Prozesse, die unsere Welt bewegten - Curt Riess - E-Book
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Prozesse, die unsere Welt bewegten E-Book

Curt Riess

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Beschreibung

»Man könnte eine Weltgeschichte in Form von berühmten Prozessen schreiben. Ich glaube, das würde sogar eine sehr fesselnde Weltgeschichte werden.« An diese Worte von Thomas Mann erinnert sich Curt Riess noch genau, als er die Idee hat, anhand berühmter Prozesse das Weltgeschehen darzustellen. Entstanden ist dabei ein Werk über 22 spektakuläre Prozesse aus zwei Jahrtausenden. Prozesse, die von der Welt, dem historischen, zeitgeschichtlichen und sozialen Hintergrund, vor dem sie sich ereignet haben, geprägt wurden. Curt Riess verfolgt unter anderem den Prozess des Sokrates im alten Griechenland, den der Mata Hari, die den Männern, die sie bezahlten, den Kopf verdrehte, und den des Oscar Wilde, der vor gerade einmal gut 100 Jahren der Homosexualität angeklagt wurde.

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Seitenzahl: 834

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Curt Riess

Prozesse, die unsere Welt bewegten

Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert

Im Angedenken an meinen großen FreundAxel Springer,der mir die Idee zu dieser Arbeit gab.

Voruntersuchung

Thomas Mann fragte mich einmal – das war in den dreißiger Jahren, als er schon im amerikanischen Exil lebte – über den Prozess um das Lindbergh-Baby aus. Und zwar während des Prozesses gegen den angeblichen Entführer und Mörder des ersten Sohnes von Charles Lindbergh, dem berühmten Ozeanüberflieger. Der Mann wurde, obwohl er bis zuletzt alles ableugnete, aufgrund von Indizien verurteilt und hingerichtet. Ich hatte damals, zu Beginn der dreißiger Jahre, über den Prozess laufend an die auflagenstärkste französische Zeitung Paris-Soir berichtet. Thomas Mann wollte alle nur denkbaren Details wissen, was mich schließlich zu der Frage motivierte: »Haben Sie die Absicht, darüber ein Buch zu schreiben?«

Und er antwortete: »Nein, wohl kaum. Aber die Idee ist nicht einmal schlecht. Prozesse haben es in sich.« Ich erinnere mich noch genau dieser Worte. »Man könnte eine Weltgeschichte in Form von berühmten Prozessen schreiben. Ich glaube, das würde sogar eine sehr fesselnde Weltgeschichte werden.«

Er sponn den Faden weiter. Was schließlich sei ein Prozess? »Er ist, worum immer es gehen mag, vor allem einmal eine Explosion … es kommt etwas in konzentrierter Form ans Tageslicht, was sich vorher angeblich abgespielt hat und was zu dieser Explosion früher oder später hätte führen müssen.« Er dachte wohl nicht so sehr an die Geschichte des einen oder anderen Prozesses, sondern an die Bloßlegung der inneren Motivierung einer Tat oder Untat oder des Verbrechens oder was sonst immer zu dem Prozess geführt haben mochte.

Übrigens hat kein Geringerer als Friedrich Dürrenmatt darauf hingewiesen, dass die meisten Prozesse etwas wie Dramatik besitzen. Er hat die Dramen Schillers mit Gerichtsverhandlungen verglichen: »Die Personen sind gegeben, ihre Rollen verteilt: der Richter, der Staatsanwalt, der Angeklagte, der Verteidiger. Jeder besitzt seine bestimmten Funktionen innerhalb der Handlungen …«

Aber zurück zu den Erwägungen von Thomas Mann: Warum eigentlich keine Weltgeschichte in Form von Prozessen? Dass man sie schreiben könnte, beweist nicht mehr und nicht weniger, als dass Prozesse, wenn schon nicht der Ausdruck ihrer Zeit, so doch ein Ausdruck dieser Zeit – einer von vielen – also typisch für diese Zeit sind. Wobei es gleichgültig bleibt, ob das Land, in dem sie sich abspielen, arm oder reich ist, was auch für die mitwirkenden Personen gilt, von denen viele gar nicht in dem einen oder anderen Prozess auftreten, sondern nur Objekte von Überlegungen sind. Prozesse haben in jedem nur denkbaren Land, in jedem nur denkbaren Milieu gespielt … wobei es erst in zweiter Linie wichtig ist, wo das Recht lag und wo das Unrecht, ob eine Untat, die begangen zu haben einer oder vielleicht auch eine Clique beschuldigt wird, nun wirklich von ihm oder ihr begangen worden oder nur angeblich begangen worden ist.

Ich habe diese Unterhaltung mit Thomas Mann nie vergessen, wiewohl auch andere meiner zahlreichen Gespräche mit ihm in den dreißiger und vierziger Jahren. Aber erst spät in den sechziger Jahren kam ich mit dem großen Verleger Axel Springer, der interessiert war an Thomas Mann, den er persönlich nie kennengelernt hatte, auf diese Unterhaltung. Er schien lange zu überlegen und sagte dann in etwa, warum nicht ich ein Buch über Prozesse schreibe.

Es wurde schließlich eine Art Auftrag. So entstand das vorliegende Buch. Es handelt sich in jedem der einzelnen Kapitel um einen Prozess, es sei unterstrichen, um einen sogenannten repräsentativen Prozess. Jeder einzelne von ihnen war nur in einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Land, in einem bestimmten Milieu möglich. Jeder ist typisch für diese Zeit, dieses Land, dieses Milieu. Ob es sich nun um den Prozess des Sokrates im alten Griechenland handelt oder um die Tänzerin Mata Hari, den Prozess der Jungfrau von Orléans oder den Prozess des jungen, schwer hysterischen Adolf Hitler. Aufgabe des Autors: Sichtung des historischen Materials und statistische Abgrenzung des jeweiligen Tatortes (Land, Milieu) und der Zeit.

Aber ich greife vor. Den Lesern sei ans Herz gelegt: »Lassen Sie sich überraschen!«

Jedenfalls wurde ich, der Autor, bei den Recherchen, die notwendig waren, um diese Berichte herzustellen, immer wieder überrascht. Da glaubt man, eine Geschichte zu kennen, und wenn man dann ein bisschen Quellenstudium betrieben hat, merkt man, dass man so gut wie nichts von der Sache gewusst hat. Alles, was man gewusst hat, sind ein paar Namen – aber um mit Shakespeare zu sprechen: »What’s a name?«

Sokrates

399 v. Chr.

Ein warmer Frühlingsmorgen in Athen, im Jahre 399 vor unserer Zeitrechnung. Der Prozess gegen den Philosophen und Lehrer Sokrates soll beginnen. Der Ort: einer der größeren Plätze der Stadt. Solche Weitläufigkeit ist bei Gerichtsverhandlungen notwendig, denn es müssen bei keiner weniger als 501 Geschworene zur Stelle sein. Von den 30.000 Bewohnern des Stadtstaates melden sich für gewöhnlich Jahr für Jahr etwa 6000 freiwillig als potenzielle Geschworene – erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sie dafür pro Tag weniger erhalten als ein gewöhnlicher Arbeiter. Und das bewirkt wiederum, dass die meisten nicht besonders gescheit sind, geschweige denn, dass sie eine Vorbildung in juristischen Dingen besitzen.

Mindestens 501 Geschworene sind also notwendig, um das Verfahren legal zu machen, und manchmal sind es mehr als tausend. Zu dem Verfahren gegen Sokrates sind die vorschriftsmäßigen 501 erschienen, nur Männer natürlich, die auf hölzernen Bänken Platz nehmen, getrennt durch ein ebenfalls hölzernes Geländer von den noch zahlreicheren Neugierigen.

Ein hoher Beamter der Stadt namens Meletos offeriert den Göttern ein Weihrauchopfer und bittet um ihr Wohlwollen. Sodann spricht er den Eid, den sämtliche Geschworenen unisono nachsprechen müssen. Dann wird eine Wasseruhr in Gang gesetzt, mit deren Hilfe dafür gesorgt wird, dass keiner von denen, die sich zu Wort melden, zu lange redet, denn das Verfahren muss am Abend beendet sein.

Im Übrigen hat der Beamte eigentlich nichts zu tun, schon gar nicht den Richter zu spielen, denn das Votum der Geschworenen entscheidet bei diesen griechischen Prozessen, was immer zu entscheiden ist. Sodann reden die drei Ankläger Meletos, Anytos und Lykon – auch sie sind nicht vom Amt bestellt, sondern haben sich eben gemeldet – nicht allzu zeitraubend, denn sie haben bereits alles Wissenswerte niedergeschrieben und den amtlichen Stellen eingereicht und werden es jetzt nur noch zusammenfassen. Zeugen der Anklage gibt es nicht, denn es gibt ja keinen amtlichen Ankläger, jeder kann Ankläger oder Verteidiger sein. Sokrates könnte Zeugen beibringen, wenn er wollte, aber das hat er von vornherein abgelehnt. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass er weder von dem Gericht noch von den Angeklagten viel hält. Er lässt dies die Zuhörer auch deutlich spüren.

Wofür steht nun eigentlich Sokrates vor Gericht?

Es gibt zwei Hauptanklagepunkte:

Erstens Gotteslästerung, begangen durch philosophische Untersuchungen von heiligen Mythen und Dogmen und durch den Versuch, neue Götter einzuführen; und zweitens Verführung der Jugend durch Demagogie und den Versuch, sie in Verachtung aller staatlichen Werte, die für ihre Eltern noch Geltung haben, aufzuziehen.

Sokrates, um diese Zeit 69 Jahre alt, sieht nicht aus wie ein gefährlicher Mann und wirkt schon gar nicht wie ein Held, obwohl er ohne Zweifel ein Held ist, allein dadurch, dass er sich diesen lebensgefährlichen Anklagen stellt, obwohl er doch so leicht hätte fliehen können. Er ist nicht einmal mittelgroß, hat das Gesicht eines Satyrs, eine breite, eingedrückte Nase, dicke Lippen, einen Bart und einen Bauch. Er ist barfuß wie immer, und seine Bekleidung muss als schäbig bezeichnet werden.

Schon die ersten Minuten der Verhandlung zeigen, dass er sich allein dadurch, dass er wenig gebildeten Geschworenen gegenübertreten muss, im Nachteil befindet. Was wissen diese Leute schon von Philosophie, von seiner Philosophie, um die es ja schließlich letzten Endes geht? Werden sie in der Lage sein, seinen Ausführungen, seiner Verteidigungsrede zu folgen? Er bezweifelt es, und schon aus diesem Grunde muss er von Anfang an beschlossen haben, sich dabei nicht zu überanstrengen.

Es genügt nicht, aufzuzeichnen, worum es in diesem Prozess geht, der wird nur verständlich aus der Zeit heraus. Es gibt da gewisse Hintergründe, eigentlich vor allem politische Hintergründe.

Sicher hat der Prozess damit zu tun, dass sich zu dieser Zeit Athen außenpolitisch in einer misslichen Lage befindet. Man hat einen Krieg verloren, das an sich ja eher kleine Land mit einer geringen Bevölkerungsanzahl hat wieder einmal, immer wieder einmal einen Krieg gegen Sparta verloren. Deshalb sucht man wie immer und überall in solchen Zeiten nach einem Sündenbock. Sokrates, der nur sehr indirekt mit Politik zu tun hat, könnte einer werden.

Eine athenische Enklave im spartanisch beherrschten Sizilien hat das Mutterland gegen angebliche Übergriffe einer spartanischen Kolonie um Hilfe gebeten. Daraus hat sich der Krieg mit Sparta ergeben – Sparta, das ebenfalls sehr klein und dessen Bevölkerung nicht sehr zahlreich ist, das aber vor allem besser gerüstet ist und über ein Heer verfügt, das sich einer eisernen Disziplin erfreut. Die Niederlage hat sich Athen selbst zuzuschreiben. Man hat den blutjungen, schönen Alkibiades nach Sizilien geschickt, trotz seiner nicht einmal 25 Jahre schon ein militärisches Genie, ihn aber, kaum dass er in Sizilien gelandet ist, wieder zurückberufen, angeblich, weil er vor seiner Abreise in Athen durch Verstümmelung von Götterbildern die Götter beleidigt habe. Alkibiades gibt das Kommando ab, kehrt aber nicht nach Athen zurück, sondern setzt sich nach Sparta ab. Es kommt denn auch unter seinem unfähigen Nachfolger zu einer totalen Niederlage von Athens Armee, die dabei fast gänzlich aufgerieben wird.

So geschehen in den Jahren 414–413.

In Sparta weiß man Alkibiades besser zu schätzen und setzt ihn als Befehlshaber der Armee ein. Sparta verbündet sich mit Persien. Übrigens, um es gleich hier zu sagen, Alkibiades wird nicht sehr lange in Sparta verweilen. Es werden viele Intrigen gegen ihn gestartet, nicht zuletzt weil er sich in wohl ungeziemender Weise für die Königin interessiert und, schlimmer noch, sie sich für ihn. Er flieht nach Persien, wo er eine Art Ratgeber des dortigen Herrschers Tissaphernes wird und es meisterhaft versteht, von diesem Posten aus Sparta gegen Athen und Athen gegen Sparta aufzuhetzen, wohlgemerkt im Interesse Persiens. Nicht lange danach wird er wieder nach Athen zurückgerufen, nicht zuletzt auf den Rat von Sokrates und der von ihm beeinflussten Männer, und spielt wieder eine Rolle, um später abermals in die Verbannung geschickt zu werden.

In Athen, wo es nach dem verlorenen Krieg nicht gerade zum Besten steht, ist inzwischen ein gewisser Kritias, der während des Krieges mit den Spartanern gegen seine Vaterstadt kämpfte, an die Macht gelangt, und zwar im Jahre 404, als einer der sogenannten 30 Tyrannen – das Wort »Tyrann« hat im Griechischen nicht den so schrecklichen Sinn wie im Deutschen, es ist eher ein Synonym für »Chef«. Aber immerhin, die Dreißig führen ein recht blutiges Regiment, es geht unter Kritias geradezu recht anarchisch in Athen zu. Es gibt Hungersnot und natürlich ständige Kriegsgefahr.

Die Regierung der Dreißig ist ganz deutlich gegen Sokrates eingestellt. Nicht, dass sie ihn, wie sie es in anderen Fällen tut, zur Flucht zwingt, oder gar umbringen lassen will. Aber irgendein Spitzel hat Sokrates sagen gehört, ein Viehtreiber solle sich nicht rühmen, dass seine Herde kleiner wird. Und das ist natürlich auf Kritias und seine Parteigänger gemünzt. Man droht Sokrates mit dem Verbot, sich mit Jünglingen zu unterhalten – seine Art oder überhaupt die Art im damaligen Athen, zu lehren –, und will ihn auch irgendwie kompromittieren, unter anderem dadurch, dass er an der Verhaftung eines reichen Mannes namens Leon von Salamis teilnehmen soll, was er aber, im Gegensatz zu anderen, ablehnt.

Immerhin, Sokrates lebt in jenen Tagen gefährlich.

Aber die Dreißig können sich nicht lange halten. Noch im Jahre 404 werden sie gestürzt, und zwar durch einen reichen Geschäftsmann und Politiker namens Anytos, der etwa 40 Jahre alt ist. Anytos war ursprünglich Sokrates gegenüber freundlich gesinnt, eine Zeitlang geradezu freundschaftlich. Aber jetzt, da er an die Macht gekommen ist, ändert er seine Einstellung zu dem Philosophen. Denn er wird in immer stärkerem Maße reaktionär. Er bezieht gegen alle Neuerungen Stellung, vor allem gegen diejenigen, die Mythen und Götter der Vorfahren verhöhnen, denn auf solche ›Lästerer‹ führt er die Niederlagen Athens zurück. Und das sind natürlich die Professoren, die Neues lehren wollen – Neues in vieler, wenn nicht in jeder Beziehung –, und er beobachtet sie, wie sie nach seiner Ansicht die Jugend in den Wandelgängen oder Sälen, in denen gelehrt wird, »vergiften«.

Sokrates repräsentiert also genau das Gegenteil von dem, was dieser Anytos für richtig und notwendig hält. Denn er vertritt das »Neue«, macht sich gelegentlich über die Götter lustig, untersucht die Mythen darauf, ob man sie als Realität ansehen könne oder dürfe, und das alles teilt er der Jugend mit, die er dergestalt »verführt«. Keine geringe Rolle spielt dabei auch, dass Sokrates einen starken Einfluss auf den Sohn des Anytos ausübt, der sich gar nicht so entwickelt, wie der Vater es gern möchte.

Nun würde das alles nicht so wichtig sein, wäre Sokrates so populär wie er weise ist. Aber Weise sind ja selten populär, und er ist es nicht einmal unter seinen Kollegen und den anderen Professoren und Lehrern der Stadt. Er nimmt kein Geld von seinen Schülern, da er nicht unvermögend ist, weil er einiges Geld als Fabrikant von Grabsteinen und Götterbildern verdient, angeblich mit Hilfe eines einzigen Sklaven. So verärgert er nicht nur die anderen Professoren, die Geld mit ihren Vorträgen verdienen, sondern auch die Hersteller von Götterbildern, die, vielleicht nicht einmal zu Unrecht, empört darauf hinweisen, dass die Stadt mit Steuergeldern Büsten der Götter bei einem Gottlosen kauft; denn dass Sokrates ein Atheist ist, hat er nie verheimlicht.

Was ist er sonst noch? Ein Bürger, verheiratet mit einer Frau, über deren zänkischen Charakter man sich in der ganzen Stadt mokiert, Vater mehrerer Kinder, der sich trotzdem für hübsche junge Tänzerinnen interessiert.

Warum hat er Xanthippe geheiratet?

»Ich wusste: Wenn ich mit ihr leben kann, kann ich mit allen leben!«

Er hat eine Mission, und er glaubt an sie. Er will die Menschen besser machen, indem er sie weise macht. Die Basis seiner Lehre: »Wenn es darauf ankommt, ein gutes und gerechtes Leben zu führen, muss man das durch vernünftiges Denken über sich selbst tun. Wir müssen lernen, uns selbst nicht zu täuschen, und dazu sind philosophische Gespräche vonnöten.«

Am Anfang seiner philosophischen Gespräche steht immer die Einsicht, dass wir über uns selbst nichts Genaues wissen – nach dem später oft zitierten Motto: »Ich weiß, dass ich nichts weiß!«

Sokrates hat niemals niedergeschrieben, was er glaubte und was er lehrte, er hat immer nur darüber gesprochen. Wir wissen nur durch seine Schüler von ihm und seinen Lehren, wie übrigens auch von seinem Prozess. Er hat zahlreiche Schüler gelehrt, die prominent wurden, darunter Plato und auch Alkibiades, der ihm, guten Quellen zufolge, wohl einmal anbot, mit ihm zu schlafen, was Sokrates abgelehnt haben soll.

Als Anytos auf einen Prozess gegen Sokrates drängt, nimmt vorläufig niemand diesen Prozess allzu ernst, auch Anytos selbst nicht. Man rechnet vielfach damit, dass es zu einem Freispruch kommen oder dass Sokrates sich dem Prozess durch eine Flucht ins Ausland entziehen wird. Aber gerade das lehnt er ab. Er hat keine Lust, seinen Gegnern diesen Gefallen zu erweisen.

Sokrates wäre bereit, eine Geldstrafe zu zahlen, wenn man ihn ungeschoren ließe. Er bietet 30 Minae, das ist ungefähr der Gegenwert von heute 15.000 Mark, etwa die Mitgift eines kleinen Bürgermädchens im damaligen Griechenland, also gar nicht einmal so wenig. Aber diese Offerte des Sokrates kommt erst gegen Ende seiner großen Rede, und er bringt sie gewissermaßen mit Augenzwinkern vor: »Ich will von mir selbst nicht sagen, dass ich irgendetwas Schlimmes verdiene. Warum sollte ich? Weil ich vor dem Tod Angst habe? Warum soll ich, der nicht weiß, ob der Tod etwas Gutes oder etwas Schlechtes ist, etwas Schlechtes für mich vorschlagen?«

Aber als Sokrates schließlich eine Geldstrafe in die Debatte wirft, hat er schon längst die Sympathie der Massen, wenn er sie je besessen hat, eingebüßt. Nicht zuletzt, weil er bereit ist zu sterben, etwas für die Masse ganz Undenkbares. »Wenn wir voraussetzen, dass der Tod alles Bewusstsein auslöscht und ein Schlaf ist wie der Schlaf von einem, der durch Träume nicht gestört wird, dann ist der Tod ein unaussprechlicher Gewinn … denn die Ewigkeit ist eine einzige Nacht. Aber wenn der Tod eine Reise anderswohin ist, wo sich, wie die Leute sagen, alle treffen, was könnte, meine Freunde und Richter, besser sein als das? In der Tat, wenn der Pilger in der Unterwelt eintrifft, ist er dem Zugriff der Justiz in dieser Welt entronnen und findet wahre Richter, die dort ihres Amtes walten … Diese Pilgerfahrt ist also wert, unternommen zu werden. Nein, … wenn das so ist, dann lasst mich sterben und nochmals sterben…«

Insgesamt spricht Sokrates während der Verhandlung dreimal. Und seine in jeder Beziehung große Verteidigungsrede ist so souverän, wie wohl seither nie wieder eine vor Gericht gehalten worden ist. Denn er verteidigt sich nicht. Er klagt seine Ankläger an.

»Wie ihr, o Athener, von meinen Anklägern beeindruckt worden seid, kann ich nicht sagen, aber ich weiß, dass sie mich fast vergessen ließen, wer ich war, so überzeugend haben sie gesprochen, und doch haben sie kein einziges wahres Wort gesagt …

Ich beginne mit dem Beginn. Die Frage: Welche Tatsachen haben Anlass gegeben, mich zu beleidigen? Ich will antworten mit den Worten und der Feststellung des Aristophanes: ›Sokrates ist ein übler Bursche und eine seltsame Person. Er hält Umschau nach Dingen unter der Erde und hoch im Himmel, und er lässt das Schlechte als das Bessere erscheinen, und das alles lehrt er andere …‹

Die einfache Wahrheit ist, dass ich mit solchen Lehren nichts zu tun habe. Viele, die bezeugen können, wie wahr das ist, sind hier anwesend … Ebenso wenig Grund, wie die Behauptung, dass ich ein Lehrer bin und dafür Geld nehme, enthalten die anderen Anklagen …

Ich wage zu sagen, o Athener, dass jemand unter euch antworten wird: ›Ja, Sokrates, aber welchen Ursprung haben nun die Anklagen, die gegen dich vorgebracht werden? Irgendetwas Merkwürdiges musst du doch getan haben? Alle diese Gründe und all dies Geschwätz würde niemals aufgekommen sein, wenn du wie andere Männer wärst. Sag uns, aus welchem Grunde ist dieses Gerede über dich aufgekommen? Wir wollen nicht hastig über dich richten …‹

Ich verweise euch auf einen Zeugen, der Glauben erwecken darf, und das ist der Gott von Delphi, der meine Weisheit bezeugen wird, falls ich Weisheit besitze, und auch wie diese Weisheit beschaffen sein mag. Ihr alle müsst Chairophon kennen, er war mein Freund und auch der eure. Nun, Chairophon war, wie ihr wisst, ein Draufgänger, und er ging nach Delphi und fragte das Orakel kühn …, ob es da irgendjemanden gäbe, der weiser wäre als ich, und die Prophetin Pythia antwortete, es gäbe keinen Weiseren als mich. Chairophon ist jetzt tot, aber sein Bruder befindet sich unter euch, und er wird euch die Wahrheit meiner Worte bestätigen.

Warum sage ich das? Weil ich versuchen will, euch zu erklären, aus welchem Grunde ich einen so schlechten Namen habe. Als ich jene Antwort der Pythia erhielt, sagte ich zu mir selbst: Was kann der Gott Apollo meinen? Wie erklärt sich dieses Rätsel? Denn ich weiß, ich besitze keine Weisheit, keine kleine und keine große. Was kann der Gott also meinen, wenn er sagt, dass ich der weiseste aller Menschen bin? Er ist Gott, er kann nicht lügen. Nach langem Nachdenken kam ich auf eine Methode, nach der man diese Frage untersuchen konnte. Wenn ich nur einen Menschen finden würde, der weiser ist als ich, dann könnte ich zu dem Gott gehen und diese Widerlegung vorbringen. Ich würde ihm sagen: ›Da ist einer, der weiser ist als ich. Aber du sagtest doch, ich sei der Weiseste!‹

Also ging ich zu einem, der im Rufe stand, weise zu sein, und beobachtete ihn. Seinen Namen brauche ich nicht zu nennen, er war Politiker, den ich mir zur Befragung vornahm. Und das Ergebnis war folgendes: Als ich mit ihm gesprochen hatte, konnte ich nicht nur feststellen, dass er nicht wirklich weise war, obwohl ihn viele für weise hielten und er selbst sich für weise hält. Ich versuchte, ihm auseinanderzusetzen, dass er sich zwar für weise halte, aber nicht wirklich weise sei. Und die Folge davon war, dass er mich zu hassen begann, und dieses Gefühl wurde von all denen geteilt, die damals dabei waren und mich hörten …

Dann ging ich zu einem anderen, der noch weiser zu sein behauptete, und meine Erfahrung war genau die gleiche. Ich schuf mir einen neuen Feind und viele andere dazu.

Dann ging ich von einem zum anderen, aber ich wusste wohl, dass ich mir Feindschaften zuzog, und das bedauerte und fürchtete ich. Ich handelte ja aus einer Notwendigkeit heraus. Das Wort des Gottes, dachte ich, sollte als erstes bedacht werden. Ich sagte zu mir selbst, ich würde zu all denen gehen, die etwas zu wissen scheinen, und so würde ich herausfinden, was das Orakel wirklich besagen wollte. Und ich schwöre euch, o Athener, denn ich muss euch die Wahrheit sagen, das Resultat meiner Mission war immer nur: Alle Männer von bedeutendem Ruf waren in Wirklichkeit die törichtesten, und diejenigen, die weniger geschätzt wurden, waren weiser und besser …

Nach den Politikern ging ich zu den Poeten jeglicher Gattung. Ich zeigte ihnen ausführliche Passagen, die sie selbst geschrieben hatten, und fragte, was die nun bedeuten mochten, in der Hoffnung, dass ich von ihnen etwas lernen würde. Werdet ihr mir glauben? Ich schäme mich fast, die Wahrheit zu gestehen. Ich verließ sie in der Überzeugung, dass ich ihnen überlegen sei, aus dem gleichen Grunde, wie ich den Politikern überlegen bin.

Schließlich ging ich zu Handwerkern. Ich weiß sehr wohl, dass ich nichts weiß und dass sie viel Nützliches wissen. Ich war also nicht im Irrtum, denn sie wussten vieles, was ich nicht wusste, und so waren sie wirklich weiser als ich. Aber selbst die guten Handwerker begingen denselben Irrtum wie die Poeten, sie meinten, weil sie nun gute Handwerker waren, würden sie alles Mögliche von Bedeutung wissen, und dieser Irrtum stellte ihre Weisheit in den Schatten, und deshalb fragte ich schließlich mich selbst, ob ich lieber so sein wollte, wie ich war, der ich doch nicht ihre Kenntnisse besaß, oder ob ich lieber wie sie wäre, und die Antwort war, mir selbst und dem Orakel gegenüber, dass ich besser daran war, so wie ich war.

Diese Fragerei brachte es mit sich, dass ich mir viele Feinde machte, die schlimmsten und gefährlichsten, und dass dies Anlass zu vielen Verleumdungen wurde. Nun, man nennt mich weise, aber die Wahrheit ist, o Männer von Athen, dass nur der Gott weise ist, und er zeichnet Sokrates nicht besonders aus, wenn er sagt, o meine Athener, derjenige ist der Weiseste, der wie Sokrates weiß, dass seine Weisheit nichts wert ist. So gehe ich durch die Welt und gehorche dem Gott und suche irgendjemanden, der mir weise erscheint. Damit bin ich sehr beschäftigt, und ich habe keine Zeit, mich für die Angelegenheiten anderer zu interessieren oder für meine eigenen, und so lebe ich in äußerster Armut …

Jetzt noch etwas anderes. Junge Leute aus reichen Häusern, die nichts anderes zu tun haben, kommen zu mir, sie tun es freiwillig. Sie möchten einer Prüfung unterzogen werden, und sie ahmen mich dann nach und prüfen andere. So gibt es viele, die glauben, viel zu wissen, dabei aber wenig oder gar nichts wissen, und dann sind diejenigen, die von ihnen geprüft werden, nicht mit ihnen böse, sondern mit mir: ›Dieser verdammte Sokrates‹, sagen sie, ›dieser lasterhafte Verführer der Jugend!‹ Dann, wenn jemand sie fragt, warum, was Schlimmes praktiziert oder lehrt er?, wissen sie es nicht, sie können es nicht sagen, aber das setzt sie nicht in Verlegenheit, sie wiederholen die alten Vorwürfe, die gegen alle Philosophen und ihre Lehren vorgebracht werden, weil über das gesprochen wird, was in den Wolken vor sich geht oder unterhalb der Erde, weil sie keine Götter kennen … Denn sie wollen nicht eingestehen, dass ihre Behauptung, etwas zu wissen, sich als nichtig erwiesen hat – und das ist die Wahrheit. Es gibt ihrer viele, und sie sind voller Ehrgeiz und Energie, und sie befinden sich in Kampfstellung, und ihre Reden sind überzeugend, und sie haben eure Ohren mit ihren lauten Verleumdungen gefüllt. Das ist der Grund, warum meine drei Ankläger Meletos, Antyos und Lykon mich belangen. Meletos, der mit mir über die Poeten streitet, Anytos über die Handwerker und Politiker und Lykon wegen der Lehrer. Wie ich schon zu Anfang sagte, kann ich nicht hoffen, mich von diesen Verleumdungen reinzuwaschen.«

Trotzdem bittet Sokrates Meletos zum Kreuzverhör:

Frage: »Du glaubst, dass man die Jugend bessern kann?«

Antwort: »Ja, das tue ich.«

Frage: »Wer erzieht die Jugend zum Besseren?«

Antwort: »Die Gesetze.«

Frage: »Aber das meine ich gar nicht. Wer ist der Mann, der die Gesetze kennt?«

Antwort: »Es sind die Richter, Sokrates, die hier im Gericht sitzen.«

Frage: »Meint Meletos, sie vermögen die Jugend zu bessern?«

Antwort: »Sicher könnten sie das.«

Frage: »Alle oder nur einer?«

Antwort: »Alle.«

Frage: »Bei der Göttin Hera, das sind erfreuliche Neuigkeiten! Es gibt also viele Jugendverbesserer. Und was die Zuhörer angeht, helfen sie auch mit, zu bessern?«

Antwort: »Ja, das tun sie.«

Frage: »Und die Senatoren?«

Antwort: »Ja, auch die Senatoren.«

Frage: »Dann bessert also jeder Athener die Jugend, mit Ausnahme von mir. Ist es das, was du behauptest?«

Antwort: »Ja, es ist das, was ich bestätige.«

Frage: »Ich möchte noch gerne wissen, Meletos, warum es so sicher ist, dass ich die Jugend korrumpiere. Ich nehme an, dass du meinst, so ersehe ich aus der Anklage, dass ich sie lehre, die Götter nicht anzuerkennen, die der Staat anerkannt hat, sondern andere Götter anstelle von ihnen.«

Antwort: »Ja, das erkläre ich mit Nachdruck.«

Frage: »Dann, bei den Göttern, Meletos, von wem reden wir eigentlich? Setze mir und dem Gerichtshof einfach und klar auseinander, was du meinst. Ich verstehe immer noch nicht, ob du erklärst, dass ich andere lehre, irgendwelche Götter anzuerkennen, dass ich also an die Götter glaube oder dass ich völlig gottlos bin, was du übrigens nicht behauptest. Du sagst ja nur, dass es sich nicht um dieselben Götter handelt, die der Staat anerkennt – die Anklage lautet also auf andere Götter, oder meinst du, dass ich gottlos bin, ein Lehrer der Gottlosigkeit?«

Antwort: »Ich meine das Letztere, dass du völlig gottlos bist.«

Frage: »Kann einer an geistige und göttliche Instanzen glauben und nicht an böse Geister und Halbgötter?«

Antwort: »Das kann er nicht.«

Frage: »Ich bin glücklich, dass ich diese Antworten erhalten habe. Aber dann sagst du in der Anklage, dass ich an göttliche und geistige Instanzen ebenfalls glaube. Das hast du jedenfalls beschworen. Und wenn ich an göttliche Wesen glaube, wie kann ich dann nicht an Geister und Halbgötter glauben? Muss ich es nicht? Ich muss es sicherlich. Und dein Schweigen gibt mir recht. Aber was sind Geister und Halbgötter? Sind sie Götter oder sind sie Söhne von Halbgöttern?«

Antwort: »Sicher sind sie es.«

Frage: »Das ist, was ich das spaßigste Rätsel nenne, das du dir ausgedacht hast. Die Halbgötter und Geister sind Götter. Du hast zuerst gesagt, dass ich nicht an Götter glaube. Jetzt sagst du wieder, ich glaube an Götter. Das heißt, ich glaube an Halbgötter … Du hast das in die Anklage eingebracht, weil du nichts hast, dessen du mich wirklich anklagen könntest. Aber niemand, der auch nur das Geringste davon versteht, wird sich überzeugen lassen, dass dieselben Menschen, die an göttliche und übermenschliche Dinge glauben, nicht glauben, dass es Götter und Halbgötter gibt …

Ich habe genug gesagt, um der Anklage des Meletos zu begegnen: Eine ausführlichere Verteidigung ist unnötig, aber ich weiß nur zu gut, dass viele von euch Feinde sind, die ich mir selbst geschaffen habe, und dass es an meinen negativen Nachforschungen liegt, wenn ich verurteilt werde – und nicht an Meletos, auch nicht an Anytos, der den Tod so vieler guter Männer verursacht hat und sicher noch verursachen wird. Es besteht keine Gefahr, dass ich der letzte von ihnen bin.

Irgendjemand wird sagen: Sokrates! Schämst du dich nicht deiner Lehre, die dir vermutlich ein so unzeitiges Ende bringt? Ihm werde ich ruhig antworten: ›Du irrst dich. Einer, der etwas taugt, wird nicht über die Möglichkeit des Lebens und Sterbens nachdenken, er wird lediglich darüber nachdenken, ob er etwas Richtiges oder Falsches tut, ob er sich als ein guter oder schlechter Mensch erweist.‹

Todesangst wird nur von angeblich Weisen, nicht von wirklich Weisen empfunden, nur von denen, die nichts wissen. Niemand weiß, ob der Tod, den ängstliche Menschen als das größte Übel ansehen, nicht das Beste ist, was ihm zustoßen kann … Ich glaube, dass ich mich in dieser Beziehung von meinen Mitmenschen im Allgemeinen unterscheide und weiser bin als sie: Während ich wenig von der Welt da unten weiß, glaube ich wenigstens nicht, etwas über sie zu wissen, aber ich weiß, dass Ungerechtigkeit und Gefolgeverweigerung einem Besseren gegenüber, ob es nun ein Gott ist oder ein Mensch, böse ist und unehrenhaft, und ich werde etwas Gutes niemals fürchten oder zu vermeiden suchen, und deshalb … wenn ihr mir sagt, ›Sokrates, diesmal wollen wir uns nicht nach Anytos richten, und du sollst frei sein, freilich nur unter der Bedingung, dass du niemals Fragen stellst und kritische Überlegungen anstellst, und dass du, wenn wir dich dabei ertappen, sterben sollst‹. Wenn das die Bedingung wäre, unter der ich freikäme, würde ich antworten:

›Männer von Athen, ich ehre und liebe euch, aber ich werde eher Gott gehorchen als euch … Ich werde niemals aufhören, Philosophie zu praktizieren und zu lehren oder jeden zu ermahnen, den ich ermahnen muss, und ihm nach meiner Art zu sagen: Du, mein Freund, ein Bürger dieser großen und mächtigen und weisen Stadt Athen, schämst du dich nicht, Geld und Ehre und Anerkennung aufzuhäufen und dich so wenig um Weisheit und Wahrheit und das Heil deiner Seele zu kümmern?‹ Und dann, wenn derjenige, zu dem ich so spreche, antwortet: ›Ich kümmere mich um das Heil meiner Seele!‹, lasse ich ihn nicht einfach stehen und gehe weiter, sondern ich frage und prüfe ihn … Und wenn ich glaube, dass er keine Tugend besitzt, sondern nur sagt, dass er sie besitzt, mache ich ihm Vorwürfe, das Wichtigste zu vernachlässigen und das weniger Bedeutende zu überschätzen. Ich werde diese selben Worte jedem gegenüber, dem ich begegne, wiederholen, Alten und Jungen, Bürgern und Fremdlingen, aber natürlich vor allem den Bürgern, denn sie sind meine Brüder. Denn hört, das ist der Befehl des Gottes: Ich glaube, dass nichts Besseres in diesem Staat sich je begeben hat als mein Dienst an Gott. Ich tue nichts, als herumzugehen und euch zu überzeugen, nicht an dies und das zu denken, sondern zuerst und hauptsächlich an euer Seelenheil. Ich sage euch, zuerst kommt nicht Geld, sondern umgekehrt, zuerst kommt die Tugend und dann erst das Geld und alles andere, was ein Mensch besitzt, sowohl öffentlich als auch privat. Das ist meine Lehre, und wenn sie die Jugend verdirbt, bin ich ein bösartiger Mensch. Und wenn man sagt, das lehre ich nicht, dann sagt man die Unwahrheit. Darum, o Männer von Athen, sage ich, tut, was Anytos von euch wünscht, oder tut es nicht, und sprecht mich frei oder nicht …

Und jetzt, o Athener, werde ich nicht für meine Person sprechen, wie ihr denken möchtet, sondern um euretwillen, in der Hoffnung, dass ihr euch nicht gegen den Gott versündigt, indem ihr mich verurteilt, denn ich bin sein Geschenk an euch. Denn wenn ihr mich tötet, werdet ihr so leicht keinen Nachfolger finden … Ihr werdet keinen anderen als mich finden, und deshalb solltet ihr mich verschonen …

Ihr mögt erstaunt sein, dass ich umhergehe und anderen Rat erteile, wie sie ihre Angelegenheiten zu ordnen haben, aber nichts unternehme, um dem Staat Ratschläge zu geben. Ich will euch sagen, warum. Man hat mich an vielen Plätzen oder Orten sprechen gehört über ein Orakel oder Zeichen, das die Göttlichkeit mir gegeben hat … Dieses Zeichen, eine Art Stimme, kam zu mir zuerst, als ich noch ein Kind war. Es verbietet mir manches, aber es befiehlt mir nicht, etwas zu tun, was ich nicht tun will. Dies ist der Grund dafür, dass ich kein Politiker geworden bin. Und mit Recht, wie ich glaube. Denn ich bin sicher, o Männer von Athen, dass, wäre ich Politiker geworden, ich schon längst erledigt wäre und weder euch noch mir noch etwas Gutes antun könnte. Derjenige, der für das Recht kämpft, selbst nur für kurze Zeit, kann es nur privat tun, aber nicht öffentlich …

Nun, o Athener, dieses und ähnliches ist die Verteidigung, die ich euch bieten kann. Doch noch ein Wort. Vielleicht ist da irgendjemand, der sich durch mich gekränkt fühlt, wenn er sich daran erinnert, dass er bei ähnlicher oder vielleicht weniger ernsthafter Gelegenheit die Richter bat und mit vielen Tränen beschwor, dass er vor Gericht auf seine Kinder zeigte, was ein bewegendes Schauspiel war, und auch seine Verwandten und Freunde, während ich, der ich mich wohl in Lebensgefahr befinde, nichts dergleichen tue. Ein solcher Mann mag den Kontrast spüren, und er mag deshalb gegen mich sein und gegen mich stimmen. Nun, wenn sich ein solcher Mann unter euch befindet – wohlgemerkt, ich sage nicht, dass das der Fall ist –, möchte ich ihm einfach antworten: ›Mein Freund, ich bin ein Mann und wie andere Männer eine Kreatur aus Fleisch und Blut und nicht ein ,steinerner Wald‘, wie Homer es ausdrückt; ich habe Familie, o Athener, und Söhne, drei Söhne, einer ist schon bald ein Mann, die anderen sind noch jung, und ich bringe sie doch nicht hierher, um meinen Freispruch zu erbitten‹ Und warum nicht? Nicht aus Eigenliebe verlange ich euren Respekt. Ob ich Angst vor dem Tod habe oder nicht, ist eine andere Frage, die ich hier nicht erörtern will. In Bezug auf die Meinungen der Allgemeinheit glaube ich, es würde mir schaden, und auch euch und auch dem ganzen Staat. Jemand, der so alt geworden ist wie ich und der sich einen Namen für seine Weisheit errungen hat, sollte sich nicht erniedrigen. Aber ob nun diese Meinung über mich berechtigt ist oder nicht, jedenfalls hat die Welt entschieden, dass ich in einigen Beziehungen den anderen überlegen bin. Und wenn die unter euch, von denen man sagt, sie zeichneten sich durch Weisheit und Mut aus und andere Tugenden, sich dergestalt klein machen würden – wie schamlos wäre doch ihr Verhalten!

Ich habe Männer gesehen, die, wenn sie verurteilt wurden, sich auf seltsame Weise verhielten: Sie glaubten, sie würden etwas Entsetzliches erleiden, wenn sie stürben, und sie würden unsterblich sein, wenn man ihnen nur erlaubte, weiterzuleben, und ich glaube, solche Menschen sind keine Ehre für einen Staat …

Also bittet mich nicht, dass ich etwas tue, was ich für unehrenhaft halte und gottlos und falsch, besonders jetzt, wo ich wegen Gottlosigkeit vor Gericht stehe. Denn wenn, o Männer von Athen, ich durch Überredungskunst euch dazu bringen könnte, würde ich euch wieder lehren, an keine Götter zu glauben, und würde mich selbst wieder verdammen. Aber so ist es nicht. Es ist ganz anders. Ich glaube, dass es Götter gibt, in einem höheren Sinne als meine Ankläger an sie glauben. Und euch und dem Gott übergebe ich meine Sache, und ihr sollt entscheiden, wie es für euch am besten ist und auch für mich.«

Der Spruch lautet auf schuldig. Aber welche Strafe soll Sokrates erhalten? Nach den Statuten ist er berechtigt, sich selbst an der Diskussion darüber zu beteiligen. So äußert er sich noch einmal, sozusagen mit einer Abschiedskundgebung, wie sie nur Sokrates formulieren kann und wie sie seither wohl niemals wieder irgendwo erfolgt ist.

In dieser letzten Rede kennt die Ironie des Sokrates kaum noch Grenzen. Er schlägt sogar vor, dass man ihn, anstelle zu bestrafen, öffentlich und ehrenvoll auf Staatskosten speisen lassen sollte, und zwar im Prytaneion, wo nur Ehrenbürgern Mahlzeiten verabreicht werden – und da muss er eigentlich schon wissen, dass er nicht heil davonkommen wird.

Und so wird er denn auch, wie von ihm nicht anders erwartet, schuldig gesprochen, und zwar dadurch, dass die 501 Geschworenen ihre Fingernägel in eine kleine Wachstafel eindrücken, und zwar nicht auf der Seite, wo die lange Liste der Bestrafungen aufgeführt ist, die man Sokrates möglicherweise angedeihen lassen könnte, sondern auf der anderen Seite, die lediglich der Todesstrafe vorbehalten ist. Aber keineswegs einstimmig. Nur eine Mehrheit von acht Bürgern votiert für den Tod statt für andere Strafen. Die Begründung des Todesurteils: Verführung der Jugend, Einführung neuer Götter.

Sokrates scheint eher befriedigt zu sein. Er hat ja mehrmals betont und sein Leben lang gesagt, dass er keine Angst vor dem Tod hat. Vorläufig wird die Vollstreckung des Todesurteils – er soll einen Becher mit Schierlingssaft austrinken – für kurze Zeit verschoben.

Es gäbe also noch eine Frist zur Flucht für ihn. Freunde, die in sein Haus eilen, beschwören ihn, zu fliehen. Übrigens scheinen auch die Behörden oder zumindest einige Beamte damit zu rechnen, dass er sich so der Strafe entziehen wird. Aber das würde allem widersprechen, was Sokrates gedacht und gelehrt hat.

Seit dem Morgen nach der Verurteilung herrscht geradezu Gedränge in seinem Haus. Alle seine Freunde und Schüler wollen ihn noch einmal sehen. Man spricht über den Tod, über die Seele, so wird es Plato später schildern. So naht unversehens der Abend. Einer seiner Schüler, Kriton, will wissen, wie Sokrates begraben zu werden wünscht. »Wie ihr wollt«, entgegnet Sokrates lächelnd.

Er will keine Reden mehr halten, er hat ja schon so viele gehalten, erst gestern vor Gericht.

»Begrabt mich, wie ihr wollt. Sorgt nur dafür, dass ihr mich festhaltet und dass ich euch nicht davonlaufe.«

Dann geht er in den nächsten Raum, wo er ein Bad nimmt, um es den Frauen zu ersparen, seine Leiche später waschen zu müssen.

Später …

Der Schierlingsbecher. Er trinkt ihn ziemlich rasch aus. Das Gift tut bald seine Wirkung. Erst sterben seine Füße ab, dann die Beine. Die Gefühllosigkeit zieht in den Leib hinauf, bald spürt er nichts mehr.

Die meisten, die bei ihm geblieben sind, beginnen zu weinen.

Sokrates bleibt gefasst. Er sagt, wenn die Starre das Herz befalle, dann sei wohl alles zu Ende. Seine letzten Worte: »O Kriton, wir sind Asklepios einen Hahn schuldig. Entrichtet das Opfer, versäumt es nicht.« Es handelt sich um den Gott der Heilkunde.

Auf die Frage, ob etwas für ihn selbst zu tun wäre, antwortet er nicht mehr. Wenige Minuten später brechen seine Augen. Kriton schließt sie und auch den leicht geöffneten Mund.

Sokrates ist gestorben, ein Opfer für die Idee der Wahrheit.

Jesus

30 oder 33

Jesus weiß oder ahnt zumindest, dass ihm Schlimmes bevorsteht: seine Verhaftung. Er hat es schon während des letzten Abendmahls geäußert, er wisse, dass der Oberpriester oder überhaupt die Priesterschaft ihn festnehmen lassen will, dass sie es schon im Tempel oder vor dem Tempel getan haben würden, wenn ihnen nicht daran läge, unnötiges Aufsehen zu vermeiden.

Jetzt, beim Abendessen, das später als das »Letzte Abendmahl« in die Geschichte eingehen wird, teilt er den Jüngern, die viel Lobendes über ihn gesagt haben, rundheraus mit, dass er in dieser Nacht in die Hände seiner Gegner fallen wird und dass sie, die »treuen« Jünger, ihn verraten werden. Er bricht früh auf, geht in der Dunkelheit auf den Ölberg, immer begleitet von ihnen – nur Judas hat sich entfernt –, macht Rast auf einer Liegenschaft, die Gethsemane genannt wird, bittet die Jünger, wach zu bleiben, und entfernt sich von ihnen. Er wirft sich zu Boden und betet: »Vater, wenn du willst, so lasse diesen Kelch an mir vorübergehen! Doch nicht wie ich will, sondern wie du …«

Als er wieder zu den Jüngern zurückkehrt, sieht er, dass sie eingeschlafen sind. Er weckt sie. »Steht auf und betet, dass ich nicht in Versuchung komme. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach …«

Gilt das nicht auch für ihn? Könnte er nicht die Flucht versuchen jetzt in der Dunkelheit? Und außerhalb von Jerusalem verborgen leben? Das Fleisch ist schwach. Aber er weiß oder glaubt zu wissen, Gott fordere von ihm, dass er sich der Prüfung stellt, die er ihm auferlegt hat.

Nun nahen die Schergen mit Schwertern und Stöcken: die Tempelwache, aber auch eine römische Kohorte ist dabei. Der Jünger Judas ist bei ihnen, er küsst Jesus, damit jene in der Dunkelheit wissen, wer von den Anwesenden Jesus ist. Die anderen Jünger versuchen Widerstand, aber Jesus ermahnt sie, ruhig zu bleiben. Und dann bringen ihn die Schergen, begleitet von einigen Hohepriestern und ihrem Anhang, nach Jerusalem zurück.

Jerusalem … Es ist noch gar nicht so lange her, dass Jesus dort eingezogen ist: nur eine Woche vor dem Passahfest. Er kam, von seinen Jüngern begleitet, denen er anvertraut hatte, aber eben nur ihnen, er sei der Messias, auf den man schon lange warte. Jerusalem erwartet ihn keineswegs. Die Stadt füllt sich mit unzähligen Juden aus der Provinz, die alljährlich das Passahfest dort verbringen, das ist gewissermaßen die jüdische Saison, zu der sich alle Welt einfindet, die es sich leisten kann. Aber auch die Armen und Ärmsten kommen, um Jerusalem wenigstens einmal zu sehen. Jerusalem! Da liegt es in all seiner Pracht innerhalb der Stadtmauern mit seinem unbeschreiblich schönen Tempel, aus weißem Marmor erbaut, mit Verzierungen aus purem Gold, mit seinen Säulen und Kolonnaden, mit seinen Vorhöfen, der, wie Flavius Josephus sagen wird, glitzert »wie ein schneebedeckter Berg«, umgeben von öffentlichen Gebäuden, unter denen die Festung Antonia, die auf einem Felsen errichtet ist, und mit ihren mächtigen Türmen von 35 Meter Höhe besonders auffallen muss. Selbst Herodes Antipas, der junge König von Galiläa, der sonst in seiner Hauptstadt Tiberias residiert, ist gekommen.

Jesus geht trotz seiner fast zwei Meter Größe und seinen höchst eindringlichen dunklen Augen in der Masse der Menschen unter, die nach Jerusalem kommen oder gekommen sind. Er bleibt von den meisten unbemerkt, wohl aber weiß die Priesterschaft schon, dass er erschienen ist, ja, sie wusste es bereits, als er im Anzug war. Man hat ja schon in den einschlägigen Kreisen einiges über ihn gehört. Wenn die Priester ahnen würden, was sich in den nächsten Tagen abspielen wird, hätte man ihn vielleicht gleich festgenommen. Aber noch weiß man nicht recht, was er vorhat, nicht einmal, in welcher Eigenschaft er sich eigentlich zu präsentieren gedenkt. Als Messias, als Ankündiger Gottes? Man wird abwarten, wenn auch nicht zu lange.

Und in der Tat gibt sich Jesus vorläufig milde, er bleibt ausgesprochen inaktiv. Wie das Gesetz es vorschreibt, geht er zum Tempel, gelangt zuerst einmal in den äußeren Hof, aber da schon wird er stutzig. Dieser Hof ist voller Kälber und Schafe, auch Tauben befinden sich dort in kleinen Käfigen, all das steht zum Verkauf; Geldwechsler, die in verschiedenen Sprachen ihre verschiedenen Münzen anbieten, machen ziemlichen Lärm.

Nun, das alles ist erklärlich, wenn auch vielleicht nicht ganz entschuldbar. Die Kälber, die Schafe sollen ja unter Umständen als Opfer geschlachtet werden, den Tauben kommt eine ähnliche pseudoreligiöse Rolle zu. Die Geldwechsler? Nun ja, es kommen ja viele Fremde, und die Tempelsteuer darf nur in reiner jüdischer Münze bezahlt werden.

Doch Jesus findet diesen Trubel vor dem Heiligtum empörend. Vorläufig bleibt er noch ruhig, aber am nächsten Tag ist er nicht mehr der ›milde Jesus‹, er wirft die Tische der Geldwechsler um, die Stühle, auf denen die Verkäufer der Tauben sitzen, treibt sie und die Hüter der Schafe fort. Das erregt kein geringes Aufsehen, und viele, die bisher gar nicht wussten, dass es diesen Jesus gibt, und die auch noch nicht verstehen, was er will, geschweige denn wer er ist, erklären sich mit ihm einverstanden.

Wer ist er denn? Er erklärt es jetzt und in den nächsten Tagen, denn er beginnt ohne Zögern im Tempel zu lehren. Dazu hat er eigentlich gar kein Recht, niemand hat ihn dazu ermächtigt, aber solche Formalitäten kümmern ihn nicht. Nun sagt er ihnen, wer er ist, nämlich der ersehnte Messias, und schon das bedeutet, dass niemand Hand an ihn legen dürfe.

Die Priester, die ja den Tempel verwalten, werden nervös. Dass sich einer als lang erwarteter Messias ausgibt, ist schon ein starkes Stück. Sie fragen ihn, ob er denn wisse, dass er gegen des Kaisers – des Cäsars – Verbot handle. Tut er das? Hat er nicht vor Kurzem die später so berühmten Worte gesprochen: »Gebt dem Cäsar, was des Cäsars ist, und Gott, was Gottes ist.«

Noch ist er ruhig, aber er bleibt es nicht lange. Er beginnt gegen diejenigen zu wettern, die die Tempelpolitik machen, nicht so sehr gegen die Zeloten, die ja auch Gegner der Tempelherren sind, mehr gegen die Pharisäer und Sadduzäer, die vorläufig eher milde gegen ihn gestimmt sind, bis er die prophetischen, aber vorläufig höchst unziemlichen Worte ausruft: »Seht ihr diese großen Baulichkeiten? Von ihnen wird nicht ein Stein auf dem anderen bleiben!«

Das geht den Priestern nun doch wohl ein wenig zu weit. Und sie geben das Signal, dass der Synhedrium, die oberste Behörde in jüdischen Angelegenheiten, sich versammle, um gegen den Fremden vorzugehen. Der Synhedrium wird von Priestern, von sogenannten Älteren, von Schreibern und von Mitgliedern bekannter Familien gebildet, die alle vom Hohepriester dazu bestimmt worden sind. Er hat sich nur mit religiösen Verbrechen zu befassen. Dem zu Verurteilenden muss also Blasphemie, Ketzerei oder Zauberei nachgewiesen werden. In solchen Fällen kann der Synhedrium das Todesurteil fällen, allerdings erst nachdem unzählige Formalitäten beachtet worden sind. Und dieses Urteil bedarf der Bestätigung durch den römischen Bevollmächtigten, in diesem Fall eines Mannes namens Pontius Pilatus.

Der eigentliche Prozess Jesu beginnt aber erst, nachdem er vorgeführt worden ist.

Zuerst scheint nicht alles zum Besten für die Ankläger zu stehen. Das Gesetz fordert, dass zwei Zeugen aufgetrieben werden, die das »Verbrechen« bestätigen können. Aber es werden keine zwei Zeugen gefunden. Natürlich gäbe es massenhaft Zeugen für das, was Jesus alles im Vorhof des Tempels angestellt hat, aber das ist keine Zauberei, keine Blasphemie, keine Ketzerei. Der Tempel selbst ist ja nicht zu Schaden gekommen, alles hat sich in einem der Vorhöfe abgespielt. Ein Geständnis seinerseits ist also nicht vonnöten.

Aber schließlich finden sich doch zwei Zeugen, die behaupten, Jesus habe gesagt, er werde den Tempel zerstören und ihn ›ohne Hände‹ in drei Tagen wieder aufbauen. Das hat er natürlich nicht so gesagt, eigentlich stimmt das alles nicht ganz, und als Blasphemie kann man es auch kaum bezeichnen.

Der Hohepriester Kaiphas fragt ihn schließlich: »Bist du der Messias?« Das ist eine entscheidende Frage. Wenn Jesus sie verneint, wird man ihn auslachen, er wird keine Rolle mehr spielen. Er antwortet ganz ruhig: »Ich bin es.«

Jetzt hat der Hohepriester, was er braucht. Er zerreißt sein Gewand – eine symbolische Geste, in Wirklichkeit reißt er es nur ein Stück ein – und verlangt, dass seine Kollegen das Gleiche tun. Denn nun, so befindet er, habe Jesus Blasphemie begangen. Aber das finden die anderen nicht, vorläufig jedenfalls nicht. Blasphemie, das ist eine Beleidigung Gottes. Dass einer behauptet, er sei der Messias, stellt noch lange keine Blasphemie dar, auch nicht, was Jesus hinzugefügt hat, nämlich dass man den Menschensohn zur rechten Hand Gottes sitzen sehen werde. Blasphemie ist erst, wenn man Gott bei dem Namen nennt, den er Moses anvertraut hat: Jahve. Aber genau das hat Jesus nicht getan, er hat immer nur von Gott als dem »Allmächtigen« oder dem »Benedeiten« gesprochen. Die Priester sind zwar mit Kaiphas darüber einig, dass Jesus den Tod verdiene, denn er könne gar nicht der Messias sein, er sei also ein Betrüger und Verführer, aber sie bringen es nicht über sich, ihn zum Tod zu verurteilen.

Also kein juristisches Urteil. Wäre es anders, müsste man sich von Pontius Pilatus nur die Bestätigung holen, der sie ohne Zweifel geben würde, und Jesus wäre nach jüdischem Gesetz umgebracht worden, entweder durch Steinigung, Erdrosselung, Enthauptung oder durch Verbrennung.

Nun muss man sich also an Pontius Pilatus wenden, was erst am folgenden Morgen geschehen kann.

Nach der Verhandlung wird Jesus abgeführt, die Wachen verhüllen sein Gesicht, schlagen ihn und sagen: »Weissage, wer es war, der dich schlug!« Sie glauben nicht, dass er so etwas sagen kann, weil sie überhaupt nicht an Übermenschliches glauben.

Am nächsten Morgen nochmalige Versammlung bei dem Hohepriester, und nun auf zu Pontius Pilatus.

Um die Geschichte Jesu, um das Phänomen Jesus überhaupt zu verstehen, muss man ihn aus seiner Zeit heraus sehen und aus der damaligen Situation der Juden.

Judäa ist schon seit einiger Zeit kein freies Land mehr, sondern eine römische Provinz. Aber die Juden, im Gegensatz zu vielen anderen unterjochten Völkern, assimilieren sich nicht, ja sie widerstehen ihrer Assimilierung mit größter Leidenschaft. Das hat natürlich mit ihrer Religion zu tun, damit, dass sie es ablehnen, an die Götter der Nichtjuden zu glauben, weil sie nur an einen einzigen Gott glauben. Der hat ihnen ja versprochen, dass eines Tages ein Messias kommen wird, um sie zu befreien; nicht unbedingt vom römischen Joch, das hat, als dieses Versprechen von Gott gegeben wurde, noch gar nicht existiert, sondern überhaupt von jeder Fremdherrschaft.

Im Augenblick ist diese Fremdherrschaft freilich recht grausam. Das ist vor allem das problematische Verdienst des Herodes, Statthalter oder auch König von Judäa, zwei Jahre nach Jesu Geburt mit 64 Jahren gestorben; eines Mannes, der mit den Römern kollaborierte, die großen Bauten von Jerusalem, vor allem den neuen Tempel errichtete, aber sonst von einer Härte war, die kaum ihresgleichen fand. So ließ er zum Beispiel seine Frau Mariamne umbringen und auch andere Verwandte und engste Freunde.

Angeblich erschreckt ihn die Geburt eines ihm völlig unbekannten männlichen Kindes aus einer ihm völlig unbekannten Familie – so besagt eine Legende, die erst hundert Jahre später entstehen oder unter die Leute kommen würde. Es handelt sich um die Familie des Tischlers Joseph aus der Stadt Nazareth in der Provinz Galiläa, der kurz zuvor nach Bethlehem aufgebrochen ist, weil eine Volkszählung für das ganze Land bevorsteht und eine Einschätzung für die künftige Besteuerung. Es wird Herodes angeblich zugetragen, dass drei Könige aus dem Morgenland aufgrund eines durch ihre astrologischen Anstalten gesehenen Wahrzeichens am Himmel nach Bethlehem aufgebrochen sind, um dem Neugeborenen ihre Huldigungen darzubringen, denn er sei, siehe Zeichen des Himmels, der künftige König der Juden.

Herodes versteht die Sache mit dem Himmelszeichen nicht, es gibt ja in Judäa, wohl auch in Jerusalem, keine Astrologen, die da Bescheid wüssten. Aber er hört von den Königen aus dem Morgenland und gibt einen Befehl, der an Grausamkeit alles überbietet, was er bis jetzt befohlen hat: Jeder Erstgeborene einer jüdischen Familie – er nimmt an, dass es sich um einen Erstgeborenen handelt, was vermutlich nicht einmal zutrifft – solle sofort umgebracht werden. Er hofft, dadurch das Gerücht im jüdischen Volk, das Ende der römischen Herrschaft sei nunmehr eine gottbeschlossene Sache, der künftige jüdische König sei bereits geboren, im Keim zu ersticken.

Joseph flieht nach Ägypten also auch, um dem unfassbaren Mordbefehl des Herodes zu entgehen. Die kleine Familie, bestehend aus Joseph, seiner Frau Maria und dem Sohn, der eigentlich gar nicht Jesus heißt, sondern Josua, vergrößert sich. Jesus erhält Brüder, Jakob, Jossi (eigentlich Joseph), Juda und Simon; auch Töchter werden geboren, deren Namen man vergessen wird. Möglicherweise hieß zumindest eine von ihnen Mirjam.

Erst als Herodes gestorben ist, also zwei Jahre nach Jesu Geburt, kehrt Joseph mit seiner Familie, angeblich auf Rat und Wunsch eines Engels, der ihm im Traum erschienen ist, von Ägypten in das Land Israel zurück, weil Jesus jetzt nicht mehr gefährdet ist.

So wächst Jesus als guter Jude heran. Er weiß und lernt eine Menge über seine Religion, er ist fromm, er ist und bleibt sein Leben lang gesetzestreu. Nun geht er umher und spricht mit den Leuten und predigt ihnen auch. Er hat zwar keine Examina bestanden, keine Kurse gemacht, ist kein Schriftgelehrter im engsten Sinne des Wortes, aber man redet ihn als Rabbi an, was damals so viel bedeutete wie Lehrer, und wenn er es auch gelegentlich zurückweist, so lässt er es sich meistens doch gefallen.

Der entscheidende Unterschied zwischen ihm und anderen Schriftgelehrten oder Rabbinern: Er predigt nicht Hass, er predigt Liebe, und er predigt auch, immer im Gegensatz zu den anderen, dass man der Obrigkeit gehorche, nicht sie bekämpfe. »Gebt dem Cäsar, was des Cäsars ist …«

Früh hat er von Johannes dem Täufer gehört, der die Juden dazu ermahnt, gerecht gegeneinander zu sein und fromm gegenüber Gott. Die Taufe soll die Menschen, die innerlich unrein sind, von innen her säubern, durch ein Bad würden ihre Sünden getilgt. Jedenfalls eilt Jesus zu Johannes und unterzieht sich der Taufe. Johannes wird übrigens später – er ist ja ›gefährlich‹ – von Herodes Antipas, dem Sohn des Herodes, der die Regierung übernommen hat, verhaftet und schließlich, nicht zuletzt weil er immer den kommenden Erlöser prophezeit, enthauptet.

Ob nun Jesus der kommende Erlöser ist? Er lehrt. Er zieht umher und lehrt. Er tut das subjektiv mit vollem Recht, denn er glaubt, bei der Taufe eine Stimme gehört zu haben, die ihm sagte, er sei erwählt. Also kann er natürlich nicht mehr zu seinem bisherigen Familienleben zurückkehren. Die Zahl derer, die an ihn glauben, vergrößert sich schnell, wenn man bedenkt, wie schwierig die Verständigung von einem Ort zum anderen damals im Lande Judäa ist. Er beweist auch Mut. Er schmäht vor den zusammenströmenden Zuhörern, immer anderen, immer neuen, den Herodes Antipas, er hält Strafpredigten gegen ihn. Entscheidend: Er nimmt einige spektakuläre Heilungen vor, man spricht von diesen Heilkünsten und übertreibt sie vermutlich, aber immerhin, er kann einem Mann, dessen Hand abgestorben ist, wieder den Gebrauch dieser Hand zurückgeben, er kann andere sehend machen, und dies alles nur, weil er an ihren Glauben appelliert und weil sie glauben. Heute, im 20. Jahrhundert, würde man diese Heilungen psychologisch erklären. Damals ist man noch nicht so weit. Man nimmt Heilungen als Heilungen, staunt und ist überzeugt davon, in Jesus den Messias, den Erlöser erblickt oder gar kennengelernt zu haben; obwohl, und es ist wichtig, dies zu unterstreichen, er sich selbst nicht oder noch nicht als Messias deklariert hat.

Zu seiner Familie kehrt er nie mehr zurück, Vater und Mutter Maria, eigentlich Mirjam, spielen in seinem Leben und auch in Zukunft keine Rolle mehr, auch seine Brüder und Schwestern nicht. Seinen Jüngern, das heißt denjenigen, die ihm von Ort zu Ort folgen, predigt er, man müsse »um des Reiches Gottes willen« seine Familie verlassen. Wer das täte, erhielte mehr in jener Welt, als er in dieser verliere, nämlich ewiges Leben. Wörtlich heißt es: »Wenn einer zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder und Schwestern, kann er nicht mein Jünger sein.« Was in der Urfassung der Bibel, im Hebräischen, nicht ganz so hart klingt. Jedenfalls verweist er einen Jünger, der ihn bittet, ihn zu beurlauben, er wolle seinen Vater begraben: »Lasst die Toten ihre Toten begraben!«

In diesem Punkt kennt er keine Kompromisse. Denn er fühlt sich wohl nicht mehr ganz von dieser Welt. Er fühlt sich als der, der auch als Erlöser kommen sollte, als »Sohn Davids«.

Und als er beschließt, mit seinen Jüngern das Passahfest in Jerusalem zu verbringen, sagt er ihnen etwas, das eigentlich darauf schließen lässt, dass er schon alles ahnt, was kommen wird. Seine Worte nämlich sind: »Es geht nicht an, dass ein Prophet nicht in Jerusalem stirbt.«

Noch wissen wenige, dass er ein Prophet ist oder gar der Messias. Und sicher keiner in Jerusalem. Obwohl ganz Jerusalem, ja, das gesamte Volk auf diesen Messias wartet.

Natürlich gibt es auch solche, die nicht an diesen Messias glauben. Etwa die Sadduzäer, weil in den fünf Büchern Moses kein Messias erwähnt ist. Aber die Pharisäer, im Wesentlichen Kleinbürger, die überhaupt nicht an Politik interessiert sind, glauben an den Messias, ebenso wie die ungleich radikaleren Zeloten, und ebenso wie die ähnlich eingestellten Essener stellen sie das Publikum für Jesus, wenn er sehr bald im Tempel zu predigen beginnt.

Was nun die Priester angeht, die ohne Zweifel Schlüsselstellungen einnehmen und das Volk beherrschen: Sie reden natürlich auch vom Messias, aber erwarten sie ihn so sehnlich oder erwarten sie ihn gerade jetzt? Er würde doch ihre Machtpositionen in Frage stellen. Das würden sie freilich nie zugeben. Warum sollten sie auch?

Es ist wohl schon eine Weile so. Und das hat sich auch nicht mit dem Eintreffen Jesu in Jerusalem geändert. Wer ist er denn? Er hat kaum zwei, allerhöchstens drei Jahre gepredigt. Nun ist er von Galiläa nach Jerusalem gekommen, auf Umwegen übrigens, da ihm die judenfeindlichen Samaritaner den Durchzug nicht gestatteten. So hat er den Jordan an einer alten Furt überschritten, ist nach Jericho gelangt, hat dort übernachtet und schließlich die letzten 37 Kilometer nach Jerusalem hinter sich gebracht und steht jetzt vor ihnen, ist abgeurteilt und doch nicht abgeurteilt worden.

Und nun, am Morgen darauf, steht er vor Pontius Pilatus.

Der Prokurator oder Landpfleger ahnt dunkel, was da auf ihn zukommt. Ihm ist bei der Sache denkbar unwohl. Natürlich ist er prinzipiell gegen einen, der sich als Messias ausgibt, gleichgültig, ob er nun der Messias ist oder nicht. Überhaupt, diese Juden! Sie haben ihm so viele Schwierigkeiten bereitet und bereiten ihm fast täglich neue. Er hat ja schließlich den Auftrag von Rom, Ruhe und Ordnung im Land zu bewahren. Und das will er auch, aber es bedeutet eben, dass er oft sehr streng oder, sagen wir ruhig, grausam gegen sie vorgehen muss und kein Erbarmen kennen darf. Er hat wenig Achtung vor dem menschlichen Leben und schon gar keine vor dem Leben eines Juden. Die Sache sieht also nicht sehr gut aus für Jesus, als er nun vor Pilatus steht. Der mustert ihn mit Misstrauen, aber irgendetwas sagt ihm, dass er hier wohl keinen kurzen Prozess machen darf. Er fragt Jesus, ob er, wie der Hohepriester ihm versichert hat, der Messias sei oder gar behaupte, der König der Juden zu sein.

Was soll Jesus antworten? Er könnte verneinen – aber damit wäre es mit der Mission, an die er glaubt, zu Ende. Er wäre eine lächerliche Figur. So antwortet er: »Du sagst es!«

Das kann alles oder nichts bedeuten. Aber wie Jesus wohl vermutet, bedeutet es für Pontius Pilatus eine Bestätigung. Trotzdem zögert der Römer. Er wird sich die Sache überlegen, er schickt Jesus erst einmal in die Festung Antonia. In diesem römischen Gefängnis schmachten um die gleiche Zeit mehrere jüdische Gefangene, mindestens drei. Einer heißt Barabbas, offenbar ein Terrorist, der einen Mord auf dem Gewissen hat.

Pilatus müsste ihn kreuzigen lassen. Aber da wird es sicher Unannehmlichkeiten geben. Die Stadt, insbesondere die Touristen, die in die Stadt gekommen sind, die Pilger werden eine solche Hinrichtung nicht einfach hinnehmen. Es könnte sogar, auch die Priester weisen Pontius Pilatus darauf hin, zum offenen Aufruhr kommen.

Wenn man den Barabbas am Leben ließe, wäre das alles zu verhindern. Was tun? Der Hohepriester rät ihm, Barabbas freizulassen.

»Und was soll ich gegen den sogenannten König der Juden unternehmen?«

»Kreuzige ihn!«

Pontius Pilatus will nicht so recht. Spürt er, dass Jesus nicht irgendjemand ist? Nicht, dass er Mitleid mit ihm oder irgendeinem Menschen hätte. Und es stimmt schon gar nicht, was er später sagen wird, nämlich, er wasche seine Hände rein von diesem Mord an Jesus. Das klingt so gar nicht nach ihm, und wenn er es überhaupt gesagt hat, dann in einem ganz anderen und höchsten realen Sinn.

Aber vermutlich hat er es gar nicht gesagt. Er will nur Jesus nicht kreuzigen lassen, er will ihn lieber geißeln lassen, und dann soll er freikommen.

Aber der Hohepriester besteht darauf, dass Jesus gekreuzigt werde. Er ist viel zu gefährlich, um am Leben gelassen zu werden. Das müsse doch Pontius Pilatus einsehen. Er müsse ihn kreuzigen lassen, die Kreuzigung sei doch schließlich nach römischem Gesetz die Strafe für einen politischen Verbrecher.

Also überlässt Pontius Pilatus dem Hohepriester seine Beute.

Der hat es nun, und mit Recht, sehr eilig. Passah steht vor der Tür, und an einem Feiertag oder auch an einem Sabbat – und in vierundzwanzig Stunden bricht der Sabbat an – darf nicht gekreuzigt werden. Wenn man wartet, bis die Woche des Passahfestes vorbei ist … Wer weiß, was dann kommt?

Also zuerst einmal Geißelung. Nachdem man Jesus die Kleider vom Leib gerissen hat, Geißelung, bis das Fleisch in blutigen Fetzen herunterhängt. Dabei machen die römischen Soldaten, die es nicht besser wissen oder wissen können, ihre Scherzchen, nachdem sie die Kleidung Jesu bereits unter sich verteilt haben.

Dann auf nach Golgotha, wo das Kreuz aufgestellt werden soll. Unterwegs Juden, denen Jesus leidtut. Einer gibt ihm Wein zu trinken, in den Myrrhe geschüttet worden ist, damit er die Schmerzen weniger spüre. Ein anderer trägt ihm wenigstens ein paar Meter weit das Kreuz, unter dem er zusammenzubrechen droht.

Dann die Kreuzigung. Abermals Verspottung durch die römischen Soldaten, die ihm einen mit Essig getränkten Schwamm zum Munde führen. Andere, die gleichfalls gekreuzigt werden, schmähen Jesus.

Jesus bewahrt eine erstaunliche und übermenschliche Gelassenheit. Er bittet noch für seine Peiniger: »Vater, verzeih ihnen, sie wissen nicht, was sie tun!«

Die Qual dauert mehrere Stunden. Dann der letzte Atemzug. Gerade noch rechtzeitig, dass die Sabbatruhe nicht durch die Vollstreckung eines Todesurteils gestört werde.