negts Vorlesungen. Doch das erste Mal öffentlich und ausführlich interpretierte er Kants Transzendentalphilosophie in den Semestern 1974 und 1975. Diese zweisemestrige Kant-Vorlesung bildete den Auftakt eines ganzen, jahrelang währenden Vorlesungszyklus unter dem Titel »Philosophie und Gesellschaft«. Darin zeichnete Negt die großen Denkbewegungen nach: von Kant bis Hegel, als die bürgerliche Gesellschaft ihr philosophisches Selbstbewusstsein gewann, bis zur Selbstkritik an der fortwährenden Irrationalität des Bestehenden durch Marx und Freud. Die Aufzeichnungen dieser Vorlesungen, die eine hohe Konzentration auf Seiten des Vortragenden wie auch des Publikums bezeugen, bilden die Grundlage dieses Buches.

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OSKAR NEGT

POLITISCHE PHILOSOPHIE DES GEMEINSINNS

Band 2 Moral und Gesellschaft: Immanuel Kant

Herausgegeben von der Hans-Böckler-StiftungSteidl

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorbemerkung

Vorlesungen im Wintersemester 1974/75

Einführung – Marxismus als Erbe der klassischen Philosophie

Vorlesung vom 24. Oktober 1974

Revolution der Denkungsart und Revolutionsangst bei Kant

Vorlesungen vom 25. und 31. Oktober 1974

Natur und Revolution – Kants Geschichtsphilosophie

Vorlesung vom 1. November 1974

Geschichte und Naturanlagen

Vorlesung vom 7. November 1974

Zum Begriff der Gewalt bei Kant

Vorlesung vom 8. November 1974

Diskussion um die RAF

Vorlesung vom 14. November 1974

Moralität, Politik und Anarchismus

Vorlesung vom 15. November 1974

Bildung, Abstraktion und Breitseite der Gewalt

Vorlesung vom 21. November 1974

Gewalt bei Hegel und Volk bei Kant

Vorlesung vom 22. November 1974

Zur Bedeutung von (dialektischer) Theorie

Vorlesung vom 28. November 1974

Biografie und Werk I

Vorlesung vermutlich vom 24. Januar 1975

Biografie und Werk II

Vorlesung vermutlich vom 30. Januar 1975

Kant und die Anthropologie

Vorlesung vermutlich vom 6. Februar 1975

Der Begriff des Charakters bei Kant

Vorlesung vom 7. Februar 1975

Ausblick auf das Sommersemester 1975

Vorlesung vom 13. Februar 1975

Vorlesungen im Sommersemester 1975

Philosophische Erfahrung

Vorlesung vom 10. April 1975

Kants Erkenntnistheorie und der Gerichtshof der reinen Vernunft

Vorlesung vom 11. April 1975

Kants erkenntnistheoretische Fragestellung

Vorlesung vom 17. April 1975

Synthetische Urteile a priori

Vorlesung vom 18. April 1975

Wie ist Synthesis möglich? Zum Begriff der Transzendentalphilosophie

Vorlesung vom 24. April 1975

Die ursprüngliche Einheit der Apperzeption: das transzendentale Ich

Vorlesung vom 25. April 1975

Die Kopernikanische Wende und Kants Ich-Begriffe

Vorlesung vom 2. Mai 1975

Urteilskraft und Schematismus

Vorlesung vom 9. Mai 1975

Schematismus und das Ding an sich

Vorlesung vom 15. Mai 1975

Die (ästhetische) Urteilskraft als Subsumtionsvermögen und ihre Antinomien

Vorlesung vom 16. Mai 1975

Kategorien des Geschmackurteils

Vorlesung vom 29. Mai 1975

Gefühlszustand, Gefühl und Vermittlung

Vorlesung vom 30. Mai 1975

Sensus communis

Vorlesung vom 5. Juni 1975

Kants Geniebegriff

Vorlesung vom 19. Juni 1975

Genie, Geist und Kultivierung

Vorlesung vom 20. Juni 1975

Der bestirnte Himmel und das Moralgesetz

Vorlesung vom 26. Juni 1975

Der kategorische Imperativ

Vorlesung vom 27. Juni 1975

Nachwort

Anmerkungen

Vorbemerkung

Wie kein Philosoph der europäischen Geistesgeschichte hat sich Kant als politischer Philosoph orientierend in meinem Lebenszusammenhang festgesetzt. Dabei ging es mir nie um bestimmte Lehrgehalte, die man als gesicherte Erkenntnisse übernehmen und fortführen könnte. Faszinierend an dieser politischen Philosophie des Gemeinsinns war für mich die ungebrochene Reflexionskraft, die selbst dort noch spürbar ist, wo der kritische Ausweg keine Lösungen verfügbar macht. Seit meiner Schulzeit in den oberen Klassen lässt mich der Gedanke nicht ruhen, dass die Kantische Philosophie, gerade auch in ihren theoretischen Positionen, eine groß angelegte Versuchsanordnung darstellt, eine Art philosophische Werkstatt, in der Mittel und Wege für Fundamente eines Hausbaus der Vernunft gesucht werden. Die Friedensfähigkeit einer Gesellschaft beginnt im Denken. Herstellung von Zusammenhang und gleichzeitige Entmischung sind wesentliche Merkmale dieser spezifischen Philosophie. Kant hat dafür die einfache Formel geprägt, die aus drei Fragen besteht: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Eine vierte Frage, die zu beantworten er als zu schwierig erachtete, hat er nicht in die »Kritik der reinen Vernunft« aufgenommen. Sie gehört aber zentral zu seiner Philosophie: Was ist der Mensch?

In seinen Vorlesungsnotizen taucht diese vierte Frage immer wieder auf. Es muss Kant gequält haben, auf diese entscheidende Frage keine befriedigende Antwort zu finden. Doch was den Menschen in seinen extremen Charakterprägungen ausmacht, ist bei Kant definitorisch nicht zu fassen. Man könnte Kants Philosophie als Großversuch betrachten, die Emanzipationsimpulse der bürgerlichen Gesellschaft, ihr humanitäres Selbstverständnis, vereinbar zu machen mit der immer wieder auftretenden Erfahrung von gesellschaftlichen Katastrophen und individuellen Tragödien. Kant glättet diese Verhältnisse nicht, indem er etwa ausgleichende Vermittlungen anböte.

Von vielen Seiten ist Kant in Anspruch genommen worden, selbst die Nationalsozialisten konnten ihn für ihre nationalen Fieberphantasien gebrauchen. Und die Flüchtlingsfrage, die er bereits in seinem Entwurf »Zum ewigen Frieden« abgehandelt hat, bringt heute wieder ein Thema auf die politische Tagesordnung, wie es drückender und menschenfeindlicher kaum vorstellbar ist. Kant ist der politische Philosoph in der Reihe großer Denker der europäischen Geistesgeschichte. Nicht dass er in den großen Werken politisch zitierbare Essays geschrieben hätte, sondern mit politisch meine ich, dass er sowohl das bürgerliche Selbstverständnis emanzipativer Bewegungen wie auch die Abgründe geschichtlicher Verwerfungen in seinem Werk aufgedeckt hat. Man hat ihn den klassischen Philosophen der Moderne genannt; das ist er gewiss auch. Aber es sind gerade die zentralen theoretischen Werke, seine drei großen Kritiken, die um Gemeinwesenarbeit organisiert sind. Aus isolierenden Gemeinwesen, verstörendem Eigensinn, muss ein Gemeinsinn werden, der die eigensinnigen Freiheiten nicht zerbricht. Wo Eigensinn war, muss Gemeinsinn werden, so könnte Kants praktische Philosophie formuliert werden.

Zu danken habe ich der Hans-Böckler-Stiftung für die großzügige Förderung, Hendrik Wallat für aufschlussreiche Kommentare und Nachworte sowie meiner Frau, Christine Morgenroth, für Hilfe auf allen Ebenen des Lebenszusammenhangs. Ihr widme ich auch dieses Buch.

Frühjahr 2020 Oskar Negt

Vorlesungen im Wintersemester 1974/75

Einführung – Marxismus als Erbe der klassischen Philosophie

Vorlesung vom 24. Oktober 1974

Sehr geehrte Damen und Herren,*

das Thema »Philosophie und Gesellschaft« setzt sich wie alle globalen Themen zunächst dem Problem des Anfangs aus. Dieses Problem tritt insbesondere dann auf, wenn man das naive Vertrauen in einen akademischen Objektivismus verloren hat.

Mag es zunächst als selbstverständlich erscheinen, sich mit Kant, Hegel oder Marx zu befassen, ist es doch keineswegs ausgemacht, ob eine Beschäftigung mit diesen Theorien überhaupt sinnvoll sein kann in Anbetracht von möglicherweise dringlicheren Aufgaben. Darüber hinaus gibt es so etwas wie einen objektiv vorgegebenen Sinnzusammenhang, in dem eine Aneignung dieser Theorien stattfinden könnte, gar nicht mehr. Nun könnten wir natürlich alle diese Vermittlungsstufen des Anfangs, wie sie Hegel thematisiert hat, überspringen und sagen: Beschäftigen wir uns einfach mit der Sache selbst. Ich glaube aber, dass genau dieses Durchschneiden aller Vermittlungen Folgen für die Interpretation hat und nicht nur jene, wie die Hermeneutiker unterstreichen, dass in Deutungen immer die eigene Bildungsgeschichte und die Bildungsgeschichte der jeweiligen Zeit eingehen. Es geht vielmehr um den ursprünglichen geschichtlichen Bezugsrahmen einer vormals revolutionären Theorie, der äußerst fraglich geworden ist und sich auf verschiedene Weise rekonstruieren lässt.

Zunächst möchte ich daher eine bestimmte Form der philosophischen Aneignung vorstellen, nämlich die historisch geprägte Interpretation von Friedrich Engels. Mir geht es dabei um einen ganz spezifischen Ansatz, den ich deshalb etwas ausführlicher erklären muss. Zentral ist hier zunächst die Engels’sche Formulierung vom Erbe einer Epoche, die auch Bloch1 aufgegriffen hat. Bei Engels heißt es, die Arbeiterklasse trete »das Erbe des deutschen Idealismus an«.2 Das ist natürlich nicht so zu verstehen, dass allein die Arbeiterklasse und deren Theoretiker imstande wären, Kant, Fichte und Hegel zu rezipieren. Sondern hier ist Erbschaft in dem Sinne gemeint, dass Engels tatsächlich in der deutschen Arbeiterklasse diejenige geschichtliche Kraft erblickt, die den revolutionären Gehalt dieser Theorien und ihre geschichtliche Bedeutung ins Bewusstsein und zur Aktion führt. Mit anderen Worten bringt die Arbeiterklasse laut Engels den deutschen Idealismus auf seinen geschichtlichen Begriff. Ausgehend von diesem Erbschaftsgedanken will ich versuchen, die Frage nach der historischen Bedeutung und Relevanz einer möglichen Kant- und Hegelaneignung zu stellen.

Doch welche Formen der geschichtlichen Aneignung von Vergangenheit und vergangenem Denken gibt es? Unendlich viele sind es nicht, sondern es existiert auch dann eine ganz bestimmte Typologie, wenn man sich nicht auf akademische Schulen bezieht, sondern auf geschichtliche Kräfte der Aneignungen. Es stellt sich also die Frage, wie Theorien der Vergangenheit durch Aneignung Relevanz für bestimmte Aktionen, geschichtliche Bewegungen entfalten können. Auch hier geht es mir nicht um eine Neuinterpretation von Kant, das wäre meines Erachtens noch kein zureichender Grund für eine Beschäftigung mit dieser Theorie. Es geht vielmehr in der Tat um die Frage: Was ist für geschichtliche Bewegungen notwendig, damit sie sich Kant aneignen können, und was ist für eine Interpretation der Geschichte notwendig, die eben von Kant nur geboten werden kann? Es geht also um das Moment geschichtlicher Notwendigkeit in diesem Denken.

Das bedeutet gleichzeitig: Es gibt keinen allgemein verbindlichen Maßstab für die Stellung Kants und Hegels zu Marx oder sonst einer Theorie. Genauso wenig existiert eine konstante Interpretation, von der zu behaupten wäre, innerhalb eines festgelegten Rahmens komme es nur noch auf eine quantitative Erweiterung dieser Interpretation an, was von entsprechend eingesetzten Teams zu leisten wäre. Jenen Aberglauben, es gäbe eine objektive Beziehung der Theorien oder der Philosophie von Kant und Hegel zu Marx und anderen, gilt es zu zerstören: Nicht nur jede Epoche, sondern jede geschichtlich wirksame Kraft interpretiert dieses Verhältnis neu und muss es neu interpretieren. Das setzt allerdings auch voraus, dass der Bezugsrahmen des Marxismus nicht einfach gegeben ist. Er unterliegt vielmehr selbst dieser Form geschichtlicher Aneignung.

Hiervon ausgehend will ich einen Schritt zu Kant selbst machen, indem ich die Frage aufwerfe, wie sich bei ihm Geschichte darstellt, wie er sie begreift, und zwar zunächst unabhängig von unseren eigenen Einschätzungen des Geschichtlichen an sich und des Geschichtlichen bei Kant. Denn nicht alles, was uns als a priori erscheint und was Kant als a priori versteht, die Apriorisierung der Formen des Denkens, ist deshalb ungeschichtlich. Im Gegenteil: Ich will zu beweisen versuchen, dass gerade in der Ungeschichtlichkeit der Kantischen Theorie das Geschichtliche wirkt, dass es gewissermaßen geschichtliche Substanz aufweist, während bei Weitem nicht alle, die Geschichte in ihren Schriften thematisieren, auch geschichtlich denken. Wir wissen das gerade aus den ausgelaugten Kontroversen des Historismus. Die Formen, in denen sich geschichtliche Kräfte ausdrücken, können in bestimmten Elementen durchaus ungeschichtliche sein und nur auf Grundlage ihres ungeschichtlichen Charakters wirken.

In einem nächsten Schritt gilt es nun, den geschichtlichen Bezugsrahmen zu erörtern, in dem ich meine Form der Theorieaneignung verstehe. Zwar geht es nicht primär um mich als einzelnes Subjekt, weil ich aber Kritik an objektivistischen Formen der Aneignung übe, wäre das Ausblenden meiner selbst wenig zielführend. Der eigene Standpunkt verflüchtigt sich nicht, indem man sagt: Hier denkt oder handelt irgendwas selbstständig, die Klasse, der Weltgeist oder das transzendentale Subjekt. Ich erhebe daher den Anspruch, dass ich bei dieser Form der Aneignung beteiligt bin, was allerdings nicht zu Subjektivismus führt, sondern umgekehrt die einzige Voraussetzung dafür ist, eine selbstverschleiernde Aneignung zu überwinden.

Mein Bezugsrahmen – ich lasse die Katze gleich aus dem Sack – wird der Versuch sein einer revolutionär-kritischen Erneuerung des Marxismus als jener epochalen Theorie, ohne die geschichtliche Aneignung von vergangener Realität und vergangenem Denken auch heute noch unmöglich ist. Das ist zunächst eine Feststellung, die der ausführlichen Begründung bedarf. Es geht im Grunde um einen Versuch, die Marx’sche Theorie selbst als ein Produkt historischer Veränderung und historischer Widersprüche zu begreifen, um ihren geschichtlichen Gehalt für geschichtliche Bewegungen der Gegenwart umso wirksamer werden zu lassen. Nur eine Theorie, die selbst geschichtlich ist, kann geschichtlich wirken. In der Formbestimmtheit einer solchen Theorie lag für Marx der materialistische Gehalt. Übergeschichtliche Kategorien hingegen wirken in dem Sinne nie geschichtlich.

Auf dieser Basis wird eine systematische Analyse der Schriften Kants erfolgen, die für mich nur dann möglich ist, wenn sie diese historische Dimension vorausnimmt. Ich halte es für unmöglich, eine systematische Analyse unter heutigen Bedingungen zu liefern, die einigermaßen konsistent ist und den substanziellen Gehalt der Kantischen Theorie zum Tragen bringt, wenn nicht das historische Bewusstsein der eigenen Situation vorhanden, wenn der eigene Standpunkt dieser Aneignung nicht mit einbezogen ist.

Doch kehren wir zu Friedrich Engels zurück. Er war der Erste, der nicht nur aus intellektuellem Antrieb heraus, sondern aus praktischer Notwendigkeit eine Revolutionstheorie aufstellte. Alle Anfänge der späteren Sozialdemokratie reichen in diese Periode des späten Engels von 1878 bis 1895 zurück. In dieser Zeit entwickelten sich Organisationsformen, die überwältigend gewesen sein müssen für alle, die sich damals dem Sozialismus anschlossen. Zudem ist diese Epoche von einem völligen Zerfall der bürgerlichen Denkweise gekennzeichnet. Gemeint sind die Zerfaserungen und ein Eklektizismus des Denkens, die mit der schwindenden Bedeutung von Hegel und der verschiedenen Schulen des Hegelianismus zu tun hatten, was zuvor für deren Anhänger kaum vorstellbar gewesen war. Das galt für Marx wie für Engels und andere. Engels hatte es schon nicht mehr mit einer Form der immanenten Kritik der Hegel’schen Philosophie in ihren veränderten Formen zu tun, wie es in der »Deutschen Ideologie«, der »Heiligen Familie« und so weiter noch der Fall gewesen war. Dieser Linkshegelianismus hatte noch einen Begriff von Philosophie und Realität gehabt und systematische Ansprüche unter dem Gesichtspunkt der praktischen Aufhebung der Philosophie gestellt. Nun aber grassierten auf allen Ebenen Formen des Vulgäridealismus: Arthur Schopenhauer kam zu Ehren und Johann Gottlieb Fichte, nicht jener der »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre« (1794/95), sondern jener der »Reden an die deutsche Nation« (1808) und der »Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters« (1806).

Für Engels ergab sich daraus eine ganz neue Situation: Er musste sich mit den vulgären Produkten des bürgerlichen Denkens auseinandersetzen, etwa mit Eugen Dühring (1833–1921). Dühring war damals der größte Theoretiker der Sozialdemokratie und derart gefährlich, dass August Bebel (1840–1913) und Wilhelm Liebknecht (1826–1900) Engels inständig bedrängten, doch etwas gegen ihn zu unternehmen. Engels stellte sich diesem qualvollen Unterfangen und verfasste seinen »Anti-Dühring«.3 Es ist in der Tat ein Stück Ironie der Geschichte, dass damit das wirksamste Werk für die Arbeiterbewegung entstanden ist, das meistgelesene Werk des Marxismus.

In diesem Zeitgeist und vor dem Hintergrund solcher Auseinandersetzungen kam Engels in seiner polemischen Frontstellung zu dem Schluss, der theoretische Sinn der deutschen Arbeiterklasse sei »unverkümmert«.4 Er sagt wörtlich: »Die deutsche Arbeiterbewegung ist die Erbin der deutschen klassischen Philosophie«.5 Nicht die europäische Arbeiterbewegung nennt er hier, sondern sehr bewusst grenzt er die deutsche ab, weil in der Tat ein Theoriebewusstsein der europäischen Arbeiterbewegung keineswegs zu erkennen war und entsprechend groß die Hoffnung, die deutsche könnte so etwas wie wissenschaftlichen Sozialismus breitenwirksam aufnehmen. In einem beinahe deutschtümelnden Ton stellt Engels weiter fest: »Aber der wissenschaftliche Sozialismus ist nun einmal ein wesentlich deutsches Produkt und konnte nur bei der Nation entstehn, deren klassische Philosophie die Tradition der bewußten Dialektik lebendig erhalten hatte: in Deutschland.« Später korrigiert er sich dann allerdings und behauptet, ihm sei lediglich ein Schreibfehler unterlaufen. In der dritten Fassung heißt es in einer Fußnote: »bei Deutschen.« Und weiter:

Die materialistische Geschichtsanschauung und ihre spezielle Anwendung auf den modernen Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie war nur möglich vermittelst der Dialektik. Und wenn die Schulmeister der deutschen Bourgeoisie die Erinnerung an die großen deutschen Philosophen und die von ihnen getragene Dialektik ertränkt haben im Sumpf eines öden Eklektizismus, so sehr, daß wir die moderne Naturwissenschaft anzurufen genötigt sind als Zeugen für die Bewährung der Dialektik in der Wirklichkeit – wir deutschen Sozialisten sind stolz darauf, daß wir abstammen nicht nur von Saint-Simon, Fourier und Owen, sondern auch von Kant, Fichte und Hegel.6

Innerhalb der historischen und philosophischen Dimension, heißt es hier, sei das Denken und seien die Massen also derart korrumpiert, dass es den Naturwissenschaften obliege, die Gültigkeit der Dialektik festzustellen. In der Tat glaube ich, dass ein wesentliches Motiv für Engels Beschäftigung mit der Naturdialektik darin lag, dass weder den Massen noch den deutschen Intellektuellen klar zu machen war, die Dialektik sei etwas Vernünftiges, das der Mensch zum Denken vor allem in praktischer Absicht brauche. Es geht darum, den ohnehin von naturwissenschaftlichem Denken beeinflussten Massen nachzuweisen, dass die Dialektik ein universelles Gesetz ist, das mit der historischen Dimension unmittelbar nichts zu tun hat, welche ganz im Gegenteil nur einen Anwendungsfall darstellt, dass also die allgemeine Dialektik in Form der historischen Dialektik zum Ausdruck kommt. In diesem Augenblick glaubte Engels, die Dialektik gesichert zu haben, was durchgängig in seiner etwas feingliedrigen Analyse von der »Dialektik der Natur« zu spüren ist.

Aber was genau ist gemeint, wenn Engels von einem Erbe und von Abstammung spricht? Diese Begriffe werden nicht zufällig gebraucht, es sind vielmehr Metaphern, die auch sonst bei Marx und Engels Verwendung finden, hier aber einen sehr wesentlichen Zusammenhang betreffen. Wie also ist es zu verstehen, dass die Arbeiterklasse die klassische Philosophie beerbe, dass wir von Kant, Fichte und Hegel abstammen? Ich will hier keine Spekulationen über den Erbschaftsbegriff anstellen wie Wilhelm Raimund Beyer in seinen »Hegelbildern«.7 Bei ihm findet man einen spekulativen Überhang, der sich mit den Worten »Erbe« und »Erbschaft« in allen Dimensionen und Möglichkeiten beschäftigt, aber zur Klärung der Sache kaum etwas beiträgt. Diese Begriffe sind Metaphern genauso wie jene von der Gewalt als Geburtshelfer einer neuen Gesellschaft oder das Bild von Muttermalen, mit denen jede neue Gesellschaft behaftet sei.8 Marx und Engels haben damit nur gemeint, dass hier eine ganz spezifische, wenn man so will, organische Beziehung zwischen der großen deutschen Philosophie und dem Proletariat bestehe. Demnach könne das Proletariat nur einbringen, was die große Philosophie wollte, was also deren revolutionärer Gehalt ist.

Dennoch wäre es, wie bereits gesagt, eine falsche Projektion von unhistorischem Denken in die durchgängig historische Denkweise von Marx und Engels, wollte man behaupten, damit sei ein für alle Mal das spezifische Verhältnis zwischen dem Marxismus und der großen deutschen Philosophie festgelegt. Im Gegenteil: In welcher Weise sich dieses organische Verhältnis zwischen Philosophie und Proletariat unter den jeweilig gegebenen Bedingungen von Klassenkampf und Aneignung vergangener Realität abspielt, das musste und muss jede agierende geschichtlich auftretende Klasse neu bestimmen. Ein solcher Bestimmungsprozess fand auch statt als beispielsweise Georg Lukács (1885–1971) nachgewiesen wurde, dass er sich Marx nur über Hegel anzueignen vermochte, weshalb der sogenannte westliche Marxismus eine hegelianisierende Tendenz habe. Ich kann hier nicht weiter darauf eingehen, aber es wäre immerhin zu prüfen, ob bei der Entwicklung des Marxismus das Eindringen dialektischer Elemente eben tatsächlich durch eine Rückwendung von Marx auf Hegel möglich war.

Eine aktuellere Neubestimmung des Verhältnisses zu großen deutschen Philosophen kreist um das »Ding an sich« bei Kant. Engels meinte Kant in dieser Hinsicht mit seinem Alizarin-Beispiel widerlegt zu haben: Nun, da der Mensch in der Lage sei, diesen Farbstoff selbst herzustellen, habe der Stoff seine Qualität als »Ding an sich« verloren.9 Die Menschen nehmen nur das als »Ding an sich« an, was sie noch nicht ergründet haben. Indem sie eine Sache herstellen, erkennen sie diese und das unbekannte Ding an sich verschwindet. Dieses von Engels ganz anders gemeinte Beispiel diente Generationen von Marxinterpreten dazu, die Kantische Philosophie mit dem vernichtenden Schlagwort des Agnostizismus zu belegen. Heute jedoch tritt im offiziellen Marxismus10 eine Wende ein. Nach wie vor ist das Ding an sich ein schwieriges Problem, doch ist man in gewisser Weise dazu übergegangen, die Kantische Theorie zu integrieren. Man kann nur einen Grund dafür annehmen, dass nämlich für diese Form des Marxismus alles, was jenseits des eigenen Aktionsspielraums liegt, eine Gefährdung darstellt.

Grundsätzlich lassen sich zwei Arten der geschichtlichen Aneignung unterscheiden: auf der einen Seite die revolutionäre Aneignung von Geschichte mit ihrer ganz spezifischen Zeitstruktur, die mit einer Verdichtung des Zeitbegriffs verbunden ist, mit einem Aufsprengen des Zeitkontinuums; auf der anderen Seite eine restaurative, verdrängende Aneignung der Vergangenheit und vergangener Theorien. Für diese folgenreiche These will ich zwei Beispiele anführen. Das eine findet sich bei B. Traven (vermutlich 1882–1969) in der »Rebellion der Gehenkten« (1936), das zweite in den geschichtsphilosophischen Thesen von Walter Benjamin (1892–1940), die den Begriff der geschichtlichen Aneignung, der Neukonstitution von Geschichte begründen.

Travens »Rebellion der Gehenkten« kann ich allgemein nur zur Lektüre empfehlen, weil es die Entwicklungslogik revolutionärer Bewegungen auf praktischer Ebene bis zum Endpunkt durchkonstruiert und dabei stets die jeweiligen Alternativen aufzeigt. Das Beispiel, das ich daraus entlehnen möchte, sei hier kurz eingeführt: Da wird eine Gruppe von Outlaws auf der Straße aufgegriffen und in den Urwald verschleppt, um dort eine bestimmte Holzart zu schlagen. Diese Leute fristen dort ein Dasein, das dazu angetan scheint, jede menschliche Regung zu vernichten. Entsprechend rührt sich auch lange nichts – bis eine eklatante Ungerechtigkeit passiert: Einem kleinen unschuldigen Jungen werden die Ohren abgeschnitten, woraufhin der Vater den dafür Verantwortlichen erschlägt. Das ist der Anfangspunkt einer Rebellion, denn dem Vater dämmert es sofort: Jetzt heißt es weitermachen oder vernichtet werden. Die Logik dieser Situation treibt die Arbeiter voran von einer Plantage zur anderen. Sie erschlagen die Herren, besetzen das Land, können es aber nicht halten, und der Führer der Rebellion sagt ein ums andere Mal: Wenn wir uns hier festsetzen, werden sie uns einkreisen und vernichten. Wir haben nur die Alternative, voranzugehen.11

Ich will diese Erzählung nicht selbst weiter deuten, sondern einen anderen dafür bemühen. Robert Steigerwald interpretiert diese Stelle so:

Die Rebellen im Kaobazyklus vernichten überall, wohin ihr Kampfweg führt, sämtliche Dokumente. […] Es geht um den rücksichtslosesten Bruch mit der alten Welt, mit der Welt des Eigentums, der Ausbeutung und Unterdrückung. Ist gemeint, was Marx und Engels im »Manifest der Kommunistischen Partei« schrieben: »Die kommunistische Revolution ist das radikalste Brechen mit den überlieferten Eigentumsverhältnissen; kein Wunder, daß in ihrem Entwicklungsgang am radikalsten mit den überlieferten Ideen gebrochen wird«? Marx und Engels spitzen hier das Problem der Revolution zu auf den Punkt des Zerreißens der historischen Kontinuität, und das ist ja auch das Entscheidende an der sozialistischen und kommunistischen Revolution. Freilich waren Marx und Engels Dialektiker, die genau um das Moment der Kontinuität in jedem Entwicklungsprozeß wußten.12

Dem stimme ich zwar grundsätzlich zu, doch zeigt sich hier der Unterschied zwischen einer wirklichen Revolution und ihrer Interpretation: Hätten die Kaobabauern Zeit gehabt, ihre Situation zu interpretieren, das heißt historischen Materialismus anzuwenden, wäre es möglich gewesen, diese Vermittlungen mit einzubeziehen. Aber was Traven hier meint und Steigerwald meines Erachtens nicht erkennt, ist der grundlegende Unterschied zwischen der Bewusstlosigkeit, dem Unbewussten im Augenblick historischer Aktion und den zweifellos notwendigen theoretischen Vermittlungsprozessen, die diese Revolution und ihren geschichtlichen Gang interpretieren.

Beide Ebenen auseinanderzuhalten, erscheint mir wesentlich, nicht weil die Kaobabauern recht hätten, sondern weil in der Tat ein Geschichtsbegriff da ist, ein Handlungsbegriff, ein Aktionsbegriff, der sich nur durch eine Nuance von jenem Geschichtsbegriff der Steigerwald’schen Interpretation unterscheidet, jedoch gewissermaßen substanziell ist. Von diesem Geschichtsbegriff aus muss man jene Vermittlungsmomente der Theorie mitinterpretieren, wenn nicht nur nachträglich die Vermittlung als die prädominante, gewissermaßen ontologisch bessere Kategorie vorgeordnet, sondern anerkannt wird, dass es auch keine Vermittlung ohne Unmittelbarkeit gibt, ohne das Zerreißen dieser Vermittlung, die sich eigentlich in jeder historischen Situation zeigt.

Ich möchte nun das theoretische Gerüst zu all dem kurz mit Benjamins »Geschichtsphilosophischen Thesen« erläutern. Dieser begreift Geschichte als eine mit Jetztzeit, mit Aktionspotenzial gegenwärtiger Emanzipationsbewegung geladene Vergangenheit, als etwas Unmittelbares, etwas Stilllegendes. Er führt als Beispiel an, in der französischen Julirevolution sei zufällig auf mehrere Turmuhren in Paris geschossen worden und dadurch seien auch im übertragenen Sinn die Uhren stehen geblieben, wie schon die große Französische Revolution einen neuen Kalender eingeführt habe. Es geht um das Stillhalten der Zeit im Augenblick der Aktion, ja um die Vernichtung der Vermittlungen, was sich nicht wesentlich von dem unterscheidet, was die Revolutionäre taten, als sie in den Winterpalais eindrangen, oder was in der Französischen Revolution passierte, nämlich die Zerstörung der Herrschaftssymbole, der Kultursymbole, der Abbruch von Kontinuität.

Was ist hier richtig und falsch? Richtig ist aus der Sicht des Theoretikers, dass sich objektiv ein Vermittlungsprozess vollzieht. Keine Generation, keine Klasse kann mit der Geschichte radikal brechen. Jede Klasse ist in dem Sinne auch Erbe und mit den »Muttermalen« der Gesellschaft behaftet, aus der sie kommt. Falsch wäre es hingegen, zu glauben, man könnte diesen Gedanken zu einem produktiven Element der Aktion selbst machen, das heißt, diesen Vermittlungsgedanken unverändert in die praktische Dimension übersetzen. Da würde er in der Tat dazu beitragen, dass die Vermittlung mit dem bestehenden Herrschaftssystem zur Ohnmachtsreaktion führt.

Jede handelnde Klasse muss also ihre Geschichte selbst und neu machen und zwar auf der Grundlage ihrer revolutionären Bedürfnisse. Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende und unterdrückte Klasse, sagt Benjamin. »Das Bewußtsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich. Die Große Revolution führte einen neuen Kalender ein.«13 Er sagt weiter: »Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet. So war für Robespierre das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte«,14 wie umgekehrt diese Vergangenheit ein Stück Jetztzeit, Gegenwart, werden muss, wenn diese Form geschichtlicher Aneignung mehr sein will als die Befriedigung rein intellektueller Bedürfnisse.

*Mit dieser Anrede begann Negt jede seiner Vorlesungen. Im Buch verzichten wir nachfolgend darauf.

Revolution der Denkungsart und Revolutionsangst bei Kant

Vorlesungen vom 25. und 31. Oktober 1974

Ich habe zunächst erläutert, dass es mir darauf ankommt, einen geschichtlichen Bezugsrahmen für die Neuaneignung jener philosophischen Theorien zu formulieren, die sich – beginnend mit Kant – auf das Bürgertum beziehen. Dieser Bezugsrahmen soll zu erkennen geben, in welcher Weise substanzielle Aneignungsprozesse von heute aus notwendig sind. Gleichzeitig kann es keineswegs darum gehen, die Klassizität dieser Philosophie unangetastet zu lassen. Vielmehr ist damit das Aufsprengen jenes klassizistischen Rahmens verbunden, in dem die Philosophie von Kant, Hegel sowie die Theorie von Marx stehen und von dem Brecht erläuterte, er führe nur zur Einschüchterung und nicht dazu, sich kritisch mit Schriften und Philosophien auseinanderzusetzen.15 Das setze Zugangsweisen zu diesen philosophischen Problemen voraus, die nicht von vornherein festgelegt sind.

Ich habe bereits angedeutet, dass es keine konstante, ein für alle Mal bestimmbare Beziehung zwischen den einzelnen Philosophien, zwischen der Theorie von Kant und jener von Hegel oder der Theorie von Hegel zu jener von Marx gibt. Wenn wir uns die dort angesprochenen gesellschaftlichen Probleme wirklich unter gegenwärtigen Voraussetzungen aneignen wollen, dann ist das nur in einer völlig neuen Weise möglich, die unseren eigenen geschichtlichen Bedingungen entspricht.16

Ich will gleich mit einem großen Sprung zu Kant einsetzen, nur zuvor noch den allgemeineren Verlauf skizzieren: Zunächst werde ich kurz das Problem von Geschichte und Diskontinuität bei Kant verhandeln, um anschließend zu dem Versuch zurückzukehren, meine Position der Aneignung und Neubestimmung des Marxismus genau darzulegen. Dabei geht es mir darum, nicht bloß die Reihenfolge Kant, Hegel, Marx, Freud im bestehenden Interpretationsrahmen der Marx’schen Theorie zu rekonstruieren, sondern diesen Interpretationsrahmen neu zu bestimmen. Es wird also die folgende zyklische Bewegung stattfinden: Ich werde nach einer kurzen Kantinterpretation versuchen, mein Aneignungsverständnis mit vorläufigen Fragestellungen an die Marx’sche Theorie und hauptsächlich an den späten Engels einzuleiten, um – im Vorgriff auf eine Aneignung der Theorien von Kant und Hegel – überhaupt Interpretationshinweise zu geben. All das wird gegen Ende auf eine Marxinterpretation in Verbindung mit einer Neubestimmung von Kant, Hegel und der nachmarxschen Theorie von Freud hinauslaufen.17 Dieser tastende oder tentative Zugang lässt zunächst noch Fragen offen, denen ich mich erst im weiteren Verlauf zuwenden werde. Für Diskussionen bleibt dazwischen immer wieder Raum.

Wenden wir uns nun einem ersten Problem bei Kant zu, das in der Schrift »Der Streit der Fakultäten« von 1797 enthalten ist. Es handelt sich um eine nachrevolutionäre Schrift in dem Sinne, dass sie nach der Französischen Revolution und nach der Beseitigung der Jakobinerherrschaft entstanden ist. Kant geht darin der Frage nach, ob es so etwas wie einen Fortschritt in der Geschichte geben kann – eine fortschreitende Entwicklung der Moral, ein Fortschritt in der gesellschaftlichen Organisierung und so weiter – und ob man solchen Fortschritt prognostizieren könne. Er formuliert im dritten Abschnitt »Einteilung des Begriffs von dem, was man für die Zukunft vorherwissen will«:

Der Fälle, die eine Vorhersagung enthalten können, sind drei. Das menschliche Geschlecht ist entweder im kontinuierlichen Rückgange zum Ärgeren, oder im beständigen Fortgange zum Besseren in seiner moralischen Bestimmung, oder im ewigen Stillstande auf der jetzigen Stufe seines sittlichen Werts unter den Gliedern der Schöpfung (mit welchem die ewige Umdrehung im Kreise um denselben Punkt einerlei ist). Die erste Behauptung kann man den moralischen Terrorismus, die zweite den Eudämonismus (der, das Ziel des Fortschreitens im weiten Prospekt gesehen, auch Chiliasmus genannt werden würde), die dritte aber den Abderitismus nennen: weil, da ein wahrer Stillstand im moralischen nicht möglich ist, ein beständig wechselndes Steigen, und eben so öfteres und tiefes Zurückfallen (gleichsam ein ewiges Schwanken) nichts mehr austrägt, als ob das Subjekt auf derselben Stelle und im Stillstande geblieben wäre.18

Dieses Problem skizziert Kant hier nicht, um es schon zu lösen, sondern um überhaupt ein Erkenntnisinteresse an der Frage, ob die Menschheit etwas wie Fortschritt, Rückschritt oder Stillstand kennzeichne, zu formulieren. Denn darin liegt etwas ganz und gar Nachrevolutionäres, das es nicht zu übersehen gilt: Für die Aufklärer Diderot (1713–1784), Condorcet (1743–1794) oder Voltaire (1694–1778) wären Fragestellungen dieser Art nicht denkbar gewesen, so selbstverständlich war für sie die Menschheit im Fortschritt begriffen, was in einer explosiven Bestätigung eben dieses Fortschritts kulminieren würde. Entsprechend gab es auch bei Voltaire und Diderot schon Hinweise auf die Notwendigkeit einer Revolution. Im Gegensatz zu diesem vorrevolutionären Pathos der Aufklärer findet bei Kant etwas geradezu Szientifisches statt: Nüchtern unterscheidet er formal drei Arten der möglichen Vorhersagen, um das Problem an sich vorzustellen, das zu lösen er dann angeht. Dabei hält er Prognosen allein auf der Basis von Erfahrungen zunächst nicht für zuverlässig:

Wenn das menschliche Geschlecht, im Ganzen betrachtet, eine noch so lange Zeit vorwärts gehend und im Fortschreiten begriffen gewesen zu sein befunden würde, so kann doch niemand dafür stehen, daß nun nicht gerade jetzt, vermöge der physischen Anlage unserer Gattung, die Epoche seines Rückganges eintrete; und umgekehrt, wenn es rücklings und, mit beschleunigtem Falle, zum Ärgeren geht, so darf man nicht verzagen, da nicht eben da der Umwendungspunkt (punctum flexus contrarii) anzutreffen wäre, wo, vermöge der moralischen Anlage in unserem Geschlecht, der Gang desselben sich wiederum zum Besseren wendete.19

Selbst wenn über Jahrtausende ein Fortschritt zu beobachten gewesen ist, besage das also noch gar nichts für die Zukunft, weil es eben jetzt auf derselben Erfahrungsebene rückwärts gehen könne. Schon hier fragt Kant nach der Möglichkeit, nach dem Prinzipiellen, dem Übergeschichtlichen, Apriorischen und danach, wie reine Vernunft eine solche Frage überhaupt beantworten kann. Und schon hier ist das Taumeln in der empirischen Erscheinungswelt für Kant keine angemessene Methode, um eine solch fundamentale Frage zu beantworten.

Im eben zitierten Passus findet sich darüber hinaus ein für Kant charakteristischer Begriff: die moralische Anlage des Menschengeschlechts, der Gattung. Diese moralische Anlage ist dabei etwas Potenzielles, etwas Mögliches, was sich keineswegs ausdrücken muss, was einmal nur unterstellt ist. Kant geht es zunächst lediglich darum, die Entfaltung der moralischen Anlage zweifelsfrei festzumachen, einen Fortschritt, der sich für ihn darin äußert, dass die moralische Anlage nicht bloße Potenz bleibt, eine immer gleichbleibende Energie, sondern etwas, das sich ausdrückt. Diese Frage der Potenzialität – das Vermögen, die moralische Anlage, das Erkenntnisvermögen, das Vermögen der theoretischen und der praktischen Vernunft und so weiter – hat Hegel einmal als Kants »Seelensack«20 bezeichnet. Gewissermaßen ist bei ihm die ganze Seele durch solche Abteilungen von Vermögen definiert, wobei es hier um ein Vermögen des moralischen Verhaltens und Denkens geht.

Eines gilt es noch vorauszuschicken: Kant war derjenige Theoretiker des deutschen Idealismus und derjenige in der bürgerlichen Philosophie, der die Französische Revolution am entschiedensten verteidigt hat. Wie, das wird noch zu zeigen sein, aber er hat nie an ihr gezweifelt wie viele der Romantiker, die in ihrer späteren Entwicklung zu Konterrevolutionären geworden sind, so zum Teil auch Hegel. Dessen Begeisterung reduzierte sich Berichten von Zeitgenossen zufolge am Ende darauf, dass er jedes Jahr am 14. Juli ein Glas Wein auf die Französische Revolution trank – immerhin, für einen deutschen Philosophen war schon das keine Kleinigkeit. Doch weiter mit Kant:

Es muß irgend eine Erfahrung im Menschengeschlechte vorkommen, die, als eine Begebenheit, auf eine Beschaffenheit und ein Vermögen desselben hinweiset, Ursache von dem Fortrücken desselben zum Besseren, und (da dieses die Tat eines mit Freiheit begabten Wesens sein soll) Urheber desselben zu sein; aus einer gegebenen Ursache aber läßt sich eine Begebenheit als Wirkung vorhersagen, wenn sich die Umstände eräugnen, welche dazu mitwirkend sind. Daß diese letztere sich aber irgend einmal eräugnen müssen, kann wie beim Kalkul der Wahrscheinlichkeit im Spiel, wohl im Allgemeinen vorhergesagt, aber nicht bestimmt werden, ob es sich in meinem Leben zutragen und ich die Erfahrung davon haben werde, die jene Vorhersagung bestätigte. – Also muß eine Begebenheit nachgesucht werden, welche auf das Dasein einer solchen Ursache und auch auf den Akt ihrer Kausalität im Menschengeschlechte unbestimmt in Ansehung der Zeit hinweise, und die auf das Fortschreiten zum Besseren, als unausbleibliche Folge, schließen ließe, welcher Schluß dann auch auf die Geschichte der vergangenen Zeit (daß es immer im Fortschritt gewesen sei) ausgedehnt werden könnte, doch so, daß jene Begebenheit nicht selbst als Ursache des letzteren, sondern nur als hindeutend, als Geschichtszeichen (signum rememorativum, demonstrativum, prognosticon), angesehen werden müsse, und so die Tendenz des menschlichen Geschlechts im ganzen, d. i., nicht nach den Individuen betrachtet (denn das würde eine nicht zu beendigende Aufzählung und Berechnung abgeben), sondern, wie es in Völkerschaften und Staaten geteilt auf Erden angetroffen wird, beweisen könnte. […] Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greueltaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie, zum zweitenmale unternehmend, glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde, – diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemütern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann.21

Es ist also im Grunde unmöglich, aus Erfahrung auf etwas zu schließen, was wie eine moralische Anlage erfahrungsunabhängig ist. Aber wenn wir einem geschichtlichen Ereignis mitfiebernd beiwohnen, gibt das immerhin einen Hinweis darauf, dass eine moralische Anlage des Menschen existiert. Diese zeigt sich nun merkwürdigerweise nicht in den Agierenden, in den Revolutionären selbst, sondern bei demjenigen, der in Berlin oder Königsberg sitzt und die Revolution betrachtet, das heißt, unmittelbar keine Interessen mir ihr verbindet, aber etwas dabei riskiert. Das, meint Kant, könne nur der Hinweis auf eine moralische Anlage sein, weil sich darin eine moralische Denkungsart ausdrücke und zwar nicht der Betroffenen, sondern derjenigen, die in der Revolution etwas erblicken, das in ihnen einen Enthusiasmus der Rechtsbehauptung auslöst.

Kant will vermeiden, diese moralische Anlage empirisch durch ein geschichtliches Ereignis, etwa die Französische Revolution, zu belegen, weshalb das Ereignis selbst zum Geschichtszeichen denaturiert. Nicht um das Ereignis, die Französische Revolution, die er sehr gut interpretiert und kennt, geht es ihm, sondern das Wichtige sind die Reaktionen auf dieses Ereignis. Diese Reaktionen aber können wiederum keine Handlungen, etwa revolutionäre Folgerungen sein. Kant wehrt sich explizit gegen dieses Missverständnis:

Es ist aber hiemit nicht gemeint, daß ein Volk, welches eine monarchische Konstitution hat, sich damit das Recht anmaße, ja auch nur in sich geheim den Wunsch hege, sie abgeändert zu wissen; denn seine vielleicht sehr verbreitete Lage in Europa kann ihm jene Verfassung als die einzige anempfehlen, bei der es sich zwischen mächtigen Nachbaren erhalten kann. Auch ist das Murren der Untertanen, nicht des Innern der Regierung halber, sondern des Benehmens derselben gegen Auswärtige, wenn sie diese etwa am Republikanisieren hinderte, gar kein Beweis der Unzufriedenheit des Volks mit seiner eigenen Verfassung, sondern vielmehr der Liebe für dieselbe, weil sie wider eigene Gefahr desto mehr gesichert ist, je mehr sich andere Völker republikanisieren. – Dennoch haben verleumderische Sykophanten, um sich wichtig zu machen, diese unschuldige Kannegießerei für Neuerungssucht, Jakobinerei und Rottierung, die dem Staat Gefahr drohe, auszugeben versucht: indessen daß auch nicht der mindeste Grund zu diesem Vorgeben da war, vornehmlich nicht in einem Lande, was vom Schauplatz der Revolution mehr als hundert Meilen entfernt war.22

Wir sehen hier eine revolutionäre Denkungsart ohne Revolution: Hier entsteht eine Theorie, die, glaube ich, als revolutionäre Theorie des Bürgertums zu bezeichnen ist und die alle Widersprüche unvermittelt stehen lässt, die sich in der bürgerlichen Gesellschaft zeigen.

Ich habe hier zunächst das Verhältnis zwischen Aktionszeit und Reflexionszeit problematisiert und mit einem Sprung in die Kantische Theorie behandelt. Bei diesem Problem des Revolutionsbegriffs und des Revolutionsverständnisses sowie des Kantischen Geschichtsbegriffs möchte ich noch einen Augenblick verweilen, bevor ich, wie angekündigt, den Bezugsrahmen diskutiere, in dem sich meine Kant-, Hegel- und Marxaneignung vollzieht. Diesen Rahmen liefert im Wesentlichen die Frage, inwieweit sich die Diskussion über den historisch substanziellen Gehalt der Marx’schen Theorie selbst verändern muss, damit eine Aneignung im heutigen Marxismus möglich wird.23 Es geht mir grundsätzlich darum, zu zeigen, dass jede Epoche und jede Klasse jene epochale Theorie sozialer Emanzipation, wie sie bei Marx vorliegt, umschreiben, das heißt neu konstituieren muss, wenn sie historisch wirksam werden soll. Die Marx’sche Gesellschaftstheorie muss also reformuliert werden, wenn sie Bezugsrahmen für die Aneignung der bürgerlichen Philosophie sein soll. Nur so bleibt der Bezugsrahmen der Marx’schen Theorie, so absurd es erscheinen mag, erhalten und werden nicht bestimmte Komplexe, Gebiete, Gegenstandsbereiche naturwüchsig ausgegliedert oder vernachlässigt. Ich habe bereits einige Beispiele genannt, etwa die Industriesoziologie, die angedeutet ist im »Kapital«, aber eigentlich liegen geblieben ist und deshalb von den bürgerlichen Wissenschaften okkupiert wurde. Das gilt auch für psychologische Ansätze, die es bei Marx in den Frühschriften gibt. Mit anderen Worten: Selbst wenn wir aktuell zu Kant übergehen, wird am Ende dieses Vorlesungszyklus wiederum der Versuch stehen, die Marx’sche Theorie unter neuen Voraussetzungen im Detail zu diskutieren. Was nun unmittelbar folgt, ist nichts weiter als der Versuch, Prinzipien dieser Neuaneignung zu formulieren.24

Doch worum geht es mir in diesem Zusammenhang bei Kant? Es geht um die Frage, ob nicht gerade in der Geschichtslosigkeit seines Geschichtsbegriffs und seines Revolutionsbegriffs, die geschichtliche Substanz des bürgerlichen Denkens zum Ausdruck kommt. Es geht um dieses prekäre Problem der Beziehung zwischen geschichtlicher Betrachtungsweise, geschichtlichen Ereignissen und geschichtlicher Substanz. Nun zeigt sich bei Kant im »Streit der Fakultäten«, zumal im für uns wesentlichen Streit zwischen der philosophischen und der juristischen Fakultät, in jeder Hinsicht die prägnanteste widersprüchliche Beziehung, die es im bürgerlichen Denken zu diesem Problem gibt.

Es geht Kant in diesem Text, wie wir gesehen haben, zentral um die Frage: Gibt es einen Fortschritt der Menschen – nicht wie bei Hegel im Bewusstsein der Freiheit, sondern eher im Bewusstsein der Weiterentwicklung seiner moralischen Qualität? Um diese Frage zu beantworten, begibt Kant sich auf die Suche nach einem Ereignis, das empirisch feststellbar, also erfahrbar ist und dessen genaue Analyse nicht nur auf die Existenz einer moralischen Anlage, sondern sogar mit Vorbehalten auf ihre mögliche Weiterentwicklung schließen lässt. Kant kommt – nicht explizit, aber doch klar bezogen auf die Französische Revolution – zu dem Schluss: Wir können nicht empirisch feststellen, ob sich die moralische Anlage weiterentwickelt, aber wir können immerhin ein »Geschichtszeichen«, einen Hinweis, einen Wink der Geschichte auf diese moralische Anlage suchen.

Warum sagt Kant nicht einfach: Das ist die Französische Revolution, und in ihr zeigt sich eine Rechtsbehauptung des Volkes, wie er es an anderer Stelle nennt? Warum spricht er von einem »Geschichtszeichen«? Damit macht er klar, dass dieses Zeichen nicht die Ursache für, sondern nur ein Hinweis auf die Weiterentwicklung ist. Er erklärt das weiter:

Diese Begebenheit besteht nicht etwa in wichtigen, von Menschen verrichteten Taten oder Untaten, wodurch, was groß war, unter Menschen klein oder, was klein war, groß gemacht wird, und wie gleich als durch Zauberei alte, glänzende Staatsgebäude verschwinden, und andere an deren Statt, wie aus den Tiefen der Erde, hervorkommen. Nein: nichts von allem dem. Es ist bloß die Denkungsart der Zuschauer, welche sich bei diesem Spiele großer Umwandlungen öffentlich verrät und eine so allgemeine und doch uneigennützige Teilnehmung der Spielenden auf einer Seite, gegen die auf der andern, selbst mit Gefahr, diese Parteilichkeit könne ihnen sehr nachtheilig werden, dennoch laut werden läßt, so aber (der Allgemeinheit wegen) einen Charakter des Menschengeschlechts im ganzen, und zugleich (der Uneigennützigkeit wegen) einen moralischen Charakter desselben, wenigstens in der Anlage, beweiset, der das Fortschreiten zum Besseren nicht allein hoffen läßt, sondern selbst schon ein solcher ist, so weit das Vermögen desselben für jetzt zureicht.25

Bei Kant deutet, wie wir bereits gesehen haben, auf die moralische Anlage nicht die Denkungsart der Revolutionäre hin, weil bei ihnen eigennützige Interessen im Spiel sein können, sondern nur der Enthusiasmus derjenigen, die dem Ereignis ohne unmittelbare eigene Beteiligung und ohne eigene Interessen lediglich beiwohnen. Es ist also nicht wie in der Ästhetik von Kant ein interesseloses Wohlgefallen an bestimmten Produkten, sondern ein interesseloses Verhalten gegenüber der Revolution, das auf eine moralische Grundlage seitens der Betrachter schließen lässt. Mit anderen Worten, Kant möchte eine Veränderung der revolutionären Denkungsart, eine Veränderung der Denkungsart ohne Revolution. Am liebsten wäre ihm ein Geschichtszeichen, das nicht mit Gräueltaten und Elend verbunden ist. Er möchte gewissermaßen die Revolutionierung der Denkungsart – nicht des Denkens, sondern der Art, wie sich reales Verhalten gegenüber anderen Menschen angeeignet wird – ohne revolutionäre Umwälzung.

Damit werden zunächst Prozesse, die äußerlich in der Geschichte ablaufen, in geschichtslose Formen transponiert. In dieser revolutionären Denkungsart schlägt sich das nieder, was einen Anstoß braucht, um sich zu entwickeln. Es geht um eine bestimmte verinnerlichte Form der Anschauung und des Denkens, des moralischen Verhaltens und so weiter, eben um eine Denkungsart. Das Zweite ist, dass diese Denkungsart von Bildungsprozessen gekennzeichnet ist und nicht durch äußerliches Handeln zustande kommt, denn keine einzige Handlung, weder eine zufällige noch eine Interessen geleitete, beweist ein moralisches Verhalten. Nur die Gesinnung oder die Maxime des Handelns macht Moralität und damit auch Fortschritt in der Moralität aus. Das bedeutet, dass sich hier der Begriff des revolutionären Ereignisses in die Subjekte schlägt, zu einer Angelegenheit von Subjekten wird, aber nicht von Individuen, sondern von Kollektiven: Es sind Völkerschaften und Staaten verteilt auf der Erde, die einen solchen Prozess durchlaufen.

Diese Denkungsart aktualisiert das Gesetz der Menschheit in der Person, denn sie bezieht sich auf das, was Kant mit Menschheit und mit dem Allgemeinen bezeichnet. Was sich hier, so Kant, herausbildet angesichts der Französischen Revolution ist der Citoyen, der allgemeine Bürger, der sich im Grunde von materiellen Interessen emanzipiert hat und nur das Interesse der Menschheit vertritt. Worin zeigt sich das am deutlichsten? Er nimmt Gefahren auf sich für Dinge, von denen er nach Kant nicht profitiert. Das heißt, er spricht diese revolutionäre Denkungsart in einzelnen Dingen aus und riskiert damit Amt und Würden, riskiert damit, dass die Menschen ihn als einen Revolutionär ansehen. Warum macht er das? Kant ist überzeugt, dass ein Mensch nur etwas riskiert entweder aus materiellen Interessen, also Interessen des Bourgeois, oder wenn er die Menschheit vertritt. Dieser Dualismus zwischen Interessen und Moralität ist damit ein für alle Mal zementiert: Ein Mensch, der Interessen vertritt, vertritt nicht die Würde. Alles was einen Preis hat, hat keine Würde, und die Würde definiert sich dadurch, dass sie nicht austauschbar ist. Die absolute Unaustauschbarkeit der Würde ist das, was sie mit Interessen unvereinbar macht. Die absolute Unaustauschbarkeit der revolutionären Denkungsart ist das, was sie vom Bourgeois-Interesse absetzt. Diese Unaustauschbarkeit hat immer zur Grundlage die direkte Beziehung zur Menschheit, zu dem, was man mit dem Begriff der Menschheit und dem Begriff von Emanzipation verbindet.

Der Begriff der Revolution und der Geschichte als einem geschichtslosen Prozess bezieht sich bei Kant auf eine Form von Affekten, die keine mehr sind. Wenn man so will, transponiert er alle realen materiellen Bewegungsmomente in eine allgemeine Innerlichkeit. Nicht nur die empirische Revolution wird zur Revolution der Denkungsart, sondern auch die Affekte werden zu allgemeinen Affekten.

Dies also und die Teilnehmung am Guten mit Affekt, der Enthusiasm, ob er zwar, weil aller Affekt als ein solcher Tadel verdient, nicht ganz zu billigen ist, gibt doch vermittelst dieser Geschichte zu der, für die Anthropologie wichtigen Bemerkung Anlaß: daß wahrer Enthusiasm nur immer aufs Idealische und zwar rein Moralische geht, dergleichen der Rechtsbegriff ist, und nicht auf den Eigennutz gepfropft werden kann.26

Wir sehen auch hier eine Transposition von Empirischem – Gefühle, Affekte sind etwas Erfahrbares – in eine Dimension, die etwas Allgemeines ist. Kant versucht eigentlich immer, Geschichtliches und Materielles in Allgemeines zu transponieren. Das ergibt natürlich eine spezifische Widersprüchlichkeit: Wie er sich eine revolutionäre Denkungsart ohne Revolution vorstellt, imaginiert er Affekte ohne Gefühle. Was hier Affekt ist, ist das Allgemeinste von Gefühlen, ist eigentlich eine rein allgemeine Beziehung zum Idealischen, was immer das heißen mag, jedenfalls eine Beziehung, die frei ist von der Zufälligkeit der Gefühle, von Glück, Wohlwollen, Wohlstand und so weiter. Die Teilnahme am Guten, das enthusiastische Zuschauen bei der Revolution als dem Guten, ist eigentlich ohne Gefühle nicht zu denken, aber anderenfalls würde sich darin wieder etwas Zufälliges ausdrücken, etwas Empirisches, Vergängliches, Nicht-Allgemeines. Deshalb ist diese Transposition von etwas Empirischem in Affekte ein wichtiger Mechanismus, um die Revolution ins Subjekt zu transponieren. Kant führt das weiter aus:

Durch Geldbelohnungen konnten die Gegner der Revolutionierenden zu dem Eifer und der Seelengröße nicht gespannt werden [die konterrevolutionären Heere, die Paris eingrenzten, konnten durch Geld und Belohnung und die Antreiberei von Offizieren nicht zur Seelengröße gespannt werden, Anm. Negt], den der bloße Rechtsbegriff in ihnen hervorbrachte, und selbst der Ehrbegriff des alten kriegerischen Adels [ein Analogon des Enthusiasm, Anm. d. Ver.] verschwand vor den Waffen derer, welche das Recht des Volks, wozu sie gehörten, ins Auge gefaßt hatten, und sich als Beschützer desselben dachten; mit welcher Exaltation das äußere, zuschauende Publikum dann, ohne die mindeste Absicht der Mitwirkung, sympathisierte.27

Hier argumentiert Kant wirklich filigran und in mehrfacher Hinsicht äußerst komplex. Immer wieder betont er, dass er in den eigentlich Mitwirkenden nicht das Subjekt erblickt. Allerdings lässt sich mit der Aktivität der Sympathisanten nicht erklären, warum sich die Revolution gegenüber den Konterrevolutionären halten konnte, was nur durch die Aktivität von Revolutionären selbst gelang, die doch dem alten Ehrbegriff nicht viel abgewinnen konnten. Kant erläutert: Was einst der kriegerische Adel mit seinem Ehrbegriff als einem Allgemeinen, Verpflichtenden versucht hat, habe hier die reine Form bewirkt, nämlich die reine Rechtsbehauptung, das Recht als ein Allgemeines, ein Recht der Menschheit und der Menschlichkeit. Die Rechtsbehauptung ist es, die den Enthusiasmus erzeugt.

Was aber bedeutet Rechtsbehauptung hier? Es bedeutet, dass sich die Menschen, unabhängig von allen partikularen Interessen, direkt auf das Allgemeine beziehen, auf das, was alle verbindet, was für alle verbindlich ist, was formal ist. Die Form macht gewissermaßen die Kraft aus: Bloße Rechtsbehauptung kann also einen Enthusiasmus bewirken, der – völlig unangesehen der eigenen Interessen – dem Volk bestimmt, sich selbst zu befreien.

Diese Revolution abzüglich der empirischen Revolution drückt sich noch in einem weiteren prekären Punkt bei Kant aus. Er spricht auf der einen Seite von Revolution, von der Revolution eines geistreichen Volkes, und an einer anderen Stelle in der »Kritik der reinen Vernunft« von einer revolutionären Denkungsart. Er gebraucht dabei den Begriff der Revolution sehr präzise für die Umstülpung der gesamten Verhältnisse, und gleichwohl sagt er, diese Revolution sei nichts weiter als die »Evolution einer naturrechtlichen Verfassung«.

Diese Begebenheit ist das Phänomen nicht einer Revolution, sondern (wie es Hr. Erhard ausdrückt) der Evolution einer naturrechtlichen Verfassung, die zwar nur unter wilden Kämpfen noch nicht selbst errungen wird – indem der Krieg von innen und außen alle bisher bestandene statutarische zerstört [statutarisch bedeutet das traditionelle Naturrecht, im Unterschied zum rationalen, modernen Naturrecht, Anm. Negt], die aber doch dahin führt, zu einer Verfassung hinzustreben, welche nicht kriegssüchtig sein kann, nämlich der republikanischen; die es entweder selbst der Staatsform nach sein mag, oder auch nur nach der Regierungsart.28

Diese naturrechtliche Verfassung zeichnet sich gegenüber allen bisherigen dadurch aus, dass sie friedlich ist, ihrem Sinngehalt nach auf das Allgemeine verpflichtet, also nicht auf das Partikulare, antagonistisch Kämpfende. Diese per se friedliche Verfassung, wie Kant sie erstrebt, verbietet den Angriffskrieg. Ein wesentliches Element der Kantischen Sichtweise auf die Französische Revolution ist die Tatsache, dass sie Angriffskriege verbiete, diese jedenfalls nicht nötig habe, während für alle feudalen Systeme der Angriffskrieg ein wesentliches Merkmal oder jedenfalls nicht grundsätzlich abgeschafft sei. Darauf, dass in der republikanischen Verfassung der Angriffskrieg, wenn auch nicht empirisch, so doch grundsätzlich aufgrund allgemeiner Regeln abgeschafft ist, kommt es ihm an. Selbstverständlich gibt es Kriege, aber sie sollten nicht sein und sind unter republikanischer Verfassung nicht legitimierbar:

Nun behaupte ich dem Menschengeschlechte, nach den Aspekten und Vorzeichen, unserer Tage die Erreichung dieses Zwecks und hiemit zugleich das von da an nicht mehr gänzlich rückgängig werdende Fortschreiten desselben zum Besseren, auch ohne Sehergeist, vorhersagen zu können. Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte [hier kommt wieder das ungeheure Pathos Kants zum Ausdruck, was die Französische Revolution betrifft, Anm. Negt] vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Laufe der Dinge herausgeklügelt hätte, und welches allein Natur und Freiheit, nach inneren Rechtsprinzipien im Menschengeschlechte vereinigt, aber, was die Zeit betrifft, nur als unbestimmt und Begebenheit aus Zufall verheißen konnte.29

Ich möchte noch einmal die widersprüchlichen Gesichtspunkte kurz zusammenfassen, die sich in dieser Konzeption von Revolution ausdrücken. Kant ist aus systematischen Gründen nicht imstande, einen geschichtlichen Beweis aus der Erfahrung dafür zu gewinnen, dass das Menschengeschlecht im Fortschritt begriffen ist, denn alles empirische Wissen bedarf ja der Vernunftprinzipien und der allgemeinen Grundsätze des transzendentalen Verstandes, um Allgemeines werden zu können. Gleichwohl ist für Kant ein Abderitismus unmöglich, dieses Schwanken der moralischen Grundlage auf ein und derselben Ebene, wäre die moralische Grundlage dann doch eine rein anthropologische Angelegenheit, die sich dem Potenzial nach nicht verändert. Seine »Kritik der praktischen Vernunft« und die »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« waren noch rein auf dieser Grundlage konstruiert, dass die moralische Anlage heute genauso wie vor tausend und zehntausend Jahren gleichgeblieben sei, dass sich gar keine Veränderung vollziehe. Diese Konstanz der moralischen Anlage kann Kant jedoch in einer Zeit, da Umbrüche größten Ausmaßes erfolgen, nicht mehr aufrechterhalten. Inzwischen beginnt eine Erosion des allgemeinen preußischen Landrechts, auch die neuen Rechtskodifikationen beginnen, erste Kritik an den Offenbarungsreligionen wird laut und so weiter. Es werden dogmatische Systeme gestürzt, und nicht nur das: Es werden ganze Staaten durch Revolutionsheere umgekrempelt, die auch nach außen dringen. In diesem Umwälzungsprozess muss Kant zwar die Vorstellung der Unveränderlichkeit aufgeben, allerdings ist er nur imstande, einen vermittelten Hinweis darauf zu geben, wenn man so will, theologisch zu deuten, was sich vollzieht. Es ist ein Fitzel empirischer Realität, ein Teilchen, ein Fanal, ein Hinweis, an dem er zeigen kann, dass doch etwas wie eine Besserung der Menschheit im Moralischen stattfindet. Aber es ist für ihn in dieser Periode nur möglich, das nachzuvollziehen, was sich auch geschichtlich ereignet hat. Die empirische Revolution, die in Frankreich ein wirkliches Ereignis war, wird in Deutschland zu einem virtuellen Ereignis, zu einem Bildungserlebnis. Was später Hegel in der »Phänomenologie des Geistes« sagt, der Geist aus der Unruhe der französischen Gesellschaft gehe im Bereich der Bildung in die deutsche über,30 das ist bei Kant genau und viel widersprüchlicher ohne irgendwelche Vermittlungsebenen ausgedrückt.

Diese Konstruktion von empirischen und nicht-empirischen, subjektiven und objektiven Elementen hat natürlich für Kant auch eine Absicherungsfunktion. Alle Philosophen sind sehr kluge Leute gewesen, was die Einschätzung ihrer Machtsituation anbetraf. Meistens haben sie schon Jahre vorausgesehen, was auf sie zukam, und ihre Schriften vorzeitig mit Loyalitätserklärungen versehen. Das gilt auch für Kant, der ein besonders geschickter Taktiker gewesen ist. Die anfechtbarsten Schriften hat er dem königlichen Hause gewidmet, was ihm nicht immer geholfen, aber immerhin zu einem Stillhalteabkommen geführt hat. Kant sagt jetzt: Wenn es revolutionäre Denkungsart gibt, die eine Besserung der moralischen Anlage bezeugt, warum sollte sie sich nicht verbreiten und nicht auch andernorts einen ähnlich massenhaften Charakter annehmen können wie in Frankreich? Doch Kant sieht auch die ungeheuren Gefahren, die darin bestehen, dieses Ereignis der Französischen Revolution in Deutschland oder Königsberg zu feiern, deshalb unterstreicht er, es gehe gar nicht darum, dass die Völker ihre Souveräne beseitigen, sondern es führe im Gegenteil zu einer besonderen Loyalität. Kant sagt:

[…] daß diejenige Verfassung eines Volks allein an sich rechtlich und moralisch-gut sei, welche ihrer Natur nach so beschaffen ist, den Angriffskrieg nach Grundsätzen zu meiden, welche keine andere als die republikanische Verfassung, wenigstens der Idee nach, sein kann, mithin in die Bedingung einzutreten, wodurch der Krieg (der Quell aller Übel und Verderbnis der Sitten) abgehalten, und so dem Menschengeschlechte, bei aller seiner Gebrechlichkeit der Fortschritt zum Besseren negativ gesichert wird, im Fortschreiten wenigstens nicht gestört zu werden.31

Es folgt jener bereits zitierte Passus, in dem Kant erklärt, dass das »Murren der Untertanen« vor allem dann laut werde, wenn die Regierung »Auswärtige […] am Republikanisieren« hindere, worin sich nur des Volkes Liebe zur eigenen Verfassung artikuliere.32 Und je mehr sich andere Völker »republikanisieren«, desto sicherer könne sich das Volk fühlen. Damit sagt Kant im Grunde nichts anderes, als dass alle Völker republikanisch werden sollen außer Preußen. Dann nämlich könne man sich, weil es keinen Angriffskrieg mehr gebe, auch in Preußen sicher fühlen. Diese Ambivalenz des Volkes – ich werde da noch im Einzelnen darauf zusprechen kommen, was darunter zu verstehen ist – beinhaltet ganz Verschiedenes, aber nicht, was bei Hegel anklingt, den Pöbel. Das Volk ist hier ein Souverän der Idee oder den Grundsätzen, nicht aber den Handlungen nach. Um sich selbst zu salvieren, fügt Kant an, »verleumderische Sykophanten« hätten versucht, das Murren »für Neuerungssucht, Jakobinerei und Rottierung […] auszugeben«, wofür es aber, zumal »hundert Meilen« vom »Schauplatz der Revolution« entfernt, keinerlei Grund gebe.

Kant versucht, alle empirischen Bestandteile herauszulösen aus der Veränderung der Denkungsart, deren Notwendigkeit sich bestätigt hat. Er negiert im Grunde, dass die Folgen, selbst jene einer Transposition der objektiven Revolution in die Denkungsart, durch Verbreitung in einem anderen Volk gefährlich werden könnten. Selbst diesen empirischen Rest, dass andere Folgerungen aus dieser Philosophie ziehen, muss Kant entfernen, damit so etwas wie ein Allgemeines gelten kann. Nun bedeutet das keineswegs bei Kant, im Übrigen auch nicht bei Hegel, eine schlichte äußerliche Anpassung an die Verhältnisse. Worauf ich hinaus will bei dieser Kantinterpretation ist vielmehr, dass die Produktion der Philosophie in Preußen darauf hinauslief, die empirische Seite hinauslösen zu müssen, was sich als ein Zwiespalt durch die ganze Kantische Philosophie zieht. Ob man nun den empirischen und intelligiblen Charakter nimmt, ob man die Rechtsbehauptung und die Affekte nimmt – die dichotome Struktur dieser Philosophie produziert solche Mechanismen, weil mit der Bestätigung der Revolution gleichzeitig eine chronische und fundamentale Revolutionsangst mitgesetzt ist als wichtiger Bestandteil des bürgerlichen Denkens. Wahrscheinlich entspringt dieser Revolutionsangst überhaupt die philosophische Produktivität in diesen Systemen.

Natur und Revolution – Kants Geschichtsphilosophie

Vorlesung vom 1. November 1974

Wer sich mit Kants Geschichtsbegriff und seinem Begriff der bürgerlichen Revolution befasst, muss sich gleichzeitig auch mit seinem Begriff von Natur beschäftigen. Das geschichtliche Interpretieren von geschichtlichen Ereignissen der Gegenwart ist nicht nur bei Kant, sondern insgesamt in der bürgerlichen Gesellschaft der revolutionären und unmittelbar nachrevolutionären Periode immer gebunden an eine bestimmte, sehr differenzierte Vorstellung von Natur. Wir wollen hier jedoch nicht jenen Naturbegriff behandeln, wie er sich in der »Kritik der reinen Vernunft« findet. Dort ist Natur sehr abstrakt als das Dasein der Dinge unter Gesetzen definiert. Ebenso wenig geht es um jene Vorstellung von Natur, die mit dem Geniebegriff in der »Kritik der Urteilskraft« verbunden ist. Es geht vielmehr um den Naturbegriff in den geschichtsphilosophischen Arbeiten von Kant, und dieser lässt sich nach verschiedenen Gesichtspunkten aufgliedern.

Er bezeichnet zum einen eine anthropologische Dimension, zum anderen das, was später bei Marx »naturwüchsig« heißt.33 Darüber hinaus bezeichnet er schlicht geografische Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, also Natur in einem unmittelbaren Sinn, und schließlich das, was im Begriff ›Naturrecht‹ enthalten ist, also eine Vorstellung der Natur, die bei der gesamten Naturrechtslehre des Bürgertums eher das meint, was gerade nicht Natur ist. Eigentlich ist dieses Naturrecht ein Vernunftrecht, und es wird noch zu fragen sein, warum es gleichwohl als Naturrecht bezeichnet wird.

Für Kant hat die Französische Revolution einen elementaren Charakter, man kann fast sagen, sie ist für ihn ein Naturereignis und nicht etwas, das sich Individuen ausgedacht haben. Damit ist sie von den Vorstellungen der Konterrevolutionäre weit entfernt, die mutmaßen, es zögen bei Revolutionen nicht anders als bei einem Putsch schlicht einige Leute irgendwie die Fäden. Sie sind überzeugt, dass Revolutionen grundsätzlich dieselbe Struktur wie konterrevolutionäre Gewalt aufweisen und zu unterdrücken seien mit Manipulationen, Bestechungen, brutaler Gewalt, Bespitzelungen etc. Entsprechend, glauben sie, verlaufe auch der revolutionäre Prozess auf derselben Ebene manipulierter Gewalt. Eine solche Form der Revolution kann es bei Kant jedoch nicht geben: Revolution ist bei ihm ein elementares geschichtliches Ereignis, einbezogen in eine Vielzahl von materiellen und geistigen Konstellationen und nicht auf die Absicht Einzelner oder bestimmter Gruppen zurückzuführen. Revolution ist bei Kant ein Entwicklungsprozess, weshalb er sagt, die Revolution des geistreichen französischen Volkes sei die Evolution einer naturrechtlichen Verfassung, eine Entwicklung, ein Prozess, der bestimmte geschichtliche Knotenpunkte habe, in denen Konstellationen zusammentreffen. Planungsabsicht komme bei diesem Prozess nur insofern zum Ausdruck, als er eventuell einem Plan der Natur folgt.

Diese Vorstellung von Revolution ist nicht ganz neu, worauf auch Karl Griewank hinweist.34 Auch er hat den neuzeitlichen Revolutionsbegriff als einen naturwüchsig durchsetzten interpretiert, bei dem nicht mehr die Vorstellung eines irgendwie planvollen Unternehmens vorherrscht, sondern sich eine Gesamtkonstellation der Kräfte ergibt. Der einzige Revolutionsbegriff im strengen Sinne ist demnach der neuzeitliche. Denn die Verwendung des Begriffs ›Revolution‹ tritt keineswegs erst mit dem rationalen Naturrecht auf, wovon zum Beispiel Kopernikus Hauptschrift »De revolutionibus orbium coelestium« (1543) zeugt. Bei ihm geht es um einen ganz anderen Zusammenhang, um die geordnete Bewegung der Gestirne und damit um etwas, das sich in einem berechenbaren und prognostizierbaren Zusammenhang bewegt. Gleichwohl ist in diesem Revolutionsbegriff ein Moment von Objektivität enthalten. Es geht nicht um eine willkürliche Anordnung gesellschaftlicher Objekte, sondern um einen Prozess, für dessen Zustandekommen alle Bestandteile wesentlich sind.

Was Kopernikus innerhalb der Astronomie bezeichnet, findet vielfache Übertragungen und Transpositionen in den gesellschaftlichen Begriff von Revolution, wie er sich dann in den rationalen Naturrechtslehren beginnend mit Puffendorf, Grotius, Locke und Hobbes abspielt. Auch bei ihnen ist Revolution ein Ereignis, eine bestimmte Konstellation von Ereignissen, wobei sie Revolution noch als die Wiederherstellung einer Ordnung begriffen, die zuvor gestört oder zerstört war. John Locke (1632–1704) liefert dafür ein besonders gutes Beispiel, doch die ersten bürgerlichen rationalen Naturrechtslehren gingen alle darauf hinaus, eine gestörte Ordnung wiederherzustellen. Entsprechend begründeten sie Revolution auch als die Wiederherstellung einer alten Satzung und alter Gesetze, so etwa in den Debatten über den Abfall der Niederlande von der spanischen Krone. Zerstörungsprozesse, die im späten Mittelalter eingesetzt haben, etwa Enteignungsprozesse, sehen sie als die gesellschaftliche Grundlage an, von der aus altes Recht wiederherzustellen sei. Damit will diese Form des rationalen Naturrechts paradoxerweise vornaturrechtliche Zustände herstellen. Darin ist ein Moment des Konservativismus miteinbezogen.

Kants Revolutionsbegriff hingegen bezieht sich nicht auf die Wiederherstellung einer wie auch immer gearteten gestörten Ordnung, sondern auf die Etablierung eines Systems von Vertragsrechten. Grundlage dafür ist der Gesellschaftsvertrag, den die Menschen ursprünglich geschlossen haben, nicht als ein historisches Faktum, sondern als ein mit ihrer Vernunft verbundenes Postulat. Das heißt, die Vertragslehren werden von Kant nicht zurückbezogen auf irgendwelche Verträge, die empirisch geschlossen wurden, sondern es gehört zum Gemeinwesen und zur republikanischen Verfassung dazu, dass hier ein ursprünglicher Gesellschaftsvertrag geschlossen wurde. Damit ist das Naturrecht ein Vertragsnaturrecht, ein rationales Naturrecht, das die Unabhängigkeit der einzelnen Rechtspersonen unterstellt.

Gehen wir noch etwas weiter in dieser Bestimmung des elementaren objektiven oder naturwüchsigen Charakters. Sie kennen vielleicht jenen Ausspruch, der Marie Antoinette zugeschrieben wird, historisch nicht verbürgt, aber sachlich völlig zutreffend, als sie vor dem Fenster steht und sich mit den abgehalfterten Ministern unterhält. Was sich vor ihren Augen auf der Straße abspielt, ist keine vorübergehende Revolte, sondern eine elementare Revolution, ein Ereignis, gegen das man nichts machen kann. In allen Bestimmungen Kants ist etwas von dieser Unabänderlichkeit enthalten: Man mag dagegen sein und moralisch urteilen, ein wohldenkender Mensch mag sich auch vor einer Wiederholung fürchten, doch diese Sache ist fortan der Erinnerung der Menschheit eingeschrieben und verliert sich genauso wenig wieder aus ihrem Bewusstsein wie eine Naturkatastrophe, es sei denn durch Verdrängung.

Die Staatsweisheit wird sich also in dem Zustande, worin die Dinge jetzt sind Reformen dem Ideal des öffentlichen Rechts angemessen zur Pflicht machen; Revolutionen aber, wo sie die Natur von selbst herbei führt, nicht zur Beschönigung einer noch größeren Unterdrückung, sondern als Ruf der Natur benutzen, eine auf Freiheitsprinzipien gegründete gesetzliche Verfassung, als die einzige dauerhafte, durch gründliche Reform zu Stande zu bringen.35

Mit anderen Worten bedeutet das: Wo Revolution stattfindet, kann man nichts machen, weil sie ein »Ruf der Natur ist«. Aber wohldenkende Staatsmänner, die gesehen haben, wie elementar sie sich Bahn bricht, um Vernunft durchzusetzen, werden sich sehr wohl überlegen, ob sie diesen Prozess nicht kompensieren, ausgleichen, ihm gar vorgreifen können, indem sie dasselbe auf dem Wege von Reformen durchsetzen. Wenn sich die Natur auch