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Die grassierenden Verschwörungstheorien, ein durch Soziale Medien und das Internet gespeister Postfaktizismus und die politische Radikalisierung, wie sie sich in der Pandemie, aber auch in der Entsolidarisierung mit der Ukraine oder bei der Leugnung des Klimawandels beobachten lassen, können als Symptome einer krisenhaften Modernisierung der Industriegesellschaften verstanden werden. Die sozioökonomischen und soziokulturellen Umbrüche im Zuge von Digitalisierung, Globalisierung uns Säkularisierung verursachen Verunsicherungen und Kränkungen, die sich in Wissenschaftsfeindlichkeit, Realitätsverleugnung und antidemokratischer Systemopposition äußern. Die Prinzipien universeller Aufklärung und liberaler Demokratien geraten zusehends unter Druck.
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Seitenzahl: 248
Veröffentlichungsjahr: 2022
© 2022 Dr. Bernd Lederer
Autor: Dr., Lederer, Bernd
Umschlaggestaltung, Layout, Satz: Mag.a, Schedlberger, Elisabeth
ISBN Softcover: 978-3-347-71844-9
ISBN Hardcover: 978-3-347-71845-6
ISBN E-Book: 978-3-347-71850-0
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Bernd Lederer
„Querdenker“und Postfaktiker:
Wie die aktuelle Gegenaufklärung im Zugedes spätmodernen Struktur- und Wertewandelsdie Demokratie bedroht
DER AUTOR
Privatdozent Dr. phil. habil., Dipl.-Päd. Bernd Lederer ist an der Bildungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck beschäftigt, war zudem mit Lehraufträgen an der Fachhochschule des Landes Vorarlberg und der Pädagogischen Hochschule Tirol und Oberösterreich tätig. Zuvor lehrte und forschte er an den Universitäten Regensburg und Köln.
Er arbeitete am Bundesinstitut für Berufsbildung in Bonn (BIBB) und war im Praxisfeld berufliche Bildung und Jugendbildung aktiv, so am Kolping-Bildungswerk (Köln) und vor allem am Fachseminar des Deutschen Roten Kreuzes (Köln, Bonn, Bergisch-Gladbach).
Er besitzt die Lehrbefugnis für Bildungstheorie und Allgemeine Erziehungswissenschaft und beschäftigt sich speziell auch mit gesellschaftspolitischen Prozessen und Diskursen, die das Verständnis von und die Erwartungen an Bildung und die entsprechende Ausgestaltung des Bildungswesens betreffen.
Vorwort
„Science matters, but society matters even more!“ Die CoronaPandemie hat in schonungsloser Dramatik eine Schattenseite der aufgeklärten Moderne aufgezeigt: Neben den Erfolgen der medizinischen Wissenschaften offenbarte sich unter dem Sammelbegriff der sogenannten „Querdenker“ eine ausgesprochen heterogene Szene von Gegnern der Schutzmaßnahmen in Gestalt von Corona-Verharmlosern, -Leugnern, Impfkritikern und -gegnern, die von rechtsextremen Positionen über Esoteriker bis zu autoritären „Wutbürgern“ reicht. Nichts von alledem ist wirklich neu, doch verstärkt(e) die Pandemie die sozialen Verwerfungen eines tief greifenden Strukturwandels von Wirtschaft und Gesellschaft noch. Was schon seit Jahren heranwuchs, wird, durch die Pandemie und das Internet verstärkt, auch zukünftig eine Herausforderung für Demokratie und Aufklärung bilden: Wütende Modernisierungsverlierer und ein aggressiver Postfaktizismus.
Die hier vertretene These lautet: Auf den Kampf gegen die Coronamaßnahmen folgt die Leugnung des Klimawandels und der Protest gegen hohe Energie- und Lebenshaltungskosten. Stets aber mit dem eigentlichen Ziel, die liberale Gesellschaft zu destabilisieren. Quer zum politischen Links-Rechts-Schema tritt dabei zunehmend das Schisma zwischen „Realisten“ und „Postfaktikern“. Der solidarische Gesellschaftsvertrag und Wissenschaft als erkenntnisleitendes Vernunftprinzip werden zu Feindbildern der postfaktischen, individualistischen bis libertären Rechtspopulisten und weiter Teile der Esoterikerszene. Die Gegner solidarischer Maßnahmen gegen Corona, Krieg und Klimawandel sind Ausdruck eines grassierenden Vertrauensverlusts in Staat, Medien und Wissenschaft. Sie sind Symptom einer tiefen Krise der freiheitlichen Demokratie.
INHALT
1. Einleitung: Die „Querdenker“ als neue politische Bewegung?
2. Erste Studien zur „Querfront“ aus rechten Systemgegnern, Wutbürgern und Esoterikern
3. Verschwörungsideologien als sichtbarster Ausdruck des Postfaktizismus
4. Impfgegner als traditionelle Speerspitze der Postfaktiker und Verschwörungsgläubigen
5. Die Bedeutung des Internet für Postfaktizismus und politische Radikalisierung
6. Die „Autoritäre Persönlichkeitsstruktur“ als psychogrammatische Basis der „Querdenker“, „Wutbürger“, Rechtspopulisten und Postfaktiker
7. Spätmoderner Strukturwandel und der Kulturkampf um Anerkennung
8. Die Krise der liberalen Demokratien: ein essayistischer Exkurs
9. Zeitdiagnostik, Ausblick und Konsequenzen: Was wäre zu tun?
10. Literaturempfehlungen
11. Anmerkungen
1. Einleitung: Die „Querdenker“ als neue politische Bewegung?
„Corona-Querdenker“ als bizarre „Querfront“eines neuen politischen Radikalismus
Es ist eine überaus diverse, politologisch, soziologisch und sozialpsychologisch immer noch unzureichend erforschte Mixtur politischer und weltanschaulicher Positionen und Ideologien, die seit Frühjahr 2020 meist unter dem Sammelbegriff „Querdenker“ subsumiert wird. Neben bürgerlich-gemäßigten Kritikern der Anti-Corona-Maßnahmen, etwa die Unangemessenheit oder Wirkungslosigkeit dieser Infektionsschutzverordnungen behauptend und ihre wirtschaftlichen wie sozialen Folgen geißelnd, zählen hierzu auch Virus-Verharmloser oder gar -Leugner sowie Impfskeptiker oder -gegner. Oft rekrutieren diese sich aus den Reihen grünbewegter Esoteriker, aus Anthroposophen oder Anhängern der Alternativmedizin wie der Homöopathie. Auch Verschwörungsgläubige unterschiedlichen Grades fallen hierunter, von Kritikern des „Deep States“, jenes aus Politik, Medien und Geheimdiensten betriebenen, klandestinen „tiefen Staats“, bis zu militanten Obskuranten des rechtsextremen „Q-Anon“-Kults, wobei allen Spielformen in aller Regel Stilelemente des Antisemitismus zu eigen sind. Wissenschaftsskeptiker und -leugner jedweder politischen Couleur, Rechtslibertäre, sich zu kurz gekommen wähnende „Wutbürger“, „Reichsbürger“/„Free-Stater“/„Selbstverwalter“, die mit Reichskriegsflaggen bzw. Kaiserreichfahnen herumlaufen, bis hin zu militanten Alt- und Neonazis: Sie alle bilden jene politische Querfront aus ehedem weitgehend inkompatibel geltenden Szenen und Milieus, deren, wie zu zeigen sein wird, eben nicht einziger gemeinsamer Nenner die Kritik an den Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie und eine Impfpflicht gegen das Virus SARS-COV2 war und ist.
Am Anfang standen die sog. „Hygienedemos“ in Berlin im März 2020, zunächst initiiert von linken Kulturaktivisten der aus der Initiative „Haus Bartleby“ hervorgegangenen „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“ (Anselm Lenz u. a.), die aber kurz darauf auch durch das rechtsextreme und verschwörungsgläubige „Netzwerk Demokratie e. V.“ (Ken Jebsen u. a.) getragen wurden. Bald danach gründete sich unter der Bezeichnung „Querdenken 711“ in Stuttgart die medial wohl bekannteste Initiative gegen die Corona-Maßnahmen bzw. gegen eine dem Gesundheitsschutz und Seuchenprävention Priorität einräumende und hierfür auf wissenschaftlicher Expertise gründende Politik. Unter Verwendung der jeweiligen Postleitzahl entstanden in Deutschland sodann etliche regionale Ableger, die jedoch kaum übergreifende organisationale Strukturen ausbildeten, sondern als programmatisches Sammelbecken fungierten und der Bewegung dank medialer Berichterstattung zur mittlerweile gängigen, aus emanzipatorischer Sicht freilich missverständlichen, weil ehedem ja eigentlich positiv konnotierten Zuschreibung „Querdenker“ verhalf. Im zweiten Corona-Winter ’21/’22 hatte sich die Szene längst in regionale Schwerpunkte ausdifferenziert und ist, nach einem starken Rücklauf im Sommer ’21, durch die Diskussion um eine allgemeine Impfpflicht und den zunehmenden Druck auf Ungeimpfte („2-G-Regel“) wieder sehr stark angewachsen und hat sich zudem in erheblichen Teilen radikalisiert. Warum sich erste Hochburgen organisierter Querdenker zunächst in Südwestdeutschland fanden, harrt der Erklärung. Es scheint indes kein Zufall, dass sich dort seit Beginn der antimodernistischen, gegen die Entfremdungen und Zwänge der Industriegesellschaft gerichteten, eine „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) durch moderne Wissenschaft als Zumutung empfindenden „Lebensreformbewegung“, also schon seit Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, traditionell die Zentren der Anthroposophie und der Waldorfpädagogik befanden. Bis heute finden sich dort regional gehäuft Gegner evidenzbasierter Medizin und Anhänger alternativer Behandlungsmethoden und esoterischer Weltanschauungen.
In der ersten Phase der Pandemie war zunächst eine extreme, überaus verschwörungsaffine Fraktion der Coronaverharmloser oder -leugner diskursdominant, bevor sukzessive auch Esoteriker und längst aktive Rechtsextreme auf den „Corona-Zug“ aufsprangen. Das gängige Narrativ dieser radikalen Kritikerinnen und Kritiker der sozialen und wirtschaftlichen Folgen, mithin der behaupteten Unangemessenheit oder Wirkungslosigkeit der Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionen wie später dann auch der radikalen Impfgegner (ab Beginn der Impfkampagne und zunehmend mit der Diskussion um eine Impfpflicht im Laufe 2021) lautet(e), dass es sich beim Virus bzw. bei der Pandemie lediglich um eine Inszenierung, um einen Fake handele. Dieser diene den „Eliten“ aus Staat und Wirtschaft dazu, einen „Great Reset“, einen Neustart des kapitalistischen Weltsystems vorzunehmen, in dessen Folge Menschen durch die umfassende Digitalisierung der Gesellschaft und eine Kultur permanenter Angst vor Krankheiten ent-individualisiert, leicht überwachbar und kontrollierbar würden.1 Hinter diesem perfi den Plan verberge sich letztlich eine klandestine „New World Order“ von bekannten oder klandestinen „Eliten“, den tatsächlichen Herrschern der Welt. Als besonders verdächtige Protagonisten gelten solchen Verschwörungserzählungen zufolge etwa Klaus Schwab, der Leiter des World Economic Forums, einem jährlichen Elitentreffen aus Politik, Wirtschaft und Hochfinanz, Verfasser eines programmatischen Buches mit dem Titel „Covid-19: The Great Reset“, zudem und vor allem der Microsoft-Gründer und Finanzier kostenloser Pharmaanwendungen in Entwicklungsgesellschaften; Bill Gates (der bei harten Fraktionen der Verschwörungsgläubigen im Verdacht steht, mit Hilfe der Impfstoffe heimlich Mikrochips in Menschen zu implantieren); der Investor, Finanzspekulant und Großspender George Soros, der wohl beliebtesten Projektionsfläche für Antisemiten und Verschwörungsgläubige um hier nur einige der wichtigsten zu nennen. Diese und viele andere mehr sind natürlich zugleich auch Mitglieder der „Bilderberger Konferenz“, einer gleichfalls jährlichen informellen Zusammenkunft ausgewählter Entscheidungsträger aus Politik und Kapital, die in der Konspirationsszene quasi der Inbegriff ist für all jene finsteren Mächte, die sich gegen „das Volk“ verschwören. Hinzu gesellen sich nicht selten die üblichen antisemitischen Stereotype in Gestalt „der Rothschilds“, „Goldman Sachs“, der „Ostküstenspekulanten“ u. a. m. Eine beliebte und gängige Erzählung verschwörungsgläubiger die hards ist etwa jene, dass mit den Mas senimpfungen gegen ein erfundenes oder wahlweise auch selbst erschaffenes Virus ein globaler Völkermord, ein Genozid praktiziert würde, um angesichts der Digitalisierung und Robotisierung der Welt die dann ja überzähligen und überflüssigen Bevölkerungsanteile im Interesse präventiver Herrschaftssicherung zu dezimieren.
Nach zwei Großdemonstrationen in Berlin im August 2020 mit jeweils mehreren zehntausend Teilnehmern schien die Dynamik zunächst wieder stark abgeebbt. Dies mag vereinzelt auf Realitätskonfrontationen im Laufe der folgenden Infektionswellen, wie auch auf die nachlassende Dramatik des Themas im Zuge sinkender Inzidenzen und auslaufender Schutzmaßnahmen im Sommer 2021 zurückzuführen sein. Nicht zuletzt war dies sicher auch Folge der üblichen Sektierereien und Zerwürfnisse zwischen den um die reine Lehre und die beste Strategie streitenden Aktivisten, wie dies für jedwede Protestbewegung typisch ist, speziell für solche mit Selbstorganisationscharakter. Tatsächlich markierte die anschwellende „Delta-Welle“ der Pandemie und die damit einhergehenden Maßnahmen gegen Impfverweigerer eine massive Trendumkehr. Die anhaltenden und wieder verschärften Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens und insbesondere die Debatte um die Impfpflicht gaben der mittlerweile sehr gut organisierten und medial-kommunikativ etablierten Protestbewegung „gegen Corona“ wieder sehr starken Schub. Großdemonstrationen und regelmäßige, semilegale „Spaziergänge“ in einschlägigen Hotspots der Szene (Oberösterreich, Salzburg, Sachsen, Thüringen) ließen Ende 2021 deren Teilnehmerzahlen enorm steigen. Ohne das Internet und speziell ohne Messengerdienste wie Telegram und Facebook mit ihren zahllosen emotionalisierenden Fake News wäre dies in solcher Form nicht denkbar gewesen. Erst diese technische Informationsinfrastruktur ermöglicht bestens vernetzte, hochgradig desinformierte und aufgehetzte Aktivisten und Mitläufer.
Alles das, was heute mit dem Label „Querdenker“ versehen und assoziiert wird, fand sich bereits 2014 in einschlägigen Facebook-Gruppen, die den vorgeblich um Frieden besorgten „Montagsmahnwachen“ zuzurechnen waren, so der Journalist Christian Stöcker: „Verschwörungstheorien wie die von den ‚Chemtrails‘ am Himmel, Raunen über die Macht von Bankhäusern mit jüdischen Namen, Esoterik und auch damals schon die angebliche ‚Klimalüge‘. Das war 2014“.2 Als bedroht erachtet wurde hierbei der Weltfrieden durch die NATO, angesichts der vorangegangenen Invasion der Krim durch russische Militärs, wohingegen dem autoritären Präsidenten Putin vollstes Verständnis entgegengebracht wurde. Entsprechend fanden sich hier bereits starke ideologische wie personelle Verflechtungen mit der islam- und fremdenfeindlichen, rechtspopulistischen bis rechtsextremen Initiative „PEGIDA“ („Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlands“), die am 20. Oktober 2014 in Dresden ihre erste Demonstration durchführte.3 Stöcker hebt hierbei die inhaltliche Kontinuität dieser Anfänge der neuen Rechtspopulismen mit heutigen Coronamaßnahmen- und Impfgegner heraus: „Damals wie heute wird das seltsame Potpourri von geteilten Behauptungen zusammengehalten: ‚Das Volk‘ wird belogen, es gibt eine globale Verschwörung, der auch die Bundesregierung und die Medien angehören, Russland ist gut, Amerika ist böse, Juden haben zu viel Macht, Wissenschaft ist auch nur eine Meinung oder gleich eine Lüge. Gleicher Markenkern, neues Marketing“.4 5 Mit anderen Worten: Die Themenfelder, an denen die behauptete Unterdrückung und zugehörige Verschwörungsphantasien festgemacht werden, unterliegen Konjunkturen, von Russlandsympathie über Islamfeindschaft, Flüchtlingsabwehr bis hin zu Corona-Leugnung und Impfverweigerung. Die Kernüberzeugungen aber blieben und bleiben stets die Gleichen und entsprechen, wie später noch verdeutlicht wird, voll und ganz dem rechten und chauvinistischen Weltbild der „Autoritären Persönlichkeit“ unter den erschwerten Bedingungen eines wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Strukturwandels. Gerade Angehörige der Unter- und Mittelschichten fühlen sich hiervon zurecht besonders bedroht – sozioökonomisch wie von ihrem Selbstverständnis und von der ihnen entgegengebrachten Wertschätzung her. Von den Volksverführern werden, vor allem in den Sozialen Medien, neue Begriffe und Marketingkonzepte ausprobiert, um ein noch größeres Publikum zu erreichen.6
Das strategische Ziel „dieser chamäleonhaft changierenden“ Bewegung sei immer das gleiche, so Christian Stöcker weiter, völlig unabhängig vom je aktuellen Anlass, und keiner könnte größer sein als die Menschheitskrise COVID mit allen ihren Verwerfungen, Ängsten, Einschränkungen und Krisenfolgen: „Die liberale Demokratie zu schwächen, sie als getarnte ‚Diktatur‘ hinzustellen und stattdessen Rechtspopulisten und Autokraten als leuchtende Beispiele zu präsentieren. Mit den Coronamaßnahmen hat dieser Dreh besonders gut funktioniert. Offenbar auch bei Leuten, die früher noch keinen Hang zur rechtsextremen Verschwörungserzählung hatten.“7 Über die weitere Entwicklung der antifaktischen und rechtsautoritären Szene in postpandemischen Zeiten gibt sich Stöcker denn auch keinen Illusionen hin, wie er sehr deutlich macht: „Hier deshalb eine klare Prognose: Wenn die Pandemie so weit eingedämmt ist, dass in Deutschland wieder ein halbwegs normales Alltagsleben möglich ist, kommt das Geschwätz von der ‚Klimalüge‘ ins Zentrum. Man wird alles tun, damit sich das nun mithilfe von Corona mühsam zusammengeschaufelte Spaltungspotenzial nicht einfach wieder verläuft. (…) Ein paar grüne Esoteriker wird man mit diesem Schwenk verlieren, aber nicht alle. Aus dem Verschwörungsglauben wieder herauszufinden, ist nicht einfach. Aus Corona mach Klima, als vierter Marketingdreh nach Putin-Liebe, Rassismus und den Pandemie-Maßnahmen.“8
2. Erste Studien zur „Querfront“ aus rechten Systemgegnern, Wutbürgern und Esoterikern
Ein alter, neuer Radikalismus
Der in dieser Form neue, postfaktische politische Radikalismus und Fanatismus wird also auch, diese Prognose bedarf keines Wagemuts, „nach Corona“ weiterbestehen. Wuchs dieser zwar am Widerstand „gegen Corona“, sind dessen Vorläufer in Gestalt solch bzgl. Zielsetzungen und Zusammensetzung überaus unterschiedlicher und jeweils heterogener Protestszenen wie „Gelbwesten“ oder „Reichsbürger“, doch weit älter als die Pandemie und werden auch in kommenden politischen Auseinandersetzungen ideologisch, personell und organisational in Erscheinung treten. Den Hintergrund hierfür bildet die im weiteren noch genauer zu analysierende Transformation der Industriegesellschaft in eine „digitale Dienstleistungsgesellschaft“ spät- oder postindustriellen Typs mit all ihren tiefgreifenden Transformationen sozialstruktureller und soziokultureller Art. In beiden Fällen geraten anerkennungs-, zugehörigkeits- und identitätsstiftende Gruppen und Milieus mit ihren Werten und sozialen Stati unter Druck. Orientierung, Selbstwert und Sicherheit vermittelnde Geistes- und Werthaltungen werden erschüttert.
Im Sinne dieser Fortwirkungsthese betont etwa der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen in seinem „Sonderbericht zu Verschwörungsmythen und ‚Corona-Leugner‘“ (2021), dass die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus samt sozialen und kulturellen Folgen allein mitnichten als das gemeinsame Band weltanschaulicher Überzeugungen auf Seiten der Demonstranten überbewertet werden dürften. Vielmehr sei es die seit gut zwei Jahrzehnten wachsende Unzufriedenheit mit bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungen, die sich im Phänomen der „Wutbürger“ schon längst vor Corona in Gestalt rechtspopulistischer Szenen wie bspw. „Pegida“ äußerten. Zu befürchten sei ein „Ausdehnen der extremistischen Diskurse bis in die Mitte der Gesellschaft hinein“,9 zumal sich erfahrungsgemäß die übriggebliebenen Exponenten politischer Bewegungen radikalisierten, sobald ihre Relevanz und Wirkmächtigkeit nachlasse. Die Pandemie sei letztlich „nur“ Katalysator und Verstärker bereits anschwellender gesellschaftlicher Radikalisierungsprozesse. Unisono schreibt der Verfassungsschutz Baden-Württemberg davon, dass „Staatsfeindschaft“ und der Kampf um die Delegitimierung des Staates und seiner Institutionen Corona nur als „Transmissionsriemen“ verwendeten und als anschlussfähiges Thema nun die Warnung vor einer „Klimadiktatur“ in den Vordergrund rücken werden. Vor allem mit Hilfe des Internet entstanden „Misch-Szenen“, die sich im Alltag kaum je begegneten, aber durch Verschwörungsmythen, Antisemitismus und Staatsverdrossenheit in den einschlägigen sozialen Netzwerken gemeinsame Themen fänden. Angefeuert würde derart destabilisierende Desinformationen nicht zuletzt durch politische Nutznießer wie russische Propagandasender und Trollbots.10 Angesichts des quer zu den klassischen Extremismuskategorien „Links“, Rechts“, „Islamismus“ stehenden Charakters der zunehmend auch in Wort und Tat militant in Erscheinung tretenden Verschwörungsszene spricht der deutsche Verfassungsschutz von einer verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates und seiner Repräsentanten. Die Ablehnung staatlicher Institutionen und darin gründender Maßnahmen bilden einen gemeinsamen, quasi anarchischen Kern dieser Spielart politischen Extremismus, bis hin zu Planungen des Staats- und Systemumsturzes, die meist in Meinungsblasen auf moderationsabstinenten und kaum zensierbaren Plattformen wie Telegram und/oder dem russischen Facebook-Analogon vk.com angeheizt werden.11 Auch der Verfassungsschutz von Sachsen-Anhalt erkennt in seinem Bericht für 2021 bei den Anti-Corona-Demonstrationen eine unselige Allianz von Rechtsextremen und bisher nicht als extremistisch in Erscheinung getretenen Bürgern. Diese verleihen nicht nur ihrem Unmut über Infektionsschutzgesetze Ausdruck, sondern äußern eben auch und insbesondere ihren Ingrimm auf den Staat und seine Institutionen. Corona sei oft nur der konkrete Anlass, ein Brandbeschleuniger, um seinen Frust, seine Wut, gar seinen Hass auf Staat, Politiker, etablierte Medien und die Wissenschaft hinauszuschreien. Hierbei zeige sich eine politische Entfremdung, die in zunehmende Gewaltakzeptanz und Radikalisierung münde, geschürt von Verschwörungsmythologen, radikalen Esoterikern und nicht zuletzt den Trittbrettfahrern rechtsextremistischer Provenienz. Der Protest gegen den Corona-Lockdown sei demzufolge ein „Showdown gegen die Demokratie“ bei dem sich „Politik-, Staats- und Demokratieverdrossene“ gegenseitig auf den „Sozialen Medien“ mit Hassbotschaften, Desinformation und Lügen anstachelten.12
Das heterogene „Querdenker“-Spektrumals postmoderne „Querfront“?Zur neuen Qualität politischen Extremismus
Üblicherweise bezeichnet man als politische „Querfront“ eine temporäre Allianz disparater, heterogener Milieus oder Parteien, die über teils entgegengesetzte Weltanschauungen verfügen, aber in bestimmter Hinsicht ein gemeinsames politisches Kampfziel teilen. Der Begriff stammt bekanntlich aus Zeiten der Weimarer Republik und stand für die Allianz kommunistischer und rechtsextremer Parteien, die aus unterschiedlichen weltanschaulichen Motiven gegen die junge Demokratie und Republik gerichtet war. Das Konzept und die Idee einer Querfront wurde aber auch in der linken Theoriebildung der jüngeren Vergangenheit, also in modernisierter und progressiv gewendeter Form aufgegriffen, etwa von Antonio Negri und Michael Hardt in ihrem vieldiskutierten Theoriewerk „Multitude“ (2004) mit Blick auf die damalige globalisierungskritische Bewegung. Als erweitertes politisches Subjekt wurden hier vorübergehende Bündnisse vorgeschlagen, die bspw. im Kampf gegen Genpatentierung in diesem speziellen Anliegen die Kommunistische Partei Italiens mit der Katholischen Kirche ausnahms- und völlig unüblicherweise im gemeinsam geteilten Kampagnenziel zusammenbringen könnten. Auch die „Gelbwesten“ in Frankreich wurden politologisch und soziologisch oft als eine Art Querfront interpretiert, fanden sich in den Protesten gegen die Benzinpreiserhöhung (die nur der Auslöser für weitergehende breite Unmutsäußerungen gegen soziale Missstände aus Sicht der Unter- und Mittelschichten vor allem Ende 2018/Anfang 2019 waren), doch WählerInnen auf der Straße (und an den symbolischen Kreisverkehren in der Provinz) wieder, die zuvor teils sozialistisch oder kommunistisch, teils rechtsextrem (Le Pen) wählten.13 Kleinster gemeinsamer Nenner der heutigen „Querdenker“ waren oder sind zwar vordergründig die Maßnahmen im Zuge der Infektionsschutzverordnungen und ab Ende 2021 der zunehmende Druck auf Impfgegner, in erweitertem Sinne aber richtet sich ein bis zu Hass reichendes Unbehagen gegen den Staat, „das System“, „die Eliten“, die („Lügen-“/„Mainstream-“)Medien, letztlich sogar gegen die Wissenschaft und die Aufklärung, sprich: gegen universalistische Vernunftprinzipien als solche. Politische Repräsentanten, Medien und Wissenschaft stehen vielen der Demonstranten für die (post-)industrielle Moderne und symbolisieren eine pluralistische, teils solidarische, Vernunftdiskursen mehr oder weniger unterworfene staatliche Gemeinschaft. Individual- und Partikularinteressen von einzelnen oder Gruppen, die sich aus unterschiedlichen Gründen ausgegrenzt, unerhört oder gekränkt wähnen, treten hier an die Stelle gesamtgesellschaftlichen Bürgersinns und verweigern sich einem Verhalten, das sich an politischen und wissenschaftlichen Vorgaben orientiert. Eine mögliche Lesart dieser „Querfront“ aus „Wutbürgern“, Rechtspopulisten, „Autoritären Charakteren“ (Erich Fromm) bzw. „Autoritären Persönlichkeiten“ (Theodor W. Adorno) und Esoterikern ist entsprechend, sie als einen antimodernen, reaktionären Reflex zu fassen. Diese Allianz ist eine Reaktion auf den sich vollziehenden Strukturwandel der Arbeitswelt und den einhergehenden sozialen und kulturellen Wandel, letztlich geht es um einen Abwehrkampf gegen die Zumutungen der Moderne.
Libertäre Staatsgegnerschaft als Merkmaledes neuen Rechtspopulismus
Die neue, populistische, radikale Rechte in West- und Ost-Europa, im Grunde weltweit, hat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten einen neuen Charakter angenommen und eine weltanschauliche Neuausrichtung erfahren: Waren einst der starke Staat, waren Werte wie Law&Order und eine Untertanengesinnung gegenüber dem Obrigkeitsstaat übliche Attribute rechtsautoritärer Gesinnung (zumindest sofern nicht gerade linke Parteien regierten), sind es heute libertäre, staatskritische bis -feindliche Narrative individueller Freiheit und Autonomie gegenüber dem verhassten, als zu liberal und dysfunktional erachteten Staat, seinen Eliten und Medien, die von rechten, teils auch linken Populisten entwickelt und propagiert werden. Projektionsfläche entsprechender Ressentiments ist aber auch die Wissenschaft, sofern sie sich aus Sicht der Systemgegner in den Dienst des Staates bzw. der herrschenden Meinung stellt, so wie im Falle der Pandemie oder auch angesichts der Klima-Thematik (man denke an den Hass, der prominenten Virologen oder Gesundheitspolitikern entgegenschlug. Auch linke und liberale Sozialwissenschaftler/innen waren und sind Zielscheibe entsprechender Aversionen und Aggressionen, und dies keineswegs nur beim Thema Gender). Meist verbirgt sich dahinter freilich die Ablehnung der demokratischen Gesellschaftsordnung selbst, denn bei allem Lamento über die angebliche Opferrolle in der Corona- oder wahlweise „Klima-Diktatur“ zielen Ärger und Wut doch letztlich auf das liberale, plurale, demokratische System als solches. Die eingeforderte Freiheit, die im Zentrum rechtslibertärer Ideologie steht, ist freilich eine Pseudo-Freiheit, ein sozialdarwinistisches Recht des Stärkeren, seine Freiheit auf Kosten Schwächerer und Wehrloser rücksichtslos auszuleben. Um hier kurz den Unterschied zwischen „liberal“ und „libertär“ zu verdeutlichen, eignet am besten Immanuel Kants Freiheitsverständnis: Im liberalen Verständnis von Freiheit endet diese dort, wo die Freiheit anderer negativ tangiert, mithin beschnitten wird. Meine Freiheit ist also nicht voraussetzungslos und unbegrenzt, sondern bedarf der verantwortungsvollen Rücksichtnahme auf andere, sie realisiert sich im sozialen Miteinander einer Gesellschaft, zumal einer arbeitsteiligen Industriegesellschaft. Im libertären Denken hingegen bedarf es dieser Rücksichten nicht: Meine Freiheit ist demzufolge unbegrenzt oder sie ist gar nicht. Das ICH steht im Mittelpunkt der Welt, wie dies gerade in der Pandemie so überdeutlich wurde, wo das eigene rücksichtslose Verhalten unmittelbar andere gefährdete.
Der Soziologe Andreas Kemper benennt diesen Unterschied zwischen einem libertären (Pseudo-)Freiheitsverständnis und einer emanzipatorischen Idee von Freiheit und Autonomie mit Blick auf die Ideengeschichte des Rechtslibertarismus ganz deutlich: „Die Menschen, die sich heute als libertär oder auch Anarcho-Kapitalisten bezeichnen, wollen keine Freiheit von Autoritäten, sondern eine Freiheit vom Staat. Oder besser gesagt: Sie wollen den Staat abschaffen. Stattdessen soll alle Macht bei den Unternehmern liegen, und zwar ohne demokratische, staatliche Kontrolle.“14 Libertäre gehen entsprechend hinter die aufklärerischen Ideen des Staatsvertrags zurück, wonach das Zurücknehmen persönlicher Freiheitsrechte zugunsten eines staatlichen Gewaltmonopols letztlich die Freiheiten aller Bürgerinnen und Bürger mehrt, muss sich der einzelne doch nicht ständig mit anderen um das Ausmaß seiner Freiheit streiten. Auch der solidarische Sozialstaat, der von libertär gesinnten Rechten meist abgelehnt wird, beschneidet zwar vordergründig Individualrechte, indem er z. B. Sozialabgaben erzwingt, ermöglicht indes ein sorgenfreieres, Freiheitsgrade mitunter erst eröffnendes Leben, weil auch Krankheit und Unfall, Entlassung oder unternehmerisches Scheitern nicht zwangsläufig in Armut oder sozialer Ausgrenzung enden. Jede Art sozialen Ausgleichs wird von Libertären dementsprechend als Sozialismus oder Kapitalismus erachtet, wie Kemper unterstreicht: „Sozialismus ist aus rechtslibertärer Sicht alles, was dem freien Unternehmertum im Weg steht. Das können zum Beispiel die Einschränkungen des öffentlichen Lebens aufgrund der Corona-Pandemie sein oder auch Klimaschutzpolitik.“15 Der Journalist und Psychologe Christian Stöcker etwa gibt sich wie schon erwähnt keinen Illusionen hin, dass auch nach Ausklingen der Pandemie der Kampf der „Querdenker“-Querfront sich neue Ziele setzen wird, mit denen die eigene Frustration und die System- und Staatsfeindschaft kultiviert werden kann. Namentlich ist dies der Ukraine-Krieg und die Klimathematik, auf die Rechtspopulisten und Verschwörungsideologen mit ihren dank Corona gut entwickelten Organisationsstrukturen und Medien einschwenken werden.
Was früher ideologisches Kampfziel von linken Anarchisten war, ist heute Antrieb von rechten Libertären und „Wutbürgern“, sie verachten den Staat und bekämpfen ihn als ihren Feind. Schon lange „vor Corona“ traten vermehrt sog. „Reichsbürger“ medial in Erscheinung. Dabei handelt es sich um libertär und rechts denkende Personen, die staatliche Institutionen, entsprechend auch hoheitliche Dokumente, Steuern, geschweige denn Gebühren für den „Staatsfunk“ ablehnen und mitunter ihre eigene Staatshoheit über ein Grundstück ausrufen („free stater“). Es gab und gibt vereinzelt auch linksanarchistische Bemühungen um Autarkie und Unabhängigkeit von staatlichen Leistungen, worunter sich teile der Hausbesetzerbewegung der 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhundert zählen lassen, mitunter ging es bei der Gründung „freier Republiken“ aber auch nur um einen künstlerischen oder satirischen Ansatz. Sog. „Reichsbürger“ werden mitunter auch als „Anarchokapitalisten“ bezeichnet, weil sie im sozialdarwinistischen Sinne für ein Recht des Stärkeren eintreten und allein den freien, staatlich nicht regulierten und sozial nicht eingehegten Markt über Wohl und Wehe der Menschen entscheiden lassen wollen. In solch sozialdarwinistischem Sinne finden sich wiederum Verbindungen zwischen esoterischen und völkischen Ideologien. Das Virus ist dann nicht mehr eine gesundheitliche Bedrohung für alle, sondern vielmehr eine rassenbiologische Herausforderung für den gesunden Volkskörper, dem die Schwachen notwendigerweise zum Opfer fallen. Schutzmaßnahmen sind demzufolge abzulehnen, sichern sie doch den Schwächeren das Überleben auf Kosten der Stärkeren und schaden damit letztlich der Volksgesundheit. Im Gegensatz hierzu ließe sich aus rechtsextremer Sicht freilich als erfreuliches Moment der Pandemiepolitik der Umstand festhalten, dass der Staat als Souverän in der Lage ist, über Leben und Tod seiner Untertanen zu walten, wenngleich mit den falschen, nämlich verweichlicht-humanistischen Motiven.16
Auffällig, aber eben nicht verwunderlich ist, dass auf einschlägigen Demonstrationen und in den Programmen rechtspopulistischer Parteien und Gruppierungen stets der Freiheitsakzent gesetzt wird. Bei allen Unterschieden im Détail finden sich zuvorderst immer wieder Forderungen nach „Menschenrechten“, nach direkter Demokratie, Meinungsfreiheit usw. Wüsste man es nicht besser, könnte man durchaus emanzipatorische Bürgerrechtsbewegungen hinter den Parolen vermuten. Tatsächlich freilich handelt es sich um libertäre Vulgarisierungen des Freiheitsgedankens, werden dabei doch die Rechte und Interessen anderer zugunsten der absolut gesetzten, durch keinerlei Rücksichtnahme und Gemeinwohlorientierung begrenzten Freiheit des Ich negiert. Es handelt sich mithin um eine Freiheit, die ihre eigenen Voraussetzungen nicht reflektiert und sich letztlich nur als krude Form eines unsolidarischen Individualismus und Sozialdarwinismus erweist. Es erstaunt dabei nicht, dass sich dergleichen selbsternannte „Freiheitskämpfer“ als Opfer einer „Corona-Diktatur“ wähnen, als Unterdrückte, die aus dergleichen Selbstviktimisierung und -heroisierung Distinktionsgewinn schöpfen. Damit scheinen sie sich schließlich auf eine Stufe mit echten Kämpferinnen und Kämpfern für Freiheit und Menschenrechte zu stellen, wo sie tatsächlich aber doch nur rücksichtslose, gekränkte „Wutbürger“ sind, die sich zu kurz gekommen und im politischen Diskurs unerhört fühlen. Eine im Fachjournal Lancet veröffentlichte Studie (Februar 2022) nennt in einer umfassenden Auswertung unterschiedlicher Variablen für die ge- oder misslungene Eindämmung der Pandemie passend zu diesen antisozialen Geistes- und Werthaltungen vor allem zwei Faktoren, die in besonderem Maße für den Erfolg im Kampf gegen die Seuche entscheidend waren und sind, mehr etwa als die Fragen Diktatur oder Demokratie, Zentralstaat oder Föderalismus, funktionierende Kontaktnachverfolgungen usw.: Es sind dies die Faktoren 1) Vertrauen in die Regierung, in ihre Expertise und Umsetzungskompetenz und 2) „interpersonales Vertrauen“, also mit anderen Worten Bürgersinn und Solidarität, das Wissen, dass andere so rücksichtsvoll handeln wie man selbst und man sich auf andere verlassen kann, wenn es um die Einhaltung der Regeln zur Pandemiebekämpfung geht.
Erste Studienergebnisse zu „Querdenkern“
Es gibt bereits erste empirische Analysen dieser post- oder spätmodernen „Quasi-Querfront“ (Lederer), wenngleich die Daten noch oberflächlich und eher schlaglichtartig anmuten. Eine quantitative Erhebung der Sigmund Freud-Privatuniversität Wien belegte im August 2021 die ausgesprochene Heterogenität der Szenen, die sich in erster (und teils vordergründiger) Linie durch die gemeinsame Ablehnung der Pandemiepolitik zusammenfindet:17 Entsprechende Anti-Pandemie-Maßnahmen seien, so die Einschätzung der über den Messengerdienst Telegram Befragten, willkürlich (93,2 %) und überwiegend unwirksam (93,2 %); die Regierung schüre zudem überzogene Ängste (99,6 %), zumal das Coronavirus nicht gefährlicher sei als die Grippe (78,6 %). Auch folgten viele der Verschwörungserzählung, wonach die Regierung die Pandemie nutze, um Kontrolle und Überwachung über die Bürger auszuüben (89,1 %). Entsprechend würde die Wahrheit (über die Pandemie) verschwiegen (84,7 %) und das Volk bevormundet (97,3 %). 67,9 % der Befragten sahen zudem ihre natürlichen Selbstheilungskräfte gegen das Virus als ausreichend an. Zusammenfassend kam die Studie, die eine der ersten aussagekräftigen empirischen Erhebungen zum Phänomen war, zu dem Ergebnis:
„Die Grundauswertung des Surveys zeigt, dass wir es mit einer Protestbewegung zu tun haben, die stark von Frauen (64,1 %) geprägt ist und an der überproportional viele freiberufliche bzw. selbständig Beschäftigte (33,1 % der Lohnabhängigen) und Menschen mit hohem Bildungsabschluss (33,6 % Studienabschluss, 27,6 % BHS- oder AHS-Abschlüsse) partizipieren.18 Das politische Profil der Protestierenden setzt sich überwiegend aus drei Lagern zusammen: 30,2 % der Befragten gaben an, bei der letzten Nationalratswahl die FPÖ, 20,5 % die Grünen und 20,2 % die ÖVP gewählt zu haben. Nach der künftigen Wahlentscheidung gefragt, zeichnet sich ein deutlicher Ruck nach rechts ab: 56,7 % würden demnach die FPÖ wählen.“19 Eine weitere Gemeinsamkeit der Szene besteht in einer umfassenden Wissenschaftsskepsis oder -feindlichkeit, die sich in der Hinwendung zu pseudomedizinischen Anwendungen zeigt. Die DemonstrantInnen weisen einen „starken Hang zu esoterischem Denken auf: Fast 70 Prozent fordern die Gleichstellung von ‚Schulmedizin‘ mit ‚Alternativmedizin‘, ebenso viele wollen mehr ‚spirituelles und ganzheitliches Denken‘ der Gesellschaft, 68 Prozent glauben an natürliche Selbstheilungskräfte bei Corona.“20
Auch die Studie „Quellen des ‚Querdenkertums‘“ der Soziologen Oliver Nachtwey und Nadine Frei von der Universität Basel bestätigt auf Basis von Tiefeninterviews von Demo-TeilnehmerInnen primär in Baden-Württemberg, einer Keimzelle der „Querdenken“-Bewegung, dergleichen Motivlagen und Überzeugungen.21 Zusammengefasst lasse sich zunächst eine bemerkenswerte normative Unordnung attestieren, seien doch auf einschlägigen Demos sowohl Regenbogenfahnen als auch rechtsextreme „Reichskriegsflaggen“ (oft verharmlosend als „Kaiserreichfahnen“ apostrophiert) zu sehen gewesen. Auf (nicht repräsentativer) Basis von Umfragen in Telegram-Chats und Interviews mit Demonstrant/innen und Expert/innen ließ sich auch die (partei)politische Orientierung der Szene aufschlüsseln: Bei der Bundestagswahl 2017 hätten demnach 23 % Grün gewählt, 18 % die Linke und „nur“ 15 % AfD. 27 % jedoch gaben an, bei der nächsten Wahl der AfD die Stimme zu geben, gar 61 % gedachten, nicht-etablierte Kleinstparteien wählen zu wollen (man kann hier die Anti-Coronamaßnahmen-Partei „Die Basis“ anführen). Nachtweys Interpretation, es handele sich somit um eine Szene, die tendenziell von links kommt und nach rechts geht, wird von der Journalistin Elena Wolf dahingehend zurückgewiesen, als es ein weitverbreitetes Missverständnis sei, ideologisch-esoterische WählerInnen der Grünen oder Linken per se als „links“ zu erachten, jedenfalls nicht, so lässt sie sich hier ergänzen, im politisch-ideengeschichtlichen Sinne von Aufklärung, Solidarität und Emanzipation. Mit Verweis auf die großen ideologischen Schnittmengen zwischen Esoterik und rechtsextremen Denkmustern wie Antisemitismus und Rassismus (beides findet sich etwa sehr stark bei Rudolf Steiner und der von ihm begründeten Anthroposophie), kommt sie bei ihrer Einschätzung der „Querdenker“ vielmehr zu dem Schluss: „Es ist eine Bewegung von rechts nach ganz rechts.“22