Werkausgabe Bd. 19 / Philosophie des aufrechten Gangs - Oskar Negt - E-Book

Werkausgabe Bd. 19 / Philosophie des aufrechten Gangs E-Book

Oskar Negt

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Beschreibung

Was sollen unsere Kinder lernen? Wie sollen sie lernen? Und wo? Schulen sind die entscheidenden Vermittlungsinstitutionen der Generationen, ihnen kommt im europäischen Einigungsprozess eine entscheidende Rolle zu – aber sie sind in einem erbarmungswürdigen Zustand. Mit Blick auf die Umbrüche und Krisen der Gegenwart erweitert Oskar Negt den Horizont, in dem über Lernen und Bildung nachzudenken ist. Erziehung ist für Negt immer auch Erziehung zu Mündigkeit, Freiheit und Selbstbestimmung. Dem betriebswirtschaftlichen Diktat, dem sich die Bildungsinstitutionen zunehmend fügen und dessen Ziel der allseitig verfügbare, 'marktkonforme' Mensch ist, setzt Negt ein Reformmodell angstfreien Lernens entgegen. Kritische Urteilskraft soll erworben, Kreativität und Eigensinn ermöglicht werden. Denn die Schule ist nicht nur für die fachliche Qualifikation der Schüler verantwortlich, sondern auch für ihre Ausstattung mit Kompetenz und Orientierung. Als Kinderstube der Demokratie muss sie einen zentralen Beitrag leisten zum Erlernen des aufrechten Gangs – in Deutschland und in Europa.

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Oskar Negt: Schriften

Oskar Negt

Philosophie des aufrechten Gangs

… für die Allgewalt der Natur, oder vielmehr ihrer uns unerreichbaren obersten Ursache, ist der Mensch wiederum nur eine Kleinigkeit. Dass ihn aber auch die Herrscher von seiner eigenen Gattung dafür nehmen, und als eine solche behandeln, indem sie ihn teils tierisch, als bloßes Werkzeug ihrer Absichten, belasten, teils in ihren Streitigkeiten gegeneinander aufstellen, um sie schlachten zu lassen – das ist keine Kleinigkeit, sondern Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung selbst.

Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten, 2. Abschnitt, 1798

Sokrates hat als Erster die Philosophie vom Himmel heruntergerufen, sie in den Städten angesiedelt, sie sogar in die Häuser hineingeführt und sie gezwungen, nach dem Leben, den Sitten und dem Guten und Schlechten zu forschen.

Marcus T. Cicero: Gespräche in Tusculum, 45 v. Chr.

Inhaltsverzeichnis
Vorrede
1. Das Gehäuse der Hörigkeit aufsprengen
2. Zum gegenwärtigen Orientierungs­notstand
3. Das gebrochene Verhältnis von Bildung und Lernen
4. Europa als Lernprojekt – Die Schule als Kinderstube der Demokratie in einer Zeit der Bindungs- und Ortlosigkeit
5. Von Erlöser­kindern, Wunder­kindern und unbeschriebenen Blättern – Zum Verhältnis von Natur und Vernunft in der Erziehung
6. Die Glocksee-Schule – Konstellationen einer geglückten Schulgründung
7. Woran erkennt man eine Schule, in der die Schüler sich wohlfühlen? Über das schulische Klima und eine kindgemäße Architektur
8. Umdefinition und Erweiterung des Leistungsbegriffs, gesell­schaftlicher Funktionswandel der Kulturtechniken
9. Schulversuch und Regelschule – Zur Frage der Übertragbarkeit
10. PISA-Studien und Alternativschulprojekte als Schrittmacher europäischer Lernprozesse?
11. Wieder ungelöst: Die soziale Frage im Bildungssystem
12. Die Legitimationslast der Gesamtschule
13. Falsche Polarisierungen – Zum Verhältnis von natürlicher Anlage und Erziehung
14. Schule als Institution – Bewahren und erneuern
15. Wie soll es weitergehen? – Zukunftsgedanken
Anmerkungen
Editorische Notiz
Impressum

Vorrede

Empört euch!, so heißt eine Schrift, die in den letzten Jahren vielfache spontane Zustimmung fand. Ein ehemaliger französischer Widerstandskämpfer hat sie verfasst – kraftvoll in der Aufforderung, endlich mit der Gleichgültigkeit und dem geduldigen Einverständnis gegenüber den als drückend, ja unerträglich empfundenen Verhältnissen zu brechen. Stéphane Hessel, der Autor, erklärt: „Dem ‚Ohne-mich-Typen‘ ist eines der absolut konstitutiven Merkmale des Menschen abhanden gekommen: die Fähigkeit zur Empörung und damit zum Engagement. (…) Den jungen Menschen sage ich: Seht euch um, dann werdet ihr Themen finden, für die Empörung sich lohnt.“ [1] – So ist es! Die Schule ist ein solches Thema, das der Empörung und der Bearbeitung würdig ist. Sie ist Hauptgegenstand dieses philosophischen Essays.

Schulen sind die entscheidenden Vermittlungsinstitutionen der Generationen; im europäischen Einigungsprozess kommt ihnen eine bestimmende Funktion zu. Aber sie sind, nicht nur in Deutschland, in einem erbarmungswürdigen Zustand. Jeder weiß das. Die meisten der unmittelbar Betroffenen – Kinder und Jugendliche, Eltern und Lehrer, verzweifelte Erzieher – machen sich ihre höchst privaten Gedanken über die Schuldigen. Hin und wieder werden gesellschaftliche Ursachen dingfest gemacht. Wer sich auf geschichtlichen Pfaden bewegt und im Horizont des „Werteverfalls“ zu denken gewohnt ist, wärmt gerne den „Sündenfall“ der antiautoritären Erziehung auf: Sie habe einen Stein ins Rollen gebracht, der auch durch pädagogische Sisyphusarbeit nie wieder über den Berg bewegt werden könne. Diese Erklärung scheint vor allem denjenigen einen ruhigen Schlaf zu bescheren, für die Reformprojekte stets mit Zersetzung und Rückschritt verbunden sind. Aber solche Erklärungen sind lediglich geeignet, den Blick auf die gesellschaftlichen Strukturen zu verstellen und günstige Ausgangspositionen für politische Beutezüge zu schaffen, die innerstaatliche Feinderklärungen erleichtern.

Wir leben in einer Welt der Umbrüche. Ganze Staatensysteme, Imperien haben sich aufgelöst, ohne dass es dafür eines Krieges bedurft hätte; längst als überholt betrachtete ethnische Rivalitäten, ja archaische Stammesfehden, sind bis ins Zentrum Europas vorgerückt; das System der Erwerbsarbeit ist offensichtlich an eine Grenze gestoßen, die mit herkömmlichen Mitteln der Marktökonomie nicht überschritten werden kann. Wenn es nun diesen Objektüberhang an veränderten Verhältnissen epochalen Ausmaßes gibt, wo sind dann die Versuchsfelder, die ein freies und phantasievolles Erproben von Antworten auf diese geschichtlichen Umwälzungen ermöglichen?

Man wird sie nicht finden. Bereits eine Spurensuche erzeugt Verlegenheit; an sich müsste unter solchen Bedingungen der Horizont der Phantasie, in dem über neue Formen des Lernens und der Bildung nachgedacht wird, sich sehr weit öffnen. Davon kann gegenwärtig jedoch keine Rede sein. Nimmt man das vorherrschende öffentliche Interesse zur Grundlage, in dem Geldmittel verfügbar gemacht und Strategien erwogen werden, um marode und betrügerisch handelnde Banken vor dem Krisendesaster zu retten, erfasst einen das bedrückende Gefühl, Mitbewohner eines Irrenhauses zu sein. Da wird über sogenannte Schutzschirme in Milliardenhöhe innerhalb von Stunden in regierungsamtlichen Nachtsitzungen entschieden; nie zuvor in der Weltgeschichte ist mit Geld, das aus kollektiver Wertschöpfung stammt, so leichtfertig und demonstrativ betrügerisch hantiert worden.

Das hat freilich eine offenbar nicht einkalkulierte, positive Unterseite: Es wird schwieriger, Reformprogramme, im Sozialen und der Bildung, die uns vor den Folgen eines auf Dauer beschädigten Gemeinwesens bewahren könnten, mit dem Argument abzulehnen, es sei nun eben nicht genug Geld für solche Reformen, an Haupt und Gliedern, verfügbar. Das ist eine glatte Lüge.

2012 ist der Europäischen Union, die durch eine schwere Krise erschüttert ist, der Friedensnobelpreis zuerkannt worden. Wofür? Zunächst für einen ganz einfachen Tatbestand: Seit über sechzig Jahren hat es in Zentraleuropa, einem Schlachtfeld nicht nur zweier Weltkriege, sondern auch dynastischer Erbfolgekonflikte und blutiger Kabinettskriege der vorherigen Jahrhunderte, keinen Krieg mehr gegeben. Das allein wäre zweifellos schon Grund genug, diesen Preis einem einzigartigen Vereinigungsprojekt zu widmen. Meine Generation hat noch mit einem Kindheitsjahrzehnt das Elend des Krieges erfahren; und wer unbeschadet überlebt hat, wird nicht frei sein von wiederholt aufkommenden Gefühlen der Dankbarkeit. Dem aufmerksam-kritischen Zeitgenossen vermittelt die Verleihung des Nobelpreises in dieser angespannten Situation in Europa aber auch die Mahnung, mehr dafür zu tun, dass die Friedensfähigkeit dieses Kontinents erhalten bleibt und die dafür notwendigen Fundamente gesichert werden.

Betrachtet man ein in der Grundstimmung friedfertiges und solidarisch vereinigtes Europa als Arbeitsprodukt eines kollektiven Lernprozesses, dann wird man den Blick darauf lenken müssen herauszufinden, was die einzelnen Völker dieses Europas mit ihren Jahrhunderte währenden kulturellen Prägungen in das gesellschaftliche Ganze Europas einzubringen bereit sind und was ihnen das an Verzichtsleistungen etwa auf einzelstaatliche Souveränität wert ist. Denn es wird nicht ausreichen, die Souveränitätsermächtigung der Nationalstaaten aus der Rechtskultur des Westfälischen Friedens einzuschränken und den zentralen europäischen Institutionen mehr Macht zu übertragen. Vielmehr wird es sich als notwendig erweisen, Lernprozesse zwischen den Völkern anzuregen und zu fördern, die weniger auf Entwertung der eigenen nationalen Traditionen beruhen als darauf, was sie an spezifischen Errungenschaften als Lernprozesse anderen anzubieten haben – und worauf sie auch stolz sein können. Wie weit sind solche kollektiven Lernprozesse den einzelnen Kulturnationen zumutbar?

Es kann keine politische Hauptaufgabe der europäischen Zentralbehörden sein, DIN-Vorschriften in allen gesellschaftlichen Bereichen oder eine Entsprechung der Abiturnoten durchzusetzen und unter dem Diktat betriebswirtschaftlicher Rationalisierungen die Vergleichbarkeit der Verhältnisse zu überwachen. Wenn die Völker voneinander lernen und ihre Neugier, über touristische Begegnungen hinausgehend, auf die jeweilige Andersartigkeit und den spezifischen Eigensinn der Lebensweise und der Denkstrukturen gerichtet ist, dann ist damit eine konkrete Arbeitsplattform für alle hergestellt, die sich als Europäer verstehen und in ihrem Kampf um Anerkennung nicht mehr die Entwertung und Herabstufung der anderen benötigen.

In der gegenwärtigen Finanz- und Bankenkrise ist deutlich erkennbar, wie fest verwurzelt alte nationale Vorurteile in einer Öffentlichkeitsschicht sind, in der viel Energie darauf verwendet wird, die offizielle Politikersprache „wertfrei“ zu halten und die Vor-Urteile in die Privatsphäre zu verbannen. Schnell sind Banken- und Haushaltsprobleme in vermeintlich anthropologische Konstanten rassistischer oder ethnographischer Herkunft transformiert und einem ganzen Volk, wie den Griechen oder den Italienern, Eigenschaften als „Volkscharakter“ angeheftet. Schon treten Philosophen ins Licht der Öffentlichkeit, die eine Zweiteilung Europas nach Prinzipien der leichten oder schweren Lebensweise ins Auge fassen.

Wenn Europa ein kollektives Arbeitsprojekt ist – und davon bin ich zutiefst überzeugt –, dann wäre es jedoch ein Irrtum, die Erziehungs- und Bildungssysteme durch Akte der Formalisierung (wie im Falle der Angleichung der Rechtsverhältnisse) auf einen Nenner zurechtschustern zu wollen. Der sogenannte Bologna-Prozess mit seinen betriebswirtschaftlich verkürzten Lernkonzepten ist das Urpseudos einer im gestohlenen Mantel der Reform daherkommenden Politik der Rationalisierung der Bildungs- und Lernsysteme auf dem Niveau kurzfristiger Aneignungstechniken, die den komplexen Anforderungen der modernen Welt immer weniger gewachsen sind. Europa wird, bei allen Identitätsbemühungen, ein Europa der Regionen bleiben. Der Reichtum der europäischen Bildungslandschaft wird deshalb auf der Vielfältigkeit der Lern- und Kulturansätze beruhen.

Wie Deutschland auch glänzen mag, mit avancierter Maschinenbautechnik und erfolgreichen Industriestandorten, mit gewaltigen Exportüberschüssen und vernünftiger Haushaltsführung – darin steckt absolut nichts, was andere Völker von diesem Land lernen könnten und was imstande wäre, ihren Ehrgeiz anzustacheln, so zu werden, so zu handeln wie die Deutschen. Sie werden dieses Überlegenheitsgebaren eher als eine neue Form imperialer Demütigung aufnehmen. Das alles wird also keinen Lernprozess auslösen. Es ist aber nicht auszuschließen, dass andere Völker bereit wären, in Prozessen sich verändernder Bildungslandschaften auf deutsche Kultur sich einzulassen; in keinem anderen Land gibt es einen derartigen Reflexionsüberhang, was das Spektrum des Ideenvorrats betrifft. Auch das in Deutschland erprobte duale Berufsbildungssystem kann als ein europäisches Modellprojekt betrachtet werden. Gemeinsam mit den nordischen Ländern, mit Finnland, Norwegen, Schweden, Dänemark, ist in Deutschland über Lernprozesse und die Erwachsenendidaktik intensiv nachgedacht worden. Deutschland bietet Überlegungen zu Kindertagesstätten, Schulversuche, eine Konzeption der Universität, in der Lehre und Forschung miteinander verzahnt sind. Vieles davon ist zweifellos gefährdet, bedarf des Schutzes und der Verteidigung, auch des öffentlichen Einklagens unerledigter Versprechen. Die Mühe, neue Ansätze in der Erziehung und der Bildung zu erproben, war gewiss auch Resultat einer Aufarbeitung der Vergangenheit, die verspätet einsetzte, dann aber eine Intensität und ein Ausmaß gewann, die in der jüngeren Geschichte Europas einzigartig sind.

Adornos programmatische Formulierung, alle Erziehung und Bildung müsse das Ziel haben, Bedingungen herzustellen, unter denen Auschwitz sich nicht wiederhole, hat er in seinem Spätwerk Negative Dialektik noch einmal bekräftigt und dabei den kategorischen Imperativ Kants ins Spiel gebracht: „Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: Ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole.“ [2] Erziehungs- und Bildungsfragen an Normen der Mündigkeit und der Würde zu binden, bedeutet für Adorno gleichzeitig, jene Kälte zu überwinden, die das „Grundprinzip bürgerlicher Subjektivität“ [3] ausmacht und ohne deren bestimmenden Einfluss Auschwitz nicht möglich gewesen wäre. Auch Blochs Philosophie der Hoffnung gehört in diesen Zusammenhang der geschichtlichen Aufarbeitung.

Dass in Deutschland aufgrund seiner unglaublichen Geschichtsverbrechen Erziehung und Bildung einen anderen Rang haben als in anderen Zivilgesellschaften, mindert nicht deren Wahrheitsanspruch; in manchen Zusammenhängen hat sogar diese Herausforderung einen höheren Reflexionsstand zur Folge gehabt als in anderen Ländern, die Opfer der Verbrechen waren. Das in Europa selbstbewusst einzubringen, wäre keineswegs ein Akt des demonstrativen Hochmuts, sondern einer Wiedergutmachung eigener Art, welche die im Namen Deutschlands begangenen Verbrechen nicht ungeschehen machen kann, aber durch tätige Erinnerung den Opfern die Treue hält. Demokratie als Lebensform ist ohne entfaltete Erinnerungskultur auf Dauer nicht haltbar.

Der europäische Gesellschaftsentwurf ruht auf drei Säulen: Rechtsstaat, Sozialstaat und Demokratie. Für das demokratische Gefüge einer Gesellschaft ist die Art der Bildung, des Lernens, von existenzieller Bedeutung, denn Demokratie ist die einzige staatlich organisierte Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss, nicht ein für allemal, indem man sich ein paar Regeln zurechtlegt, sondern alltäglich und auf jeder Altersstufe. Die drei Säulen sind freilich gleichwertig; wer eine beschädigt, gefährdet auch die Tragfähigkeit der übrigen.

Die vorliegende Schrift, die auf meine Rede zum vierzigjährigen Jubiläum der Glocksee-Schule am 17.Oktober 2012 zurückgeht, entspringt dem Erfahrungszusammenhang einer konkreten Schulgründung, an der ich aktiv beteiligt war. Die Stellung als „Gründungsvater“ dieser Schule kompliziert die Analyse: Das Buch ist nicht beschränkt auf eine Beschreibung der Konzeption der Glocksee-Schule; aber diese bleibt der rote Faden meines Essays. Er bietet deshalb eine sehr persönliche und subjektive Sicht der Dinge; ich kann nicht verhehlen, dass mir dieses Projekt über gut ein Jahrzehnt mehr am Herzen lag als meine akademische Tätigkeit in der Universität und die wissenschaftlichen Schreibarbeiten. Ursprünglich als Schulversuch angelegt, hat dieses Experiment Glocksee-Schule im Laufe von vierzig Jahren fortwährende Erweiterungen erfahren – und das völlig unabhängig von den parteipolitisch wechselnden Landesregierungen und den veränderten Konstellationen des Zeitgeistes und der Zeitgenossen. Das Versuchsprojekt hat heute den Status einer gesetzlich abgesicherten einzügigen Gesamtschule mit etwa 220 Kindern und Jugendlichen – es ist die einzige komplett staatlich finanzierte Alternativschule Deutschlands.

Der Antrag an die Bund-Länder-Kommission, die das wissenschaftliche Begleitprogramm des Schulprojekts später finanzierte, formulierte den Forschungsauftrag, genauer zu klären, wie sich die Beziehungen zwischen Aggressionen, Selbstregulierung und Lernmotivation gestalten, wenn das schulische Klima durch einen hohen Grad an Freiheit der Kinder und Jugendlichen bestimmt ist. Gut zehn Jahre habe ich diese wissenschaftliche Begleitung geleitet; was ich über Kindheit und Schule konkret zu sagen habe, verdanke ich (neben den eigenen vier Kindern) wesentlich diesen jahrelangen, stets auf spezifische Konfliktsituationen rückbezogenen Reflexionen, in die allerdings viel lebendige Arbeitskraft und soziologische Phantasie von Lehrerinnen und Lehrern, Eltern und Wissenschaftlern eingegangen sind. [4]

Was ich hier als ein Reformmodell angstfreien Lernens vorstelle, ist in der Grundanlage ein Versuch; dem entsprechen die Maßverhältnisse, die ein Gelingen oder Scheitern möglich machen, ohne dass damit eine strategische Gesamtlinie festgelegt würde. Der Wahrheitsgehalt eines Versuchs entscheidet wesentlich darüber, ob er wiederholt wird oder der Vergessenheit anheimfällt. An einem Beispiel aus der Geschichte der Philosophie, dem tragischen Scheitern des Staatsentwurfs Platos, hat Ludwig Marcuse erörtert, was es mit solchen Gesellschaftsexperimenten auf sich hat und warum sie immer wieder auftauchen: „Dass er [Plato] die Tat nicht vollbracht hat, sagt nichts aus über das Ziel seiner Versuche. (…) Das Erbauliche an seinem Leben ist nicht, was er erreicht hat, sondern was er versucht hat. Das Traurige an unserer Zeit ist aber nicht, was sie nicht erreicht, sondern was sie nicht versucht. Im Versuchen aber liegt der echte Idealismus.“ [5] Auf solchen Versuchen beruht die menschliche Entwicklung zum Besseren.

Ein einzelner Schulversuch in Europa wird nicht viel verändern. Die Mächtigen dieser Welt werden sich nicht beunruhigt fühlen. Tausende solcher „Versuche“ aber, die sich miteinander verbinden, können durchaus zur grundlegenden Veränderung der europäischen Bildungslandschaft beitragen. Eine demokratische Gesellschaftsordnung lebt von der Hoffnung, dass der Versuchsgeist nicht erlahmt.

Soll die Schule nicht zu einer Selektionsinstitution herabsinken, in der die gesellschaftliche Polarisierung fortgesetzt und zementiert wird und die Kinder möglichst frühzeitig nach künftigen Gewinnern und potenziellen Verlierern sortiert werden, dann muss sie aus dem bestehenden Herrschaftsgefüge herausgebrochen und zu einem wahrhaft menschlichen Erfahrungsraum werden.

Das klingt reichlich pathetisch, soll aber den Blick darauf wenden, dass all unsere Besorgnis um ökonomische Standortfragen, um Konjunktur und Arbeitsplätze nur dann zu nachhaltigen Krisenlösungen führt, wenn das alles von Sorgfalt und pfleglichem Umgang mit den Menschen, den Dingen und der Natur getragen ist. Es ist nicht auszuschließen, dass uns die wirkliche Bildungskatastrophe noch bevorsteht. Wissen und Empörung sind die zwei Energiequellen, aus denen sich Veränderungen speisen; aber sie reichen nicht aus – immer weniger, wenn es um die fest gefügten Institutionen geht, die Bestandteil der Legitimation der herrschenden Ordnung sind. Wenn es heute milliardenschwere Bürgschaften für Staatshaushalte und Banken gibt, dagegen keinerlei kollektive Bürgschaft und keine Rettungsschirme für Kultur und Bildung, dann ist das Ausdruck bewusster Entscheidungen eines Herrschaftssystems, das auf Bewahrung der alten Privilegienstrukturen bedacht ist. Man soll aufhören, für diese Politik der gesellschaftlichen Spaltung Sachgesetzlichkeiten ins Spiel zu bringen und diese noch zusätzlich als alternativlos zu proklamieren. Öffentliche Armut und räuberische Akkumulation privaten Reichtums gehören zusammen. Der Verschleierung dieser Verbindung ist die auf betriebswirtschaftliche Zweckrationalität reduzierte Vernunft stets hilfreich gewesen.

Hannover, im Herbst 2013, Oskar Negt

1. Das Gehäuse der Hörigkeit aufsprengen

Beginnen wir mit dem, was in seiner ideologischen Form am schwersten durchschaubar ist: die zur Zweckrationalität geschrumpfte Vernunft. Die pestartig verbreitete, gleichsam auf dem Wege der Kontamination zur Ideologie verfestigte betriebswirtschaftliche Mentalität, die das Denken in Kategorien des Wohlfahrtstaates und der langfristigen Entwicklung des Gemeinwesens aufgezehrt hat, zerstört dort, wo sie zur alles beherrschenden Form des Handelns und des Wahrnehmungshorizontes geworden ist, die eigensinnige Zeitstruktur kultureller Ausdrucksformen. In den begrenzten Bereichen der Einzelunternehmen ist rationale Haushaltsführung sinnvoller Ausdruck sparsamer Mittelverwendung. Die Blickrichtung ist eindeutig. In den als unumgängliches Schicksal diagnostizierten Rationalisierungsprozessen der Moderne hat Max Weber die Zweckrationalität als jenen Idealtypus der Erkenntnisorientierung bezeichnet, der dem modernen Menschen als plausibelster Verstehensmodus erscheint; er kann Sachverhalte am besten begreifen, wenn verfügbare Mittel auf möglichst rationale Weise Zwecken zugeordnet werden. Die betriebswirtschaftliche Denkweise hat, ist sie von allen übrigen Wertorientierungen abgelöst, eine eigentümliche Überzeugungskraft, ob es sich nun um Fiskalpakte, staatliche Haushalte oder die Budgets von Schulen oder Familien handelt. Es ist deshalb von Nutzen, zur Erklärung der Situation der Schule einige Argumentationsumwege zu gehen. Denn macht man die Faszination des Rationalen, die von dieser betriebswirtschaftlichen Kalkulation ausgeht, nicht begreifbar, dann wird man auch die totalisierende Ausdehnung dieser Denkweise in einer Zeit, die durch Bindungsverluste gekennzeichnet ist, nur schwer begreifen.

Kein Soziologe oder Philosoph des 20.Jahrhunderts hat sich auf die Entschlüsselung eines Zentralbegriffs der modernen Welt, nämlich den der Rationalisierung, mit solcher Emphase, ja Erkenntnisleidenschaft eingelassen wie Max Weber. Seine das soziale Verhalten deutende und verstehende Soziologie rückt die Kategorie der Rationalisierung geradezu ins Zentrum seiner wissenschaftlichen Bemühungen. Max Weber sagt: „Diese Rationalisierung zu erklären und die ihr entsprechenden Begriffe zu bilden, ist daher eine Hauptaufgabe unserer Disziplin.“ [6] Zwar ist auch Rationalisierung eingebunden in sinnverstehendes soziales Handeln, aber Max Weber, dieser entschiedene Entzauberer der Mythen, scheut sich doch nicht, den Prozess fortschreitender Rationalisierung zur unabwendbaren Schicksalsmacht der modernen Gesellschaften aufzuwerten. Die prägnantesten Metaphern, die sich in den Schriften Max Webers finden, drehen sich überwiegend um diesen schicksalhaften Prozess und um die Resultate: „mechanisierte Versteinerung“, „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“; selbst die innerweltliche Askese und der asketische Sparzwang drücken nichts wirklich Menschenfreundliches aus.

Natürlich ist diese Rationalisierung getragen von technischer Entwicklung, von der sparsamsten Mittelverwendung für gegebene Zwecke. Aber alles, was die technische Mittelverwendung im Sinne der Rationalisierung ausmacht, würde nicht ausreichen, die Rationalisierungspotenziale mit einer überwältigenden, die Menschen in Hörigkeitsverhältnisse zwingenden Macht auszustatten. Worin besteht also diese Macht, gegen die sie nichts ausrichten können? Warum ist Rationalisierung für Max Weber der Kernbegriff seiner Zeitdiagnose? Die verstehende Soziologie hat die Aufgabe, soziale Sinnbezüge zwischenmenschlichen Handelns zu deuten und zu begreifen. Für Menschen der vorbürgerlichen Welt mögen Sinnbezüge, die sich an emotionalen, traditionalen oder affektuellen Werten orientieren, einfacher zu verstehen gewesen sein als alle Rationalitätsbeziehungen.

Natürlich sind die kulturellen Zeitstimmungen und kollektiven Gefühlslagen mit beteiligt, wenn es um das Problem des Verstehens geht; sinnverstehende Soziologie beschränkt sich nicht auf die Herstellung von Kausalitätsbeziehungen zwischen sozialen Tatbeständen und sozial handelnden Menschen. Sie hat es mit Deutungen zu tun, die immer über die Einzeltatbestände hinausweisen. Max Weber ist auf der Suche nach jenem Beziehungstypus, der dem modernen Menschen am plausibelsten, am leichtesten verstehbar erscheint. Zwar kann man auch ein soziales Verhalten verstehen (deutend erfassen), das sich an Traditionen oder religiösen Werten orientiert; in vorkapitalistischen Kulturzuständen mit Zeitbegriffen, die nach spezifischen Rhythmen differenziert sind und lineare Zeitreihen nur selten erkennen lassen, würde die Evidenz des alltäglich Plausiblen, des Verstehbaren gänzlich eingebunden sein in spezifische Vorgänge. Jener Reichtum an Zeitmaßen der Sinnorientierung wird beim Prediger Salomo (Kohelet, Kapitel 3) beschrieben. Da heißt es: „Ein Jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: Geborenwerden hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit; Pflanzen hat seine Zeit, Ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; Töten hat seine Zeit, Heilen hat seine Zeit; Abbrechen hat seine Zeit, Bauen hat seine Zeit; Weinen hat seine Zeit, Lachen hat seine Zeit, Klagen hat seine Zeit, Tanzen hat seine Zeit; (…) Suchen hat seine Zeit, Verlieren hat seine Zeit; Behalten hat seine Zeit, Wegwerfen hat seine Zeit.“

Salomo zufolge haben die Vorgänge und Ereignisse je spezifische Zeitmaße; verstehbar wäre für Salomo nur, wenn diese spezifischen Zeitrhythmen für jeweils ganz verschiedene Vorgänge Beachtung fänden. Alle diese differenzierten Zeitrhythmen auf eine Zeit zu reduzieren, zum Beispiel auf die betriebswirtschaftlicher Zweckrationalität, wäre den Menschen dieser Kulturen unverständlich gewesen.

In der modernen Lebensordnung spielen jedoch Rationalisierungsprozesse, in der Produktion und im privatwirtschaftlichen Haushalt ebenso wie in den Verwaltungsapparaten, eine zentrale Rolle. Es ist dieses Milieu, aus dem Max Weber die Legitimationsgründe gewinnt, um einen Idealtypus zu konstruieren, der Abstandmessungen davon bis hin zu sinnfremden Vorgängen erlaubt. „Die Konstruktion eines streng zweckrationalen Handelns (…) dient in diesen Fällen der Soziologie, seiner evidenten Verständlichkeit und seiner – an der Rationalität haftenden – Eindeutigkeit wegen, als Typus (‚Idealtypus‘) und das reale, durch Irrationalitäten aller Art (Affekte, Irrtümer) beeinflusste Handeln ist als ‚Abweichung‘ von dem bei rein rationalem Verhalten zu gewärtigenden Verlaufe zu verstehen.“ [7] Um das Zweckirrationale abschätzen zu können, bedarf es der Zweckrationalität als Idealtypus.

Max Weber ist sich dessen bewusst, dass es dabei um eine isolierende Abstraktion geht, um die ideelle Vereinseitigung von Aspekten der Dinge; die Realwelt sozial handelnder Menschen besteht aus Mischungen von Gefühlen, Denkweisen und wechselnden Orientierungen an bestimmten Werten. Gleichwohl ist die Faszination der hohen Plausibilität von Zweckrationalität ein Kernbestandteil einer Ideologie, die das im zweckrationalen Zusammenhang enthaltene Geflecht von rationalen und irrationalen Einstellungen verschleiert. Niemand kann sich dem entziehen. Auch Menschen, die ihr Handeln wertrational begründen, also aus dem Eigensinn bestimmter Werte heraus, können das Überzeugende und Plausible der zweckrationalen Vernunft kaum bestreiten. Max Weber wiederholt unentwegt, und es klingt wie ein Mantra: „Das Höchstmaß an ‚Evidenz‘ besitzt nun die zweckrationale Deutung. Zweckrationales Sichverhalten soll ein solches heißen, welches ausschließlich orientiert ist an (subjektiv) als adäquat vorgestellten Mitteln für (subjektiv) eindeutig erfasste Zwecke.“ [8] Für den Erkenntnisprozess bedeutet es, dass gerade der Idealtypus des Zweckrationalen notwendig ist, um das Irrationale erkennen zu können. So argumentiert Max Weber.

Es wäre jedoch verfehlt, wollte man ihm unterstellen, eine durch und durch rationalisierte Welt der Lebensstile und der durchsichtigen Verhältnisse seien für ihn Ausdruck gewachsener Freiheit und ein Fortschritt im aufklärerischen Sinne. Ganz das Gegenteil ist der Fall: Vom Unentrinnbaren verselbstständigter Bürokratien spricht er, vergleicht den modernen Menschen mit den Fellachen Ägyptens und diagnostiziert eine Entwicklungslinie, die am Ende im „Gehäuse der Hörigkeit“ mündet.

Ich habe mich auf den Idealtypus Zweckrationalität, wie ihn Max Weber definiert, bezogen, um eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse zu beschreiben, die auch Erziehung und Bildung betrifft. Was Max Weber unter hermeneutischen Gesichtspunkten zur deutenden Erfassung gesellschaftlicher Tendenzen methodisch fixiert, ist heute Realität geworden. Das zweckrationale Denken, diese halbierte Vernunft, die in der Zweck-Mittel-Beziehung steckt, ist eine Symbiose eingegangen mit der Betriebswirtschaft, die sich als Leitwissenschaft zunehmend Ansehensmacht verschafft hat.

Dass sich Rationalisierung als Schicksal mit dessen Unentrinnbarkeit auf die Menschen setzen könnte, sodass diese unumgehbare Macht einen Verhaltens- und Geisteszustand generierte, den Max Weber treffend als „Pazifismus der sozialen Ohnmacht“ [9] bezeichnet – dass sich diese überwältigende Macht der Rationalisierung in Produktionsprozessen des Warenverkehrs und der Staatsbürokratien niederschlägt, war für Max Weber eine Art empirisches Apriori, ein erfahrungsunabhängiger Grundsatz, der keines besonderen Beweises bedurfte.

Ich will die zeitdiagnostische Problematik der Max Weber’schen verstehenden Soziologie hier nicht weiterführen; der für meinen Argumentationszusammenhang entscheidende Punkt ist der, dass der Idealtypus der Zweckrationalität in den mannigfachen betriebswirtschaftlichen Ausdrucksformen heute auch praktisch alle Kulturbereiche erfasst hat und zum Bewegungszentrum einer kompakten Ideologie geworden ist. Jetzt gilt nicht mehr der Spruch Salomos, dass alles seine Zeit habe, sondern die neue Parole lautet: Alles hat eine Zeit, nämlich die zweckrational-betriebswirtschaftlich organisierte.