Quer durch Athen - Petros Markaris - E-Book

Quer durch Athen E-Book

Petros Markaris

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Beschreibung

In seinen Krimis schickt Petros Markaris Kommissar Charitos durch das Labyrinth von Athen jetzt nimmt er den Leser mit und fährt mit ihm einmal quer durch die Stadt, mit der Linie 1 der altehrwürdigen Metro. "

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Seitenzahl: 144

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Petros Markaris

Quer durch Athen

Eine Reise vonPiräus nach Kifissia

Aus dem Neugriechischen vonMichaela Prinzinger

Mit 22Kartenausschnitten

Dieses Buch erschien 2010

im Carl Hanser Verlag, München,

und wurde für diese Ausgabe

vom Autor leicht überarbeitet und aktualisiert

Umschlagfoto:

Copyright © ullstein bild – Agelou

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24248 5 (1.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60315 6

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Zum Geleit  [7]

Piräus  [13]

Neo Faliro  [21]

Moschato  [29]

Kallithea  [35]

Tavros – Eleftherios Venizelos  [41]

Petralona  [49]

Thiseio  [59]

Monastiraki  [71]

Omonoia-Platz  [85]

Viktoria  [99]

Attiki  [109]

Agios Nikolaos  [117]

Kato Patisia  [125]

Agios Eleftherios  [137]

Ano Patisia  [145]

Perissos  [153]

Pefkakia  [159]

Nea Ionia  [163]

[6] Irakleio  [171]

Eirini  [175]

Neratziotissa  [177]

Maroussi  [179]

KAT[185]

Kifissia  

[7] Zum Geleit

Ob der Fahrer des dampfbetriebenen Zuges, der am 27.Februar 1869 seine Jungfernfahrt von Thiseio nach Piräus absolvierte, wohl ahnte, dass er den Athenern dasjenige öffentliche Verkehrsmittel vorführte, das ihnen am meisten ans Herz wachsen würde? Ziemlich unwahrscheinlich, möchte ich meinen. Dennoch war man sehr stolz darauf, denn damit unternahm Athen einen weiteren Schritt in Richtung Europa, und als Europäer wollte man schließlich gelten. Der Zug brach aus einer Stadt mit fünfzigtausend Einwohnern auf, um in eine andere Stadt zu fahren, die höchstens zehntausend Bewohner zählte. Demzufolge führte die Fahrt bloß von einer größeren in eine kleinere Provinzstadt.

Viele neugriechische Entwicklungen lassen sich in dem Sprichwort zusammenfassen: Nimm dich vor dem Faulpelz in Acht, den plötzlich der Ehrgeiz packt. Die Bahnlinie Thiseio–Piräus wie auch die heutige U-Bahn sind Ergebnisse dieser »Philosophie«. 1835, ein Jahr nach der Ernennung Athens zur Hauptstadt des Königreichs Griechenland, war [8] die Errichtung einer Bahntrasse zwischen Athen und Piräus beschlossen worden – ganze vierunddreißig Jahre nahm man sich Zeit für die Umsetzung. Nicht anders die U-Bahn: Die ersten Bohrungen begannen 1963, doch erst siebenunddreißig Jahre später, im Jahr 2000, nahm sie den Betrieb auf. Dann war es vorbei mit dem Schlendrian: Die Bahnlinie von 1869 wurde – wie später auch die U-Bahn – in atemberaubendem Tempo durch ein weiteres Stück ergänzt. Nach kurzer Bauzeit wurde das sogenannte »Ungetüm« eingeweiht: die Bahnlinie, die vom Attikis-Platz im Zentrum bis nach Kifissia im Norden führte.

Im Jahr 1904, fünfunddreißig Jahre später, wurde diese Bahn elektrifiziert. Damals setzte sich die Bezeichnung »die Elektrische« für das Verkehrsmittel Nummer eins der Athener durch. Selbst heute noch, nachdem sie als Linie 1 in das U-Bahnnetz integriert worden ist, wird sie von den Athenern »die Elektrische« genannt: »Bist du mit der U-Bahn gekommen?« – »Nein, mit der Elektrischen.«

Die ersten Waggons waren aus Holz und strahlten den Charme alter Eisenbahnen aus. Das lag nicht nur an den bequemen Ledersitzen, sondern auch am Gepäckwagen, in dem die Reisenden mit schweren und voluminösen Gepäckstücken Platz [9] nahmen. Die Stadtbahn konnte zwar weder mit der Londoner Underground noch mit der Pariser Métro konkurrieren, doch sie bildete das fortschrittlichste städtische Verkehrsmittel in einem Land, das zwischen Orient, Balkan und antiken Vorfahren hin und her gerissen war.

Als ich mich 1965 in Athen niederließ, freute ich mich jedes Mal, wenn ich auf Züge mit hölzernen Waggons stieß. Es war vielleicht nicht gerade eine Fahrt mit dem Orient-Express, aber auf jeden Fall gemütlicher als die unbequemen Metallwaggons, die sich in den siebziger Jahren mehr und mehr durchsetzten. Letztere stammten bis zum Jahr 2000 vorwiegend aus dem Hause MAN-Siemens.

1926 wurden die Linien aus Piräus und Kifissia vereint. Dadurch wurde die heutige Linie 1 mit ihren vierundzwanzig Stationen geschaffen, die Athen zwischen dem Hafen Piräus und dem nördlichen Vorort Kifissia durchquert. Auch heute noch ist diese Linie die längste des Athener U-BahnNetzes.

Von diesen vierundzwanzig Haltestellen haben nur fünf ihren alten Charme behalten: die Endstationen Piräus und Kifissia, Monastiraki sowie Omonoia und Viktoria. Von der ursprünglichen Station Thiseio ist nur mehr der hölzerne Fahrkartenschalter erhalten. Alle übrigen Haltestellen [10] wurden vor der Olympiade im Jahr 2004 renoviert und dadurch vielleicht moderner, funktionstüchtiger und manchmal auch kitschiger, gleichzeitig haben sie allesamt ihre alte Ausstrahlung eingebüßt. Doch daran stören sich nur wenige in einem Land, in dem Modernisierung in der Regel stets die Vernichtung des Alten bedeutet.

Der einzigartige Charakter der Stadtbahn liegt jedenfalls weder in der Länge ihrer Trasse noch in der Bauqualität ihrer Haltestellen begründet, sondern in der Tatsache, dass sie quer durch Athen verläuft und damit einen repräsentativen Querschnitt bietet. Sie beginnt bei den alten Siedlungen der Seeleute und Arbeiter in Piräus, gelangt über das Zentrum, den Omonoia-Platz, zu den kleinbürgerlichen Wohngegenden bis zu den noblen Vororten Maroussi und Kifissia. Vielleicht lieben die Athener gerade deshalb die Stadtbahn so innig, weil kein Buch, keine Landkarte und kein Kinofilm ihre Stadt in ihrer Gesamtheit so gut abbilden könnte.

Unsere Reise durch Athen durchläuft die vierundzwanzig Stationen der Stadtbahn und dauert eine knappe Stunde. Wer sich jedoch entschließt, an den Haltestellen auszusteigen und ihre Umgebung etwas genauer zu erkunden, wird Athen mit all seinen schönen und hässlichen Seiten [11] kennenlernen, mit seinen verborgenen Überraschungen und aufregenden Gegensätzen, den antiken Stätten und den Spazierwegen, mit seinen ärmlichen Vierteln und seinem modernen, neureichen Antlitz, das auch heute, trotz der Krise, weiterbesteht, denn diese neureichen Viertel wurden von ihr weitgehend verschont.

Brichst du auf gen Ithaka,

wünsch dir eine lange Fahrt,

voller Abenteuer und Erkenntnisse,

meint der große Lyriker Kavafis in seinem Gedicht Ithaka. Kavafis lebte in Alexandria, Athen hat er erst als schwerkranker Mann besucht und kaum näher kennenlernen können. Hätte er hier gelebt, wäre ihm möglicherweise die Reise mit der Stadtbahn als Fahrt zu einem modernen, urbanen Ithaka erschienen.

[13] Piräus

Wenn man in den siebziger Jahren ein Taxi nahm, um von Athen nach Piräus zu fahren, meinte der Taxifahrer jeweils: »Gut, aber Sie müssen mir sagen, wo es langgeht. Ich bin Athener, in Piräus kenne ich mich nicht aus.« Dieselbe Erklärung, nur in umgekehrter Richtung, gab auch der piräotische Taxifahrer ab: »Ich bin aus Piräus und kenne mich [14] in Athen nicht aus.« Die meisten Bewohner der attischen Tiefebene fuhren damals lieber mit der Stadtbahn und setzten ihre Fahrt dann mit einem Taxi vor Ort fort, um nicht unnötig umherzuirren.* [* Apropos umherirren: Die Kartenausschnitte verzeichnen ausschließlich Ortsangaben, die im Text genannt werden. Alle Straßen sind gleich breit gezeichnet, unabhängig davon, ob es breite Boulevards oder kleine Gässchen sind. Sie ersetzen keinen ausführlichen Stadtplan, sollten aber die Orientierung erleichtern.]

Heute haben sich die Taxiunternehmen von Athen und Piräus zusammengeschlossen, und die Fahrer kennen Athen genauso gut wie Piräus, doch in jenen Jahren verströmte Piräus – zumindest was sein Flair als »Sündenpfuhl« betraf – mehr Hafenatmosphäre als heute.

Piräus verfügte damals über die größte Anzahl schlecht beleumundeter Bars und Freudenhäuser in ganz Griechenland. Bewundern konnte man diese Ansammlung im sagenumwobenen Viertel von Troumba. In den fünfziger und sechziger Jahren pilgerte jeder junge Mann dorthin, um in die Geheimnisse der sexuellen Praktiken eingeweiht zu werden. Nach dem Besuch erhielt er die Akkreditierung zum Liebhaber. Nicht wenige Väter schätzten die Liebesdienste der Prostituierten, mit denen diese ihren Sprösslingen halfen, ihre Ängste und Hemmungen zu überwinden und sich so weit zu [15] entspannen, dass ihr erster Versuch mit Erfolg gekrönt war. So entstand der Mythos der Hure mit dem guten Herzen, der in der Literatur, im Theater und vor allem im Kino der sechziger und siebziger Jahre vorherrschte. Romanseiten, Theaterbühnen und Filmszenen füllten sich mit einer Reihe von Frauen à la Irma la Douce. Das bekannteste Werk dieses Genres war Alekos Galanos’ Theaterstück Die roten Laternen, das später verfilmt und in Griechenland zum wahrscheinlich größten Kinoerfolg der sechziger Jahre wurde.

Athen konnte nichts Gleichwertiges vorweisen. Es hatte keinen Hafen, und die Gegend rund um den Bahnhof war trist und heruntergekommen. Entlang der Eisenbahntrasse, die Athen und Piräus verbindet, ist mittlerweile zwar ein ganzes Viertel mit Bars und Restaurants entstanden; damals hingegen gab es nur ein schwindsüchtiges Nachtleben mit billigen und schäbigen Vergnügungen.

In jenen Jahren hatte auch das Zentrum von Piräus einen ganz anderen Charakter. Die großen Superfast-Fähren, die heute nach Kreta, auf die Kykladen und zu den Sporaden fahren, gab es noch lange nicht. Die Reisen erfolgten auf modrigen Pötten, und die Seeleute warteten hier auf ihre nächste Heuer, sei es auf einem Frachter oder einem Passagierschiff. Ganz Piräus war ein einziger Markt- [16] und Umschlagplatz von Seemännern, und wenn sie dann auf Reisen gingen, wussten ihre Familien oft nicht, ob sie in sechs Monaten, in einem Jahr oder vielleicht gar nicht mehr zurückkehrten.

Viele dieser Seeleute, vor allem die gut verdienenden Kapitäne, hatten oft eine Zweitfamilie in irgendeinem anderen Land. Die griechische Familie wusste zumeist davon, ließ sich jedoch nichts anmerken, solange sie das Kapitänsgehalt einkassierte, das ihr einen relativ hohen Lebensstandard sowie den Erwerb eines Einfamilienhauses erlaubte.

Piräus lebte fast ausschließlich vom Meer. Ein wichtiges Ereignis war jeweils die Ankunft der 6. US-Flotte. Diese spülte einmal im Jahr einen Haufen Dollar an Land, und davon profitierten ausschließlich die Etablissements in Troumba. Die übrigen Läden gingen leer aus. Die »Amis« kauften nämlich alles in der Kantine ihrer Schiffe ein und sparten ihr Geld für Barbesuche und Frauen. Wenn die Flotte dann nach drei Tagen wieder weg war, sah man da und dort noch ein paar junge Matrosen, die in einer Bar oder in einem Puff hängengeblieben waren. Deren Inhaber waren zumeist alte Hasen, verfügten über alle nötigen Telefonnummern und benachrichtigten die US-Militärbasen in Elliniko oder Nea Makri, wo sie ihre Pappenheimer wieder einsammeln konnten.

[17] Das Bild von Piräus hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Heute weist kaum mehr etwas auf seine Vergangenheit hin, nur hier und da trifft man noch auf spärliche Überbleibsel aus der alten Zeit. Die Gegend von Troumba wurde einer Säuberung unterzogen und bietet ein Bild der Trostlosigkeit. Das Viertel ist heute von Wohnblocks geprägt, die zwischen den gespenstischen Ruinen der nunmehr geschlossenen und verbarrikadierten Bars emporragen.

Dazu kommt, dass Piräus seine Vorherrschaft auf See eingebüßt hat. Der Handelshafen von Thessaloniki verschifft seit 1989 wesentlich mehr Güter nach dem östlichen Balkan, wohingegen alle großen Fähren Richtung Italien – nach Ancona, Brindisi oder Venedig – von Patras abgehen. Dennoch verfügt Piräus nach wie vor über die größten Schifffahrtsbüros, die meisten davon sind Agenturen der großen griechischen Schifffahrtsgesellschaften, die ihren Sitz vorwiegend nach London und zum Teil nach Zypern verlegt haben.

Piräus hat sich entlang der Küstenstrecke von Pasalimani ausgehend in Richtung der Peiraiki-Halbinsel bis hin zur Seekadettenschule ausgedehnt. Dieses Viertel heißt Chatzikyriakeio, nach der dort seit 1889 ansässigen Kinderschutzstiftung.

Die beiden Häfen von Piräus, die als [18] Vergnügungsviertel dienen, bieten kaum mehr als zwei Ankerplätze und trugen mysteriöserweise bis vor kurzem türkische Namen. Der eine hieß Pasalimani (also Hafen des Pascha, d.h. des Generals) und der andere Tourkolimano (Hafen der Türken).

In der Antike lauteten ihre Namen Zea und Mounychia. Ich weiß nicht, wie der Übergang von der altgriechischen zur osmanischen Bezeichnung ohne offizielle Umbenennung erfolgen konnte. Die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass die Entvölkerung der Gegend unter der jahrhundertelangen osmanischen Herrschaft dazu geführt hatte, dass die antiken Bezeichnungen in Vergessenheit gerieten, was die Osmanen aus praktischen Gründen zu einer Neubenennung veranlasste. Der Begriff Entvölkerung ist hier übrigens durchaus angebracht: Piräus zählte im Jahr 1821 bei Ausbruch des griechischen Aufstandes gerade mal 10Einwohner. Danach ging es schleppend wieder bergauf: Im Jahr 1827 waren es ganze 27 und im Jahr 1835, ein Jahr nach der Ernennung Athens zur Hauptstadt, 1011 Einwohner.

In den sechziger Jahren hat Pasalimani seinen antiken Namen zurückerhalten und heißt nun wieder Zea. Von hier fahren Tragflügelboote zu den Inseln im Saronischen Golf. Tourkolimano nennt sich heute Mikrolimano (Kleiner Hafen) und [19] verfügt über eine beachtliche Marina für Yachten und Segelboote. Zea und Mikrolimano gehören zu den angestammten Ausflugsorten der Einwohner von Piräus. Früher war die ganze Gegend voller Fischlokale, und die Athener kamen hierher, wenn sie »Edelfisch« essen wollten. Fischtavernen gibt es immer noch, doch wesentlich größer ist die Anzahl der kleinen Bars und Studentenlokale.

Ende des 19.Jahrhunderts, als Piräus zum führenden Hafen im Königreich Griechenland aufstieg, setzte ein starkes Bevölkerungswachstum ein. Eine weitere große Veränderung erlebte der Ort fast hundert Jahre später unter Bürgermeister Aristeidis Skylitsis während der Militärjunta. Heute ist der Name des 2006 verstorbenen Politikers in Vergessenheit geraten. Und dies kommt allen zupass. Nur wenigen jungen Piräoten sagt sein Name noch etwas, und die älteren tun so, als erinnerten sie sich nicht. Dabei erhielt er drei Jahre nach dem Fall der Junta bei den Gemeinderatswahlen von 1978 noch immer nahezu 49% der Stimmen. Seine Wiederwahl wurde nur von einem Bündnis der beiden Großparteien verhindert, die um keinen Preis einen Junta-Anhänger auf dem Bürgermeistersessel sehen wollten. Nach außen hin wurde er von den Piräoten zwar verurteilt, doch bei den geheimen Wahlen wählten sie ihn systematisch wieder.

[20] Besagte Veränderung lief in erster Linie auf eine Säuberung des Zentrums von Piräus und seiner näheren Umgebung hinaus. Der Bürgermeister ließ die Lokale in Troumba schließen, und auch den Baracken und kleinen Läden im Zentrum ging es an den Kragen. Skylitsis war ein Modernisierer der von mir vorhin beschriebenen Schule: Er ließ alles Alte und Originäre niederreißen und kleidete Piräus wie die Schülerinnen eines Mädchenpensionats in eine gleichförmige Uniform. Selbst die alte historische Uhr auf dem Hauptplatz ließ er abmontieren, verbannte die traditionellen Holzstühle mit dem Bastgeflecht aus den Kafenions und Esslokalen und ersetzte sie durch die schneeweißen Plastikstühle, die man heute auf den Wochenmärkten für Garten und Veranda verkauft.

Allerdings ließ Skylitsis die Finger von den Arbeitervierteln, von Drapetsona, das von und mit der Zementfabrik lebte, oder Perama und Keratsini mit ihren kleinen Werften. Dort hatte die Polizei durch die Verfolgung von Gewerkschaftern und Linken die Säuberungsaktionen übernommen.

Als einziger historischer Überrest blieb Piräus nur der Endbahnhof der Stadtbahn erhalten – nicht der ursprüngliche Bahnhof von 1869, sondern die jüngere Variante von 1928.

[21] Neo Faliro

Die Haltestelle der Stadtbahn in Neo Faliro wirkt förmlich eingeklemmt zwischen dem Stadion für Frieden und Freundschaft auf der einen und dem Karaiskakis-Stadion auf der anderen Seite. Am Ausgang des Bahnhofs deuten die Wegweiser einzig zu den beiden Sportanlagen, ein anderes Ziel scheinen die Reisenden hier nicht zu kennen.

[22] Diese beiden Bauwerke bilden mit einer Reihe von Gebäuden entlang der Küstenstraße – darunter Krankenhäuser und Fernsehstationen – eine undurchdringliche Wand, hinter der das eigentliche Viertel vollkommen verschwindet. Das heutige Neo Faliro erinnert in gewissem Sinne an Gran Canaria, auch dort trennt eine Wand die Insel vom Meer, und das wahre Gran Canaria liegt hinter dieser Küstenmauer.

In Neo Faliro präsentiert sich die Lage jedoch noch etwas extremer. Denn zwischen der Küstenstraße und den Gleisen der Stadtbahn erhebt sich eine zweite Wand aus frisch hochgezogenen Wohnblöcken. Von den alten ein- und zweistöckigen Häusern aus den fünfziger und sechziger Jahren ist nur ein kleiner, gnadenlos zwischen die Wohnblocks eingequetschter Rest übrig geblieben. Sie wirken mit ihren Gärten voller Bougainvilleen, Rhododendren und Akazien wie die Liliputaner in Gullivers Reisen, die sich ins Land der Riesen verirrt haben.

Auf ein solches altes Haus stößt man zum Beispiel gleich hinter den Kartenschaltern des Karaiskakis-Stadions. Es steht ganz allein, eingekerkert zwischen den klotzigen Bauten des Bahnhofs und des Stadions. Durch die offene Verandatür erspäht man an der Wand anstelle eines Bildes das [23] Steuerrad eines Schiffes. Daneben steht auf einer Etagere das handgefertigte Modell eines Passagierschiffs.

Als ich Neo Faliro Ende der sechziger Jahre zum ersten Mal betrat, wirkte es wie eine Satellitenstadt von Piräus, obwohl es eine selbständige Gemeinde war. Die Mehrzahl der Einwohner waren einfache Seeleute. Die Kapitäne lebten eher in Kastella, die meisten jedoch auf den Inseln Hydra und Andros, woher sie auch überwiegend stammten. Neo Faliro hingegen war der Wohnort der Schiffsingenieure und der einfachen Matrosen.

In Ibsens Die Frau vom Meer verzehrt sich Ellida vor Sehnsucht nach dem Seemann, mit dem sie sich einst verlobt hatte. Genauso warteten noch vor ein paar Jahrzehnten die Frauen von Neo Faliro ihr Leben lang tagtäglich mit Herzklopfen auf die Rückkehr ihrer Ehemänner und Väter. Es waren Tage, Monate, vielfach auch Jahre voller Ungewissheit, da die griechische Schifffahrt in jener Zeit eher auf Quantität denn auf Qualität setzte. Die griechischen Reeder besaßen zwar eine große Handelsflotte, doch die meisten Schiffe waren alte und schlechtgewartete »Seelenverkäufer«. Wenn man die Büros einer Reederei betrat, geschah es nicht selten, dass man Frauen mit Kindern an der Hand im Vorraum antraf, die weinend die letzte Heuer oder die Entschädigungszahlung nach dem Tod [24] ihres Mannes abholten, den irgendwo weit draußen die See verschlungen hatte.

Damals galt noch die baurechtliche Auflage, dass man entlang der Küstenstrecke nicht mehr als drei Stockwerke errichten durfte. Dann kam die Junta, schaffte die Einschränkung ab, und anstelle der drei Etagen wucherten bald fünf oder sechs in den Himmel. Die Junta hat die Küstenstraße zerstört, um die Herzen der Menschen zu gewinnen. Letzteres ist ihr zwar gründlich misslungen, doch die Bauunternehmer ergriffen die Gelegenheit beim Schopf, und die Bewohner machten eifrig mit bei dem Zerstörungswerk, zunächst in den teureren Gegenden wie Palaio Faliro, später – in den siebziger Jahren – auch in Neo Faliro.