Politische Texte eines deutschen Europäers - Gerd Eisenbeiß - E-Book

Politische Texte eines deutschen Europäers E-Book

Gerd Eisenbeiß

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Beschreibung

Ein politiknahes Berufs-Leben in Wissenschaft und Forschungsmanagement reizte immer wieder, aktuelle Vorgänge und Probleme der Politik zu durchdenken und in Form kleiner Aufsätze zu behandeln. Manche dieser Texte sind in der Form fiktiver 'Briefe an einen Freund' verfasst, andere als Essays oder Beobachtungen. Frühere Analysen dieser Art wurden bereits mit der ISBN 9781311160317 veröffentlicht bei www.smashwords.com. Die hier vorgelegten Texte sind ganz überwiegend 2016 entstanden, einige wenige auch schon zuvor; sie sind innerhalb der thematischen Blöcke ungefähr nach dem Datum der Erstellung geordnet, die neuesten als erste.

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Seitenzahl: 155

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Inhalt

Vorwort

1. Politik

Welt der Zukunft - Ordnung oder Haifischbecken?

Bereinigungsbedarf in der Staatenwelt

Das unverdaute Erbe des Tribalismus

Menschenrechte in Gefahr

Wenn ich Erdogan wäre, …

Falsche Fragen, falsche Antworten.

Terror, Islam und Diktatoren

Russland rettet Assad, retten wir das Leben Syriens!

Was passiert gerade in Deutschland?

Keine Stabilität ohne Vertrauen

Was die Politik von der Physik lernen könnte.

Waffenhandel 2014

Freiheit

Dreißigjähriger Krieg in Arabien

2. Europa

BREXIT-Spekulationen

BREXIT-Referendum und nun?

EU-Empörung

Europa – (m)ein Traum

BREXIT

3. Flüchtlinge

Klärungsbedarf bei AFD und CSU

Fluchtursachen II

Fluchtursachen

Brauchen wir ein Einwanderungsgesetz?

Flüchtlingsströme - Welche Alternativen haben wir?

4. Wirtschaft, Soziales und Nachhaltigkeit

Soziale Erbschaftssteuer

Armut

Bedingungsloses Einkommen?

Schulden und Renten

Kernenergie, Politik und Gesellschaft

Big Data - Neue Chancen, neue Irrwege?

Ernährung – mehr für die Bauern!

Stellen wir die Systemfrage

5. Parteien und Wahlen

Überhangmandate

Landtagswahlen 2016

Die Programmatik der AFD

Politischer Kannibalismus

Ein Gespenst geht um in Europa – „illiberalen Demokratie“.

6.Der Autor

Impressum

Vorwort

Ein politiknahes Berufs-Leben in Wissenschaft und Forschungsmanagement reizte immer wieder, aktuelle Vorgänge und Probleme der Politik zu durchdenken und in Form kleiner Aufsätze zu behandeln. Manche dieser Texte sind in der Form fiktiver „Briefe an einen Freund“ verfasst, andere als Essays oder Beobachtungen. Frühere Analysen dieser Art wurden bereits mit der ISBN 9781311160317 veröffentlicht bei www.smashwords.com.

Die hier vorgelegten Texte sind ganz überwiegend 2016 entstanden, einige wenige auch schon zuvor; sie sind innerhalb der thematischen Blöcke ungefähr nach dem Datum der Erstellung geordnet – die neuesten als erste.

Für diejenigen, die kleine Kinder oder Enkel haben, gibt es „Jonathan“, ein Kinderbuch für 4 bis 8 Jährige und Erwachsene, die selbst gern Geschichten erzählen. Es ist als e-book erhältlich bei www.smashwords.com, ISBN 9781311272287. Bis Weihnachten 2016 lasse ich ein weiteres Kinderbuch „Zaubergeschichten mit Max und Emil“ für meine Enkel und andere Kinder drucken. Es ist bei mir erhältlich.

1. Politik

Welt der Zukunft - Ordnung oder Haifischbecken?

Von Gerd Eisenbeiß, 30. September 2016

Die Staatenordnung

In letzter Zeit ist es wieder interessant geworden, über die Weltordnung nachzudenken. In den Jahrzehnten seit dem 2. Weltkrieg schien zunächst alles durch die bipolare Rivalität zwischen den USA für den „Westen“ und der UdSSR für den kommunistischen Machtbereich geprägt. Alle anderen Staaten richteten sich in diesem Magnetfeld aus oder pendelten um eigener Vorteile willen.

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion schien alles auf eine unipolare Weltordnung durch die einzig verbliebene Weltmacht USA hinauszulaufen, zumal der russische Rumpf des Sowjetreiches im Chaos versank.

Allmählich aber dämmerte es dem siegreichen Westen, dass dies nur ein kurzer Zwischenzustand war; denn es kamen neue Mächte auf, die wesentlich mitspielen konnten, insbesondere China, Indien und bald wieder Russland unter der autokratischen skrupellosen Herrschaft Putins.

Meinte man lange Zeit, alle Staaten hätten sich als Mitglieder der Vereinten Nationen zur Erklärung allgemeiner Menschenrechte bekannt, musste man in den allerletzten Jahrzehnten wahrnehmen, dass Menschenrechte nicht nur verdeckt missachtet werden, sondern sogar geächtet, in China sogar ihre Erwähnung unter Strafe gestellt wurde.

Sah man unter der Hegemonie der USA eine stetige Expansion von Demokratie, Freiheit und Völkerrecht, z.B. den Sturz zahlloser Diktaturen insbesondere in Lateinamerika, begann nach 2000 ein schleichender Prozess der Renationalisierung durch autoritäre Führer oder Oppositionsgruppen sogar innerhalb der EU (Front National, Orbans Fidesz).

Zudem entwickelten sich innerhalb der islamischen Welt eine immer aggressivere Intoleranz und eine weltweite Verbreitung religiös motivierten Terrorismus, der zuvor nur an wenigen Brennpunkten (Israel/Palästina, Afghanistan, Pakistan/Indien) virulent gewesen war. Zudem ist es einigen Staaten gelungen, sich Atomwaffen zu besorgen, darunter Pakistan, einem Staat, der weder gegen eine islamistische Machtergreifung gesichert erscheint noch zuverlässig verhindern kann, dass Nuklearwaffen in die Hände terroristischer Gruppen fallen.

Interessant ist die Entwicklung der Staaten-Zahl. Diese hatte um 1990 ihr Minimum erreicht. Dann zerfielen nicht nur die UdSSR, die CSSR, Jugoslawien, der Sudan in Einzelteile, sondern darüber hinaus entstanden zahlreiche staatsartige Territorien wie Abchasien, Somaliland, Puntland und andere Herrschaftsgebiete des Islamismus u.a. in Syrien, Irak, Libyen, Mali und Nigeria, d.h. viele traditionelle Staaten verloren die Herrschaft über ihr Staatsgebiet.

Die Welt-Gesellschaft

Während der geschilderten Veränderungen der Staatenwelt revolutionierten Verkehrs- und Kommunikationstechnologien das Zusammenleben der Menschheit – ja, diese Technologien schufen überhaupt erst ein Zusammenleben. Alle diese Technologien entstanden in den westlichen Industriegesellschaften. Sie schlossen ferne, einander fremde Regionen kurz – sowohl durch ubiquitäre Informationsverfügbarkeit wie auch durch immer billigeren Transport von Waren und Menschen.

Noch in meiner Jugend vor 70 Jahren war die menschliche Gesellschaft fein parzelliert. Die einzelnen Gesellschaften fühlten sich „unter sich“; Ausländer, gar solche anderer Hautfarbe oder Religion, waren in Europa selten. Zwar hat die kurze Zeit des Kolonialismus, d.h. der Herrschaft europäischer Mächte über weite Teile Afrikas und Asiens, bereits die Ungleichzeitigkeit der kulturellen Entwicklungen in verschiedenen Räumen aufgedeckt, aber noch lange nicht kurzgeschlossen. Es war eine recht einseitige erste Ausdehnung europäischen Einflusses auf andere Regionen und Kulturen. So waren auch die Handelsbeziehungen sowie die Mobilität der Menschen weitgehend einseitig gesteuert von den europäischen Machtzentralen.

Man ließ Rohstoffe aus den Kolonien nach Europa und USA, verhinderte aber Veredelung daselbst, erst durch die schiere Macht der Herrschaft und dann durch Kontingent- und Zollbestimmungen bis in die jüngste Zeit. Grundlage dieser Ordnung war nicht nur europäische Willkür, sondern auch der Riesenabstand in Bildung und Qualifikation der Bevölkerungen. Nicht alle Kolonialmächte gingen dabei so unmenschlich vor wie die Belgier im Kongo; andere wie Frankreich und vor 1918 auch Deutschland versuchten in ihren Kolonien auch Ausbildungsstrategien. England und Frankreich versuchten zudem, ihre nach dem 2. Weltkrieg unabhängigen Ex-Kolonien dauerhaft an sich zu binden in einem englischsprachigen Commonwealth b.z.w. einer französischsprachigen Communauté.

Mit der staatlichen Selbständigkeit der Kolonialstaaten hatte aber eine allmähliche Verringerung der einseitigen Abhängigkeiten vom „Mutterland“ begonnen. Allerdings sorgte die skrupellose Korruption der Mächtigen und Eliten in den meisten Entwicklungsländern dafür, dass Unternehmen und Staaten der industrialisierten Welt äußerst günstige Verträge abschließen konnten. Dabei wurden diese Machthaber reich und die Bevölkerungen blieben arm. Die industriellen und staatlichen „Ausbeuter“ kamen und kommen nicht nur aus dem Westen, sondern immer häufiger auch aus China oder Ölstaaten.

Sowohl die amerikanisch-sowjetische Bipolarität wie auch das Aufkommen global operierender Staaten wie China gaben eine gewisse Orientierungsfreiheit für die zumeist diktatorisch herrschenden Eliten in früheren Kolonien. Auch lösten sich die nominell seit über 100 Jahren selbständigen Staaten Lateinamerikas allmählich aus der Hinterhof-Abhängigkeit von den USA.

Aus all diesen Entwicklungen entstand in den letzten zwei Jahrzehnten eine neue multipolare Weltordnung. Was im Westen erfunden und entwickelt worden war, Autos, TV, Computer, Mobiltelefone und Smart-Geräte, auch Photovoltaik und vieles anderes mehr stand nun zu billigsten Preisen der ganzen Welt zur Verfügung. Vielleicht kann man es als Ausgleich für Schäden des Kolonialismus und aufgezwungener Einseitigkeit werten, dass die genannten technologischen Entwicklungen alle durch Konsumverzicht in USA und Europa finanziert wurden. Die deutschen Milliarden für die dramatische Verbilligung der Photovoltaik sind ein solches Beispiel unfreiwilliger Selbstlosigkeit.

Das Resultat dieser Entwicklungen ist eine neue Welt, in der zahlreiche Staaten und Gesellschaften mit eigenständigen Industrien am Weltmarkt handeln. Immer mehr Staaten haben sich aus einseitigen Abhängigkeiten gelöst und haben begonnen, multilaterale Beziehungen zu pflegen. Gipfeltreffen nach dem G20-Format sind sichtbarer Ausdruck dieser neuen Machtverteilung.

Auch wenn die Zahl trauriger Rückschläge durch Diktaturen und Bürgerkriege zurzeit wieder zunimmt, darf man vermuten, dass die Welt auf dem Wege ist, sich aneinander anzugleichen. Die Ansprüche und Technologien sind vom Westen unwiderruflich verbreitet worden. Niemand mehr kann den Völkern der Welt verbieten, den Lebensstil des Westens sowie die dort gelebte Freiheit anzustreben. Diese Verlockung ist so stark, dass die traditionellen Eliten in den aufholenden Gesellschaften alles mobilisieren, um ihre Herrschaft zu behalten. Auch deshalb werden die Religionen, ob Islam, Hinduismus oder Buddhismus, wieder mobilisiert, um Freiheit und demokratischen Wettbewerb um die Macht zu verhindern.

Das so entstandene System eines fast freien Weltmarktes gibt Waren und Dienstleistungen trotz vieler nationaler Schutzregimen auch ohne umfassende Handelsverträge immer mehr Freiheit, so wie die Informationen sich via Internet weitgehend frei verbreiten. Dieser Geist ist aus der Flasche!

Aber er erschreckt zunehmend auch jene Gesellschaften des Westens, die bisher meinten, alles geschehe letztlich unter ihrer Kontrolle. Nein, auch der industrialisierte Westen kann den Geist nicht mehr in die Flasche seiner Vorherrschaft zurück drängen. Aber das Erschrecken darüber, dass er teilen muss, wo zumindest Teile seiner Gesellschaft nicht teilen wollen, schüttelt in diesen Jahren die westlichen Gesellschaften durch.

Denn die gestaltenden Eliten sind durchweg Nutznießer der Entwicklung, während sich viele am unteren Ende der Gesellschaften bewusst werden, dass sie Verlierer sind und sein werden. Sie werden von neuen Bewegungen, oft populistisch-nationalistisch vereinfachend, angesprochen und an die Wahlurnen geholt; ihr Versprechen ist, die Entwicklung zurück zu drehen und der fiktiv homogenen Volksgemeinschaft wieder Schutz hinter nationalen Grenzzäunen bieten zu können. Sie täuschen die Verunsicherten darüber, dass man unwillkommene Importe nicht zugunsten inländischer Arbeitsplätze ausschließen kann, ohne dass Arbeitsplätze im Export entsprechend gefährdet werden.

Insbesondere der Westen hat eine Welt ermöglicht, in der ein qualifizierter Ruander so gut programmieren kann wie ein Deutscher, der noch ein Vielfaches an Gehalt beansprucht. Wir zahlen für unqualifizierte Hilfsarbeiten Luxuslöhne in den Augen von Milliarden ebenso schlecht qualifizierter Menschen, die das aber im Gegensatz zu früher im Internet verfolgen können und – warum auch nicht – beneiden.

Wir versuchen, eine Welthandelsordnung zu verteidigen, wo unsere Waren und Dienstleistungen frei überall hin gelangen können, mitunter versuchen wir auch schon Fairness gegenüber entsprechenden Importen, aber wir wollen im Interesse unserer kulturellen Identität eine entsprechende Mobilität der Menschen verhindern. Dabei geraten wir in Konflikt mit unseren humanistischen oder christlichen Werten. Aber noch wirksamer wird der Konflikt werden mit unseren eigenen Wirtschaftstheorien und Interessen.

Die neue Welt – ein Haifischbecken

Man könnte nun theoretisch denken, dass ein Weltmarkt als politische Veranstaltung politisch geordnet werden müsste – am besten im Sinne einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft. Sehr wünschenswert in der Tat! Meist schließt sich da der Vorschlag einer Weltregierung an, die – demokratisch durch ein Weltparlament kontrolliert – eine für jedermann faire Rahmenordnung erlässt.

Dies wird eine Illusion bleiben. Vielmehr müssen wir uns auf ein chaotisch selbstregelndes System weltweiten Wettbewerbs mit häufig unsauberen Machenschaften einstellen. Wer in diesem Haifischbecken als Freischwimmer leben will, wie es nationalistische Populisten als Ideal verkünden, der wird schwerlich unverletzt überleben.

Nur wer sich mit anderen ein starkes Boot baut, hat gute Chancen auf Selbstbehauptung. Regionale Zusammenschlüsse mit einer gewissen kulturellen Gemeinsamkeit wie die EU sind deshalb wichtiger denn je. Eine enge Gemeinschaft mit dem amerikanischen Kontinent läge nahe, wenn auf beiden Seiten des Atlantiks demokratisch verantwortliche Kräfte die Oberhand behalten.

TTIP und CETA sind in diesem Sinne nur grundsätzlich richtige Ansätze. Ihr großer Fehler ist, dass sie zu viel zu schnell und zu abgehoben wollen. Insbesondere der vorgesehene Bruch demokratischer Rechtsstaatlichkeit durch private Schieds- oder Sondergerichte für die Wirtschaft hat das Vorhaben desavouiert. Schade!

Ein wichtiger Nachsatz betrifft das ökologischeSchicksal unseres Planeten, das auch seine ökonomische Zukunft bestimmen wird. Denn es ist ja offensichtlich, dass die Notwendigkeit einer Verbrauchs-Reduktion von Rohstoffen und Naturdienstleistungen eine verantwortliche gemeinsame Handlungsfähigkeit der Weltgesellschaft erfordern würde, die es nicht gibt. Würde man tatsächlich auch nur das Ergebnis der Klima-Konferenz von Paris in die Tat umsetzen, würden die Konflikte um wirtschaftliche und soziale Probleme explodieren. Wenn schon der Zuzug von Migranten in der Größenordnung von jährlich 2 Promille der EU-Bevölkerung in fast allen europäischen Staaten zur Destabilisierung demokratischer Gesinnung und Humanität führt, was wird erst passieren, wenn ein Abbau des ökologisch überzogenen Wohlstands der westlichen Gesellschaften politisch erzwungen würde.

Bereinigungsbedarf in der Staatenwelt

von Gerd Eisenbeiß, Bonn, 29. September 2016

Schon vor einiger Zeit habe ich dafür plädiert, den russischen Sieg in Syrien anzuerkennen, auch wenn er bedeutet, Assads schlimme Diktatur zu tolerieren.

Warum?

Weil der Krieg der Aufständischen gegen Assad und die Russen nicht zu gewinnen ist. Der Westen trägt mit seiner Unterstützung der auf hoffnungslosem Posten kämpfenden, nicht-islamistischen Gegner Assads wesentlich bei zur Verlängerung des Leidens, der Zerstörung und der Vertreibungen. Das ist nicht verantwortbar, auch wenn einem vor dem russischen Zynismus in diesem Krieg graut.

Nachgeben aus humanitärer Klugheit ist besser, als auf einem Berg von Leichen Rechthaberei zu betreiben.

Unehrlich ist auch der oft geschriebene Satz, der Konflikt könne nicht militärisch gelöst werden: die russische Brutalität wird ausreichen, die Aufstände im Westen Syriens in Blut und Trümmern zu beenden!

Zwar ist es noch zu früh, die russischen Eroberungen in der Ost-Ukraine und der Krim anzuerkennen, obwohl nicht zu erkennen ist, wie diese Raubzüge rückgängig zu machen wären, solange Russlands Regierung nationale Größe und Expansion über klares Völkerrecht stellt. Aber an anderer Stelle sollte der Westen anerkennen, dass Illusionen nicht endlos weiter gepflegt werden sollten, und zwar im Interesse der betroffenen Menschen. Denn in den sog. Eingefrorenen Konflikten sind es zumeist die Menschen, deren Lebensverhältnisse eingefroren sind.

Ein Beispiel in Europa ist die Zwangs-Einheit von Bosnien-Herzegowina. Wir müssen erkennen, dass es keinerlei Bereitschaft der bosnischen Serben gibt, sich in den von der NATO geschaffenen Staat zu integrieren. Lassen wir doch eine Volksabstimmung in der sog. Republik Srbska zu, die höchstwahrscheinlich zu Selbständigkeit und letztlich zu einer Vereinigung mit dem Staat Serbien führen wird. Diese „Republik Srbska“ ist ein Armenhaus, das innerhalb des Zwangs-Verbundes Bosnien keinerlei vernünftige Entwicklungsperspektive hat, eher zu einem Hort der Korruption und internationalen Verbrechertums wird. Als Teil Serbiens würden die bosnischen Serben enger an die EU herangeführt, auch wenn ein rascher Beitritt Serbiens oder der Teile Bosniens nicht im EU-Interesse liegen sollte.

Ob der bosniakisch-kroatische Reststaat sich ebenfalls trennen will und wird, kann ich nicht beurteilen. In jedem Fall kommt dem Westen eine große Verantwortung dafür zu, den Frieden zwischen den Ethnien zu sichern, was immer deren Willen ist.

Auf dem Balkan ist es auch überfällig, die Republik Mazedonien mit ihrem selbst-gewählten Namen vorbehaltlos anzuerkennen und sich um die griechischen Proteste nicht länger zu scheren.

Die lange eingefrorenen Konflikte um Süd-Ossetien und Abchasien gehören ebenfalls zum Bereinigungsbedarf, da in diesen Fälle nicht die Spur einer Chance besteht, dass das beraubte Georgien diese Gebiete zurück bekommen könnte.

Man wird einwenden, dass in all diesen Fällen ethnische Säuberungen und russische Unverfrorenheit zum gegenwärtigen Zustand geführt haben; das könne man doch nicht honorieren. Natürlich ist das ärgerlich, aber es liegt im Interesse der Menschen in diesen Gebieten, in staatsrechtlicher Klarheit und internationaler Anerkennung zu leben. Schließlich beharrt der Westen ja auch auf dem Existenzrecht Israels, dessen Territorium der arabischen Bevölkerung weggenommen worden ist.

In Afrika ist es an der Zeit, Marokko zu zwingen, endlich jene Volksabstimmung in der früher spanischen West-Sahara durchzuführen, die nach dem Willen der Vereinten Nationen über deren Unabhängigkeit zu entscheiden hat. Der Streitpunkt, wer dabei abstimmungsberechtigt ist, muss von einem internationalen Schiedsgericht unter dem Dach der VN entschieden werden und nicht von Marokko.

Und schließlich muss der Westen Israel entscheidend unter Druck setzen, die besetzten Gebiete und usurpierten Siedlungen zu räumen. Das mindeste ist ein Waffenembargo und wirtschaftlicher Boykott, bis Israel zur Besinnung kommt und seinen Kolonialismus beendet. Israel ist das einzige Land der Welt, dass fremdes Territorium besetzt hält und mit eigenen Staatsbürgern zunehmend besiedelt, als wäre es ein „leerer“ Raum wie einst Nord-Amerika und Australien.

Drei Territorialkonflikte habe ich bewusst ausgelassen:

-Den armenisch-aserbaidschanischen Konflikt um Berg-Karabach , weil eine Aussage des Westens hier keinerlei Bedeutung hätte

-Den Transnistrien-Konflikt zwischen Moldawien und den russisch-sprachigen Gebieten links des Dnjestr

-Die zyprische Spaltung, wo zurzeit eine erstaunliche Bereitschaft der Volks-gruppen zu erkennen ist, zu einer föderalen Vereinigung zu kommen.

Dass in fast all den erwähnten Fällen Russland als Gewinner dastehen würde und dies propagandistisch verwerten würde, ist zähneknirschend hinzunehmen. Vielleicht führte eine solche Erklärung des Westens, also insbesondere der NATO-Staaten im Gegenteil zu einem Glaubwürdigkeitsgewinn für die Friedfertigkeit des Westens und zu einer gewissen Entspannung.

Längerfristig kann man davon ausgehen, dass Russland viel zu schwach ist, um seine aggressiven Ambitionen auf die Dauer durchzuhalten. Es ist nach wie vor ein international weitgehend isoliertes Entwicklungsland mit ein paar Spitzentechnologien und viel Rohstoffen sowie leider Atomwaffen und Raketen – mehr nicht.

Das unverdaute Erbe des Tribalismus

Von der Gruppe zum Individuum – und zurück?

Eine Betrachtung von Gerd Eisenbeiß

Wir alle, d.h. alle existierenden Gesellschaften kommen aus einer Vergangenheit, in der Familien- und Stammeszugehörigkeit die Identität ausmachten. Übrigens war es eher normal als ausgefallen, die Gruppenidentität durch Kleidersitten zu demonstrieren. Da steht das Kopftuch der Muslimas neben der Lederhose und dem Dirndl, der Salafisten-Bart neben dem gezwirbelten „es ist erreicht“-Bart der kaiserlich-preußischen Offiziere. Unter den steinzeitlichen Menschengruppen war es normal, Fremde zu fürchten. Xenophobie ist ein immer noch vorhandenes Erbe aus sehr alter Zeit.

Staaten und Herrscher versuchten, diese normale Bindung an Gruppenidentitäten auf den jeweiligen Staat und Herrscher umzuprägen – mit Erfolg zum europäischen Nationalstaat und mit Misserfolg, wenn die kulturelle, sprachliche oder religiöse Heterogenität zu groß war. Schuld am Misserfolg waren oft Fehler in der Minderheitenpolitik, etwa gegenüber Katalanen und Basken in Spanien oder gegenüber Kurden in der Türkei.

Wir in Europa haben seit 1789 begonnen, dem Individuum gegenüber dem Kollektiv Priorität in Gesellschaft und Politik zu geben. Sehr langsam, über zahlreiche Kata-strophen hinweg sind wir Deutschen und einige andere Demokratien mehrheitlich zu der Einsicht gekommen, dass die demokratische Verfassung, also ein „Verfassungspatriotismus“ dieser Individualitäts-Identität am besten entspricht. Alle sind vor Verfassung und Recht gleich und dürfen individuelle Eigenschaften und Vorlieben, insbesondere auch ganz eigene politische Vorstellungen haben und zum Ausdruck bringen. Dieser Verfassungs-Staat war nicht mehr bestimmten Gruppen reserviert, sondern offen. Einwanderungsstaaten wie die USA oder Brasilien konnten sich gar nicht anders organisieren.

Wie bei vielen anderen Entwicklungen und Errungenschaften übersehen wir leicht, dass in der weiten Welt andere Gesellschaften andere Entwicklungen genommen haben. Warum sollten sie genau gleichzeitig zu denselben Werten und Strukturen gekommen sein wie die Völker um den Atlantik?

Nun haben ja gerade die Europäer durch die kurzzeitige kolonialistische Beherrschung der Welt (nicht einmal 100 Jahre!) zwar ihr Staatsmodell grenzscharf definierter Territorien samt zu wählender Parlamente und Regierungen überall etabliert, nicht aber den Geist von 1789, der das gleichberechtigte Individuum an die Basis der gesellschaftlichen und politischen Ordnung stellt. Die aus westlicher Sicht Krönung der so entstandenen gleichgeschalteten Weltordnung waren die Vereinten Nationen mit ihrer Menschenrechtserklärung vor 70 Jahren. Wir sehen immer klarer, dass dies ein Potemkinsches Dorf war und ist. Die Zahl derjenigen Staaten, die wie China lautstark bekunden, Menschenrechte seien Unsinn, sich auf sie zu berufen sei strafbar, wird weiter zunehmen, weil überall die Schamgrenzen fallen.

Ja, selbst in unseren europäischen Gesellschaften wurden keinesfalls 100% der Bevölkerung mit in die nicht-tribalistische neue Ordnung mitgenommen. Unter dem Meinungsdruck der gebildeten Eliten, die den öffentlichen Diskurs beherrschen, blieben Minderheiten im alten Denken zurück, aber stumm. Zum Beispiel gegenüber der Gleichberechtigung der Frauen oder der Anerkennung anderer Sexualitäten, die ein direkter Ausfluss des Prinzips der Individualität sind, die im deutschen Grundgesetz, Artikel 1 „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ ihren klaren Ausdruck findet.

Lange glaubte ich, diese Entwicklung zu Individuum und Menschenrechten sei in unserer Weltregion unumkehrbar, ja auch von „zurückgebliebenen“ Minderheiten nicht angreifbar. Dies war eine Fehleinschätzung in zweierlei Hinsicht.

Zum einen brachten Menschen vor allem aus dem türkisch-arabisch-islamischen Bereich ihre vormodernen Strukturen und Sichtweisen mit nach Europa. Diese sehen den Menschen primär als Teil einer Gruppenidentität in Familie, Clan und Glaubensgemeinschaft, in die er sich gehorsam einzufügen hat. Zwar behauptet die islamische Theologie die Existenz einer homogenen „Umma“, der Gemeinschaft aller Gläubigen, faktisch jedoch ist diese Gemeinschaft längst in zahllose Strömungen und Sekten zerfallen, die sich oft untereinander stärker hassen als nicht-islamische Religionsgemeinschaften. Diese mit unserer demokratischen Verfassungsordnung nicht harmonisierende, vielfach differenzierte Andersartigkeit musste die westeuropäischen Gesellschaften irritieren. Dass der Islam selbst in den letzten Jahrzehnten in eine Identitätskrise geraten ist, seine Macht- und Perspektivlosigkeit spürt und aus der als Demütigung empfundenen Erfolglosigkeit in Teilen in Gewaltphantasien des Jihad, ja beispielloser Bestialität Befriedigung sucht, macht die neue Lage in Westeuropa noch dramatischer. Wer das so sieht, wird den noch islamfreien östlichen EU-Staaten zumindest Verständnis entgegenbringen, wenn jene Moslems gar nicht erst in größerer Zahl einreisen lassen wollen.

Zum anderen haben jene „ur-europäischen“ Minderheiten, denen der ganze Aufbruch seit 1789 und erst recht 1968 nie gepasst hat, samt der von ihnen verführten Jungen gerade wegen der islamischen Zuwanderung ein Aufbruchssignal gehört, die grummelnden Ecken und Stammtische zu verlassen und offen zu zeigen, dass ihnen „das“ alles nicht passt. Auch hier fallen zur Zeit die Schamgrenzen gegenüber Minderheiten und modernen Entwicklungen der Emanzipation und des Nachhaltigkeitsgedankens. Altes faschistoides Gedankengut von homogenen Volksgemeinschaften mit ethnisch reiner Vergangenheit und homogenem Willen wird wieder auf öffentlichen Plätzen und in gefüllten Sälen unter einen klatschenden Mob gebracht.

Stolz nennen sich Teile dieser neuen RECHTEN „Identitäre“, weil sie sich offenbar nicht als denkende Individuen verstehen und zeigen wollen, sondern als Teil einer eingebildeten, homogenen Volksgemeinschaft.