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Prekäre Arbeit, prekäre Liebe E-Book

Christine Wimbauer

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Beschreibung

Erwerbsarbeit und Paarbeziehungen sind wichtige Quellen für Anerkennung. Doch was geschieht, wenn Arbeit prekär wird? Wie wirken sich unsichere Arbeitsverhältnisse und Anerkennungsdefizite auf die Liebe aus, auf Beziehungen und auf die Lebenszusammenhänge der Menschen überhaupt? Welche Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern werden sichtbar? Das Buch zeichnet anhand von Interviews eindrücklich nach, welch destruktives Potenzial prekäre Erwerbsarbeit entfalten kann und was das für die Einzelnen, für Paare und für die Gesellschaft bedeutet. Außerdem entwickeln die Autorinnen Vorschläge, wie sich auf prekäre Beschäftigung, Geschlechterungleichheiten sowie auf Anerkennungsbedürftigkeit und Verletzbarkeit reagieren lässt. Dieses Werk ist lizensiert unter der Creative-Commons-Lizenz 4.0, CC-BY-SA: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de

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Christine Wimbauer, Mona Motakef

Prekäre Arbeit, prekäre Liebe

Über Anerkennung und unsichere Lebensverhältnisse

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Erwerbsarbeit und Paarbeziehungen sind wichtige Quellen für Anerkennung. Doch was geschieht, wenn Arbeit prekär wird? Wie wirken sich unsichere Arbeitsverhältnisse und Anerkennungsdefizite auf die Liebe aus, auf Beziehungen und auf die Lebenszusammenhänge der Menschen überhaupt? Welche Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern werden sichtbar? Das Buch zeichnet anhand von Interviews eindrücklich nach, welch destruktives Potenzial prekäre Erwerbsarbeit entfalten kann und was das für die Einzelnen, für Paare und für die Gesellschaft bedeutet. Außerdem entwickeln die Autorinnen Vorschläge, wie sich auf prekäre Beschäftigung, Geschlechterungleichheiten sowie auf Anerkennungsbedürftigkeit und Verletzbarkeit reagieren lässt. Dieses Werk ist lizensiert unter der Creative-Commons-Lizenz 4.0, CC-BY-SA: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de

Vita

Christine Wimbauer, Dr. phil., ist Professorin für Soziologie der Arbeit und Geschlechterverhältnisse an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Mona Motakef, Dr. phil., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrbereich Soziologie der Arbeit und Geschlechterverhältnisse an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Inhalt

Vorwort

1.Einleitung

2.Prekäre Erwerbsarbeit – prekäre Lebenszusammenhänge – prekäre Anerkennung

2.1Prekarisierung von Erwerbsarbeit

2.1.1Wandel der Erwerbssphäre

2.1.2Prekäre Beschäftigung im Aktivierungsregime

Was ist prekäre Beschäftigung?

Von prekärer Beschäftigung zur prekären Lebenslage

Leistungsbezug nach SGB III (Arbeitslosengeld I) und nach SGB II (Grundsicherung, Arbeitslosengeld II)

2.1.3Soziale Folgen und subjektive Bewältigung prekärer Erwerbsarbeit

2.2Geschlechtersoziologische Erweiterungen: Prekarität im Lebenszusammenhang

2.2.1Prekarität im Lebenszusammenhang betrachtet

2.2.2Sorge für andere und Sorge für sich selbst

2.2.3Heteronormativität und Paarnormativität

2.2.4Paarbeziehungen und Männlichkeiten

2.3Theorien der Anerkennung

2.3.1Axel Honneth: Ein Dreistufenmodell intersubjektiver Anerkennung

2.3.2Judith Butler: Von »Precariousness« und ambivalenter Anerkennung

2.3.3Zwischenfazit zur anerkennungstheoretischen Fundierung

2.4Anerkennung im Lebenszusammenhang

2.5Forschungskonzepte und Fragen

2.5.1Prekarität im Lebenszusammenhang – um Anerkennung erweitert

2.5.2Forschungsfragen

3.Die empirische Studie

3.1Methodologie

3.2Sampling und Akquise

3.3Die Erhebung: Paar- und Einzelinterviews

3.3.1Interviewdurchführung

3.3.2Zum Erkenntnispotential von Paarinterviews

3.4Auswertung und theoretische Generalisierung

3.5Kurzdarstellung der Befragten

Anna Aulinger und Anton Alsdorf

Birthe Bruhns und Ben Borg

Caroline Christiansen und Clemens Caspar

Dana und Daniela Daub

Lara Laubenthal und Lars Löbner

Markus und Maria Melchior

Nina und Nils Novic

Patricia und Pepo Poturica

Oliver Oswald

Petra Podan

Rolf Radler

Sabine Schomann

Theo Tettler

Ulrike Urban

Veronika Vetter

Walter Wenke

4.Erwerbsarbeit und Anerkennungsdefizite in der Erwerbssphäre

Nichtanerkennung als verbreitete Erfahrung prekär Beschäftigter

Bedeutungen von Erwerbsarbeit und Arbeitskonzepte prekär Beschäftigter

4.1Der (Irr-)Glaube an Meritokratie: Von Mühen und Leistungen ohne Lohn

4.1.1»Das find ich so bitter«: Oliver Oswald

4.1.2»Und dann alles, alles für die Katz!?«: Ulrike Urban

Weitere Fälle und Zwischenfazit

4.2Vom Ringen um Respektabilität

4.2.1»Im Prinzip lief es immer irgendwie auf drei Jobs raus«: Die alleinerziehende Petra Podan

Weitere Erfahrungen der Anerkennung und von Anerkennungsdefiziten

4.2.2»Mein Mann geht arbeiten«: Patricia Poturica

Weitere Fälle und Zwischenfazit zum Ringen um Respektabilität

4.3»Gute Arbeit« als Ausdruck des Selbst: Veronika Vetter

Weitere Fälle und Zwischenfazit

4.4Erwerbsarbeit zur Sicherung der Existenz und der Unabhängigkeit

4.4.1Arbeiten, um zu (Über-)Leben

4.4.2Unabhängigkeit vom Staat und vom Mann

Zwischenfazit

4.5Weitere soziale Funktionen von Erwerbsarbeit

Soziale, kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe

Strukturierung des Tages und sinnvolle Beschäftigung

Zwischenfazit

4.6Exkurs: Prekarisierungsprozesse in der Erwerbsarbeit und einige Ursachen

Eine Vorbemerkung vor dem Exkurs: Drei Verlaufsmuster der Prekarisierung

4.6.1Verschlechterung der persönlichen Arbeitssituation

Veronika Vetter: Früher »ist man als Mensch auch noch gesehen worden«

Weitere Fälle: Ulrike Urban, Rolf Radler und Theo Tettler

Von Arbeitsverdichtung und steigender Geschwindigkeit, »Porsches« und »Oldtimern«

Mobbing all around – Belastungserfahrungen zwischenmenschlicher Art

4.6.2Gesellschaftliche und strukturelle Veränderungen

Caroline Christiansen: »Also die sparen sich da zu Tode«

Weitere Fälle und Zusammenfassung

4.6.3Von Geburt, Alter, Krankheit und Tod – Veränderungen im Lebenszusammenhang

Von Selbsterkenntnissen und Veränderungen der Arbeitshaltung

Sorge für Kinder, Partner*innen und andere

Vom Bandscheibenvorfall zum Burnout – gesundheitliche Ursachen eingeschränkten Erwerbsarbeitsengagements

Petra Podan: Persönliche Belastungen und Unverständnis in der Erwerbssphäre

Veronika Vetter: Von Herz-/Erkrankungen und dem Weg des Herzens

Von Trennung, Scheidung und sonstigen Schicksalsschlägen

4.7Erwerbsarbeit als notwendiges Übel, Heteronomie und Ausbeutung

4.7.1Erwerbsarbeit als existenziell notwendiges Übel

4.7.2Erwerbsarbeit als Zwang und Fremdbestimmung

4.7.3Erwerbsarbeit als Ausbeutung

4.8Von den Pathologien selbst- und sozialdestruktiver Erwerbsarbeit

4.8.1Pathologien der Arbeit I: Wenn Arbeit krank macht

4.8.2Pathologien der Arbeit II: Erwerbsarbeit und Entfremdung

Veronika Vetter und die »Erwerbsarbeitsmatrix«

Walter Wenke: Von der »totalen Entfremdung« zur »Selbstbefreundung«

Fazit: Walter Wenkes Arbeitskonzept …

… und seine arbeitskritische Umorientierung

(Vor-)Ausblick

4.9Zwischenfazit: Von Selbstausdruck über Heteronomie zur Destruktivität von Erwerbsarbeit

5.Verhältnisse von Anerkennung/sdefiziten: Ein Überblick

6.Paarbeziehungen als Anerkennungsressource oder -verhinderung

6.1Paare mit starkem Paarzusammenhalt

6.1.1Die Gesellschaft sieht nicht ihre Leistungen: Lara Laubenthal und Lars Löbner

Zeitlich entgrenzte Erwerbsverhältnisse und Arbeit aus Überzeugung

Fehlende gesellschaftliche Anerkennung

Sichtbarmachung ihrer Leistungen und Herstellung von Gemeinsamkeit im Paar

Ein starkes Team

6.1.2Arbeit als Dienst an der Liebe: Dana und Daniela Daub

Etwas Gemeinsames machen

Nachteile der prekären Selbstständigkeit

Sinnvolle Arbeit

Paarverwirklichung durch Arbeit

Zwischenfazit

6.2Paare mit ambivalentem Paarzusammenhalt

6.2.1Besser als vorher, aber nicht »rosarot«: Birthe Bruhns und Ben Borg

Unterschiede in der prekären Beschäftigung

Paarbeziehung als Ressource und Quelle der Anerkennung für Birthe Bruhns

Der Partner als Schüler und weitere Belastungen

Ambivalente (Liebes-)Anerkennung im Paar: Mehr Sichtbarkeit, mehr Belastungen

6.2.2Nach innen stabil, nach außen brüchig: Patricia und Pepo Poturica

Weibliche Hausfrau und prekärer männlicher Alleinverdiener

Geschlechterdifferenzierende Aufgabenteilung

Starker Paarzusammenhalt durch ihre Elternschaft und Liebe

Die Fragilität des geschlechterdifferenzierenden Alleinernährermodells

Zwischenfazit

6.3Paare mit schwachem Paarzusammenhalt

6.3.1Seine »berufliche Nichtanerkennungsresistenz« versus ihre Alleinverantwortung: Clemens Caspar und Caroline Christiansen

Clemens Caspars berufliche Nichtanerkennungsresistenz

Keine Anerkennung für ihre Leistungen in der Erwerbssphäre und für die Familie

Alternativen zu ihrem Arrangement

Keine gemeinsame Zeit – keine gemeinsame Zukunft?

6.3.2Ungleiche Arbeitsteilung und Belastungen: Maria und Markus Melchior

Geschlechterungleichheiten nach der Familiengründung

Ambivalente Wertschätzung für seine Erwerbsarbeit

Maria Melchior: Alleingelassen mit den Kindern

»Anerkennungsvergessenheit« und »Verdinglichung« der Sorgeleistenden

Seine Freiräume zur beruflichen Selbstverwirklichung versus ihre desolate Situation

Zwischenfazit

7.Menschen ohne Paarbeziehungen

7.1Abmilderung beruflicher Nichtanerkennung

7.1.1Das Wohl der Kinder und Anerkennung in Nahbeziehungen: Petra Podan

Das Wohl der Kinder als oberste Priorität

Soziale Beziehungen als Quelle der Anerkennung und Unterstützung

7.1.2Vererträglichung durch alternative Sinnorientierung: Veronika Vetter

Alternative Anerkennung durch spirituelle Sinnorientierung

Nahbeziehungen lost and found: vom »totalen Umbruch« und »Seelenfreunden«

7.1.3Vom autonomen Subjekt, das sich selbstbefreundet: Walter Wenke

Walter Wenkes berufliche »Nichtanerkennungsresistenz«

»Was prekär geworden ist, ist eher die Beziehungssituation«

Resümee: Voraussetzungen für Muße und berufliche Nichtanerkennungsresistenz

7.2Ambivalente Nicht-/Anerkennung: Widersprüchliche Relationierungen

7.2.1Ambivalente Anerkennung in einer symbiotischen Pflegebeziehung: Ulrike Urban

Asymmetrische Liebesanerkennung in der »symbiotischen« Pflegebeziehung

7.2.2Ambivalenzen der subkulturellen Vergemeinschaftung: Rolf Radler

7.3Kumulation von multiplen Anerkennungsdefiziten

7.3.1Keine Anerkennung in Erwerbsarbeit und Paarbeziehung: Oliver Oswald

Trennung von Anerkennung in der Erwerbssphäre und der Nahbeziehungssphäre

Zur zentralen Liebessphäre und zur Kumulation von Anerkennungsdefiziten

7.3.2»So viel Pech in einem Leben ist nicht normal«: Sabine Schomann

7.3.3»Unter Menschen, die wie Bäume sind« – Theo Tettler

Eine verlaufskurvenförmige Entwicklung

Das bedrohte Wohl der Tochter und Erwerbsarbeit

Fehlende Nahbeziehungen und alternative Anerkennungsquellen

Zwischenfazit

8.Männlichkeit/en zwischen prekärer Erwerbsarbeit und Sorgeorientierung

8.1Festhalten an der Ernährermännlichkeit

8.1.1Zur Fragilität des männlichen Alleinverdienermodells: Pepo (und Patricia) Poturica

8.1.2Männlichkeit und Erwerbsarbeit als Exitoption von Zuhause: Markus Melchior

Zwischenfazit

8.2Prekäre Ernährermännlichkeit ohne Elternschaft – Umdeutungen und Rechtfertigungen

8.2.1Männlicher Ernährer seiner selbst: Anton Alsdorf

8.2.2Kaum Geld, aber ehrlich: Ben Borg

8.2.3Kein Geld, keine Partnerin, große Bitterkeit: Oliver Oswald

Zwischenfazit

8.3Prekäre Ernährermännlichkeit und (verhinderte) Hinwendung zu Sorge

Angestrebte Fürsorgemännlichkeit versus »maternal gatekeeping«: Nils und Nina Novic

Zwischenfazit

8.4Jenseits von Erwerbsarbeit – jenseits von Männlichkeit?

8.4.1Sorgeorientierung jenseits von Männlichkeit: Theo Tettler

8.4.2Der (nicht-)männliche »Einsiedler«: Walter Wenke

8.4.3Eine alternative »Eigenbrötler«-Männlichkeit: Clemens Caspar

Zwischenfazit

9.Sozialstaatliche und gesellschaftliche Nicht-/Anerkennung

9.1Sozialstaatliche Anerkennung und positive Einschätzung des Sozialstaates

9.2Ambivalente Kämpfe um Anerkennung

9.2.1Legitime Ansprüche und ambivalente Erfahrungen

9.2.2Abgrenzung von der Figur des »faulen Arbeitslosen«

9.3Vergebliche Kämpfe um Anerkennung und sozialstaatliche Nichtanerkennung

9.3.1Wie ein »Mensch zweiter Klasse«: Rolf Radler

9.3.2Sozialstaatliche Nichtanerkennung von Familie/n

9.3.3Die Missachtung der alleinerziehenden Multijobberin: Petra Podan

9.3.4Die »absolute Demütigung« und das Stigma Hartz IV: Ulrike Urban

9.3.5Sorgeblinder Sozialstaat und Unsichtbarkeit des alleinerziehenden Theo Tettler

Zwischenfazit

10.Prekäre Sorge: Fehlende Anerkennung und Unvereinbarkeit mit Erwerbsarbeit

10.1Vereinbarkeitsprobleme in der Sorge für Andere

10.1.1Sorge für Kinder: Sinnstiftung und Hürde für berufliche Anerkennung

10.1.2Sorge-Konflikte und Heteronormativität: Dana und Daniela Daub

10.1.3Sorge für Angehörige: Zwischen Selbstverständlichkeit und Unvereinbarkeit

10.2Zur mangelnden Legitimität von Selbstsorge

10.2.1Ermöglichung von Selbstsorge durch Umdeutung normativer Rahmen

Selbstsorge entgegen der Erwerbsarbeitsmatrix: Walter Wenke

Die verdiente Selbstsorge: Veronika Vetter

10.2.2Einschränkung von Selbstsorge durch illegitime Nichterwerbstätigkeit

10.2.3Verhinderung von Selbstsorge durch Belastungen und Zeitmangel

Zwischenfazit

11.Prekäre Zukünfte

11.1Wünsche, Perspektiven und Forderungen

11.1.1Auf sich selbst und das Nahumfeld bezogene Wünsche

Liebe und Paarbeziehung als Wunsch und Fluchtpunkt

Wünsche an und Sorgen um Erwerbsarbeit

Wunschträume und Zukunftsperspektiven

11.1.2Gesellschaftliche Wünsche und kollektive Forderungen

11.2Zukunftsvisionen und Zukunftsängste

11.2.1Selbst- und nahbezogene Szenarien

11.2.2Kollektive Visionen und Dystopien

Zur »Entthronisierung« des »Gottes« Arbeit

Von der Hoffnung auf ein »kollektives Erwachen« …

… zu Szenarien des Zusammenbruches und der Dystopie

12.Zusammenfassung und Weiterentwicklungen

12.1Ein Blick zurück: Unsere Forschungsfragen

12.2Anerkennungswünsche und Anerkennungsdefizite in der Erwerbssphäre

Hohe Bedeutung von Erwerbsarbeit

Nichtanerkennung im der Erwerbssphäre und Wechselfälle des Lebens

V/erkämpfte Anerkennung

Negative Deutungen von Erwerbsarbeit und »berufliche Nichtanerkennungsresistenz«

12.3Verhältnis der Anerkennungssphären

12.3.1Prekäre Erwerbsarbeit, prekäre Paare?

12.3.2Prekär Beschäftigte ohne Paarbeziehung

12.3.3Sinn jenseits von Erwerbsarbeit

12.4Geschlecht und Sorge: Vergeschlechtlichte Ungleichheiten

12.4.1Der Verdeckungszusammenhang von Sorge und Erwerbsarbeit

Ambivalenzen und Paradoxien in den Paaren

Sorge- und Erwerbsarbeit jenseits einer Paarbeziehung

Selbstsorge als unsichtbarste, aber notwendigste Sorgetätigkeit

12.4.2Für-/Sorge und Männlichkeit

Gesellschaftliche und paarinterne Nichtanerkennung männlicher Fürsorge

(Kein) Festhalten an der Ernährermännlichkeit

12.4.3Zur Wirksamkeit von Hetero- und Paarnormativität

12.5Zu den »Anerkennungsfallen« prekärer Arbeit und Liebe

12.6Eine um Anerkennung erweiterte Heuristik für prekäre Lebenszusammenhänge

12.7Zum ideologischen Potential von Erwerbsarbeit

13.Fazit und Ausblick

13.1Perspektivenerweiterungen der Prekarisierungsforschung

13.1.1Jenseits der Erwerbsarbeitszentrierung

13.1.2Anerkennung und Prekarisierung

13.1.3Prekarität im Lebenszusammenhang

13.2Anregungen für die Anerkennungsforschung

13.2.1Anerkennung in Verletzbarkeit fundieren

13.2.2Anerkennung jenseits der Dreieinigkeit

13.2.3Ambivalenzen und Ideologien der Anerkennung

Ambivalenzen der Anerkennung für Arbeit

Ambivalenzen zwischen Anerkennungssphären

Paradoxien und Ideologien der Anerkennung

13.2.4Von Selbstanerkennung und transzendierter Anerkennung

13.3Grenzen und offene Forschungsfragen

Ausweitung der untersuchten Gruppen

Methodische Fragen und weiterer Forschungsbedarf

Theoretische und konzeptionelle Anschlussfragen

Inhaltliche Aspekte für weitere Studien

13.4Was tun? Politiken der Ent_Prekarisierung

13.4.1Politiken der Entprekarisierung

Verbesserung der Beschäftigungsverhältnisse und »gute Arbeit«

Soziale Sicherheiten jenseits Erwerbsarbeit: bedingungslose Dekommodifizierung

Wider die »Sorglosigkeit des Kapitalismus« – Sorge entprekarisieren und zentrieren

13.4.2Politiken der Prekarisierung

Erwerbsarbeit und Leistung dezentrieren und transzendieren

Paarnormativität prekarisieren

Heteronormativität überschreiten

Geschlechternormen verunsichern und prekarisieren

Nichtanerkennung von Sorge: Sichtbarmachung des Unsichtbaren

Wider die Nichtberücksichtigung physischer und psychischer Beeinträchtigungen

Fazit: Selbst-/Sorge aufwerten und zum Ausgangspunkt machen

13.4.3»Nichtanerkennungsresistenz« entwickeln und ideologische Anerkennung transzendieren

Literatur

Erklärung zu bereits vorliegenden Publikationen

Vorwort

Die Idee zu diesem Buch entstand vor einem guten Jahrzehnt am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), wo wir von 2008 bis 2010 Anerkennung und Ungleichheiten in Doppelkarriere-Paaren erforschten. Dabei wurde uns offenbar, wie unabdingbar es ist, den Blick nicht nur auf hoch Qualifizierte, sondern auch auf prekär Beschäftigte zu richten: Wie werden prekäre Beschäftigungsverhältnisse unter Anerkennungsgesichtspunkten erfahren? Wie beeinflussen prekäre Beschäftigungen das Leben und die sozialen Beziehungen der Menschen? Und was bedeuten sie für die Geschlechterverhältnisse? Mit diesen Forschungsfragen im Kopf begann für uns zunächst eine Reise: Den Antrag für das Projekt »Ungleiche Anerkennung? ›Arbeit‹ und ›Liebe‹ im Lebenszusammenhang prekär Beschäftigter« (Wi2142/5–1)1 schrieben wir am Institut für Soziologie der Universität Duisburg-Essen, und nach einer zweiten Runde erhielten wir glücklich die Bewilligung von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Zum Projektstart am 1. Mai 2014 waren wir mittlerweile am Institut für Soziologie der Eberhard Karls Universität Tübingen. Ein knappes Jahr später wechselten wir an das Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Laufzeit des Projektes endete dort formal im September 2017, »unser« – vorläufiges – Projektende erreichten wir mit der Fertigstellung des vorliegenden Buches.

An welchem Ort auch immer – zum Entstehen dieses Buches haben viele beigetragen. Ihnen allen gilt unser Dank, auch wenn wir nicht alle namentlich erwähnen können. An erster Stelle möchten wir uns bei den Befragten bedanken für die Einblicke, die sie uns in ihr Leben gewährten, für ihr Vertrauen und ihre Zeit. Über Erfahrungen der Nichtanerkennung, über biographische Unsicherheiten und über Liebe zu sprechen und womöglich auch eigenes Leid oder Scheitern zu thematisieren, ist keine Selbstverständlichkeit. Besonderer Dank gilt auch dem Projektteam: Mit hoher Flexibilität hat Ellen Ronnsiek als Doktorandin mit uns die Interviews erhoben und wirkte bei der Auswertung mit. Große Unterstützung bei der Literaturrecherche und Auswertungsarbeit erfuhren wir von den studentischen Mitarbeiter*innen Iliana Klauss, Antonia Platten und Maira Schobert (Tübingen) sowie von Franziska Baum, Lilian Hümmler und Julia Bringmann (Berlin). Studierende unserer Lehrforschungsprojekte in Tübingen und Berlin setzten sich höchst kreativ und engagiert mit unserem Material auseinander. Daraus sind beeindruckende Abschlussarbeiten entstanden, etwa von Franziska Baum (2018) und Julia Bringmann (2016). Antonia Platten, Maira Schobert und weitere Tübinger Studierende legten eine herausragende Projektarbeit vor (Aculai/Gräff/Platten et al. 2015), für die sie Paarinterviews durchführten, die auch in diesem Buch Verwendung finden (siehe Kapitel 3.3.1).

Für spannende Diskussionen, kritische Nachfragen und hilfreiche Anmerkungen bedanken wir uns beim »Team Gender«, also bei allen Teilnehmer*innen des Colloquiums des Lehrbereichs Soziologie der Arbeit und Geschlechterverhältnisse an der Humboldt-Universität zu Berlin. An einzelnen Kapiteln übten ausgewählte Expert*innen konstruktive Kritik. Dafür bedanken wir uns bei Franziska Baum, Julia Bringmann, Lilian Hümmler, Leoni Linek, Nora Lege, Karin Lohr, Doreen Kruppa, Loui Schlecht, Lena Schürmann, Franziska von Stetten sowie Sarah Speck, Riccarda Höft und Brigitte Rudolph. Franziska von Stetten, Loui Schlecht und ganz besonders Renate Zeiske unterstützten uns zudem mit großer Sorgfalt beim mehrmaligen Lektorat.

Wir danken weiter der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Aufgrund der expliziten Familienfreundlichkeit der DFG konnte das Projekt nach einer Elternzeitnahme kostenneutral verlängert werden. Wir bedanken uns zudem für die gesamte Projektförderung, die unbürokratische Beratung bei organisatorischen Fragen etwa bezüglich Projektumzügen und für den Publikationskostenzuschuss. Bedanken möchten wir uns auch für die großzügige finanzielle Unterstützung durch einen Publikationsfonds der Humboldt-Universität zu Berlin, der uns eine Publikation im Open-Access ermöglichte. Sie wäre ohne die äußerst engagierte Unterstützung von Kristy Schank und besonders von Christian Winterhalter nicht zustande gekommen. Bei Isabell Trommer vom Campus-Verlag bedanken wir uns für die freundliche, zuverlässige und kompetente Betreuung der Veröffentlichung. Auch den endgültigen Buchtitel verdanken wir ihr. Dank gebührt schließlich Oscar Knorn u. a. für verschiedentliche Vermittlungen sowie ihm, Jörn Mammen, Kian und Enno für ihr kritisches Hinterfragen und Dasein.

Wie also deutlich geworden sein dürfte, ist dieses Buch nicht »in Einsamkeit und Freiheit« monadischer Schreibarbeit entstanden. Conditio sine qua non waren aber vor allem unsere gemeinsamen Diskussionen der vergangenen Jahre. Bei allem gemeinsamen Denken möchten und müssen wir allerdings auch anmerken, dass Christine Wimbauer Kapitel 4, 7 und 13 und Mona Motakef Kapitel 6, 8 und 10 alleine verfasst haben, während Kapitel 2 überwiegend von Mona Motakef und Kapitel 12 überwiegend von Christine Wimbauer aufgeschrieben wurden – wenngleich wir alles gemeinsam ausgewertet, gedacht und diskutiert haben. Kapitel 6, 8 und 10 sind auch Bestandteile von Mona Motakefs geplanter kumulierter Habilitation an der Humboldt-Universität zu Berlin. Wir weisen darauf hin, dass wir theoretische Überlegungen und ausgewählte empirische Befunde bereits an anderer Stelle veröffentlichten.

Es sei ihnen ein Anliegen, dass die Welt da draußen erfährt, sieht und versteht, mit welchen Missständen und Kämpfen sie in ihrem Alltag konfrontiert sind. Diese und ähnliche Worte fielen häufig in den Vorgesprächen, die wir mit unseren Interviewpartner*innen führten. Auch wenn es nicht in unserer Macht liegt, dieses Anliegen umfänglich zu realisieren, so hoffen wir doch, dass wir mit diesem Buch (zumal als Open Access breit zugänglich) einen Beitrag dazu leisten, die Kämpfe um Anerkennung prekär Beschäftigter und von Menschen in prekären Lebenslagen sichtbar zu machen.

Berlin und Bremen, im November 2019

1.Einleitung

»Das hat ganz viele Gründe, dass ich in den letzten Jahren […]ein gewisses Nomadenleben geführt habe.«

Veronika Vetter

»Meine wirtschaftliche Misere fing erst an, als ich mit dem Studium fertig war. Da kam so diese Hartz IV Abhängigkeit, da gab’s die Arbeitslosigkeit, da gab’s jetzt auch wirklich […] so ’ne absolut prekäre Situation auch schon seit ’nem längeren Zeitraum.«

Ulrike Urban

»Man sieht, wie man langsam abstirbt.«

Theo Tettler

»Was prekär geworden ist, ist eher die Beziehungssituation.«

Walter Wenke

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Arbeitswelt massiv verändert. Mit den Hartz-Reformen seit 2002 nahm ein sozialpolitischer Paradigmenwechsel Einzug, bei dem unsichere Beschäftigungsverhältnisse ausgeweitet und die Arbeitsmarktpolitik an den Leitmaximen der Eigenverantwortung und Aktivierung ausgerichtet wurden (Lessenich 2008). Ob in Teilzeit beschäftigt, im Minijob, in Leiharbeit, als Soloselbständige oder im Ein-Euro-Job mit Arbeitslosengeld II-Bezug – viele Menschen können von ihrer Erwerbsarbeit nicht oder nur kaum leben.2 Von dem Beschäftigungsboom, den die deutsche Wirtschaft regelmäßig verkündet, bekommen sie wenig mit.

Von 1991 bis 2015 hat sich der Anteil sogenannter atypischer Beschäftigung an der Gesamtbeschäftigung fast verdoppelt. Heute sind etwa 38 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse atypisch (Seifert 2017). Wenn man nicht nur vom Beschäftigungsverhältnis ausgeht, sondern auch von der Haushaltslage, leben in Deutschland etwa 12 Prozent der Erwerbsbevölkerung in einer verfestigten prekären Lage (Allmendinger/Jahn/Promberger et al. 2018). Für den Ungleichheitssoziologen Robert Castel (2000) hat sich in der französischen Arbeitsgesellschaft eine Zone der Prekarität und Verwundbarkeit etabliert, in der sich Phasen der prekären Beschäftigung und Arbeitslosigkeit abwechseln. Die Ausweitung unsicherer Beschäftigungsverhältnisse stellt für ihn die Soziale Frage der Gegenwart dar.

Die (anonymisierten) Zitate zu Beginn dieses Kapitels stammen von Menschen, die sich in dieser Zone der Prekarität und Verwundbarkeit befinden, wenn man Castels Zonenmodell auf die deutsche Arbeitsgesellschaft überträgt. Veronika Vetter bringt mit ihrem »Nomadenleben« eine diskontinuierliche Berufsbiographie zum Ausdruck, womit sich gleichermaßen Freiheiten wie Einschränkungen eines nicht-sesshaften Lebens andeuten. Walter Wenke markiert seine »Beziehungssituation« als prekär, Ulrike Urban benennt ihre »wirtschaftliche Misere« und Abhängigkeit von Sozialleistungen und Theo Tettler spricht seine angesichts belastender Arbeitsbedingungen desolat gewordene gesundheitliche Situation an.

Mit dem vorliegenden Buch möchten wir einen Beitrag für die seit der Jahrtausendwende entstandene Prekarisierungsforschung (Castel/Dörre 2009; Völker/Amacker 2015) leisten. Dieser besteht erstens darin, dass wir nicht nur die Erwerbssphäre fokussieren, sondern Prekarität im gesamten Lebenszusammenhang verorten. Wir bezweifeln nicht, dass Erwerbsarbeit sehr wichtig ist. Wir gehen aber davon aus, dass man die Prekarität von beispielsweise Veronika Vetter oder Theo Tettler erst versteht, wenn man neben Erwerbsarbeit etwa auch berücksichtigt, wie sie ihre soziale Einbindung wahrnehmen und wie es ihnen gesundheitlich geht.

Unser Beitrag besteht zweitens darin, eine genuin anerkennungstheoretische Perspektive auf Prekarität zu entwickeln. Wir interessieren uns dafür, wofür Menschen in der Zone der Prekarität und Verwundbarkeit Anerkennung suchen und (nicht) finden und welche Erfahrungen der Anerkennung, der Nichtanerkennung, Abwertung und Missachtung sie machen.

Drittens entfalten wir eine geschlechtersoziologische Perspektive auf Anerkennung und Prekarität im Lebenszusammenhang. Bevor wir begründen, warum diese drei Perspektiven wichtig sind, erläutern wir knapp, was wir unter Prekarisierung und Prekarität verstehen.

Mit Prekarisierung und Prekarität werden in den Sozialwissenschaften unsichere Arbeits- und Lebenslagen beschrieben.3 Historisch und global betrachtet, stellen diese alles andere als ein neues Phänomen dar, womit Prekarität zum Normallfall und nicht zur Ausnahme wird (Butler 2010; Neilson/Rossiter 2008; Tsing 2017).

Prekarisierung kann als Prozess des Brüchigwerdens beschrieben werden (Dörre/Castel 2009): Brüchig werden können einstige Sicherheiten, etwa wenn Sozialleistungen eingeschränkt und Beschäftigungsverhältnisse unsicher werden. Aber auch Normen und Normalitäten können brüchig werden, etwa wenn Männer wegen ihrer Arbeitslosigkeit nicht mehr die Ernährer ihrer Familie sind (Motakef 2015; Motakef/Teschlade/Wimbauer 2018a).

Der Prekaritätsbegriff wird unterschiedlich verwendet. Wie wir in Kapitel 2 ausführen, werden damit in der Arbeits- und Industriesoziologie häufig Verunsicherungen in der Erwerbssphäre, also die Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse, beschrieben. Demgegenüber werden in anthropologischen und philosophischen Ansätzen maximal weite Konzepte von Prekarität vorgelegt. Für Judith Butler (2010) sind wir alle prekär, da wir in unserem Überleben als körperlich-leibliche Wesen immer schon auf andere verwiesen sind. Vor diesem Hintergrund spricht sie von Prekärsein. Politische Regulierungen schützen wiederum bestimmte Gruppen und andere nicht, was für sie in dem Begriff der Prekarität zum Ausdruck kommt. Ähnlich argumentiert Anna Lowenhaupt Tsing (2017), wenn auch mit anderem Akzent: Angesicht der menschengemachten Umweltzerstörung ist Prekarität keine Ausnahme für bestimmte Gruppen, sondern die Bedingung, unter der wir gegenwärtig auf dieser Welt leben. Wir teilen diese Vorstellung eines grundlegenden menschlichen Prekärseins, auch wenn bisweilen kritisiert wird, dass diese Annahme ein »Problem der Grenzziehung« (Marchart 2013: 13) evoziere und Prekarität womöglich Gefahr laufe, zu einem catch-all Begriff zu werden.

Wir fassen Prekarität weit, aber nicht als catch-all-Begriff: Zentral scheint uns die Mehrdimensionalität prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse, die wir mit dem Konzept Prekarität im Lebenszusammenhang erforschen (Klenner/Menke/Pfahl 2012; Amacker 2014; Motakef/Wimbauer 2019a). Die Mehrdimensionalität prekärer Lebensverhältnisse deutete sich bereits in den vorgestellten Interviewzitaten an, in denen sich Bezüge zu Einkommen, Nahbeziehungen und Gesundheit finden. Die Perspektive auf Prekarität im Lebenszusammenhang ist in der Geschlechtersoziologie entstanden. Autor*innen wie Christina Klenner et al. (2012) forderten, die Prekarisierungsforschung sollte nicht hinter Erkenntnisse der frühen feministischen Arbeitsforschung zurückfallen und Arbeit nicht auf Erwerbsarbeit begrenzen, sondern auch Hausarbeit und Sorgetätigkeiten (Care) einbeziehen. Mit Prekarität im Lebenszusammenhang werden neben den Dimensionen Erwerbsarbeit, Einkommen und Sorge auch Gesundheit, soziale Teilhabe und Wohnen berücksichtigt. Mit diesen Konzepten zeigten Klenner et al. (2012) und Amacker (2014), wie multiple Belastungen im Lebenszusammenhang von Frauen kumulieren können, die Familienernährerinnen sind, da sie häufig weiterhin die Hauptverantwortung für Kinder und Hausarbeit in ihren Familien tragen.

In diesem Buch möchten wir aber noch einen Schritt weiter gehen und das Konzept um die Kategorie der Anerkennung erweitern. Warum also Anerkennung?

Die Auseinandersetzung mit Anerkennung steht in einer langen philosophischen Tradition. Nach einer zentralen anerkennungstheoretischen Annahme sind Menschen keine monadischen und rational entscheidenden Individuen, sondern werden erst durch intersubjektive Anerkennung konstituiert. Von Anerkennung auszugehen heißt für uns, eine relationale Perspektive einzunehmen, die nicht Einzelne, sondern Individuen-in-Beziehungen (Wimbauer 2003, 2012; Wimbauer/Motakef 2017a,b), also Subjekte in ihren vielfältigen Bezügen, ins Zentrum stellt. In der Prekarisierungsforschung hat Anerkennung aber bisher kaum Beachtung gefunden. Eine Ausnahme stellen die erwähnten Überlegungen von Butler dar, die für uns eine wichtige Referenz sind. Aber auch viele empirische Studien finden in ihren Ergebnissen eine hohe Bedeutung von Anerkennung, wenn auch eher zufällig und noch nicht systematisch.

Das vorliegende Buch ist von Axel Honneths (1992, 2003a, 2011) Anerkennungstheorie inspiriert. Mit Liebe, Recht und Leistung unterscheidet er drei Formen intersubjektiver Anerkennung und betont, dass in modernen Gesellschaften Anerkennung für Leistung in der Erwerbssphäre eine Zentralstellung erhält. Für Honneth führen erst alle drei Anerkennungsformen gemeinsam dazu, dass Subjekte »zu einer positiven Einstellung gegenüber sich selbst gelangen können« (Honneth 1992: 271). Honneth beschäftigt sich zwar nicht explizit und empirisch mit prekärer Beschäftigung und Prekarität. Wenn man aber von seinen Überlegungen ausgeht, liegt die Frage nahe, ob eine prekäre Beschäftigung mit Anerkennungsdefiziten einhergeht und falls ja, welche Wechselverhältnisse sich mit anderen Anerkennungssphären zeigen: Falls aus einer prekären Beschäftigung Anerkennungsdefizite resultieren, können diese zum Beispiel durch Anerkennung in einer romantischen Paarbeziehung in den Hintergrund treten und sozusagen durch Liebe abgeschwächt werden? Können Anerkennungsdefizite aus der Erwerbssphäre weiter verstärkt werden, wenn auch in der Liebessphäre keine Anerkennung gezollt wird, etwa weil in der Paarbeziehung Anerkennung verhindert wird oder weil es keine*n Partner*in gibt? Können Freundschaften oder alternative Sinnquellen Anerkennungsdefizite in der Erwerbssphäre abmildern? Oder kumulieren verschiedene Anerkennungsdefizite? Hierbei unterscheiden wir Menschen, die in einer Liebes- bzw. Paarbeziehung leben und Menschen ohne Paarbeziehung. Anders als Honneth gehen wir nicht nur von drei Anerkennungssphären aus, sondern von acht Dimensionen von Prekarität im Lebenszusammenhang, in denen Anerkennung und Nichtanerkennung auf vielfältige Weise empirisch relevant werden können (vgl. Motakef/Wimbauer 2019a).

Eine weitere wichtige Inspirationsquelle und anerkennungstheoretische Referenz bilden die Überlegungen von Butler (2010). Butler weist, ähnlich wie Honneth, auf Normen der Anerkennung hin, sie spricht weit gefasst von Rahmen der Anerkennbarkeit. Sie geht davon aus, dass sich Subjekte Normen unterwerfen, um gesellschaftlich Sichtbarkeit zu erlangen. Diesen Rahmen der Anerkennbarkeit sind bestimmte Annahmen unter anderem über Geschlecht und Sexualität implizit. Wir schließen auch an Butlers Überlegungen an und fragen nach den Normen der Anerkennbarkeit, die prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse regulieren.

Geschlechtersoziologisch auf Prekarisierung und Prekarität zu schauen, bedeutet zunächst, die Perspektive nicht auf das Brüchigwerden männlicher Normalarbeit zu verengen, sondern von der Prekarisierung der gesamten fordistischen Trias aus Erwerbsarbeit, Wohlfahrtsstaat und Familie (Aulenbacher 2009) auszugehen. Damit gerät auch die Erosion des männlichen Ernährermodells in den Fokus. Dem männlichen Ernährermodell lag eine genuin geschlechterungleiche und heteronormative Anerkennungsordnung zugrunde. Es beruht auf einer Arbeitsteilung zwischen den (Ehe-)Partner*innen, nach der Männern die mit viel Anerkennung verbundene Erwerbssphäre und Frauen die wenig anerkannte Reproduktionssphäre zugewiesen wurde (Wimbauer 2012). Diese geschlechterungleiche Arbeitsteilung wurde sozialpolitisch mit der bis 2017 nur Heterosexuellen vorbehaltenen Ehe abgesichert.

In Westdeutschland waren Frauen entweder nicht oder nur geringfügig, also dazuverdienend, beschäftigt. In der DDR galt dagegen die Förderung von Frauenerwerbstätigkeit als staatspolitisches Ziel, auch wenn viele Geschlechterungleichheiten fortbestanden, etwa ungleiche Löhne. Seit den 1970er Jahren erodiert in Westdeutschland das männliche Ernährermodell. Frauen wurden häufiger erwerbstätig, allerdings überwiegend in atypischen Beschäftigungsformen wie Teilzeit. Die Ausweitung von unsicheren Beschäftigungsverhältnissen, die in der arbeitssoziologischen Prekarisierungsforschung skandalisiert wird, betraf historisch gesehen also sehr häufig Frauen (Aulenbacher 2009).

Vor diesem Hintergrund fragen wir, ob sich mit dem Brüchigwerden des männlichen Ernährermodells Geschlechterungleichheiten verändert haben. Dazu nehmen wir eine Perspektive auf Paararrangements ein und analysieren, wie Paare in ihrem gemeinsamen Leben Ungleichheiten reproduzieren oder ob diese an Bedeutung verlieren. Was bedeutet es für Paare, wenn Männer nicht mehr Familienernährer sein können? Entstehen für Männer neue Räume, etwa für die Ausbildung einer stärkeren Sorgeorientierung für Kinder? Welche Geschlechterleitbilder und -konzepte lassen sich bei den Befragten auffinden, die nicht in einer romantischen Paarbeziehung leben?

Mit dieser Studie möchten wir das Erkenntnispotential der Prekarisierungs- und der Anerkennungsforschung erweitern: Ausgehend von der grundlegenden menschlichen Verletzbarkeit stehen im Mittelpunkt unserer relationalen Perspektive die vergeschlechtlichten Individuen-in-Beziehungen und deren Einbindung in vielfältige soziale Kontexte, insbesondere in Paar- und Nahbeziehungen. Mit unserem Ansatz können die Entstehung, Stabilisierung und Veränderung prekärer Lebenslagen in ihrer Komplexität und in ihrer Ambivalenz nachgezeichnet und erst so verstehend erklärt werden. Wie noch deutlich wird, unterscheiden wir hierbei acht Dimensionen von Prekarität im Lebenszusammenhang (vgl. Motakef/Wimbauer 2019a). Im Zentrum unseres Interesses stehen die subjektiven Deutungen der prekär beschäftigten Individuen-in-Beziehungen. Hiervon ausgehend nehmen wir wesentlich auch die Nicht-/Einbindung in Paar- und Nahbeziehungen, Sorgeverhältnisse, Selbstsorge und die Bedeutung alternativer Anerkennungs- und Sinnquellen für die Nicht-/Bewältigung prekärer Lebenslagen in den Blick.

Unabdingbar sind hierbei die Kategorie intersubjektiver Anerkennung sowie deren Ambivalenzen und potentielle Ideologien zu berücksichtigen, ist doch intersubjektive Anerkennung sozialkonstitutiv und eine zentrale Kategorie sozialer Ungleichheit (Wimbauer 2012). Nicht zuletzt richten wir den Blick immer auch auf vergeschlechtlichte Ungleichheiten. Der Lektüre des Buches vorausgreifend und sie zusammenfassend: Wir möchten mit der vorliegenden Studie das Erkenntnispotential der Prekarisierungsforschung erweitern, die Anerkennungsforschung zu neuen Blickwinkeln anregen und die Anerkennungstheorien zu konzeptuellen Erweiterungen inspirieren – um Sorge für Andere (Care), Selbstsorge und Selbstanerkennung, und vielleicht auch noch um das eine oder andere mehr.

In diesem Buch möchten wir Prekarisierungsphänomenen gerecht werden. Dabei ist uns eine präzise und nicht-diskriminierende Sprache wichtig. Allerdings existieren in diesen Forschungsfeldern Kategorien und Konzepte, die entweder verzerrend (etwa atypische Beschäftigung, Normalarbeit), defizitorientiert (etwa partnerlos) oder beides zugleich sind (etwa arbeitslos). Wir legen daher knapp dar, an welche Begriffe wir aus welchen Gründen anknüpfen und an welche nicht.

Arbeitslose – Erwerbslose. In unserer Studie sprechen wir von prekär Beschäftigten. Wie schon Castel (2000) beschrieb, wechseln sich aber auch bei fast allen unseren Befragten Phasen der prekären Beschäftigung mit Phasen der Arbeitslosigkeit ab. Als arbeitslos gilt in der Arbeitsmarktstatistik des Statistischen Bundesamtes eine Person, die sich bei der Bundesagentur für Arbeit als arbeitslos registriert und diesen Status auch sozialrechtlich erhalten hat. Den Status arbeitslos kann man behalten, auch wenn man bis zu 15 Stunden pro Woche erwerbstätig ist. Auch wenn es paradox klingt, heißt arbeitslos also nicht, dass eine Person nicht arbeitet – von der unentgeltlichen Arbeit in der Sorge und im Haushalt ganz abgesehen. Im Anschluss an das Labour-Force-Konzept der International Labour Organization (ILO) wird weiter von Erwerbslosen gesprochen. Als erwerbslos gilt, wer nicht erwerbstätig ist und sich (vom jeweiligen Befragungszeitraum aus betrachtet vier Wochen vorher) um Beschäftigung bemüht, unabhängig davon, ob diese Person sich bei der Agentur für Arbeit gemeldet hat oder nicht. Wir führen in dem vorliegenden Buch beide Verwendungen und folgen in der Darstellung des Forschungstandes den in den jeweiligen Studien ausgewiesenen Bezeichnungen.

Menschen in Paarbeziehungen – Menschen ohne Paarbeziehungen. Wir unterscheiden, wenn wir Nahbeziehungen ins Zentrum stellen, Menschen, die in einer (romantischen) Paarbeziehung leben und Menschen ohne eine solche. Da wir einen paarnormativitätskritischen Ansatz verfolgen, knüpfen wir nicht an den in den Sozialwissenschaften verbreiteten Begriff der Partnerlosigkeit an. Aus unserer Sicht markiert der Begriff der Partnerlosigkeit ein Defizit und erhebt dieses zur Grundlage der Definition. Auch der Begriff Single erscheint ungeeignet, da er die Wohnform und den Beziehungsstatus vermischt und vernachlässigt, dass Singles in der Regel sehr wohl soziale Beziehungen haben. Wir interessieren uns also für Menschen ohne Paarbeziehung, die wir aber genauso als Individuen-in-Beziehungen betrachten wie Menschen in einer Paarbeziehung. Ob das Nichtvorhandensein einer Paarbeziehung überhaupt als Anerkennungsdefizit erlebt wird oder nicht, oder ob andere Nahbeziehungen zur romantischen Paarbeziehung alternative Quellen von Anerkennung darstellen können oder nicht, stellt sich uns als empirische Frage.

Frauen – Männer. Im vorliegenden Buch interessieren wir uns für Geschlechternormen, womit wir auch eine kritische Perspektive auf die Geschlechterbinarität einnehmen. Da in der Erwerbssphäre, in der Sozialpolitik und in Familien aber weiterhin große Geschlechterungleichheiten bestehen, wird viel von Frauen und Männern die Rede sein, womit auch wir die Geschlechterbinarität reproduzieren. Wie wir in Kapitel 3 ausführen, liegt unserer Studie aber kein essentialistisches Verständnis von Geschlecht, sondern ein sozialkonstruktivistischer Ansatz zugrunde, womit wir Geschlecht als eine Herstellungsleistung verstehen. Geschlecht ist hiernach etwas, was Menschen in ihrem Tun und ihren Interaktionen hervorbringen und nicht etwas, was sie haben oder sind. Diese Herstellungsleistungen von Geschlecht verstehen wir aber nicht als beliebig veränderbar, sondern sie sind eingebunden in gesellschaftliche und strukturelle Kontexte. Geschlecht stellt damit nicht nur eine Prozesskategorie, sondern auch eine zentrale Strukturkategorie dar, die in allen Lebensbereichen ungleichheitsrelevant wirkt.

Wir bemühen uns um eine geschlechtergerechte Sprache. Aus diesem Grund wählen wir, wenn das Geschlecht keine Rolle spielt, eine geschlechterneutrale Sprache und markieren sonst mit einem sogenannten Gendersternchen beide Geschlechter sowie nicht-binär lebende Menschen. Wenn wir andere Studien referieren, ändern wir deren vergeschlechtlichte Markierungen aber nicht.

Das vorliegende Buch versammelt die Ergebnisse des DFG-Projekts »Ungleiche Anerkennung. ›Arbeit‹ und ›Liebe‹ im Lebenszusammenhang prekär Beschäftigter« (Wi2142/5–1).4 Christine Wimbauer leitete das Projekt, Mona Motakef und Ellen Ronnsiek waren Projektmitarbeiter*innen. Das Projekt wurde finanziert von Mai 2014 bis September 2017 und war zunächst an der Eberhard Karls Universität Tübingen und dann am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin angesiedelt. Wir führten narrative Einzel- und Paarinterviews mit insgesamt 24 Personen (acht Paare und acht Menschen ohne Paarbeziehung), die sich nach Castel (2000) in der Zone der Prekarität und Verwundbarkeit befinden.

In dem vorliegenden Buch präsentieren wir die Ergebnisse dieser Studie. Konzeptionelle Überlegungen zu Prekarisierung und Geschlecht (Motakef 2015; Motakef/Wimbauer 2019b), zu Prekarität im Lebenszusammenhang (Wimbauer/Motakef 2019), methodische Ausführungen zum Paarinterview (Wimbauer/Motakef 2017a,b) sowie ausgewählte empirische Ergebnisse (Motakef 2019a,b; Motakef/Bringmann/Wimbauer 2018b; Motakef/Wimbauer 2019a; Wimbauer/Motakef 2018, 2019) liegen bereits vor (siehe auch die Erklärung zu bereits vorliegenden Publikationen).

In insgesamt dreizehn Kapiteln zeigen wir, wofür prekär beschäftigte Menschen Anerkennung suchen und (nicht) finden, welche Wechselwirkungen sich dabei im Lebenszusammenhang zeigen und welche Geschlechterungleichheiten deutlich werden.

Kapitel 2 stellt den Forschungsstand, die theoretischen und begrifflichen Grundlagen ins Zentrum. Unter Rückgriff auf die arbeits- und geschlechtersoziologische Prekarisierungsforschung sowie auf Honneths und Butlers Theorien entwickeln wir unsere um Anerkennung erweiterte Perspektive auf Prekarität im Lebenszusammenhang und formulieren die Forschungsfragen. Kapitel 3 widmet sich den method/olog/ischen Grundlagen unserer Studie und wir stellen hier auch die Fälle vor, von denen dieses Buch erzählt. In Kapitel 4 geht es um die Bedeutung von Erwerbsarbeit für die Befragten: Wofür wünschen und erhalten sie erwerbsseitig Anerkennung, wofür nicht? In den folgenden Kapiteln greifen wir immer wieder auf diese grundlegenden Befunde zurück. Kapitel 5 bietet einen Überblick über die drei Konstellationen Abmilderung von Anerkennungsdefiziten, Ambivalenzen der Anerkennung sowie Kumulation von Anerkennungsdefiziten. Anerkennung in romantischen Paarbeziehungen ist Thema von Kapitel 6. Paarbeziehungen können eine Ressource sein, um erwerbsseitige Anerkennungsdefizite abzumildern, aber sie können Prekarität auch weiter verschärfen. Kapitel 7 fragt nach den Anerkennungsverhältnissen bei den Befragten ohne Paarbeziehung. Anhand der in Kapitel 5 skizzierten Konstellationen berichten wir, wie es gelingen kann, erwerbsseitige Anerkennungsdefizite abzufedern. Wir zeigen aber auch Ambivalenzen und die Kumulation multipler Ausschlüsse und Anerkennungsdefizite. Was bedeutet es für Männlichkeit, wenn Männer prekär beschäftigt sind? Kaschieren sie es, keine Ernährer mehr zu sein, oder ist es eine Alternative, mehr Sorge für Kinder zu leisten? Dies untersuchen wir in Kapitel 8. In Kapitel 9 stellen wir Erfahrungen mit dem Sozialstaat ins Zentrum. Wir berichten von »Kämpfen um Anerkennung« im Leistungsbezug (»Hartz IV«) und führen Kritik an der fehlenden Wertschätzung für Familienarbeit und für Alleinerziehende aus. Vereinbarkeitskonflikte sowie Anerkennungsdefizite in der Sorge (Care) für Kinder und Angehörige sind Thema von Kapitel 10. Zudem stellen wir dar, wie die Sorge für sich selbst eingeschränkt oder verhindert werden kann. Welche Wünsche, Visionen und Ängste haben die Befragten, wenn sie an ihre Zukunft denken? Die von uns rekonstruierten Antworten präsentieren wir in Kapitel 11. In Kapitel 12 fassen wir die empirischen Ergebnisse zusammen und stellen unsere daraus kondensierte Forschungsheuristik vor. Schließlich präsentieren wir in Kapitel 13 ein Fazit und einen Ausblick, in dem wir das Potential unserer Perspektive für die Prekarisierungs- und Anerkennungsforschung resümieren. Zuletzt stellen wir auch Überlegungen an, welche gesellschaftspolitischen Handlungsbedarfe wir sehen, die wir als Politiken der Ent_Prekarisierung bezeichnen. Das Buch schließt mit der Frage nach Alternativen zur und möglichen Auswegen aus der gesellschaftlichen Erwerbsarbeitszentrierung.

2.Prekäre Erwerbsarbeit – prekäre Lebenszusammenhänge – prekäre Anerkennung

Ausgangspunkt dieses Kapitels ist die Prekarisierung von Erwerbsarbeit. Mit einer prekären Beschäftigung geht in der Regel ein niedriges Einkommen einher, mit dem die materielle Existenz nur schwer oder nicht gesichert werden kann. Die hohe Bedeutung von Erwerbsarbeit liegt aber nicht nur in ihrer ökonomischen Funktion der materiellen Existenzsicherung, sondern auch in ihren sozialen Funktionen. So besitzt Erwerbsarbeit eine Integrationsfunktion und kann Sinn, soziale Teilhabe, Zugehörigkeit, Anerkennung und Struktur vermitteln. Eindrucksvoll zeigen dies Studien, die das Fehlen von Erwerbsarbeit ins Zentrum stellen. Das wohl prominenteste Beispiel ist die erstmals 1933 von einem Team um Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld veröffentlichte Studie »Die Arbeitslosen von Marienthal« (Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975 [1933]). Am Beispiel einer österreichischen Gemeinde, in der es durch die Schließung einer Textilfabrik zu einer hohen Arbeitslosigkeit kam, zeichnen die Forscher*innen nach, wie die Arbeitslosigkeit die Marienthaler*innen nicht zu Revolten bewegt, sondern zu einer »müden Gemeinschaft« (Jahoda et al. 1975 [1933]: 55) gemacht hat. In ihrer Soziographie rekonstruierten Jahoda et al. mittels biographischer Interviews und ethnographischer Beobachtungen Umgangsformen mit Arbeitslosigkeit und unterschieden vier Typen: den Typus des Ungebrochenen, den Resignierten, den Verzweifelten und den Apathischen. Die meisten Marienthaler*innen erschienen ihnen resigniert und apathisch. Die viele freie Zeit erweise sich als »tragisches Geschenk« (Jahoda et al. 1975 [1933]: 83): Viele Arbeitslose hätten ihre Tagesstruktur verloren und an Lebensführungskompetenz eingebüßt. Neben der Beschaffung von Brennholz falle ihnen kaum etwas ein, was sie in ihre Zeitverwendungsbögen eintragen könnten.

In der Rezeption der Studie wurde bisher wenig beachtet, dass der Verlust der Zeitstruktur ausschließlich für die arbeitslosen Männer zutraf. Der Tag der erwerbslosen Frauen hatte durch Haushaltsführung und Sorgearbeit weiter eine feste Struktur. Wir kommen hierauf bei der doppelten Vergesellschaftung von Frauen (Becker-Schmidt/Knapp/Schmidt 1984) zurück (Kapitel 2.2.2).

Auch wenn der Wegfall der Fabrikarbeit für die Frauen eine zeitliche Entlastung darstellte, wünschten sich doch alle die Fabrikarbeit zurück. Dies liege nicht nur am fehlenden Einkommen: »Die Fabrik hat ihren Lebensraum erweitert und ihnen soziale Kontaktmöglichkeiten gegeben, die sie jetzt entbehren« (Jahoda et al. 1975 [1933]: 92). Als zentrales Ergebnis der Studie gilt, dass der Verlust von Beschäftigung eine weitreichende psychosoziale Gefährdung bedeuten kann, die weit über die materielle Existenzsicherung hinaus geht. In einer späteren Arbeit führt Jahoda (1983) ihre Überlegungen zu den Funktionen von Erwerbsarbeit weiter. Neben der Einkommensfunktion, die sie als manifeste Funktion bezeichnet, benennt sie fünf weitere »latente Funktionen« (ebd.): 1. eine feste Zeitstruktur, 2. soziale Kontakte, die über die engere Familie hinausgehen, 3. das Verfolgen und die Teilnahme an kollektiven Zielen (und damit eine gewisse Selbsttranszendierung), 4. die Vermittlung von Status und Identität sowie 5. eine regelmäßige Beschäftigung und regelmäßige Aktivitäten. Wir übernehmen von Jahoda (1983), dass Erwerbsarbeit neben der materiell-ökonomischen Existenzsicherung vielfältige soziale Funktionen erfüllt.5

Die Marienthalstudie gilt als Klassiker der Sozialforschung und als bahnbrechend. Jahoda et al. (1975 [1933]) kombinierten auf innovative Weise standardisierte und nicht-standardisierte Verfahren und stellten schon früh die zersetzende Kraft sowie die psychosozialen Folgen von Arbeitslosigkeit heraus. Zudem haben sie nicht einzelne arbeitslose Personen befragt, sondern ganze Familien in den Blick genommen und in ihrer Soziographie eine Sensibilität für die unterschiedlichen Lebenszusammenhänge von Frauen und Männer entfaltet.

Allerdings entzündete sich an ihrer Deutung, dass Arbeitslosigkeit die Handlungsfähigkeit schwäche und zu Resignation und Apathie führe, eine Kontroverse, die bis heute die Sozialforschung beschäftigt und auch in der Prekarisierungsforschung weitergeführt wird. So lautet ein Kritikpunkt, dass Apathie und Resignation zwar wichtige Bewältigungsformen von arbeitslosen Menschen seien, diese sich darin aber nicht erschöpften (Dörre/Scherschel/Booth et al. 2013; Marquardsen 2012). Aus unserer Sicht wird den Verfasser*innen eine solch einseitige Annahme nur von Apathie und Resignation jedoch zu Unrecht unterstellt. Wie auch immer, die qualitative Arbeitslosenforschung, die sich seit den 1970er Jahren etablierte, zeigt heterogene Bewältigungsformen (Kronauer/Vogel/Gerlach 1993). Wir führen diese, wenn auch am Beispiel prekär Beschäftigter, in Kapitel 2.1.3 aus.

Einen weiteren Kritikpunkt formulierte Stephan Cole (2007): Die Marienthalstudie habe Erwerbsarbeit mythologisiert, da sie diese zur Bedingung menschlicher Handlungsfähigkeit erkläre. Arbeitslosigkeit gehe in der Studie, so Cole, geradezu zwangsläufig mit Apathie und Resignation und einem Leiden an fehlender Erwerbsarbeit einher. Damit sei aber ausgeschlossen, dass Menschen auch außerhalb von Erwerbsarbeit zu Gestalter*innen ihres Lebens werden können. Er fragt daher: Litten die Marienthaler*innen tatsächlich am Fehlen von Erwerbsarbeit oder nicht vielmehr an ihrer Armut (Cole 2007)? Haben Jahoda et al. (1975 [1933]) also ihre These zu weit getrieben? Oder aber unterschätzt womöglich Cole (2007) das zersetzende Potential von Arbeitslosigkeit unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen?

Die Frage nach dem Verhältnis von prekärer Erwerbsarbeit, Arbeitslosigkeit und Handlungsfähigkeit ist ein Dreh- und Angelpunkt der seit der Jahrtausendwende entfachten Prekarisierungsdebatte. Eine zentrale Forderung darin lautet, dass die Forschung prekär Beschäftigte nicht als passive Opfer ihrer Verhältnisse festschreiben, sondern sich die Aufmerksamkeit vielmehr auf die Bemühungen der Menschen richten sollte, Handlungsfähigkeit zu bewahren (Bescherer 2013). Dabei – so fügen wir hinzu – ist auch zu eruieren, welche alternativen Anerkennungsquellen sie womöglich generieren können.

Im Folgenden stellen wir in Kapitel 2.1 die arbeitssoziologische Prekarisierungsforschung vor und in 2.2 deren geschlechtersoziologische Kritiken. Wir präsentieren Studien, die Prekarität im Lebenszusammenhang verorten und skizzieren Forschungen zu Sorge (Care), zu Hetero- und Paarnormativität sowie zu Paarbeziehungen und Männlichkeiten. Danach wenden wir uns der für uns zentralen Kategorie der Anerkennung zu, die bisher in der Prekarisierungsforschung kaum berücksichtigt wurde: In Kapitel 2.3 legen wir anerkennungstheoretische Überlegungen von Honneth und Butler dar und präsentieren in Kapitel 2.4 Studien, die Hinweise zu Anerkennung mit Blick auf (prekäre) Lebenszusammenhänge bieten. Hieraus entwickeln wir in Kapitel 2.5 unsere Forschungskonzepte und Forschungsfragen.

2.1Prekarisierung von Erwerbsarbeit

2.1.1Wandel der Erwerbssphäre

Spätestens seit der Jahrtausendwende findet in den Sozialwissenschaften eine Auseinandersetzung über das Ausmaß und die Folgen von Entsicherungsprozessen in der Erwerbssphäre statt, die als Prekarisierung bezeichnet werden.6 Diese Entsicherungsprozesse sind Teil eines umfassenden Strukturwandels der Erwerbssphäre. Mit dem sektoralen Wandel und der wachsenden ökonomischen Globalisierung bricht männlich geprägte Industriearbeit ein, während Dienstleistungs- und Wissensarbeit, sogenannte immaterielle Arbeit, im globalen Norden an Bedeutung gewinnen (Lazzarato 1998). Die Erwerbsbeteiligung von Frauen steigt, allerdings üben Frauen in Deutschland häufig Beschäftigung in Teilzeit aus (Sachverständigenkommission 2011).7 Seit den 1990er Jahren zeichnen sich kapitalmarktorientierte Rationalisierungsprozesse und Umstrukturierungen ab. Im Produktionsregime des über Aktienmärkte gesteuerten Finanzmarktkapitalismus ist Profitmaximierung zum obersten Unternehmensziel geworden (Deutschmann 2009; Dörre 2009; Windolf 2005). Der steigende Konkurrenzdruck wird häufig nicht mehr von den Unternehmen abgefedert, sondern direkt an die Beschäftigten weitergegeben.

Diese Prozesse befördern auch den sich in Deutschland abzeichnenden Rückgang des männlichen Normalarbeitsverhältnisses (NAV). Das NAV umfasst eine kontinuierliche und zeitlich unbefristete Vollzeitbeschäftigung bei einem*r Arbeitgeber*in, die arbeits- und sozialrechtlich abgesichert ist und aus der ein Lohn erzielt wird, der die Existenz einer Familie absichert (Mückenberger 1985). Dieser Typus von Arbeitsverhältnis hatte von der Nachkriegszeit bis nach 1970 seine größte normative Orientierungsfunktion und fand auch in dieser Zeit seine größte Verbreitung, auch wenn nie alle (männlichen) Beschäftigten derart angestellt waren. Das NAV gilt als männlich, weil es in das männliche (und heteronormative) Ernährermodell eingebettet war, nach dem Männer einer entlohnten Beschäftigung nachgehen und (Ehe-)Frauen für Sorge und Haushalt verantwortlich sind. Der Anteil der im NAV Beschäftigten an den Erwerbstätigen lag 1991 noch bei 82,6 Prozent. Bis 2006 sank er auf 65,4 Prozent und stieg bis 2016 wieder leicht auf 69,2 Prozent an (eigene Prozentberechnung auf Basis von Statistisches Bundesamt/WZB 2018: 159).

Seit der Jahrtausendwende vollzieht sich zudem ein sozialpolitischer Wandel, der sich vom männlichen Ernährermodell abwendet und das Leitbild des Adult Worker Model (Lewis 2002) fördert. Auch das neue arbeitsmarktpolitische Aktivierungsparadigma orientiert sich an diesem Leitbild: Mit der Einführung der Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt seit 2002 sollen möglichst alle Erwerbsfähigen eine Beschäftigung aufnehmen, so auch Mütter kleiner Kinder. Das Aktivierungsparadigma folgt dem Grundgedanken, dass staatliche Unterstützungsleistung zu Passivität führe. Während die Arbeitsmarktpolitik früher auf Prävention und Statussicherung setzte, zielt sie seitdem verstärkt auf Eigeninitiative und Eigenverantwortung; ihre Maxime lautet Fördern und Fordern (Dörre et al. 2013; Lessenich 2008). Um dieses Ziel zu erreichen, wurde der Arbeitsmarkt flexibilisiert: Beschäftigungsverhältnisse in Teilzeit wurden ausgeweitet, Mini-, Midi- und Ein-Euro-Jobs eingeführt, Leiharbeit etabliert und ausgebaut (Keller/Seifert 2013) sowie einiges andere mehr. Die sogenannten Hartz-Gesetze verstärkten also den Trend der Flexibilisierung von Beschäftigung.

Tatsächlich ist es durch die Arbeitsmarktreformen gelungen, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren: Sie ist von 11,8 Prozent im Jahr 2005 (Statistisches Bundesamt o. J.) auf 5,1 Prozent im August 2019 gesunken (Bundesagentur für Arbeit 2019: 15). Wenn man allerdings nicht nur von der offiziellen Arbeitslosigkeitszahl ausgeht, sondern alle erwerbsfähigen Leistungsbeziehenden berücksichtigt, erhält man für August 2019 nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (2019: 22) einen Anteil von 7,1 Prozent. Seit 2005 ist zudem die Stille Reserve gestiegen (Fuchs/Weber 2010), also die Gruppe an Beschäftigungslosen, die sich gar nicht erst als arbeitslos meldet (Fuchs/Gehrke/Hummel et al. 2018). Es wird angenommen, dass sie sich entmutigt fühlen, überhaupt noch Beschäftigung zu finden und Stigmatisierungen entgehen wollen, die viele mit dem Leistungsbezug assoziieren. Wenn man also die Hilfequote und die Stille Reserve mit berücksichtigt, erscheint der Rückgang der Arbeitslosigkeit als geringer und nicht nur als Folge erhöhter Erwerbstätigkeit.

Zudem gehe es bei der (Re-)Integration in Erwerbsarbeit nicht um gute Arbeit und um sichernde Beschäftigungsverhältnisse, sondern darum, überhaupt in Beschäftigung zu gelangen – frei übersetzt: jede Arbeit sei besser als keine. Treffend bringen es Dörre et al. (2013: 33) auf den Punkt: Im arbeitsmarktpolitischen Aktivierungsregime zeichne sich der Übergang von einer »fordistischen Vollbeschäftigungs- zu einer prekären Vollerwerbsgesellschaft« ab.

Wir nehmen sowohl den Formwandel von Erwerbsarbeit durch den Ausbau prekärer Beschäftigungsverhältnisse als auch den Leistungsbezug nochmals auf. Zuvor aber beschäftigten wir uns mit dem Wandel der Sinngehalte von Erwerbsarbeit, der sich ebenfalls vollzieht. Bereits Anfang der 1990er Jahre beobachtete Martin Baethge (1991), dass Angestellte in Dienstleistungsberufen nicht nur ein instrumentelles Arbeitsverständnis haben, sie also nicht nur arbeiten wollen, um ihren Status und die materielle Existenz von sich und ihren Familien zu sichern, sondern auch Ansprüche auf Entfaltung und Selbstverwirklichung stellen. Mit dem Begriff der »doppelten Subjektivierung« konstatieren Frank Kleemann, Ingo Matuschek und G. Günter Voß (2003), dass nicht nur die Beschäftigten ihre Subjektivität stärker in den Arbeitsprozess einbringen möchten, wie Baethge beobachtete, sondern auch die Arbeitsorganisationen einen veränderten und verstärkten Zugriff auf die Subjektivität der Beschäftigten ausüben (Lohr/Nickel 2005). Subjektivität sei vom »Störfaktor zur Ressource« (Moldaschl/Sauer 2000: 216) geworden.

Eng mit der doppelten Subjektvierung von Arbeit verknüpft wird eine Entgrenzung von Arbeit und Leben diskutiert (Gottschall/Voß 2003; Kratzer/Sauer 2007; Mayer-Ahuja/Wolf 2005). Diese kann sich räumlich sowie zeitlich zeigen, etwa wenn Erwerbsarbeit auch zuhause und unterwegs stattfindet und wenn die Grenzen zwischen Arbeit und Nichtarbeit aufweichen (Virno 2005). Sie kann auf Ebene der Sozialorganisation erfolgen, wenn betriebliche Entscheidungen in die Verantwortlichkeit und Organisation der Beschäftigten fallen, weiter auf Ebene der Arbeitsinhalte, der Qualifikation sowie von Sinn und Motivation, wenn Fähigkeiten gefordert werden, die außerhalb von Arbeit und Betrieb erworben wurden und sinnhafte Identifikationen mit Erwerbsarbeit an Bedeutung gewinnen (Voß 1998).

Veränderungen der Sinngehalte werden auch unter dem Stichwort der Vermarktlichung beschrieben: Die kapitalistische Verwertungslogik und das Konkurrenzprinzip führen zu einer Ökonomisierung ganzer Lebensbereiche, die vormals außerhalb ökonomischer Imperative standen. Das Leistungsprinzip und der Markterfolg gewinnen an Bedeutung, wobei der kompetitive Markterfolg zum nahezu ausschließlichen Kriterium von Leistung geworden sei (Neckel/Dröge/Somm 2005; Neckel/Wagner 2013a). War für den Fordismus noch der verberuflichte Arbeitnehmer typisch, so wurde dieser vom Idealtypus des Arbeitskraftunternehmers abgelöst (Voß/Pongratz 1998; Jurczyk/Voß 2000). Statt betrieblicher Kontrolle sei für diesen Typus die marktbezogene Selbststeuerung kennzeichnend. Keinen Idealtypus, sondern eine »Realfiktion« (Bröckling 2007: 46) als neue appellativ-präskriptive Figur stellt das unternehmerische Selbst (Bröckling 2007) dar, Leitbild eines neuen Subjektivierungsregimes im Sinne einer Sozial- und Selbsttechnologien einschließenden Diskursformation. Damit ausgedrückt wird das diskursiv vermittelte Gebot, das eigene Leben fortwährend als unternehmerisches Projekt zu entwerfen und sich permanent in Selbstoptimierung zu üben. Allerdings weise das (unternehmerische) Selbst auch »dunkle Seiten« auf, wie die »Unabschließbarkeit der Optimierungszwänge, die unerbittliche Auslese des Wettbewerbs, die nicht zu bannende Angst vor dem Scheitern« (Bröckling 2007: 13).

Viele dieser Phänomene, etwa die Subjektivierung von Arbeit, wurden bislang insbesondere für gut Qualifizierte erforscht, die sich überwiegend in sicheren Beschäftigungsverhältnissen befinden. Doch auch ihre Lebenszusammenhänge können prekäres Potential aufweisen: Als Kehrseite des unternehmerischen Subjekts, das zur permanenten Arbeit an seinem Selbst angetrieben wird, gilt das »erschöpfte Selbst« (Ehrenberg 2008), welches unter Depression und Burnout leidet (Neckel/Wagner 2013b). Ob auch prekär Beschäftigte Ansprüche auf Subjektivierung von Arbeit formulieren und sich an der Subjektivierungsweise des unternehmerischen Selbst orientieren, ist noch weitgehend unklar (Magnin 2009).

Mit den skizzierten Entwicklungen kann festgehalten werden, dass die subjektive Bedeutung von Erwerbsarbeit als Quelle von Anerkennung und Selbstverwirklichung gestiegen ist. Gleichzeitig wird Erwerbsarbeit entgrenzt und vermarktlicht und spätestens seit den arbeitsmarktpolitischen Reformen flexibilisiert und verunsichert, prekäre Beschäftigungsverhältnisse werden also ausgeweitet. Doch wie genau wird eine prekäre Beschäftigung bestimmt und wie zeigt sich die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse?

2.1.2Prekäre Beschäftigung im Aktivierungsregime

Was ist prekäre Beschäftigung?

Prekäre Beschäftigung ist ein so diffuser wie komplexer Begriff. In der Regel werden darunter Teilzeittätigkeiten in Form von sozialversicherungspflichtigen oder geringfügigen (Mini- und Midijobs) Beschäftigungsverhältnissen, befristete Beschäftigung, neue Formen der Selbstständigkeit (wie sogenannte Ich-AG, Solo- und Scheinselbstständigkeit) und Leiharbeit gefasst.

In der englischsprachigen Literatur finden sich insbesondere zwei Verwendungen (Vosko/McDonald/Campbell 2009b: 6): Zum einen wird prekäre Beschäftigung mit atypisch gleichgesetzt und damit ein konkretes Defizit in einem Beschäftigungsverhältnis markiert. Atypisch und damit prekär ist eine Beschäftigung hiernach, wenn sie vom Normalarbeitsverhältnis (Mückenberger 1985) abweicht. Dieser Definition liegt ein dichotomes Verständnis von sicher versus atypisch zugrunde. Abgesehen von jener Eindimensionalität distanzieren wir uns aufgrund terminologischer Verwirrungen von dieser Begriffsverwendung, da erstens Teilzeit für Frauen nicht atypisch, sondern typisch im Sinne von üblich ist. Zweitens beschreiben prekär und atypisch nicht die gleichen Phänomene, sind also nicht synonym. Zwar ist eine prekäre Beschäftigung immer atypisch, da sie vom NAV abweicht (aber nicht, da sie für Frauen atypisch sei), jedoch sind atypische Beschäftigungen nicht immer prekär, wie das Beispiel soloselbstständiger IT-Unternehmer*innen verdeutlicht (Brehmer/Seifert 2008; Kraemer 2008). Atypische Beschäftigungsverhältnisse haben allerdings ein hohes Prekaritätsrisiko, was sich je nach atypischer Beschäftigungsform unterschiedlich zeigen kann (Keller/Seifert 2013).

In einer zweiten Verwendung, der wir uns anschließen, werden vielfältige Unsicherheiten in der Erwerbssphäre beschrieben, etwa in einer international viel beachteten Definition von Leah F. Vosko. Prekäre Beschäftigung sei demnach »work for remuneration characterized by uncertainty, low income, and limited social benefits and statuory entitlements« (Vosko 2010: 2). Prekäre Beschäftigung wird hier nicht als Dichotomie, sondern als Kontinuum gefasst.

Zudem impliziert eine prekäre Beschäftigung, anders als der Begriff der atypischen Beschäftigung, nicht nur objektive, sondern auch subjektive Dimensionen, also die subjektive Wahrnehmung, Deutung und das Erleben der Beschäftigung. Dies veranschaulicht Arne L. Kallebergs (2008: 2) Definition: »By ›precarious work‹, I mean employment that is uncertain, unpredictable, and risky from the point of view of the worker.« In der deutschsprachigen Debatte spielen die Unterscheidung und Einbeziehung von subjektiven sowie objektiven Dimensionen eine große Rolle. Wolfram Brehmer und Hartmut Seifert (2008: 505) betonen mit Blick auf die subjektive Dimension unter anderem, dass die Freiwilligkeit der Wahl einer bestimmten Beschäftigungsform für die Einstufung von Prekarität wichtig ist.8

Weiter wird bei der Bestimmung einer prekären Beschäftigung in der Regel eine Unterschreitung eines bestimmten gesellschaftlichen Standards konstatiert (Mayer-Ahuja 2003). Vor diesem Hintergrund orientiert sich die deutschsprachige Auseinandersetzung am männlichen Normalarbeitsverhältnis (Mückenberger 1985). In Anlehnung an dieses bestimmen Brinkmann et al. (2006: 17) ein Beschäftigungsverhältnis als prekär, wenn die

»Beschäftigten aufgrund ihrer Tätigkeiten deutlich unter ein Einkommens-, Schutz- und soziales Integrationsniveau sinken, das in der Gegenwartsgesellschaft als Standard definiert und mehrheitlich anerkannt wird. Und prekär ist Erwerbsarbeit auch, sofern sie subjektiv mit Sinnverlusten, Anerkennungsdefiziten und Planungsunsicherheit in einem Ausmaß verbunden ist, das gesellschaftliche Standards deutlich zuungunsten der Beschäftigten korrigiert«.

Sie berücksichtigen sowohl objektive als auch subjektive Aspekte und unterteilen diese in eine materiell-reproduktive, eine institutionell-rechtliche und eine sozial-kommunikative Dimension. Für die Bestimmung einer prekären Beschäftigung gibt ihnen also das Normalarbeitsverhältnis Orientierung. Da aber auch subjektiv erfahrene Sinnverluste und Anerkennungsdefizite berücksichtigt werden, geht ihre Konzeptionierung darüber hinaus. Diese Bestimmung von prekärer Beschäftigung findet im deutschsprachigen Raum große Beachtung. In der amtlichen Statistik werden allerdings nicht prekäre, sondern atypische Beschäftigungsverhältnisse erhoben.

Wie erwähnt, müssen atypische Beschäftigungsverhältnisse nicht zwangsläufig prekär sein (Böhnke/Zeh/Link 2015) – auch wenn sie es oft sind. Atypisch beschäftigt sind Menschen besonders häufig, wenn mindestens eines der folgenden Kriterien auf sie zutrifft: weiblich, junges Lebensalter, Migrationshintergrund, alleinerziehend, geringe Qualifikation (Böhnke et al. 2015; Brinkmann et al. 2006; Giesecke 2009). Viele der atypisch Beschäftigten mit diesen Gruppenzugehörigkeiten sind zugleich prekär beschäftigt.

Den Anteil atypischer Beschäftigung an der Gesamtbeschäftigung hat sich von 1991 bis 2015 fast verdoppelt und stagniert seit 2013 bei etwa 38 Prozent (Seifert 2017). Allerdings unterscheiden sich atypische Beschäftigungen mit Blick auf ihr Ausmaß und ihre Entwicklung: Auf Teilzeitarbeit fällt mit Abstand der größte Anteil (25,5 Prozent) aller atypisch Beschäftigten (Seifert 2017: 7). Am zweithäufigsten sind Minijobs (22,8 Prozent), wobei zwei Drittel aller Beschäftigten in Minijobs diesen als Haupterwerb ausüben und ein Drittel einem zusätzlichen Hauptjob nachgeht. Geschlechterunterschiede sind hier eklatant, insofern als sozialversicherungspflichtige Teilzeit- und Minijobs von Frauen dominiert werden. Von allen Frauen, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, arbeitet fast die Hälfte (47 Prozent) in Teilzeit, während dies nur für 11 Prozent der entsprechenden Männer zutrifft. Von den Personen, die ausschließlich geringfügig beschäftigt sind (Mini- und Midijobs), sind nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (2018: 12) zwei Drittel weiblich. Die Einführung des Mindestlohns 2015 hatte zur Folge, dass die Zahl derer gesunken ist, die ausschließlich einen Minijob haben, während die Zahl derer gestiegen ist, die noch einem Nebenjob nachgehen (Seifert 2017: 7). Auch hier »üben mehr Frauen als Männer neben einer sozialversicherungspflichtigen Hauptbeschäftigung einen Minijob als Nebenjob aus« (Bundesagentur für Arbeit 2018: 12). Auf den Minijob folgen befristete Beschäftigungsverhältnisse (7,8 Prozent), Midijobs (4,1 Prozent), Soloselbstständigkeit (5,5 Prozent) sowie Leiharbeit (3 Prozent) (Seifert 2017).

Von prekärer Beschäftigung zur prekären Lebenslage

Wenn wir wieder auf die Bestimmungen einer prekären Beschäftigung (Brinkmann et al. 2006) zurückkommen, kann allerdings noch nicht von dieser auf eine prekäre Lebenslage geschlossen werden. Aus diesem Grund wird in ungleichheitssoziologischen Studien ein »erweitertes Prekaritätsverständnis« (Brandt/Böhnke 2018: 333) vorgeschlagen. Berücksichtigt werden der Haushaltskontext (Kraemer 2008) sowie das Verhältnis von »precarious employment« und »precarious lives« (Clement/Mathieu/Prus et al. 2009). Wird aus einer prekären Beschäftigung nur ein geringes Einkommen erzielt, kann dieses durch das Einkommen eines weiteren Haushaltsmitglieds abgefedert werden. Aber auch aus einer sicheren Beschäftigung kann eine prekäre Lage resultieren, wenn zum Beispiel in der Familie Angehörige pflegebedürftig werden (Allmendinger et al. 2018; Promberger/Jahn/Schels et al. 2018).

In ihrer Bestimmung einer prekären Lebenslage schlagen Promberger et al. (2018: 12) vor, die prekäre Beschäftigung über das Einkommen (Niedriglohn, Existenzminimum), mangelnde soziale Absicherung (fehlende Absicherung, kein Kündigungsschutz) sowie Arbeitsplatzunsicherheit (»einfache« Arbeit, Erwerbslosigkeitsrisiko sowie erhöhte berufsspezifische Gesundheitsrisiken) zu bestimmen. Zur Berücksichtigung der Haushaltslage erfassen sie die Wohnsituation (schlechte und beengte Wohnverhältnisse), die finanzielle Situation (Armut, finanzielle Rücklagen, Schulden), besondere Belastungen (Krankheit und Behinderung) sowie fehlende rechtliche Absicherung (keine abgeleiteten Sozialversicherungs-ansprüche).

Die mehrdimensionale Berücksichtigung von Unsicherheitslagen ist jedoch keine Erfindung der Prekarisierungsforschung. Die Pointe der eingangs erwähnten Marienthalstudie bestand darin, dass Arbeitslosigkeit gerade nicht nur über die Dimensionen des Einkommens und der Erwerbslage erforscht wurde. Auch aus der Armutsforschung liegen hierzu wichtige Konzepte vor, wie der von Otto Neurath (1937) eingeführte Lebenslagenansatz (siehe auch Amann 1983; Glatzer/Hübinger 1990; Hauser/Neumann 1992). Eine wichtige Referenz für das von uns verwendete Konzept Prekarität im Lebenszusammenhang stellt der Bremer Lebenslagenansatz (Voges/Jürgens/Maurer et al. 2003) dar (Motakef/Wimbauer 2019a). Es berücksichtigt verschiedene Dimensionen wie Einkommen, Erwerbstätigkeit, Bildung, Gesundheit und Wohnen und unterscheidet dabei auch subjektive und objektive Ausprägungen.

Auch Peter Bartelheimer (2005, 2007) schließt an den Lebenslagenansatz an und stellt dabei den Begriff der Teilhabe ins Zentrum, den er ebenfalls mehrdimensional fasst (gesellschaftliche Arbeit, soziale Nahbeziehungen, Rechte und Kultur). Teilhabe sei prekär, wenn »sich die äußeren wie verinnerlichten sozialen Anforderungen an die eigene Lebensweise und die tatsächlichen Möglichkeiten zu ihrer Realisierung auseinanderentwickeln« (Bartelheimer 2005: 53). Sie könne schließlich in Ausgrenzung umschlagen, wenn »Personen oder Gruppen dauerhaft, biographisch unumkehrbar von gesellschaftlich üblichen Teilhabeformen ausgeschlossen sind, die sie individuell anstreben« (Bartelheimer 2005: 53). Eine hierfür besonders gefährdete Gruppe stellen Personen im Leistungsbezug dar. Wie genau gestaltet sich also der Leistungsbezug?

Leistungsbezug nach SGB III (Arbeitslosengeld I) und nach SGB II (Grundsicherung, Arbeitslosengeld II)

Wie erwähnt, wechseln sich in der Zone der Prekarität und Verwundbarkeit (Castel 2000) Phasen einer prekären Beschäftigung oft mit Phasen der Arbeitslosigkeit ab. Menschen, die arbeitslos geworden sind und bestimmte Bedingungen erfüllen,9 können Arbeitslosengeld (ALG I), also Leistungen nach SGB III, erhalten (von der »Agentur für Arbeit«). Die Dauer beträgt, je nach erfüllten Voraussetzungen, zwischen 6 und 24 Monaten. Wenn kein Anspruch auf ALG I (mehr) besteht, können Menschen, die arbeitslos sind oder aus ihrer Erwerbsarbeit kein existenzsicherndes Einkommen erzielen, Arbeitslosengeld II (im »Jobcenter«), also Leistungen der Grundsicherung (GruSi) nach dem SGB II beantragen (Bähr/Dietz/Kupka et al. 2018a,b).10 Auch erwerbsfähige Personen, die dem Arbeitsmarkt wegen Einschränkungen nicht zur Verfügung stehen sowie nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte, insbesondere Kinder unter 15 Jahren, können Leistungen nach SGB II, etwa in Form von Sozialgeld, erhalten. Im August 2019 befanden sich 5,471 Millionen Menschen in 2,9 Millionen Bedarfsgemeinschaften im Leistungsbezug nach dem SGB II; aufstockende Sozialleistungen bezogen 2019 über 1,1 Millionen Erwerbstätige, deren Einkommen nicht existenzsichernd ist (Bundesagentur für Arbeit 2019: 22).

Im Leistungsbezug setzt das arbeitsmarktpolitische Aktivierungsregime an der Beschäftigungsfähigkeit der (erwerbsfähigen) Einzelnen an und kombiniert mit strengen Zumutbarkeitsregeln und Sanktionen ein engmaschiges Netz an disziplinierenden und kontrollierenden Maßnahmen (Dörre et al. 2013). Durch möglichst individuell passgenaue Programme sollen die Leistungsbeziehenden wieder in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden.

Frauen werden deutlich seltener mit arbeitsmarktpolitischen Instrumenten gefördert als Männer (Jaehrling 2015; Jaehrling/Rudolph 2010), Frauen in einer Paarbeziehung dabei noch seltener als Frauen ohne Paarbeziehung (Kopf/Zabl 2017) – auch wenn mit der Orientierung am Adult Worker Model eigentlich ein gleichberechtigter Zugang zu den Maßnahmen verbunden ist. Eine Ursache dafür sind gesellschaftlich verankerte Geschlechterstereotype unter anderem der Fallmanager*innen, die Frauen oft weiterhin die Verantwortung für Haus- und Sorgearbeit zuschreiben, was Vor- und Nachteile für die Frauen haben kann: Einerseits erhalten sie anders als viele Väter die Möglichkeit, sich um ihre Kinder zu kümmern, andererseits mindert dies ihre ohnehin geringen Chancen, den Leistungsbezug zu überwinden.

Wer sich im Leistungsbezug befindet und nicht hochqualifiziert ist, schafft oft auch trotz größter eigener Bemühungen und trotz der Kontrollen und Disziplinierungen der Jobcenter nur selten den Übergang in eine bedarfsdeckende und sichere Beschäftigung (Beste/Trappmann 2016; Bruckmeier/Hohmeyer 2018). Wer schon länger im Leistungsbezug verweilt und eines oder mehrere der sogenannten Vermittlungshemmnisse aufweist, also gesundheitlich eingeschränkt ist, ein höheres Alter hat, nicht gut deutsch spricht, keinen Ausbildungs- und Schulabschluss hat sowie Sorgeverantwortung für Kinder oder alte Menschen trägt, hat sehr geringe Chancen, diesen Übergang zu schaffen (Beste/Trappmann 2016). Die Leistungsbezieher*innen sehen sich zunehmend gezwungen, auf ihr soziales Umfeld, wenn vorhanden, zurückzugreifen, also auf Paar-, Freundschafts- und Familienbeziehungen. Paradoxerweise werden ihre Netze als Substitution sozialer Leistungen vorausgesetzt, dadurch aber auch überfordert und gefährdet (Marquardsen 2012), was wir in Kapitel 2.4 aufgreifen.

Der Leistungsbezug ist weiter häufig mit psychosozialen Einschränkungen verknüpft. Fast die Hälfte der arbeitslosen ALG II-Bezieher*innen leidet unter ernsten Gesundheitsproblemen (Achatz/Trappmann 2011). Im Leistungsbezug verschlechtert sich häufig der gesundheitliche Zustand weiter, da etwa wegen geringer materieller Ressourcen Zuzahlungen zu Medikamenten nicht möglich sind oder an Heizkosten gespart wird. Insgesamt führt der unfreiwillige Verlust des Arbeitsplatzes häufig zu langfristigen Einschränkungen der Gesundheit (Voßemer/Gebel/Nizalova et al. 2018).

Auch psychische Erkrankungen sind im Leistungsbezug verbreitet: Mehr als einem Drittel der Personen im SGB II-Bezug wurde eine psychiatrische Diagnose erstellt (Schubert/Parthier/Kupka et al. 2013). Nach Angaben von Krankenkassen sind außerdem Suchterkrankungen, sogenannte affektive Störungen (meist Depressionen) sowie sogenannte neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen häufig (ebd.). Die Arbeitssuche erweist sich für diese Gruppe als enorm schwer und hindernisreich, unter anderem auch deshalb, weil es auf institutioneller Ebene zwischen dem Fallmanagement der Jobcenter und den Einrichtungen der psychosozialen Beratung und Unterstützung kaum Kooperationen gibt (Oschmiansky/Popp/Riedel-Heller et al. 2017).11

Die Folgen der aktivierenden Arbeitsmarktreformen sind ambivalent: Wie dargelegt, ist die Arbeitslosigkeit in der offiziellen Arbeitsmarktstatistik gesunken. Dennoch können viele Menschen nicht von ihrer Erwerbsarbeit leben und sind permanent wechselnden Phasen zwischen prekärer Beschäftigung und Arbeitslosigkeit ausgesetzt. Daraus folge eine »Dauermobilisierung« (Grimm/Hirseland/Vogel 2013: 258), die, so eine zentrale prekarisierungstheoretische These, weit über die Zone der Prekarität und Verwundbarkeit hinaus für Verunsicherungen sorgt. Insgesamt sind die Arbeitsmarktreformen seit Anbeginn stark umstritten und Ende 2018 ist die Diskussion um eine Abschaffung des ALG II erneut entbrannt – mit offenem Ausgang. Sie entzündete sich unter anderem an der Stigmatisierung von »Hartz IV«-Beziehenden, der Infragestellung einer ausreichenden Höhe des ALG II, eines zielführenden Förderns sowie eines womöglich unangemessenen Forderns (Sanktionen). Ebenso offen sind derzeit die Effekte des zum 1.1.2019 in Kraft getreten Gesetzes zur Schaffung neuer Teilhabechancen für Langzeitarbeitslose auf dem allgemeinen und sozialen Arbeitsmarkt (Teilhabechancengesetz/10. SGB II-ÄndG).

2.1.3Soziale Folgen und subjektive Bewältigung prekärer Erwerbsarbeit

Robert Castel (2000) legt eine viel beachtete sozialhistorische Untersuchung vor, in der er verschiedene Integrationsmodi von Erwerbsarbeit in westeuropäischen Gesellschaften nachzeichnet. Dabei interessiert ihn das Verhältnis der gesellschaftlichen Mitte und ihrer Ränder. Vor dem Hintergrund der Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse in Frankreich diagnostiziert er eine Wiederkehr der sozialen Frage und der Figur des Überzähligen, womit sich in seiner Sicht durchaus Parallelen zwischen dem Langzeitarbeitslosen von heute und dem Vagabunden des vorindustriellen Zeitalters ergeben.

Viele Menschen in Frankreich würden sich heute gar nicht mehr am sozialen Aufstieg orientieren, vielmehr zeige sich ein »Sich-Einrichten in der Prekarität« (Castel 2000: 357). Gefangen in einer »Kultur des Zufalls« (Rouleau-Berger nach Castel 2000: 358) hätten die Überzähligen der Gegenwart keine Vorstellung eines Kollektivs, keine berufliche Identität und keine Zukunftsperspektive mehr. Dies unterscheide sie grundlegend von Arbeitern, die etwa in Arbeitskämpfe involviert waren. Kennzeichnend für die heutige Arbeitsgesellschaft in Frankreich sei weiter eine »Destabilisierung des Stabilen« (Castel 2000: 357). Nicht nur die Ränder seien vom Absturz bedroht, sondern auch die Mittelschicht.12 Prekäre Beschäftigung sei in ihrer Wirkung »demoralisierend« und zeige sich als »Prinzip sozialer Auflösung« (Castel 2005: 37).

Am Beispiel von Frankreich differenziert Castel (2000: 360f.) in der Arbeitsgesellschaft vier Zonen: erstens die Zone der Integration, zweitens die Zone der Prekarität und Verwundbarkeit, drittens die Zone der Fürsorge und viertens die Zone der Exklusion.13 Die Verunsicherungen seien allerdings so weitreichend, dass nicht nur Beschäftigte in der Zone der Prekarität und Verwundbarkeit, sondern auch in der Zone der Integration Angst vor sozialem Abstieg hätten. Castel vermutet, dass sich Unsicherheiten in der Erwerbssphäre auch auf die soziale Einbindung auswirken. Es bestehe eine

»Komplementarität zwischen dem, was sich auf einer Achse der Integration durch Arbeit – stabile Beschäftigung, prekäre Beschäftigung, Ausschluss aus Arbeit – und durch die Dichte der Integration in den Beziehungsnetzwerken der Familie und der Gemeinschaft – solide Verankerung in den Beziehungsnetzwerken, Brüchigwerden der Beziehungen, soziale Isolation – abspielt« (Castel 2000: 360).

Prekäre Beschäftigung führe hiernach also zu einer Erosion der sozialen Einbindung.

Auch Pierre Bourdieu (2000 [1977], 2004) betont, dass eine prekäre Beschäftigung nicht nur mit geringen Ressourcen einhergehe, sondern auch die Zukunftsgestaltung verhindere. »Prekarität ist überall«, so sein programmatischer Vortragstitel (Bourdieu 2004). Da Prekarität die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verblassen lasse, verhindere sie zudem Proteste und Solidarisierungen. Im Ergebnis schwäche Prekarisierung die Handlungsfähigkeit der Einzelnen. Dabei seien nicht nur jene verunsichert, die prekär beschäftigt sind, sondern Prekarität erzeuge für alle eine »Furcht« (Bourdieu 2004: 110), die wiederum instrumentalisiert werden könne. Daher, so seine zentrale These, sei Prekarität »Teil einer neuartigen Herrschaftsform, die auf der Errichtung einer zum Dauerzustand gewordenen Unsicherheit fußt und das Ziel hat, die Arbeitnehmer zur Unterwerfung, zur Hinnahme ihrer Ausbeutung zu zwingen« (Bourdieu 2004: 111).