Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Queer Reading ist eine Methode, die die Konstruktionen des Geschlechts und des Begehrens lesbar macht. Eine queere Lektüre öffnet etwa den Blick dafür, wie ,Heterosexualität' als postulierte soziale Norm in Texten stetig untergraben wird, und ermöglicht die Entdeckung homoerotischer oder homosexueller Subtexte. Ziel ist allerdings nicht, im Gegenzug andere Identitäten zur Norm zu erklären oder Autor*innen und Figuren Prädikate wie ,homosexuell' oder ,transsexuell' zuzuschreiben. Vielmehr legt Queer Reading ein ,anderes Begehren' offen, das nicht den Äußerungen der Figuren und unseren Erwartungen entspricht. Es erweitert so unseren Horizont und bedeutet damit eine Bereicherung jeder literaturwissenschaftlichen Arbeit. Das Studienbuch verdeutlicht anhand von Lektüren ganz unterschiedlicher Prosa, wie ein Text queer gelesen werden kann, und will seine Leser*innen ermutigen, sich Leitlinien zu erarbeiten, mit denen sie Texte selbst queer lesen können. Das Buch leistet neben der Methodendiskussion auch einen Beitrag zur Erforschung kanonisierter Autor*innen und Werke aus neuer Perspektive.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 443
Veröffentlichungsjahr: 2019
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Katja Kauer
Queer lesen
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
ISBN 978-3-8233-8282-9 (Print)
ISBN 978-3-8233-0149-3 (ePub)
Dieses Studienbuch entstand im Laufe meiner Lehrtätigkeit als Privatdozentin. Ich danke den Studierenden, die an den verschiedenen Universitäten meine Lehrveranstaltungen besucht haben und mich mit ihren Fragen und Impulsen dazu gebracht haben, meine queeren Lektüren niederzuschreiben. Einige der Kapitel ergaben sich aus Seminargesprächen und sind bereits in der Lehre erprobt. Der Hauptteil des Buches entstand während der Professurvertretung des Lehrstuhls für die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen im WS 16/17 und im Sommersemester 2017. Ich danke dem Deutschen Seminar für die angenehme und bereichernde Arbeitsatmosphäre, die es mir ermöglicht hat, den Text fertigzustellen. Der Dank gilt auch meinen beiden Hilfswissenschaftler*innen, Martin Sinn und Andreas Klemm, die Teile der Arbeit Korrektur gelesen haben. Einen herzlichen Dank möchte ich meinen Tübinger Studierenden, insbesondere Desirée Held, die mich bei der Korrektur des Dokuments kurz vor der Abgabe unterstützt hat, und Lukas Häberle, der mir ebenfalls hilfreich zur Seite stand, aussprechen. Ich bedanke mich auch für die Unterstützung durch den Narr Verlag und für die hilfreichen Hinweise der Lektorin Frau Dr. Valeska Lembke.
Daß die Körper beseelt sind: das ist das Geheimnis –
Klaus Mann: Der fromme Tanz, 1926
Ist Queer das neue Gender? Diese Frage klingt nach einer Provokation. Doch scheint es durchaus Argumente für diese Hypothese zu geben. Tatsächlich weist die Entwicklung beider Forschungsrichtungen einige Parallelitäten auf – in Anbetracht ihrer universitären und gesellschaftlichen Aufnahme. Nachdem sich in den 1990er Jahren ‚Gender Studies‘ bzw. ‚Gendertheorie‘1 als Schlagwort zu entwickeln begann, Einzug hielt in Proseminare sowie Theorieüberblicksvorlesungen und dabei zunehmend die feministische Literaturwissenschaft ablöste, etablierte sich seit der Jahrtausendwende der Begriff ‚Queer Studies‘ als ähnlich schillerndes Schlagwort. Wird eine Erklärung darüber erbeten, was sich hinter der virulenten Bezeichnung verbirgt, folgen entweder meist ausweichende oder weitschweifige Erläuterungen. Der/die Fragende trifft selten auf eine präzise Auskunft.
Wer an einer neuen Hoffnung für eine politische Protestbewegung feilt oder das akademische Establishment angreifen will, wer einen Namen für persönliche Ausdrucksformen sucht, die nicht ins gängige Hetero-Schema passen, oder auch, wer einfach nur in sein will, kurz: wer auf der Suche nach etwas Neuem, Ungewöhnlichen ist, kommt an Queer schwer vorbei.2
Das Faszinierende des Begriffs umschreiben die Herausgeber*innen und Übersetzer*innen einer 2001 erschienenen Einführung in die Queertheorie als „Hoffnung“, „Protestbewegung“ und „Suche nach etwas Neuem“. Dass eine solche Umschreibung aber auch Zweifel an der wissenschaftlichen Ernsthaftigkeit dieser Forschungsrichtung provozieren kann, liegt auf der Hand. Dem Begriff scheint ein gewisser Zeitgeist, etwas per se Modernes eingeschrieben zu sein. Queer zu denken, so impliziert das Zitat, war um 2000 en vogue. Der Begriff des Queeren vermag gegenwärtig bereits deutlich weniger Aufruhr zu entfachen als noch in seiner frühsten Jugend, den 1990er Jahren, denn jetzt konnotiert er nichts ganz Neues, völlig Ungewöhnliches mehr. Nur was genau verspricht er?
Es ist festzustellen, dass es neben den Anhänger*innen dieser Art der Theoriebildung auch viele Wissenschaftler*innen gibt, die sie skeptisch betrachten. Dem Begriff des Queeren haftet etwas Ominöses an. Das ist auch nicht allzu verwunderlich, denn in das Wort schreibt sich eine Geschichte der Homophobie ein. Die Ablehnung kann daher sowohl homophobe Gründe haben als auch nur eine kritische Skepsis gegenüber einer pejorativen Bezeichnung, die hier so vordergründig privilegiert wird, offenbaren. Das englische Wort ‚queer‘ nämlich bedeutet so viel wie ‚sonderbar‘, oder ‚verkehrt‘, es konnotiert ‚Eigenartigkeit‘. Diente die Bezeichnung eigentlich als abfälliger Ausdruck für schwule und lesbische Personen, so wurde der Begriff in den 1990er Jahren im politischen Kontext als Möglichkeit genutzt, den Außenseiterstatus in einer sexuell normierten Gesellschaft reflektiert und selbstbewusst zum Ausdruck zu bringen. Menschen, deren Sexualität und/oder deren Gender in den dominanten Kategorien der Zweigeschlechterordnung (‚Mann‘, ‚Frau‘, ‚heterosexuell‘) nicht repräsentiert ist, eigneten sich das pejorative Wort an. Sie münzten es in eine positive Bezeichnung für eine Protestbewegung um. Das Wort löste Begriffe wie ‚Homosexualität‘ ab und dient seither gleichzeitig als Instrument einer Kritik an den Konzepten ‚homosexuell‘ und ‚heterosexuell‘. Queer Studies liefern für diesen Protest einen akademischen Überbau. Zeitgleich zu den queer-politischen Anfängen in den 1990er Jahren etablierte sich ‚queer‘ als Konzept für einen neuen kritischen Zugang zur herrschenden Sexualitätsnorm. Der Begriff wurde von der italienisch-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Teresa de Lauretis (*1938) im Jahre 1991 in den feministischen Diskurs gebracht.
Im Umfeld von queer politics, aber auch in Abgrenzung davon sind im Verlauf der Neunzigerjahre weitere Initiativen und Bewegungen entstanden. Transsexuelle und Transgender-Menschen haben sich selbstständig in eigenen Gruppen organisiert […] Parallel zu diesen politischen Entwicklungen, teils als Reflex darauf, teils unabhängig davon, entstand queer im universitären Bereich der Gay and Lesbian Studies als Sammelbegriff für einen neuen kritisch theoretischen Zugang zum Feld nicht-normgerechter Sexualitäten. Teresa de Lauretis war die Erste, die 1991 queer in diesem Sinne anlässlich einer Schwerpunkt-Nummer der feministischen Zeitschrift differences verwendete, die sich mit lesbischen und schwulen Sexualitäten beschäftigte (de Lauretis 1991).3
Queer Studies entstanden zwar im Kontext der Gay and Lesbian Studies, sind aber ideologisch davon zu trennen, denn sie zeigen ein kritisches Verhältnis zu jeglicher Art von Identitätskategorie. „Queer steht nicht für die schlichte Bindestrich-Zusammenführung von „schwul-lesbisch“, obwohl auch dies eine Dimension queerer Praxis darstellt […].“4 Allein, würde die Übersetzung ‚Studien der/des Sonderbaren‘ die Forschungsrichtung erfolgreich legitimieren? Und wer wären diese Sonderlinge, eben doch nur all jene, die ‚verkehrt‘ sind, ‚verkehrt‘ aussehen oder ‚verkehrt‘ begehren bzw. „nicht ins gängige Hetero-Schema passen“? Um Legitimität im universitären Umfeld musste vor 20 Jahren auch noch die Genderforschung kämpfen.
Heutzutage ist sie in das Lehrprogramm vieler Disziplinen integriert. Wenn wir die Parallele also zulassen, ist absehbar, dass im kommenden Jahrzehnt auch hinsichtlich der Queerforschung akademische Akzeptanz für die Relevanz dieser Forschung geschaffen sein könnte. Während jedoch in den letzten 20 Jahren zahlreiche literaturwissenschaftliche Einführungen in die Gendertheorie erschienen sind, hat es für Queer Studies im Kontext der Literaturwissenschaft noch keine vergleichbare Publikationsflut gegeben. Prägend für die studentische Auseinandersetzung mit den Gender Studies war der 1998 erschienene Band „Einführung in die feministische Literaturwissenschaft“ von Jutta Osinski,5 der die Paradigmen einer genderorientierten Textanalyse vorstellte, die sich in den Jahren danach auch in der Praxis ausdifferenzierten. In gewisser Weise lassen sich Queer Studies auch als eine Ausdifferenzierung von Gender Studies verstehen. Besonders im Umgang mit literarischen Texten kann es einen queeren Blick immer nur dort geben, wo ein Verständnis von Gender herrscht, oder anders ausgedrückt, er setzt eine Kenntnis grundlegender Gendertheorie voraus.
Nach der Definition von Annamarie Jargose ist eine Begriffsbestimmung von ‚queer‘ unmöglich, ja gerade die Unbestimmtheit des Begriffs sei für die Theorie wesentlich.6 Diese Aussage einem Einführungsbuch voranzustellen, mag einige Leser*innen bereits jetzt abschrecken. Dass Begriffe niemals völlig eindeutig sein können, ist zwar eine sprachphilosophische Prämisse, um jedoch als Wissenschaftlerin mit einem Begriff erfolgreich arbeiten zu können, ist der Hinweis auf die Elastizität seines semantischen Gehaltes nicht ausreichend. Jargoses vage Definition wird uns allerdings bei aller Mühe um Präzision wieder einholen. Sie meint damit, dass ‚queer‘ eher als eine kritische Denkbewegung denn als ein festes Konzept zu verstehen ist. Diesen Befund müssen wir akzeptieren.
Widersetzt sich dieser Befund der Aussicht, Queer Studies erfolgreich in die akademischen Disziplinen zu integrieren? Wenn wir den Begriff ‚queer‘ bibliographieren, bleiben wir nicht ohne Ergebnisse. Ja mehr noch, es gibt bereits Publikationen, die eine bildungswissenschaftliche Bestandsaufnahme des Forschungsfeldes darstellen.7 Queertheoretische Forschung ist demnach kein Phantasma, sondern hat Eingang in akademische Praxis gefunden, aber aus dem Blickwinkel des Studierenden lässt sich diese Forschungsrichtung schwer systematisieren. Bezogen auf unseren spezifischen Gegenstand stellt sich die Frage: Wie können wir Texte queeren?
An dieser Stelle soll versucht werden, die deutsche Forschungsdiskussion um Queer Studies in Hinsicht auf einen literaturwissenschaftlichen Anspruch, den wir mit ihnen stellen können, zu umreißen. Dieser Einblick in die Forschungsdiskussion kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Ähnlich wie der Begriff selbst ist auch seine Diskussion elastisch. In diesem Studienbuch sollen Angebote gemacht werden, wie wir als Literaturwissenschaftler*innen mit queer praktisch etwas anfangen können. Die Frage, wie wir Texte queeren, soll in dieser Einführung daher nicht theoretisch beantwortet, sondern an Textbeispielen vorgeführt werden. Aus diesem Grunde entwickle ich auch die Forschungsdiskussion aus der Perspektive einer Literaturwissenschaftlerin, die literarische Texte queer lesen möchte.
In den Sozialwissenschaften haben die Queer Studies einen größeren Einfluss als in den Philologien. Es gibt ein Bewusstsein für das Theoriefeld des Queeren. Soziolog*innen wie Sabine Hark haben sich darum verdient gemacht, den Begriff im deutschen Kontext zu etablieren.8 Eine sozialwissenschaftliche Einführung wurde von Nina Degele bereits 2008 vorgelegt.9 Sie ist informativ, bietet für die Arbeit an literarischen Texten allerdings keine Perspektiven. Queer Studies stellen eine Analysemethode dar, die wir als eine transatlantische Disziplin verstehen müssen, das heißt die Ursprünge der Forschungsrichtung liegen im angloamerikanischen Bereich. Die Texte, die die Basis für diese Theorie schaffen, sind, bis auf wenige Ausnahmen, englischsprachig. Einige dieser Texte sind noch nicht aus dem Englischen übersetzt. Die Auseinandersetzung im deutschen Sprachraum beginnt daher meist mit einer Umschreibung von Konzepten, die Wissenschaftler*innen im angloamerikanischen Raum entwickelt haben. Es wäre unzulässig zu behaupten, dass soziologische Auseinandersetzungen mit der englischsprachigen Theoriewurzel nur im Wiederkäuen bestünden, doch oft vermittelt sich der Eindruck eines Mangels an Originalität. Jargoses Einführung ist eines der ersten deutschen Bücher, die den Begriff ‚queer‘ explizit im Titel verwenden. Auch hier handelt es sich um eine Übersetzung aus dem Englischen. Der Band kam bereits 1996 in der Originalsprache heraus, wurde daraufhin 2001 ins Deutsche übertragen und erschien 2017 in der 3. Auflage.
Die Autorin ist Professorin in Neuseeland und eine anerkannte LGBT-Aktivistin. Queer Studies stammen zwar aus den Queer Politics, müssen jedoch nicht nur von Aktivist*innen dieser Szene betrieben werden. Es lässt sich allerdings auch für Deutschland konstatieren, dass queeres Denken im Kontext der LGBT-Bewegung aufkam und Wissenschaftler*innen, die sich dafür einsetzten, dieser Szene zugeordnet werden.10 ‚LGBT‘ wird im politischen Kontext verwendet, um die monolithische Bezeichnung ‚homosexuell‘ abzulösen. Genau diese Entwicklung können wir in den letzten beiden Jahrzehnten feststellen. Unter LGBT verstehen wir lesbian (lesbische), gay (schwule), bisexuelle und Transgenderidentitäten. Es gibt in Deutschland auch die Abkürzung LSBTTIQ oder LSBTTIQPA+, die transsexuelle, transgender, intersexuelle und queere Identitäten mit benennen möchte und sogleich durch die absurde Länge der Buchstabenreihung das Konzept von Identitätslogik verwirft, indem sie queere Identitäten multipliziert. Die Theorie bietet eine Möglichkeit, sexuelle Orientierung und das Körpergeschlecht zu hinterfragen. Der Impuls, sich mit der Queertheorie auseinanderzusetzen, beruht bei vielen prominenten Vertreter*innen auf einem politischen Kampf um Akzeptanz für diverse sexuelle Identitäten. Insofern ist es kein Wunder, dass gerade die Gesellschaftswissenschaften Queertheorie erfolgreich in ihr Curriculum integriert zu haben scheinen. Queere Begriffskritik wurde aus einem gesellschaftskritischen Anspruch heraus geboren, Akzeptanz für Personen zu schaffen, die sich im Modell der Zweigeschlechtlichkeit nicht repräsentiert fühlen. Bedingung für die Auseinandersetzung mit dieser Theorie ist jedoch keineswegs eine Identifikation mit den in der Abkürzung benannten Identitäten. Warum auch? Da das Queere gerade den Reiz des Unbestimmten hat, darf sich jeder Mensch in diesem Konzept repräsentiert fühlen. Queer ist ein Begriff, mit dem sich „fächerübergreifend das Themenfeld Sexualität und Geschlechterverhältnisse theoretisch bearbeiten [lässt].“11 Er bezeichnet somit eine Denkbewegung, eine kritische Haltung zum vorherrschenden Geschlechtssystem. Diese Kritik setzt nicht voraus, dass der oder diejenige, welche/r die Kritik übt, das vorherrschende System für sich persönlich als unerträglich begreift. Menschen, die glücklich heterosexuell leben, sind ebenso befähigt wie berechtigt, „das Themenfeld Sexualität und Geschlechterverhältnisse“ umfassend zu kritisieren. Die eigene Geschlechtsidentität bestmöglich und auffällig als queer lesbar zu machen, ist nicht Bedingung für die Auseinandersetzung. Queerforschung ist inklusiv, nicht exklusiv. Um queer zu denken, muss die Denkende in ihren persönlichen Ausdrucksformen nicht mit allen Vorstellungen von Geschlecht brechen, nach denen gelebt wird. Gebrochen werden muss jedoch mit dem Vorurteil, dass bestimmte geschlechtliche Identitäten und sexuelle Präferenzen auf fragloser Basis die Norm bilden und dass andere Vorstellungen, die dieser Normativität widersprechen, abgegrenzt oder gar für unnatürlich erklärt werden dürfen. Insofern wäre es falsch zu behaupten, dass der queer denkende Mensch nicht von den Grenzen, die unsere Geschlechtsnorm setzt, tangiert werden müsse oder gar dürfe, um Queer Studies betreiben zu können, denn diese Grenzen sind universell bedeutsam und gültig. Jedes Subjekt, egal wie es sich nennt und versteht, ist davon betroffen. Die Norm beherrscht uns alle, weshalb auch die Kritik dieser Norm jede Person etwas angeht.
Die Geschlechternorm, die das sexuelle Begehren zwischen Mann und Frau privilegiert und sich dabei auf patriarchalisch generierte Vorstellungen von ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ beruft, wird als ‚Heteronormativität‘ bezeichnet. Sie steht im Fokus der Kritik. Die Kritik der Heteronormativität ist ein philosophischer Anspruch, den wir als neukantianisch bezeichnen können. Sie fordert unsere Geschlechterlogik heraus und erforscht den Geltungsbereich von Theorien über ‚Geschlecht‘ und ‚Sexualität‘ kritisch. Bei der Queertheorie geht es darum, die verborgenen Kräfte und Vorstellungen zu hinterfragen, die Geschlechtsidentität bedingen. Geschlechtsidentität und sexuelles Begehren beruhen auf Denkmustern und Dynamiken, die keineswegs selbstgewählt sind, sondern in die wir uns, mehr oder minder erfolgreich, einfügen. Die Freiheit, auch die geschlechtliche Freiheit, eines Menschen kann nur darin bestehen, sich über die Bedingungen seiner Weltorientierung, und in diesem Fall seiner sexuellen Orientierung, klar zu werden. Das, was wir authentisch zu begehren glauben, ist eingebunden in eine Geschichte und zwar in eine, die Heterosexuelle seit Langem dazu ermächtigt, sich als ‚normaler‘ zu empfinden als Menschen, die andere Begehrensformen ausleben oder deren Geschlechtsidentität nicht eindeutig ist. Diese Privilegierung allerdings beruht auf einer Ausblendung der Vielgestaltigkeit des Geschlechtlichen und des Begehrens. Zu glauben, dass Toleranz und intellektuelle Offenheit uns davon abhalten, von dem heteronormativen System geprägt zu sein, wäre naiv.
Die Denkräume, die Queertheorie öffnet, sind, wie bei jeder Kritik an bestehenden Mythen und Begriffen, zugleich vage und einladend. Vage ist Queertheorie insofern, als sie sich keiner festen Paradigmen bedienen kann, also das, was wir in den Texten suchen, nicht vorher schon offenkundig ist. Ausgeblendete Phänomene aber sichtbar zu machen und die prinzipielle Offenheit dieser Theorie, die sich für Jargose als so signifikant erweist, bilden zugleich den Reiz der Theorie. Für welchen Menschen könnte diese kritische Denkbewegung uninteressant sein und, was im Zusammenhang dieser Einführung ebenso bedeutend ist, für welchen Text kann die Hinterfragung der sexuellen Orientierung seiner Figuren nicht eine erhebliche Lektürehilfe eröffnen? Sicher ist, wie bei allen Theorien und Methoden, nicht jeder Text gleichermaßen dafür geeignet, ihn mit der Brille der Queer Studies zu untersuchen. Bestimmte Texte, in denen die Liebesbeziehungen oder die sexuellen Verwicklungen ihrer Figuren im Vordergrund stehen, bieten sich für queeres Denken gewiss besser an als Texte, in denen andere Inhalte dominieren. Es ist aber ein Kurzschluss zu glauben, dass die Texte, für die sich Queer Studies als Methode besonders eignen, immer von den offenkundig aus dem Heterosystem Ausgestoßenen handeln müssten. In einem Aufsatz über neue Entwicklungen in der Literatur- und Kulturwissenschaft stellt Eveline Kilian Queer Studies zwar als Instrumentarium für diese Art von Texten vor, indem sie eine Transsexuellenautobiographie, einen Text einer Transgenderaktivistin und eine Textcollage, die für ein fluides Identitätskonzept plädiert, analysiert. Queer Studies an diesen Gegenständen anzuwenden ist sofort einleuchtend, so dass der Aufsatz gut lesbar und seine Argumentation schlüssig ist. Dass sich aber bestimmte Texte geradezu für eine queere Analyse anbieten, soll nicht heißen, dass der Erkenntnisgewinn, der durch Queer Studies erzielt werden kann, nur auf ein Textkorpus beschränkt bleiben darf. Für eine queere Analyse eines Textes muss nicht vorausgesetzt werden – was der zitierte Aufsatz auch gar nicht behauptet –, dass die Protagonist*innen bewusst den Versuch unternehmen, Geschlecht und Identität neu zu denken.12
Sie rechnet mit der Möglichkeit eines Textbegehrens, das sich in einer unterschwelligen symbolischen Ordnung kodiert und nicht mit jenem Begehren deckungsgleich ist, das sich in den Stimmen des Autors, des Erzählers und der Figuren artikuliert.13
Mir scheint aber das Vorurteil weit verbreitet zu sein, dass Texte queer zu lesen nur dann als sinnvoll erachtet wird, wenn sich in diesen Texten ein queeres Begehren deutlich artikuliert. Deshalb werde ich eine Breite von literarischen Texten des 20. und 21. Jahrhunderts vorstellen, die nicht per se schon in einem paradigmatischen Zusammenhang mit queerer Identität stehen, denn in diesem Einführungsbuch soll queeres Denken sich als ein Lektüreschlüssel empfehlen, der keine marginalisierte Existenz verdient, der allerdings auch nicht andere Methoden zwangsläufig in die zweite Reihe zu verdrängen trachtet. Queeres Denken ist für Literaturwissenschaftler*innen deshalb so inspirierend, weil sich die meisten literarischen Figuren deutlich als Objekte von mythischen Geschlechtervorstellungen zu erkennen geben, die jedoch im Laufe der Erzählung immer wieder gebrochen und unterlaufen werden. Das Queere ist etwas, das sich permanent mitteilt, aber eben nur derjenigen Person sichtbar ist, die es sehen will/kann. Die Voraussetzung für eine queere Lektüre besteht darin, die Systemblindheit abzulegen. In einer queeren Analyse eines Textes muss es nun darum gehen, die unterschwelligen, leisen Stimmen zum Sprechen zu bringen, die sich als Unterwanderung der Heteronormativität lesen lassen. Queer Studies bestehen auch für uns als Literaturwissenschaftler*innen in Heteronormativitätskritik. Ohne diesen Begriff sind wir kaum in der Lage, die Beziehungen in den Blick zu nehmen, die ausgeblendet werden. Haben wir mit ‚Heteronormativitätskritik‘ ein Konzept, das klarer denotiert ist als ‚queer‘?
Die Philosophin und Rhetorikprofessorin Judith Butler (*1956) gilt als Begründerin der Queertheorie. Grundlegend für die Auseinandersetzung mit der Konstruktion des Begehrens ist ihre Publikation Gender Trouble1 aus dem Jahr 1990. Sie erschien bereits 1991 unter dem Titel Das Unbehagen der Geschlechter auf Deutsch. Butlers „Unbehagen“ wurde zum Kultbuch, das eine breite, meist auch sehr kritische Rezeption anstieß. Die Schrift erschien nun schon in der 19. Auflage. Es gibt zahlreiche Einführungen in ihr Werk und Judith Butler gilt auch in unserem Fach bereits als „Klassiker[in] der modernen Literaturtheorie.“2 20 Jahre nach Erscheinen der den Queerdiskurs begründenden Publikation wurde die Autorin in einer deutschen Philosophiezeitschrift im Rückblick auf die damals bahnbrechenden Thesen befragt. Ich zitiere eine lange Passage des Interviews, weil diese meines Erachtens in den Kern queeren Denkens einführt.
Ihr Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ handelt von der Frage, wie sexuelles Begehren und geschlechtliche Identität entstehen – eine Frage, die für Sie fundamental für das Verstehen von Kultur ist. Können Sie das erklären?
Zunächst steht Kultur für mich immer im Plural. Wir müssen uns viele Kulturen denken. Doch in fast jedem kulturellen Kontext kommt die Frage auf, ob eine geschlechtliche Festlegung Vorbedingung für kulturelle Teilhabe ist. Muss jemand als Mädchen oder Junge etabliert sein, um in einer bestimmten Kultur verständlich oder erkennbar zu werden? Einige indianische Kulturen haben das Konzept eines dritten Geschlechts. Oder mancherorts bestehen Kategorien für hermaphroditische Menschen. Eine Frage, die mein Buch aufwarf, ist, ob wir im vorherrschenden Gesellschaftsmodell von jemandem eine lesbare geschlechtliche Identität verlangen, um sie oder ihn als Menschen anzuerkennen. Damit wird die Geschlechtsidentität zu einer kulturellen Voraussetzung für das Menschsein.
Sie versuchen in Ihrem Buch zu zeigen, dass unsere geschlechtliche Identität als Mann oder Frau keineswegs natürlich ist. Wie ist das zu verstehen? Gibt es nicht ganz offensichtlich biologische Unterschiede?
Wissen Sie, ich bin ja nicht verrückt. Ich bestreite keineswegs, dass es biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. Doch wenn wir sagen, es gibt sie, müssen wir auch präzisieren, was sie sind, und dabei sind wir in kulturelle Deutungsmuster verstrickt. Zum Beispiel sagen Leute zu mir: „Frauen können Kinder gebären, Männer nicht – ist das kein Unterschied? Das leugnen Sie doch nicht!“ Die eigentliche Frage ist aber: Es gibt viele Frauen, die nicht gebären können oder nicht wollen – behaupten wir, sie seien keine Frauen? Wenn wir sagen, Frauen unterscheiden sich von Männern durch diese Fähigkeit, es sich aber herausstellt, dass diese Fähigkeit nicht wesentlich dafür ist, wer sie sind, dann befinden wir uns in einem kulturellen Akt: Wir setzen eine kulturelle Norm der Reproduktion zur Bestimmung eines biologischen Unterschieds fest. Es lässt sich nicht wirklich sagen, was in dieser Debatte biologisch ist und was kulturell.3
Mit diesen Aussagen stehen wir im Zentrum der Heteronormativitätskritik. Denn wenn die Geschlechtsidentität in „kulturelle Deutungsmuster verstrickt“ ist, gilt das auch für das Begehren. Auch ihm ist im Sinne Butlers keine Natürlichkeit zuzuschreiben, denn diese Zuschreibungen unterstehen „einem kulturellen Akt“.
Heteronormativität ist ein zentraler Begriff der Queer Theory, mit dem Naturalisierung und Privilegierung von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit in Frage gestellt werden. Das bedeutet, dass nicht nur die auf Alltagswissen bezogene Annahme, es gäbe zwei gegensätzliche Geschlechter und diese seien sexuell aufeinander bezogen, kritisiert wird, sondern auch die mit Zweigeschlechtlichkeit und (ehevertraglich geregelter) Heterosexualität einhergehenden Privilegierungen und Marginalisierungen.4
Unter ‚Heteronormativität‘ versteht man die diskursive Abdrängung des same-sex-desire, also des gleichgeschlechtlichen Begehrens, als einer devianten, somit normwidrigen Erscheinung. Die Norm, dass Menschen das jeweils andere Geschlecht sexuell zu begehren haben, vermittelt zwar den Anschein der Natürlichkeit, in dem Sinne, dass Heterosexualität ‚naturgewollt‘ bzw. ‚naturentsprechend‘ sei, baut aber auf Prämissen auf, die kulturell vermittelt diesen Anschein des Natürlichen herbeiführen. So gilt es beispielsweise als natürliche Tatsache, dass es zwei Geschlechter gibt. Wie die Interviewaussage Butlers zeigt, herrscht bei Genderkonstruktivist*innen die Überzeugung vor, dass diese faktisch so evident scheinende Tatsache kulturell bedingt ist.
In der englischen Sprache lässt sich das Geschlecht eines Menschen mit zwei unterschiedlichen Begriffen bezeichnen. ‚Sex‘ wird als das biologische Geschlecht verstanden, ‚Gender‘ als die sozial-geschlechtliche Rolle. Im Deutschen können wir diesen Unterschied nur als biologisches oder soziales Geschlecht benennen. Es wird im Allgemeinverständnis davon ausgegangen, dass ein biologisches Geschlecht eine soziale Rolle nach sich zieht. Die Rolle sei vielleicht partiell veränderbar, die ihr zugrundeliegende Natur nicht. Das allerdings wird aus konstruktivistischer und queerer Perspektive bestritten. In der Argumentation für einen ‚Wahrheitsanspruch der Natur‘ wird die Möglichkeit bereits ausgeblendet, dass Menschen intersexuell geboren werden oder in der Pubertät hermaphroditisch werden können, also sexuelle Merkmale des anderen Geschlechts ausbilden. Diese Menschen lassen sich bereits ‚biologisch‘ nicht eindeutig im System der Zweigeschlechtlichkeit verorten. Die als Wahrheit geltende Prämisse, man/frau werde entweder als Frau oder als Mann geboren, blendet auch das Phänomen aus, dass einigen Menschen ein biologisches Geschlecht, in der Gendertheorie mit dem Begriff ‚Sex‘ bezeichnet, also die Kategorie ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ zwar attestiert wird, diese Personen sich aber in ihrem Rollenverhalten (Gender) entgegen der für sie gültigen Geschlechtsnorm verhalten. Dies kann so weit gehen, dass sie die an sie gestellte Rollenerwartung provokativ brechen, indem sie sich deutlich den Rollenerwartungen unterwerfen, die für das Geschlecht gelten, dem sie begrifflich nicht angehören. Wie Eveline Kilians Analysen darlegen, gibt es in der Literaturgeschichte Beispiele für diese Phänomene. Ob es dabei um Transsexualität geht, also das Bestreben unter Zuhilfenahme eines operativen Eingriffs und hormoneller Therapie eine andere Geschlechtsidentität anzunehmen, um Travestie, also den Wunsch, sich nach Normen des anderen Geschlechts zu kleiden und zu stilisieren, oder ob wir weniger auffällige Erscheinungen wie betont burschikose Mädchen und feminin erscheinende Männer, die um 2000 sogar ein Männlichkeitsideal verkörperten, im Blick haben – dieses Wissen kann wenig daran ändern, dass wir an unseren medizinischen, juristischen, sozialen Vorstellungen von ‚naturgegebener‘ Zweigeschlechtlichkeit festhalten. Das tun wir, obwohl auch aus der Biologie Stimmen laut werden, die die Naturalisierung der Zweigeschlechtlichkeit kritisch erforschen und empirisch widerlegen.5
Die Hinterfragung der Zweigeschlechtlichkeit und die Heteronormativitätskritik sind keine geisteswissenschaftlichen Blüten, die sich betont von den Naturwissenschaften abgrenzen. Doch weiterhin operiert unsere Vorstellung von Geschlechtern mit einer Kette von sozialen Erwartungen und biologistischen Vorurteilen. Judith Butler bezeichnet das kulturelle Geschlechterarrangement, das zwei Geschlechter als sich gegenseitig ausschließende Pole als Norm setzt, als ‚heterosexuelle Matrix‘.6 Von einem biologisch als Mann geltenden Menschen erwarten wir, dass er sich männlich verhält – ein schweres Unterfangen, weil die Vorgaben darüber, was als ‚männlich‘ gilt, nicht eindeutig sind – und seiner Natur gemäß Frauen zu begehren hat. Für einen biologisch als Frau geltenden Menschen gilt im Umkehrschluss dasselbe. Eine Frau soll sich weiblich verhalten, was noch um Einiges schwieriger ist, weil die Rollenstereotype von Weiblichkeit noch kurzlebiger und kontextabhängiger als die von Männlichkeit sind, eingedenk der Tatsache, dass die feministischen Wellen ebenfalls deutlich dazu beigetragen haben, ‚Weiblichkeit‘ als Rollenvorgabe zu kritisieren. Nichtsdestotrotz gelten bestimmte Vorschriften für sie, nach denen reziprok von ihr erwartet wird, dass sie ihr Begehren auf einen Mann richtet. Eine Geschlechtsidentität setzt sich also aus den Kategorien ‚Sex‘ (biologisches Geschlecht), ‚Gender‘ (soziales Geschlecht, also geschlechtliches Rollenverhalten) und ‚Desire‘ (Begehren des anderen Geschlechts) zusammen. Diese Kategorien müssen kohärent sein, um eine mit der heterosexuellen Matrix in Einklang stehende Geschlechtsidentität zu bilden.
Das heterosexuelle Begehren wird auch mit einem weiteren Totschlagargument verteidigt: Neben dem Verweis auf die Existenz von zwei Geschlechtern dient der Hinweis, dass sich diese männlichen und weiblichen Wesen (man bedenke allerdings ‚nur‘ unter bestimmten Umständen) erfolgreich fortpflanzen können, als Fundament der Heteronormativität. Sexualität diene hauptsächlich der Fortpflanzung und mit diesem moralischen Diktum schreibt man den Geschlechtern ein ‚naturgewolltes‘ Begehren zu. Die kulturelle Norm der Reproduktion sorgt dafür, dass wir ein kinderloses heterosexuelles Paar für ‚natürlicher‘ halten als ein homosexuelles Paar, das Kinder hat, weil wir nämlich die Reproduktion, die nur heterosexuell erfolgen kann, als eigentliche Ursache der Paarbildung deklarieren, selbst dort, wo (heterosexuelle) Paare weder Kinder haben können noch wollen. Wenn wir gegen die (angebliche) Natur begehren, gilt dies vielleicht (zumindest in der säkularisierten Kultur, in der wir aufgewachsen sind) nicht mehr als Sünde, aber doch als ‚abnorm‘. Da sich die meisten Menschen tolerant wähnen, wird die Lebensform zwar akzeptiert, doch auch für so manchen Toleranten bleibt Homosexualität dem Wortsinn nach ‚abwegig‘. Die 2017 im Bundesrat verabschiedete ‚Ehe für alle‘ ist zwar ein Meilenstein für die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensformen. Sie ändert jedoch nicht sofort unser Begriffssystem. Die Tatsache, dass Menschen, die das eigene Geschlecht begehren, keine prokreative Sexualität mit der begehrten Person leben können, also eine Sexualität, die primär dem Zweck der Zeugung von Nachkommenschaft unterstellt ist, wurde in unserer Kultur als festes Zeichen dafür gedeutet, dass die Natur ‚wünscht‘, dass Männer eben nur Frauen begehren (natürlich die ‚richtigen‘, also gebärfähigen und -willigen) und andersherum. Diese Logik ist jedoch inkonsistent. Wenn die Natur so klug ermäße und einen Schöpfungswillen hätte, wie kann sie zeugungsunfähige Männer, unfruchtbare Frauen oder Menschen ohne Kinderwunsch hervorbringen? Wieso verlangt es Menschen auch unabhängig von einem Kinderwunsch nach Sexualität? Wären diese sexualfreudigen, aber kinderlosen Menschen nicht ebenso von Mangelhaftigkeit gekennzeichnet wie intersexuell geborene Menschen, was sie ähnlicher, wenn auch nicht gleich starker Diskriminierung aussetzen müsste? Ist es ein Verrat an der Natur, ein Kind mit einem anderen Menschen großzuziehen als mit dem Menschen, mit dem es gezeugt wurde? Sind alte Menschen, die keinen prokreativen Geschlechtsverkehr mehr haben können, in ihrer Sexualität auch naturwidrig? Halten wir es für legitim, wenn sie noch Begehren spüren oder äußern? Dürfen Menschen, die keine Kinder wollen, eigentlich jemanden ‚begehren‘? Im 19. Jahrhundert wäre die Frage in Bezug auf Frauen sofort verneint worden. Anständige weibliche Wesen hätten überhaupt kein sexuelles Begehren zu haben, allein ihr unumstrittenes Schicksal, von Gott oder Natur zur Mutterschaft berufen zu sein, zwänge sie, Sexualität über sich ergehen zu lassen. Eine aktiv begehrende Frau wäre im 19. Jahrhundert ebenso suspekt wie im 20. Jahrhundert eine Frau, die kein körperliches Begehren kennt. Sowohl die hier gestellten Fragen als auch die historischen Kontextualisierungen erweisen sich bereits als queere Intervention, weil sie an der Logik rütteln, dass Sexualität nur vom prokreativen Sexualakt und nur von der Zweigeschlechtlichkeit aus gedacht werden kann und dass rein lustbetonte Sexualität, sowohl hetero- als auch homosexueller Art, eigentlich nur ein Derivat dessen sei, was Natur ‚ursprünglich‘ vorgibt. Bereits heterosexuelle kontrazeptive Sexualität gewinnt bei näherer Betrachtung nach dieser Logik den Anschein des Unnatürlichen.
Faktisch betrachtet denken und begehren wir natürlich nicht so fortpflanzungsgerichtet, wie die an der Reproduktion orientierte Logik suggeriert, selbst wenn immer wieder populärwissenschaftliche Thesen aufkommen, in denen unsere Bindung an andere Menschen mit der Fortpflanzungsorientierung erklärt und durch recht absurd anmutende Annahmen belegt werden. Ich will für diesen Diskurs, der vor allem Frauen auf ihren Status, Kinder gebären zu können, vereidigt, ein Beispiel geben.
Vor ca. 10 Jahren wurde im populärwissenschaftlichen Kontext breit diskutiert, wie sich die Einnahme hormoneller Verhütungsmittel auf die weibliche Partnerwahl auswirke. Es wurde die These aufgestellt, dass die Zugabe von Hormonen die Frauen von ihrem eigentlichen ‚Beuteschema‘ ablenke. Statt maskuliner Männer, die sie natürlicherweise eigentlich begehren, würden sie sich für femininere Männer begeistern, da ihre Psyche hormonell verblendet sei. In der Diskussion dieses Themas wird fraglos Sex als Gender gelesen, das heißt die Definition dessen, was als maskuliner (begehrenswerter) Mann und was als femininer (vom Standpunkt des natürlichen Instinkts weniger begehrenswerter) Mann gilt, obliegt allein der äußerlichen Wahrnehmung. Den Frauen, die mit der Pille verhüten, werde durch ihren Körper eine Schwangerschaft vorgegaukelt. Das führe dazu, dass sie nun keine maskulinen Partner wählen, sondern ‚weiblichere‘, ‚verweichlichtere‘ Typen bevorzugen würden. Ihre Hormonverneblung brächte eine Frau dazu, im Hinblick auf den Wunsch, ihre Nachkommen mit einem verlässlichen Mann aufzuziehen, die Objekte ihrer sexuellen Wahl zu ändern. Abgesehen von der latenten Männerfeindlichkeit dieser These, die impliziert, dass die ‚richtigen Männer‘ allein für den Sexualakt, also als ‚Samenspender‘ für Frauen interessant seien, aber für das Leben danach die weniger männlichen Typen vorgezogen werden müssten, stützte sich das Argument der Dominanz des Gender im biologischen Diskurs um Sex auf Folgendes: Obwohl es sich eigentlich um eine biologisch begründete These handeln soll, die über ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ im Sinne von Sex reden möchte, wird doch beim Überdenken dieser Thesen klar, dass, wenn Frauen angeblich verfälscht begehren, sich dieses (falsche) Begehren bloß auf der Ebene von Gender zeigen kann. So heißt es etwa in der „Süddeutschen“: Unvernebelt, also ‚biologisch richtig‘, begehren Frauen Männer mit „ausgeprägten Gesichts- und Körperformen.“ In der Phase, in der die Pille eingenommen wird, „[s]tehen sie sonst eher auf ausgleichende, harmoniebedürftige Partner.“ Nur ohne Pille „schätzen sie […] aggressivere, konkurrierende Typen, die den Frauen selbst nicht ähnlich sind.“7 In anderen Texten, die diese Studie referierten, wurden diese „Gesichts- und Körperformen“ als kantiges Kinn, die hormonvernebelt begehrten Männer als jene mit zarterem Aussehen benannt.
Ganz bewusst habe ich ein seriöseres Medium als die Frauenzeitschrift zitiert, die mich als Erstes über die bahnbrechende Erkenntnis unterrichtete, denn auch ohne dass wir blumigere Erläuterungen über die intrinsisch begehrenswerte Männlichkeit brauchen, die eher einem Groschenroman denn einem Wissenschaftsreport entsprechen würden, sehen wir, dass das Sprechen über ‚rein biologische‘ Phänomene bereits im kulturellen Kontext verankert ist. Sowohl die Vorstellung, was ausgeprägt männliche „Gesichts- und Körperformen“ sind, die sich, wie wir wissen, durchaus nach Moden ändern können, als auch die Annahme, dass Aggression und Konkurrenz urtypisch männlich sind, während Harmoniebedürftigkeit und Ausgeglichenheit bei Männern bereits als Degenerationserscheinung gelesen werden kann, verdeutlicht, dass der Begriff vom richtigen männlichen Partner ebenso kulturell geprägt ist, wie der Begriff des Begehrens heteronormativ gesetzt ist. Argumente, die das sexuelle Verhalten auf den Reproduktionswillen zurückführen, halten sich nicht so streng an die Biologie wie es scheinen mag. Die fragwürdigen Thesen artikulieren sich innerhalb der heterosexuellen Matrix. Mir geht es in diesem Beispiel darum, zu zeigen, dass wir tatsächlich auch im Alltag unsere Aussagen über die Biologie kulturell und damit auch heteronormativ verortet haben. Die Folie, vor der diese Thesen entstanden sind, ist, dass Frauen ‚richtige Männer‘ begehren, die ihnen „selbst nicht ähnlich sind“; wenn das Begehren aber gestillt ist, weil der Körper sich nun hormonell im Zustand einer Schwangerschaft befindet, scheinen gerade diese begehrenswerten Männer nicht als die Väter zu taugen, die Frauen zum Lebenspartner wählen würden. So seien die armen, hormonell verhütenden Frauen in ihrem natürlichen Begehren gehemmt und entschieden sich gegen die Männer, denen das ‚Mannsein‘ auf den Leib geschrieben ist. Die Entscheidung, dass der richtige, also authentisch zu begehrende Mann über „ausgeprägte Gesichts- und Körperformen“ verfügen müsste, trifft aber nicht die Biologie, sondern die Kultur.
In einem 2008 erschienenen Aufsatz mit dem Titel Mann, was sind wir hart nimmt Franziska Bergmann einen im Sommer 2007 erschienenen FAZ-Artikel unter die Lupe. Der provokante Artikel Das arme Arschloch des Mannes von Baltazar Castor, der „mit althergebrachten Rollenbildern ab[rechnet]“8, bringt die Autorin dazu, „das weitestgehend unhinterfragt existierende Tabu der sexuellen Penetration des heterosexuellen männlichen Körpers“9 als Ausdruck heteronormativer Kategorien aus kulturhistorischer Sicht zu überdenken. Sie bezieht sich dabei auf die in der Männlichkeitsforschung zu einem Primärtext gewordene zweibändige Publikation Klaus Theweleits10 aus den 1970er Jahren, in der die Männlichkeitskonzeption eines gepanzerten, soldatischen Männerkörpers kritisch beleuchtet wird. Um in die heterosexuelle Matrix zu passen, untersteht der männliche Körper einer klaren Körpergrenze.11 Diese Grenze ist durch ein „Penetrationsverbot“ geschützt, was der Autor des FAZ-Artikels als kulturelles Vorurteil kritisiert. Bergmann geht in ihrer Analyse aber so weit, das Penetrationsverbot nicht als Verblendung, sondern als fest verankerte Tatsache in unseren heteronormativen Vorstellungen männlicher Körperkonzepte zu erklären. Sowohl die Körperwahrnehmung als auch die sexuellen Praktiken werden im heteronormativen Denken begrenzt und normiert.
Die Monita, die aus queerer Überlegung gegenüber den Alltagsweisheiten vorgebracht werden können, führen jedoch nicht dazu, den ‚Sinn‘ von Sexualität zu überdenken. Würde die Queertheorie anstelle der Prokreativität nun das Lustargument setzen, bliebe sie derselben Gesetzmäßigkeit verhaftet, die Sexualität mit einem natürlichen Sinn ausstattet. Ist aber nicht der ‚Sinn‘ unserer Sexualität schon längst kulturell überformt? Es geht darum, die Norm und ihre ‚Natürlichkeit‘ in Frage zu stellen, nicht darum, eine andere Norm des vielleicht besseren Begehrens, einer besseren Geschlechtsidentität (Sex), besseren Genders zu entwerfen, sondern zu zeigen, wie der uns so authentisch anmutende Bereich der Sexualität, wie auch unsere Körper (nicht bloß der Geist) und das dingliche Begehren dieser Körper, kulturellen Mechanismen unterliegen. Diese Mechanismen sind so wirkungsmächtig, dass sie den Blick auf eine darunter liegende Natur völlig verstellen. Kein/e Queertheoretiker*in verleugnet Natur. Aus queertheoretischer Perspektive ist sie, wie das Ding an sich bei Kant, eben einfach nicht sichtbar, denn obwohl sich Heteronormativität auf Natur beruft, ist sie auf einen mächtigen argumentativen Unterbau angewiesen, der die Vorstellung von Natürlichkeit als das Wahrhaftige in Stand setzt.
Dieser Unterbau kann in der Analyse von literarischen Texten immer wieder ins Wanken gebracht werden. Die Beschäftigung mit literarischen Texten kann einer queeren Kritik ebenso dienlich sein wie die Forschungen in empirischen Wissenschaften. Zu widersprüchlich sind die herrschenden Gendervorstellungen, als dass sie nicht permanent Uneindeutigkeiten hervorrufen würden. Interessanterweise bringen auch Texte das Phantasiebild der Heterosexualität ins Wanken, die diese eigentlich affirmieren.
Die heterosexuelle Matrix entfaltet ihre Macht, indem sie die Annahme von der Existenz zweier Geschlechter mit der Fiktion verknüpft, dass sich Männer und Frauen nicht nur in ihrer körperlichen Erscheinung, sondern auch in ihrem Auftreten, quasi per Natur, unterscheiden würden. Es gehört schon zu den Grundannahmen des Egalitätsfeminismus, dass die sozialen Unterschiede zwischen Mann und Frau kulturell produziert worden sind. Wir manifestieren auf vielen sozialen, kulturellen und politischen Ebenen die Vorstellung von einer einander andersgearteten weiblichen und männlichen Physis/Psyche. Es besticht durch eine sozusagen faktische Evidenz, dass Männer und Frauen sich unterscheiden, und es erscheint uns manchmal bequem und schmeichelhaft, diese Vorstellung selbstherrlich und blind zu bedienen. Dass diese Unterschiede jedoch als biologisch verankert betrachtet werden können, stellt Butler – und mit ihr die Queertheorie – in Frage. Sie lehnt es ab, die phänomenologische Gegensätzlichkeit der Geschlechter, also die sexuelle Differenz, in den biologischen Bereich zu verschieben. Queertheoretiker*innen sehen ‚Sex‘ und ‚Gender‘ nicht als etwas, das einfach so ist, sondern werten die Geschlechterdifferenz als (kulturell gewachsene), als gewordene Erscheinung.
Ist das naiver Idealismus? Diese Frage stellten sich viele kritische Stimmen nach Erscheinen von Gender Trouble, und zwar nicht nur diejenigen, die einer konservativen Geisteshaltung zu verdächtigen sind. Mutet das, was Butler postuliert, nicht einfach viel zu kontra-intuitiv an, weil wir ja ständig die Geschlechterunterschiede vor Augen haben und nach ihnen leben (müssen und wollen)? Ist es nicht so, dass wir bereits, wenn wir das stille Örtchen aufsuchen, mit unserer Geschlechterdifferenz konfrontiert werden? Ist das bestreitbar? Butlers Argumente postulieren keineswegs eine Nichtexistenz des Körperlichen, sondern sie verweisen darauf, dass wir die Geschlechterdifferenz nur kulturell vermittelt wahrnehmen können:12
Die Radikalität dieser Position löste vor allem in der deutschen Butler-Rezeption eine vehemente Debatte aus, die sich auf den Status des Körpers in seiner unhintergehbaren Materialität konzentrierte. Dazu ist zu bemerken, dass Butlers Konstruktionsgedanke die Materialität des Körpers keineswegs leugnet, wie manchmal behauptet. Vielmehr geht es ihr darum zu zeigen, dass der dem Individuum vorgängige, auf Zweigeschlechtlichkeit basierende Geschlechterdiskurs als Regulativ fungiert, das nur solche Arten von Materialisierung hervortreten lassen kann, die innerhalb dieses Diskurses lesbar sind.13
Das biologische Geschlecht ist kulturell determiniert, weil die Interpretation bestimmter Organe als primäre Geschlechtsorgane bereits eine kulturell vorgegebene Praxis ist. „Als Ort kultureller Interpretationen ist der Körper eine materielle Realität, die bereits in einem gesellschaftlichen Kontext lokalisiert und definiert ist.“14 Lehrt uns die Sorge um die hormonelle Verneblung nicht genau das, was Butler hier behauptet? Die Queertheorie fragt, wie diese Unterschiede als Vorspiegelungen einer unterstellten natürlichen Wahrheit von Geschlechterdifferenz kulturell hervorgebracht und vermittelt werden, und geht davon aus, dass der Ursprung der Zweigeschlechtlichkeit nicht biologisch, sehr wohl aber begriffslogisch festzumachen sei. Demnach wäre es durchaus denkbar, dass es Gesellschaften geben könnte, die ihre Geschlechter in ein Dreier- oder Vierermodell einordnen und dass es ebenso viele Erscheinungen unserer Kultur gibt, die dem Zweigeschlechtermodell zuwiderlaufen, aber sprachlich missachtet, nicht ernst genommen und so in ein diffuses Außen abgedrängt werden. Auf analytischer Basis betrachtet ist die binäre Geschlechterdifferenz Ausdruck des binär geordneten Denksystems unserer Kultur. Das Denken in sich ausschließenden Gegensätzen (schwarz vs. weiß, hoch vs. tief oder eben männlich vs. weiblich) bestimmt die abendländische Denkstruktur. Diese Denkstruktur ist auch im Bereich des Sexuellen derart fundamental, dass sie die Aufteilung der Geschlechter in ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ ebenso nachhaltig prägt. Doch gerade in diesem Bereich zeigt sich, dass die binären Begriffe ‚Mann‘/‚Frau‘ oft unzulänglich sind, weil sie einer Vielfalt des Geschlechtlichen kaum gerecht werden, ja dass auffallen muss, wie wir in einer Denkstruktur verharren, die kaum plausibel und empirisch widerlegt ist.
Wie kann es sein, dass „die Wissenschaft“ als Begründungsinstanz mit der Unterstellung gerade heilsbringender Vergewisserung für die immer wieder perpetuierte „Normalität“ der Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität herhalten muss (und dies teilweise auch bereitwillig tut), während genau diese (Natur-, Sozial und Geistes-) „Wissenschaft“ regelmäßig und produktiv den Blick auf das „Geschlecht“ verkompliziert – sieben Jahrzehnte nach Simone de Beauvoirs Le Deuxième Sexe und fünf Jahrzehnte nach Stonewall?15
Die Frage spiegelt zwei Jahrzehnte nach Butlers Gender Trouble dasselbe ungläubige Erstaunen gegenüber dem Beharren auf einer „Normalität“ der Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität“ wider, die den genderkonstruktivistischen Thesen damals noch entgegengehalten wurde. Das Beharren auf „Zweigeschlechtlichkeit“ scheint auch aus studentischer Sicht überholt. Das zeigt mir meine bisherige Lehrerfahrung. Wenn Studierende ihr erstes Seminar zu Queer Studies belegen, ist es nicht selten so, dass zwanzig Jahre intellektueller Auseinandersetzung auf 14 mal 2 Semesterwochenstunden komprimiert werden müssen. Öffnet sich der Erkenntnisweg, wird plötzlich das, was erst so unplausibel erschien, offenkundig. Zu viele Texte widerlegen die Heteronormativität. Wenn es für einige Studierende erst einmal eine intellektuelle Hürde darstellen kann, die Zweigeschlechtlichkeit produktiv zu hinterfragen, mutet hingegen den Studierenden, die sich bereits länger mit Gender beschäftigt haben, das Phantasma einer sich stetig bewährenden Heterosexualität, die vorbildlich in einer „hierarchisch-sphärengetrennten Kleinfamilie“ gelebt wird, „empirisch unsinnig“ an.16 Sie stimmen mühelos in den Ton der queer Denkenden ein.
Um nicht gnadenlos betriebsblind mit Judith Butler als Gewährsfrau des Queeren zu operieren, schränke ich die Wiedergabe ihrer Thesen, die seit den 1990er Jahren in fast jedem Buch, das sich mit Gender auseinandersetzt, nachzulesen sind, auf die zentralen Aspekte ein. Ich möchte an dieser Stelle einen Text für das Selbststudium vorschlagen. Der Aufsatz Variationen zum Thema Sex und Geschlecht. Beauvoir, Wittig und Foucault17 eignet sich dafür gut. Während Gender Trouble ohne vorherige Kenntnis der Theorie auf Deutsch schwer zu rezipieren ist, ist dieser Aufsatz auch für Leser*innen ohne Vorkenntnisse als Einstieg zu empfehlen. Hier benennt Butler einige ihrer denkerischen Wurzeln, die auch immer in Einführungstexten zu Gender Studies referiert werden. Wie Simone de Beauvoir (1908–1986)18 schon in den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts darlegte, werde man nicht als Frau geboren, sondern durch systematische Erziehungsprozesse zu dem sozialen Wesen ‚Frau‘ gemacht. Diese Erkenntnis radikalisiert die Philosophin Butler mit ihrer Behauptung, dass die Projektion der sozialen Zuschreibungen (Gender) auf den Körper der Frau erst das natürliche Geschlecht (Sex) als eine wie auch immer geartete prädiskursive Figur erschaffen würde, die aber selbst jenseits der Gendervorstellung keine Essenz, ja keinen Raum hätte. Die Kultur macht eine Frau also nicht nur sozial, sondern auch biologisch zur Frau, denn ursprünglich für die Geschlechtszuschreibung einer Person sei Gender. Die sozial erworbene Rolle einer Person bestimmt deren Geschlecht (auch im Sinne von Sex), obwohl man es gemeinhin andersherum betrachtet. Besonders hervorzuheben ist in Butlers Theorie der Begriff der Performativität. Damit ist die darstellerische Realisierung der jeweiligen Geschlechtsidentität als Mann oder Frau gemeint. Nicht die Natur verleihe demnach den Menschen ihr Geschlecht, sondern die zwanghafte und doch oftmals zum Scheitern verurteilte performance vermittelt die Identität eines Menschen. Sie lässt das Geschlecht erscheinen. Der Begriff stammt aus der Theatersprache. Es ist jedoch nicht so, dass eine einmalige Aufführung der Geschlechtsidentität genüge, um als Mann oder Frau ‚durchzugehen‘ (was im Englischen als passing bezeichnet wird), sondern dass Geschlecht ständig zur Vorstellung gebracht wird. Diese Vorstellung der sozial erworbenen Rolle geht Sex voraus. Die Verwechslung von Ursache und Wirkung benennt Butler mit der rhetorischen Figur der Metalepsis. Dies ist für uns Literaturwissenschaftler*innen sehr spannend. Barbara Vinken fasst Butlers Thesen so zusammen:
Die Metalepsis produziert als rhetorischen Effekt eine vorausliegende Ursache, als deren Wirkung sie sich darstellt. Metaleptisch produziert gender das Geschlecht (sex), als dessen Konsequenz es auftritt. Die Metalepsis funktioniert, um einen verwandten Effekt zu zitieren, wie Roland Barthes’ „effect de réel“; dessen „Realismus“ ist nichts der Abbildung Vorhergehendes, sondern ebenfalls erst Effekt der Darstellung, Effekt einer bestimmten Rhetorik.19
Die Bezugnahme auf den Semiotiker Barthes zeigt, dass wir uns in einem genuin literaturwissenschaftlich zu erforschenden Bereich bewegen. Texte sind angereichert mit Vorstellungen von Geschlecht, die keine universelle Gültigkeit haben, die oft widersprüchlich sind sowie unbeständig und dennoch vermögen sie, das Geschlecht real werden zu lassen. Nur über die Wahrnehmung der sozialen Rolle, sei es in der sozialen Realität oder im literarischen Text, sprechen wir den Personen ein Geschlecht zu, welches wir jedoch als biologische Tatsache verstehen. Die Queerforschung in Deutschland entstand durch die Rezeption von Butlers Thesen und in dem Versuch, diese Thesen an geeigneten Gegenständen nachzuvollziehen.
Queerforschung besteht für Literaturwissenschaftler*innen unter anderem darin, die Performanz der Figuren zu prüfen und herauszufinden, inwieweit die Figuren auch eine andere als die rein heteronormative Auslegung zulassen. Sie rekurriert dabei nicht auf die Natur und auch nicht auf eine übergeordnete Wahrheit. Wir interessieren uns als Philolog*innen selbstverständlich nicht für die Biologie der literarischen Figuren, denn wie sähe ein Chromosom einer fiktionalen Gestalt auch aus? Wenn wir über Geschlecht reden, reden wir allemal über die geschlechtlichen Rollen. Wie bereits eingangs erwähnt, hat das breite Theoriegeflecht, dasQueer Studies eröffnen, auch den Ruf obskur und unseriös zu sein. Daher haben wir in den Literaturwissenschaften keine Publikationsflut und es gibt in mancher Hinsicht eine gewisse Scheu vor queerem Denken.
Wie sieht die Forschungsdiskussion in der deutschen Philologie aus? Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive gehört die queere Textarbeit in den Theorierahmen des Poststrukturalismus, aus dem sich die entnaturalisierte Geschlechtertheorie der Rhetorikprofessorin Butler speist.1 Poststrukturalistische Textarbeit zeichnet sich dadurch aus, dass es ihr nicht darum geht, etwas wie die ‚Wahrheit‘ und die ‚Wesentlichkeit‘ der Dinge zu artikulieren, sondern gerade die Annahme, dass es etwas Letztgültiges überhaupt geben könne, zu kritisieren. Begriffe haben keine festen Bedeutungen, scheinbar feste Semantiken werden im Gebrauch ständig unterlaufen. Der französische Philosoph Jacques Derrida (1930–2004), der Begründer der wissenschaftlichen Methode ‚Dekonstruktion‘, hat dieses Scheitern eindeutiger Signifikation u.a. in seiner einflussreichen Schrift „Grammatologie“2 thematisiert, die 1983 erstmals auf Deutsch aufgelegt wurde. Neben ihm gilt der Diskurstheoretiker (bzw. der Begründer dieser wissenschaftlichen Methode) Michel Foucault (1926–1984), dessen Augenmerk darauf gerichtet ist, wie Wissen, das oft nur mangelhaft generiert ist, dennoch als ‚wahr‘ zu gelten vermag und Macht über die Subjekte ausübt, als ein wegweisender poststrukturalistischer Denker, auf dessen Prämissen Queertheorie aufbaut. Michel Foucault versteht auch ‚Sexualität‘ als ein kulturelles Konstrukt, das durch Diskurse hervorgebracht wird. Diskurse prägen das menschliche Verständnis von Realität über Gegenstände alle Art. Sie sind sprachlich, indem sie Definitionen liefern, operieren aber auch auf nicht sprachlicher Ebene. Foucaults Texte, so zum Beispiel Der Wille zum Wissen3, sind seit den 1980er Jahren im deutschen Sprachraum breit rezipiert und in vielen Auflagen publiziert worden. Sie haben in der Literaturwissenschaft einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Während in den 1990er Jahren poststrukturalistische Literaturwissenschaft als mondän galt, wird der Begriff heute nicht mehr als gängiges Schlagwort gebraucht. Es mag sogar rückständig klingen, sich als ‚Poststrukturalistin‘ zu bezeichnen. Der Poststrukturalismus lebt jedoch in vielen geisteswissenschaftlichen Methoden, so auch der Gender- und Queertheorie, weiter. Sein kritischer Anspruch ist nicht passé. Der Verzicht auf einen letztgültigen Wahrheitsanspruch und die Hinterfragung der Machtstrukturen sind für die queere Lektüre kennzeichnend. Die Wiener Literaturwissenschaftlerin Anna Babka, die auch Leiterin der Forschungsstelle „Queer-reading in den Philologien“ an der Wiener Universität ist, zeigt in ihrem Band Gender und Dekonstruktion. Begriffe und kommentierte Grundlagentexte der Gender- und Queer-Theorie (mit Gerald Posselt) die Genese der Queertheorie im literaturwissenschaftlichen Bereich.4 In einer älteren Publikation Queer Reading in den Philologien, herausgegeben mit Susanne Hochreiter, wird das Theoriekonzept durch einzelne Aufsätze erklärt. Dort werden aber auch Beispiele für eine Umsetzung der Theorie geliefert.5 In meiner Einführung verzichte ich darauf, die Genese der Queertheorie aus den poststrukturalistischen Theorien zu explizieren. Stattdessen werde ich versuchen, konkret an Texten zu arbeiten, was aber durchaus als ‚Dekonstruktion‘ und ‚Queer Reading‘ der Texte firmieren kann. Wo können wir eine theoretische Vorstellung von einem ‚Queer Reading‘ gewinnen, um zur Praxis vorzustoßen?
Hinzuweisen ist an dieser Stelle auf den 2003 erschienenen, bereits zitierten Einführungsband Queer denken von Andreas Kraß.6 Der Autor zählt zu den prominenten Kritiker*innen der Heteronormativität im germanistischen Bereich.7 In diesem Band sind viele grundlegende Texte für die literaturwissenschaftliche Arbeit zusammengestellt. Diese Publikation ermöglichte es den Germanistikstudierenden des neuen Jahrtausends, Queer Studies in ihrem Fach umzusetzen. Es empfiehlt sich jedoch, auch sein jüngeres Buch Ein Herz und eine Seele in die Hand zu nehmen, um die Heteronormativitätskritik durch eine Geschichte der Männerfreundschaft expliziert zu sehen. Kraß zeigt dort, dass sich das Verbot gleichgeschlechtlicher Sexualität zwischen Männern im Laufe der Zeit nicht als homogen erweist.8 Der Gegenstand der Untersuchung ist ein heterosexueller, nämlich die (homosoziale) Freundschaft unter heterosexuellen Männern, aber Kraß’ queerer Blick auf diese hochgelobte seelische Bindung unter Männern verdeutlicht, dass sie bestimmter diskursiver Strategien bedarf, die sexuelle Dimension zu leugnen oder fernzuhalten.
Keine literaturwissenschaftliche Einführung in ein Queer Reading bietet eine simple Anleitung, deren Vorgaben eins zu eins nachgeahmt werden können, um zum gewünschten Erfolg zu führen. Dieser Umstand trifft natürlich auch auf andere Methoden zu, erweist sich für Queer Studies allerdings als sehr prägnant. Bei der Etablierung eines eigenen queeren Blickes, also der Anwendung der Theorie in der Praxis, erscheint er Studierenden meiner Erfahrung nach als besonders hohe Hürde. Ich gehe davon aus, dass die meisten Studierenden, die sich der Theorie öffnen, diese auch zu überblicken vermögen, sich jedoch nicht sofort zutrauen, selbst einen Text queer zu lesen. Um diese Fähigkeit auszubilden, müssen wir uns bewusst machen, dass in den Queer Studies zwar einerseits die Entnaturalisierung von Genderidentitäten als grundsätzliche Prämisse gilt, dass aber andererseits die theoretischen Texte, die sich damit beschäftigen, nicht unsere einzige Quelle und Inspiration darstellen. Bereits vor Butler (oder etwa zeitgleich) arbeiteten sich Philosoph*innen, Dichter*innen und Denker*innen an der Kategorie ‚Geschlecht‘ kritisch ab. Auch diese Forschung denaturalisiert die Heteronormativität, jedoch meist nicht auf sprachanalytischer Ebene, sondern durch historische Analysen. Die Arbeit einer queer denkenden, lesenden Literaturwissenschaftlerin besteht darin, eine Kontrastierung zur Norm in den Texten zu zeigen. Diese Arbeit beruht meines Erachtens auf zwei Wurzeln der Queer Studies. Zum einen verfügen wir über die theoretische Basis, die nicht nur, aber doch hauptsächlich, mit dem Namen Judith Butler verbunden ist und für die der 1991 eingeführte Begriff ‚queer‘ generaliter verwendet wird. Sie würde ich als die sprachkritische, sprachphilosophische (oder auch poststrukturalistische) Basis des Queeren bezeichnen, die im akademischen Rahmen zum „Sammelbegriff für einen neuen kritisch theoretischen Zugang“9 systematisiert wurde. Daneben gibt es aber auch eine phänomenologische Wurzel der Queer Studies, die von all jenen Wissenschaftler*innen gepflanzt wurde, die sich am Gegenstand der Literatur mit den vielschichtigen, nicht heteronormativen Erscheinungsformen von Geschlecht und Begehren befasst haben. Diese prä-butlerschen (und in gewisser Weise prä-queeren) Studien, die vor den 1990er Jahren entstanden, werden meist der akademischen Disziplin der Gay and Lesbian Studies zugerechnet, weil sie zu einem Zeitpunkt publiziert wurden, als es den „Sammelbegriff“ ‚queer‘ als akademisches Konzept noch nicht gab. Einige Texte dieser Couleur gelten dessen ungeachtet als Klassiker der Queer Studies. Ich werde dafür einige Beispiele liefern. Diese methodische Quellensituation wurde in der deutschen Philologie nie systematisch reflektiert. Einige Klassiker des queeren Denkens sind noch nicht oder nur teilweise ins Deutsche übersetzt.
Der Essay Zwangsheterosexualität und lesbische Existenz der Lyrikerin Adrienne Rich (1929–2012) allerdings kann auch im deutschsprachigen Raum auf eine über 40jährige Rezeptionsgeschichte zurückblicken. Er entstand im lesbisch-feministischen Kontext der USA der späten 1970er Jahre. Das englischsprachige Original Compulsory Heterosexuality and Lesbian Existence10 wurde 1980 verfasst und 1986 in Richs Buch Blood, Bread, and Poetry: Selected Prose, 1979–1985 veröffentlicht. Die erste deutsche Übersetzung kam 1983 heraus.11 In diesem Essay wird der Begriff der Zwangsheterosexualität (compulsory heterosexuality) etabliert. Damit entnaturalisierte Rich das Konzept der Heterosexualität. Der Aufsatz setzt sich zum Ziel, alle etablierten Begründungen für weibliche Homosexualität, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts bestanden haben, zurückzuweisen. Da sowohl für Männer als auch für Frauen die Mutter die erste emotionale und erotische Bindung darstelle, hinterfragt Rich die herkömmliche Psychoanalyse und argumentiert dafür, dass für Frauen die Wahl eines homosexuellen Objekts eine ganz ‚natürliche‘ sexuelle Orientierung wäre, weil sich Frauen anderen Frauen gegenüber seit der Kindheit in einem lesbischen Kontinuum bewegen. Über dieses Konzept wird im Laufe dieses Buches noch zu sprechen sein. Seine Pointe besteht darin, dass weibliche Homosexualität, falls sie von Frauen als sexuelle Präferenz gewählt würde, keinesfalls eine Diskontinuität in der Ausbildung der weiblichen Geschlechtsidentität bedeute, da die Liebe zu einer anderen Frau eine Konstante in der weiblichen Sozialisation darstelle. Der lesbische Feminismus, in dem die Frauenliebe als Wahl und nicht als pathologisch bedingte Not gelebt wurde, ist durch Richs Essay inspiriert und beglaubigt worden. Der Essay hat auch 40 Jahre nach seiner Entstehung nichts an seiner inspirativen Kraft, Beziehungen unter Frauen neu zu denken, verloren. Die Thesen sind allerdings eng in einen bestimmten politisch-feministischen Kontext eingebunden und zeigen sich nicht mehr in jeder Hinsicht als zeitgemäß. So ist nicht auszuschließen, dass in der heutigen Gegenwart Väter für die Kinder eine ähnlich bedeutende Rolle einnehmen, die damals nur den Müttern zugebilligt wurde, was Zweifel an der These aufkommen lässt, dass ausschließlich die Mutter die erste erotische Bindung eines Mädchens darstellt. Dieses Studienbuch widmet Richs Essay ein eigenes Kapitel, in dem gezeigt wird, dass sich ihre Thesen für die literaturwissenschaftliche Arbeit weiterhin als durchaus fruchtbar erweisen. Die Philosophin Monique Wittig (1935–2003) denkt noch radikaler als Rich, indem sie die Verbindung zwischen ‚weiblichem Geschlecht‘ und ‚Heterosexualität‘ hinterfragt. Ihre These besteht darin, dass der Begriff ‚Frau‘ nur in einem patriarchalisch heterosexuellen System gesetzt ist, sodass Frauen, die diesem heterosexuellen Konzept widersprechen, indem sie Männer als erotische Wahl zurückweisen, auch aus dem Begriff fallen.
Während Adrienne Rich […] zwar Heterosexualität, nicht aber Geschlecht, entnaturalisiert, geht Monique Wittig (1992) weiter und hinterfragt die Verbindung zwischen Geschlecht und Heterosexualität. Mit ihrem Zitat „lesbians are not women“ (Wittig, 1992, S. 32) führt sie die Subjektposition der Lesbe (lesbian) affirmativ als widerständige an. Lesben seien deshalb keine Frauen, weil ‚Frau‘ nur innerhalb des heterosexuellen Regimes Bedeutung habe […].12
Während Adrienne Richs Essay in diesem Studienbuch noch eine Rolle spielen wird, beziehe ich mich auf Monique Wittig nicht explizit. Judith Butler geht in dem von mir als Lektüreeinstieg vorgeschlagenen Aufsatz Variationen zum Thema Sex und Geschlecht. Beauvoir, Wittig und Foucault auf diese Denkerin ein. Kleiner zitiert die französische Philosophin Wittig nach dem Band The Straight Mind and Other Essays, der 1992 erschien. Der Text The Straight Mind selbst wurde jedoch bereits 1980 das erste Mal auf Englisch veröffentlicht.
Eine weitere wichtige, auch in diesem Studienbuch prominent gemachte Klassikerin des queeren Denkens ist die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Eve Kosofsky Sedgwick (1950–2009). Übersetzungen ihrer Texte ins Deutsche sind noch nicht vollständig, im Sammelband von Andreas Kraß Queer Denken ist sie mit dem Aufsatz Epistemologie des Verstecksvertreten.13