Rabenkrieger - Sandra Busch - E-Book

Rabenkrieger E-Book

Sandra Busch

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Beschreibung

Im Jahre des Herrn 1164. Normannen und Waliser schlagen sich gegenseitig die Köpfe ein. Inmitten des blutigen Krieges taucht an einem unwirtlichen Herbsttag ein nackter Mann auf, der von einem Schwarm Raben begleitet wird. Ist er eine mystische Sagengestalt oder doch nur ein hilfloser, verwirrter Mensch? Genau das versucht Dolen, der Capten einer walisischen Gruppe von Kämpfern, herauszufinden. Mittelalter Fantasy

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Seitenzahl: 412

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Rabenkrieger

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2020

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© Kanea – shutterstock.com

© HeartlandArts – stock.adobe.com

© 1 – stock.adobe.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-366-0

ISBN 978-3-96089-367-7 (epub)

Inhalt:

Im Jahre des Herrn 1164.

Normannen und Waliser schlagen sich gegenseitig die Köpfe ein. Inmitten des blutigen Krieges taucht an einem unwirtlichen Herbsttag ein nackter Mann auf, der von einem Schwarm Raben begleitet wird. Ist er eine mystische Sagengestalt oder doch nur ein hilfloser, verwirrter Mensch?

Dim ond am gyfnod byr y mae popeth sydd gennych chi yn y byd hwn yn cael ei fenthyg.

Alles, was du in dieser Welt hast, ist nur für kurze Zeit ausgeliehen.

Prolog

Es klopfte an die schwere, leistengeschmückte Tür.

„Dr. Pryce? Da ist ein Paket für Professor Bassey gekommen.“ Klein, schmal, mit runden Brillengläsern und einem verwegenen Kinnbart, der ihn leider wie einen jungen Ziegenbock wirken ließ, schob sich Gower durch die Tür in das Büro.

Corryn, der an dem altertümlich anmutenden Schreibtisch saß, schaute aufmerksam geworden von der Pergamentrolle mit den winzigen Schriftzeichen auf, die er soeben mit Hilfe einer Lupe studierte.

„Ein Paket?“

Pakete kamen häufiger an. Das Problem war nur, dass Professor Ken Bassey seit zwei Monaten tot war. Herzinfarkt. Während einer hitzigen Diskussion mit dem Museumsleiter hatte er beim Gestikulieren innegehalten, sich an die Brust gefasst, geröchelt und war dann einfach umgekippt. Genau drei Meter von Corryn entfernt, dort, wo nun Gower im Türrahmen stand.

„Er hat seit Langem auf ein Buch gewartet. Das könnte es sein. Ich meine, es fühlt sich zumindest nach einem Buch an.“ Gower streckte ihm das Paket entgegen. Seine Wangen waren vor Aufregung gerötet.

Der junge Gehilfe war Corryn als Assistent zugeteilt worden, nachdem er selbst als frischgebackener Doktor für Literaturwissenschaften im Ceredigion Museum von Aberystwyth Professor Basseys Platz eingenommen hatte. Am Arsch der Welt …

Dabei war Corryn gerade mal zwei Jahre älter als Gower, genauer gesagt achtundzwanzig. Sein Studium hatte er in Nullkommanichts mit hervorragenden Leistungen hinter sich gebracht. Einen Job brauchte er sich gar nicht suchen. Zu seiner Verwunderung war wenige Tage nach Studienabschluss das Angebot eines Peter Allchurch in seine Studentenbude geflattert. Die Museumsleitung suchte jemanden für die Walisische Literaturecke und würde sich freuen, wenn er den Posten übernehmen würde, um Professor Bassey zu entlasten. Einer der Dozenten an der Uni hätte ihn wärmstens empfohlen. Corryn konnte sich nicht erklären, welcher Lehrer das gewesen sein sollte, denn er war ein eher unauffälliger Student gewesen und lediglich aufgrund seiner Leistungen aus der Menge herausgestochen. Letztendlich konnte es ihm egal sein.

„Irrelevant“, würde seine Mutter sagen. Genauer gesagt: seine Pflegemutter.

Corryn war als Findelkind zusammen mit neun weiteren Pflegegeschwistern aufgewachsen, hatte die Kindheit zwischen Wäschestapeln und Windelbergen verbracht, wurde von den Größeren gefüttert und fütterte irgendwann die Kleinen. Müßiggang kam nicht auf, ständig gab es etwas zu tun. Kein Wunder bei einer solchen Kinderschar. Trotzdem wurde er seitens seiner Pflegeeltern geliebt, Zuneigung wurde ohnehin großgeschrieben. Und es fand sich immer eine Stunde, in der er mit den anderen über Wiesen und Felder toben durfte – sofern er gewollt hätte. Lieber zog er sich mit einem Buch in eine Ecke zurück oder hockte lesend auf der Waschmaschine, bis die aktuelle Ladung sauber war und er weitere schmutzige Kleidung in die Trommel stopfen konnte.

Früh zog er aus, es war einfach zu laut und zu lebhaft, um in Ruhe studieren zu können. Mit zwei Nebenjobs, einem staatlichen Zuschuss und einigen Sparmaßnahmen konnte er sich eine winzige Einzimmerwohnung mit Bad im Treppenhaus mieten. Sein erstes eigenes Heim war nicht mehr als ein Schuhkarton, aber er fühlte sich dort wohl.

Da er sich wenig für Werbung und Journalismus interessierte und Museen stets einen gewissen Reiz auf ihn ausgeübt hatten, nahm er den von Allchurch angebotenen Posten zunächst unter Vorbehalt an. Vereinbart wurde eine sechsmonatige Probezeit für beide Seiten. Positiv war zumindest die kleine Wohnung, die er in einem Nebengebäude des Museums beziehen durfte und ihm zu einem Spottpreis überlassen wurde.

Jetzt drehte Corryn das Paket hin und her. Es war groß und schwer und konnte durchaus ein Buch enthalten. Wer wusste schon, was der alte Herr bestellt hatte? Corryn hatte das dicke Notizbuch des Professors gelesen, eine seiner wenigen privaten Hinterlassenschaften. Bassey hatte sich von einer mythischen Person fasziniert gezeigt, die eine winzige Erwähnung in einem dem Museum vorliegenden Dokument fand. Daher hatte er weiter nach der Sagengestalt geforscht, so viel war aus den Notizen hervorgegangen. Von der Hartnäckigkeit seines Vorgängers in dieser Sache beeindruckt, hatte Corryn dieselben Pergamentseiten studiert. Es handelte sich dabei um Schriftstücke über den Krieg Henry II gegen Fürst Rhys ap Gruffydd im 12. Jahrhundert.

In dem Paket konnte sich natürlich auch alles andere als ein Buch über die besondere Leidenschaft des Professors befinden. Bassey hatte öfters gut erhaltene Werke angefordert, die im Museum eine Weile ausgestellt wurden, bevor sie die Leihgaben zurücksenden mussten.

„Packen Sie es nicht aus, Dr. Pryce?“ Gower platzte förmlich vor Neugierde. Er liebte alte Fundstücke seiner Heimat, und wenn der Postbote ein Päckchen brachte, war es für ihn jedes Mal wie Weihnachten.

Corryn reichte ihm das Paket zurück und wandte sich wieder seiner Übersetzung zu.

„Mach du das“, brummte er. Als er vor dreieinhalb Monaten seinen Dienst antrat, hatte er Gower ebenfalls das Du angeboten, doch der hielt hartnäckig am Siezen fest. Dabei konnte Gower ihn leiden, das machte zumindest sein Verhalten deutlich.

„Ehrlich? Ich darf es öffnen?“

„Himmel! Gower! Es ist nur ein Paket.“ Corryn versuchte, seine Konzentration auf das alte Schriftstück zu richten, dessen Text kaum zu entziffern war. Neben ihm raschelte Packpapier und beiläufig vernahm er das Knarzen eines Kartons. Dann folgte ein überraschter Laut.

„Donnerwetter!“

Seufzend schob er die Übersetzung zur Seite, denn er ahnte, dass er nicht weiterarbeiten konnte, solange er Professor Basseys Bestellung nicht genügend gewürdigt hatte.

„Zeig her!“

Gower reichte ihm ein Buch. Bereits auf den ersten Blick war zu erkennen, dass es ziemlich alt war. Der Deckel bestand aus Wildleder. Er war rötlich eingefärbt und mit Stempeln verziert. Ornamente rahmten eine Krähe oder einen Raben ein. Angelaufene Beschläge schmückten die Ecken des Deckels.

„Die Spangen sind sehr hübsch gestaltet“, stellte Gower fest. „Ist das Silber?“

„Ja, wahrscheinlich.“

„Es ist kein Prachteinband. Also wohl kein Buch eines Edelmannes, Geistlichen oder sogar Königs.“ Gower schien ein wenig enttäuscht, doch er hatte recht. Prachteinbände waren mit Gold, Perlen und Juwelen besetzt und bestanden oft aus Elfenbein.

„Da ist ein Begleitschreiben.“ Gower fischte einen Brief aus dem gepolsterten Karton und reichte ihn an Corryn weiter, der ihn überflog. Bassey hatte das Buch gar nicht geordert, sondern es war ihnen vom Museum in Cardiff zugesandt worden. Corryn übersprang den weiteren Text bis zu der für ihn interessanten Stelle. Wildleder, Kalbspergament, Silberspangen. Sie hatten richtig gelegen. Das Buch stammte aus dem 12. Jahrhundert, was Corryn überhaupt nicht verwunderte. Immerhin war dies Basseys bevorzugter geschichtlicher Zeitrahmen gewesen, wollte man seinem Notizbuch Glauben schenken.

„Verwandt wurde Eisengallustinte“, las er vor.

Gower zeigte sich wissbegierig. „Was ist das?“

„Galläpfel werden mit Eisensulfat abgekocht und hinterher wird Gummiwasser zugeführt. Die Tinte wird sogar heute noch verwendet und bildet an der Luft diese blauschwarze Farbe aus. Sie gilt als dokumentenecht.“

Gower strahlte. „Wieder etwas gelernt.“

Seine Begeisterung machte Corryn Spaß, da sie ihn an sich selbst erinnerte.

„Das Pergament wurde aus Kalbshaut gefertigt. Die Haut musste zuvor drei Tage lang im kalkhaltigen Wasser liegen, wurde danach aufgespannt, abgeschabt und getrocknet. Schweinehaut wurde bloß im äußersten Notfall genommen, da die Borsten durch die Haut und somit die Poren durch das ganze Pergament gehen.“ Corryn schlug mit der flachen Hand auf den Buchdeckel. Die Pergamentblätter wurden zusammengedrückt und der Deckel mit den Haken der Spangen senkte sich. Auf diese Weise fielen die gelockerten Spangen auf die Seite und das Buch war aufgeschlagen. Behutsam strich er mit dem Finger über das erste beschriebene Pergamentblatt.

„Können Sie es lesen, Dr. Pryce?“

„Ich denke schon. Es ist Altwalisisch. Dafür benötige ich Zeit und Geduld.“ Der deutliche Wink mit dem Zaunpfahl wurde von Gower verstanden.

„Ich hole Ihnen einen Kaffee. Außerdem haben wir frische Mohn-Scones, wenn Sie welche mögen.“

Corryn schmunzelte. „Das klingt verlockend.“

Gower lächelte scheu zurück und ließ ihn allein. Wenigstens nahm er die Verpackung mit.

Wenig später stand der frisch gebrühte Kaffee vor Corryn auf dem Tisch, dazu ein Glas Clotted Cream und ein Teller herrlich duftender Scones. Gower backte sie selbst und zeigte dabei wirkliches Talent.

Corryn lehnte sich in seinem ledernen und weich gepolsterten Schreibtischstuhl zurück und musterte sein kleines, gemütliches Büro.

Ich bin zufrieden, dachte er ein bisschen überrascht. Dieser Job, die Ruhe, ein eigener Assistent, eine hübsche Wohnung ... Aberystwyth oder Aber, wie es die Einheimischen abkürzten, war nicht unbedingt die Adresse, an die er von sich aus gereist wäre, obwohl dieser Arsch der Welt tatsächlich einen gewissen Charme verströmte. Das Städtchen war als Seebad ausgezeichnet, lag direkt an der Cardigan Bay und galt als Hauptort der Grafschaft Ceredigion. Gleich drei Aussichtshügel lockten Touristen. Die Urlauber besichtigten gerne die mehrfach zerstörte und erneut aufgebaute Burg auf der felsigen Landspitze und begeisterten sich für die 1896 errichtete Standseilbahn. Und natürlich besuchten sie das Ceredigion Museum. Dessen Besonderheit lag darin, dass sich die Ausstellung in einem ausgedienten Theater befand. Bronwen Rowe, eine weitere Mitarbeiterin des Museums, übernahm die Führungen und verstand es, die Geschichte des Landes mit Leidenschaft und Spannung zu vermitteln.

Corryn trank einen Schluck Kaffee und beugte sich über das Schriftstück, an dem er seit Tagen festhing. Ein leises, wenn auch hartes Klopfen lenkte ihn abermals von der Übersetzung ab. Ein Rabe saß vor dem Fenster und schien ihn mit seinen schwarzen Augen zu durchbohren. Das Gefieder schimmerte bläulich im Sonnenlicht. Corryn mochte Raben, was womöglich an ihrem mythischen Ruf als Unheilsbringer, Todesvögel oder einfach an ihrer Intelligenz lag. Während der Rabe ihn anstarrte, verspürte er plötzlich den Drang ebenfalls draußen zu sein, sich die leichte Meeresbrise um die Nase wehen zu lassen und die herbstliche Wärme der Sonne zu genießen. Außerdem – er konnte es nicht leugnen – lockte ihn dieses verflixte neue Buch. Er war neugierig und nahm das Begleitschreiben an sich, um es erneut zu lesen. Eine Übersetzung des historischen Werkes gab es nicht, was sehr schade war. Es stammte aus Privatbesitz und stellte eine Spende an das … Corryn runzelte die Stirn … das Ceredigion Museum dar. In Cardiff hatte man lediglich die Echtheit der gebundenen Seiten geprüft. Ein entsprechendes Zertifikat lag bei. Angeblich war dieses Buch ein Erbstück und innerhalb einer alteingesessenen walisischen Familie von Generation zu Generation weitergegeben worden. Er kratzte sich die Nase. Das fantastisch erhaltene Exemplar war gar keine Leihgabe. Nun lockte es ihn umso mehr und er würde es gleich als Nächstes übersetzen.

Klopfen!

Ein zweiter Rabe hatte sich zu dem ersten gesellt und sie schienen ihn daran erinnern zu wollen, dass das herbstliche Wetter heute wirklich herrlich war.

Ich könnte das Buch mit hinausnehmen. Es lässt sich ganz leicht entziffern, im Gegensatz zu diesem langweiligen Pergament. Über den eigentlich absurden Gedanken regelrecht schockiert starrte Corryn das neue Buch an. Kurz entschlossen sprang er dann auf.

„Gower!“

Sofort wurde die Tür aufgerissen. Sein Assistent schien stets darauf zu lauern, dass er ihn benötigte.

„Dr. Pryce?“

„Ich brauche frische Luft zum Denken. Würdest du mir die Scones einpacken? Ich nehme sie mit.“

„Das sollten Sie unbedingt tun. Sie verhungern mir sonst.“ Gower grinste frech, nahm den Teller mit den unberührten Leckereien an sich und verschwand. Corryn lief derweilen in seine Wohnung, zog sich eine braune, dick gefütterte Wachsjacke sowie warme Stiefel mit einer groben Profilsohle an. Schnell schlang er sich einen blauen Schal um den Hals und setzte die dazu passende Wollmütze auf. Vor dem Garderobenspiegel schob er einige schwarze Haarsträhnen unter die Mütze. Die Haare waren viel zu lang geworden. Er hasste jedoch Friseurbesuche und zögerte sie immer so weit es ging hinaus. Daher erweckte er mit dem wirren Schopf häufig den Eindruck eines kleinen Jungen.

„Kleiner Teufelssohn“, hatte seine Pflegemutter häufig lachend zu ihm gesagt. „Diese struppigen Haare sollen lediglich deine Hörner verbergen. Wenigstens kannst du deine Augen, so schwarz wie die Hölle, nicht verstecken. Und wie der Teufel verkriechst du dich in deinem Reich. Nur fürchte ich, würde der Höllenfürst nicht lesen. Oder auf einer Waschmaschine sitzen.“ Danach hatte sie ihm meistens einen Kuss auf die Stirn gegeben, seine Haare erst richtig durcheinandergebracht und leise singend die saubere Wäsche aufgehängt.

Bei der Erinnerung musste Corryn unwillkürlich lächeln. Mutter Mae war sehr stolz gewesen, als er mit dem Doktortitel nach Hause gekommen war. Und sie hatte sich riesig gefreut, als er ihr von dem Jobangebot berichtet hatte. Sogar sein ziemlich schweigsamer Pflegevater Donald hatte sich zu lobenden Worten hinreißen lassen. Er war meistens sehr müde, wenn er von der Arbeit mit den Sonderschichten nach Hause kam. Sein abendliches Vergnügen bestand darin, die Kleinsten auf seinen Knien zu wiegen und dabei mit den Schulanfängern das Lesen zu üben. Corryn liebte seine Ersatzeltern. Wo wäre er womöglich ohne ihre Güte und sanfte Strenge geendet?

Er kehrte in sein Arbeitszimmer zurück und steckte das alte Buch und einen Notizblock schnell und verstohlen in die wasserfeste Tasche aus froschgrüner LKW-Plane. Nie zuvor war er auf die Idee gekommen, eine der kostbaren Schriften mit ins Freie zu nehmen, nicht einmal in seine kleine Wohnung. Die kostbaren Pergamente konnten schließlich Schaden nehmen. Heute erschien es ihm seltsamerweise wie selbstverständlich, das Buch draußen zu studieren. Trotzdem musste Gower das nicht wissen.

Corryn stutzte.

Nein!

Es war überhaupt nicht richtig, was er da tat. Wenn das Exponat wegen seines unvernünftigen Vorhabens litt … Der Einband konnte beschädigt werden, eine Seite reißen. Wie kam er überhaupt auf die dumme Idee, sich an der frischen Luft mit diesem Werk auseinandersetzen zu wollen? Zögernd griff Corryn in die Tasche, um es wieder herauszuholen.

„Dr. Pryce, hier sind die Scones.“ Wie herbeigezaubert stand Gower vor ihm und reichte ihm einen Stoffbeutel mit dem aufgedruckten Logo des Museums. Corryn riss die Hand aus der Tasche, als hätte er sich verbrannt.

„Ist etwas?“, erkundigte sich Gower und musterte ihn besorgt.

„Nein, nein. Du hast mich eben bloß erschreckt. Ich war total in Gedanken …“ Corryn zwang sich zu einem Lächeln, während sein Herz wie wild klopfte. Beinahe wäre er ertappt worden. Wie hätte er erklären sollen, dass es keineswegs seine Absicht war, den hübsch gebundenen Schatz zu stehlen? Er nahm den Stoffbeutel mit zitternder Hand entgegen und hoffte, dass seine Nervosität nicht bemerkt wurde.

„Möchten Sie, dass ich Sie begleite?“, fragte Gower.

„Ich will nur ein bisschen in der Sonne sitzen und meine Gedanken sortieren. Die Pergamentrolle verursacht mir allmählich Kopfschmerzen. Du kannst gerne für heute Feierabend machen.“ Als er die Enttäuschung in den Augen seines Assistenten bemerkte, fügte er wie nebenbei hinzu: „Oder du tippst die bisherigen Übersetzungen von der Rolle ab. Ich gebe dir mein Passwort für den Computer … Gower, ist etwas?“

Mit offenem Mund stand Gower da und starrte ihn an. „Das dürfte ich tun?“

Einen Moment lang war Corryn irritiert. „Du bist mein Assistent, richtig?“

„Jaa…haaa. Es geht darum, dass … Also, für Professor Bassey durfte ich lediglich Botendienste machen und das Arbeitszimmer aufräumen.“

Corryn zuckte mit den Schultern. „Ich erwarte ein bisschen mehr. Wir arbeiten immerhin zusammen, jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten. Und da ich davon ausgehe, dass du einen Computer bedienen kannst …“

„Ich mache das gern. Wirklich gerne.“

„Na prima.“ Corryn schrieb das Passwort auf und legte den Zettel neben der PC-Tastatur auf den Schreibtisch. „Viel ist es nicht, aber wenn du das übernehmen würdest, kann ich mich ganz auf die Übersetzung konzentrieren.“

Gower druckste merkwürdig herum.

„Was ist los?“

„Werden Sie in Aber bleiben, Dr. Pryce?“, platzte es aus seinem Assistenten heraus.

„Das hängt von deinen weiteren Scones ab.“

„Mit dem Gebäck gebe ich mir riesige Mühe“, erklärte Gower eifrig.

„Bislang habe ich keine endgültige Entscheidung getroffen, obwohl ich mich hier gut aufgehoben fühle“, sagte Corryn ehrlich. „Ich möchte gerne eine Arbeitsstelle haben, die ich auf Dauer behalte. Ich bin niemand, der sich gerne verändert, verstehst du das?“

Gower nickte. „Man kann in Aberystwyth sehr alt werden.“

„Das befürchte ich.“

Sie lachten.

„Wo ist das neue Buch?“ Gower blickte sich suchend um.

„Ich hab’s eingeschlossen.“ Corryn deutete auf den verschnörkelten Eichenschrank, der sich gegenüber dem Schreibtisch befand. Gewissensbisse regten sich, weil er Gower anschwindelte. Doch er wäre seinen Job bestimmt los, wenn bekannt wurde, dass er Exponate in die freie Natur schleppte. Warum tat er das überhaupt? Woher kam der innere Drang, es draußen studieren zu wollen? Weil ihn Raben durch ein Fenster beobachtet hatten? Das verdammte Buch brannte ihm sicher gleich ein Loch in die Tasche. Er musste hier raus, bevor Gower merkte, dass mit ihm etwas nicht stimmte.

„Kommen Sie heute noch einmal ins Museum?“, wollte sein Assistent wissen.

Himmel!

Warum konnte er nicht endlich gehen? Es war schwer genug, sich die Unruhe nicht anmerken zu lassen.

„Vielleicht“, antwortete er ausweichend. „Es könnte allerdings spät werden.“

„Dann also einen schönen Tag, Dr. Pryce.“

„Dir auch, Gower.“ Corryn zwang sich langsam zu gehen, als er das Büro verließ. Dabei wäre er am liebsten gerannt.

***

Er hatte sich eine Picknickdecke mitgenommen, eine von der Sorte, die auf einer Seite blau-gelb kariert waren und eine wetterfeste Beschichtung auf der Unterseite aufwiesen. Mehrfach zusammengefaltet, denn der Boden war bereits ziemlich kalt, hatte sich Corryn die Decke unter den Hintern geschoben. Mit dem Rücken lehnte er sich gegen die grob bearbeiteten Steine der Mauer von Aberystwyth Castle. Sie hatten die Sonnenwärme dieses schönen Tages gespeichert und strahlten sie nun wieder ab. Der Himmel war leuchtend blau, nicht ein einziges Wölkchen war in Sicht. Damit bestand zumindest keine Gefahr, dass das aus dem Museum geschmuggelte Buch durch einen unerwarteten Regenguss beschädigt wurde. In Corryns Nähe saßen einige Raben mit aufgeplustertem Gefieder, die sich die Sonne auf die Schnäbel scheinen ließen. Von seinem Platz aus konnte er direkt aufs Meer hinausschauen. Zu seiner Linken lag die St. Michael’s Church und der Hafen, wo ein Fährschiff ankerte. Der lange Sandstrand wurde von einigen Einheimischen und mehreren Touristen besucht. Sogar hinter ihm, in den Burgruinen kraxelten Urlauber umher. Er hoffte, dass sie ihn in Ruhe ließen. Und die Erfahrung sagte ihm, dass Leute, die ihre Nase in ein Buch steckten, meistens nicht angesprochen wurden, als ob der Anstand es verbot, jemanden beim Lesen zu stören.

Corryn zog den Stoffbeutel zu sich heran. Der gute Gower! Packte ihm sogar eine Thermoskanne Kaffee ein. Schon nach wenigen Tagen hatte er gemerkt, dass Corryn ohne Kaffee nicht gut drauf war. Wenn er den freundlichen Gower nur überzeugen könnte, dass dieser Kinnbart ihm überhaupt nicht stand, sondern lediglich sein Gesicht spitz wirken ließ.

Egal.

Deswegen war Corryn nicht hier.

Vor ihm erhob sich wie ein mahnender Zeigefinger der von Mario Rutelli 1923 erbaute Obelisk mit der bronzenen Engelsfigur und der nackten Frau, die aufs Meer hinausblickte. Es handelte sich um ein Kriegerdenkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Der Obelisk war ein begehrtes Fotomotiv und soeben zog eine Truppe Touristen mit ihrem Guide dorthin. Corryn wusste längst, dass man sich an eine bestimmte Stelle begeben musste, damit es so aussah, als ob die Engelsfigur des Obelisken direkt im Turmfenster der Burgruine stand. In diesem Fall erhielt man den Eindruck, als warte eine holde Maid auf ihren Krieger, der aus der Schlacht heimgeritten kam. Vermutlich hatte vor Jahrhunderten dort wirklich jemand gestanden, in der Hoffnung, dass der Liebste nach erfolgreichem Kampf heimkehrte. Abends, bei Sonnenuntergang, wirkte der Obelisk besonders hübsch, da eine Lichterkette rings um das Denkmal herum eingeschaltet wurde. Zur selben Stunde wurde obendrein der Hafen beleuchtet, was sehr romantisch anmutete. Vielleicht sollte er tatsächlich in Aberystwyth bleiben. Dieses kleine Seebad war womöglich genau das Richtige für ihn, zumindest geeigneter als eine Großstadt wie Cardiff, mit einer achtundzwanzigmal höheren Bevölkerungsdichte.

Du hockst aus einem ganz anderen Grund hier, rief sich Corryn in Erinnerung, zog das uralte Buch und den Notizblock aus seiner Tasche, setzte sich bequem zurück und schlug das kostbare Werk auf. Erneut regte sich sein schlechtes Gewissen, doch letztendlich siegte die Neugier und er fuhr mit dem Zeigefinger die erste Zeile entlang.

Er kam unter einem anderen Namen zu mir und im Gegensatz zu meinen Männern wollte ich nicht an seine Bestimmung glauben. Es erschien mir ein Hirngespinst zu sein, in ihm Cigfran ap Arawn zu sehen …

Corryn stutzte und hielt im Lesen inne.

„So lautet ja der Name der mythischen Figur, auf die Professor Bassey gestoßen ist“, murmelte er verwundert. „Sein merkwürdiger Spleen, dem er hinterhergeforscht hatte.“

Rabenkrieger ...

Aufgeregt beugte er sich wieder über die Seiten und setzte dort an, wo er eben die Lektüre unterbrochen hatte.

... ein Hirngespinst zu sein, in ihm Cigfran ap Arawn zu sehen ...

Ein heftiger Schlag traf Corryn am Kopf, Schmerz schoss grell und blendend durch seinen Schädel. Er schwankte, versuchte sich mit einer Hand am Boden abzustützen … und dann wurde es schwarz um ihn.

Kapitel 1

Bydd y tafod yn dweud; Bydd bywyd yn ei ddangos.

Die Zunge wird erzählen; das Leben wird es zeigen.

Corryn

Mit furchtbaren Kopfschmerzen kam Corryn zu sich. Zuerst wusste er gar nicht, was geschehen war und wo er sich befand. Der Boden war zumindest kalt und unbequem und um ihn herum war alles voller schwarzer Federn. Warme, atmende Körper pressten sich an ihn, einige von ihnen bewegten sich leicht. Als er selbst sich rührte, erfolgte wildes Geflatter. Zahlreiche Flügel wirbelten Laub und kleine Zweige auf, mehrstimmiges Krächzen gellte in seinen Ohren und eine Wolke dunkler Leiber stieg in den bedeckten Himmel. Unwillkürlich hob er einen Arm, um seine Augen und das Gesicht zu schützen. Kurz darauf war der Spuk vorbei. Dafür traf ihn völlig unvorbereitet der kalte Wind. Obendrein nieselte es. Corryn ließ den Arm sinken und schaute sich verwirrt um. Er war nackt, eine Tatsache, die er sich beim besten Willen nicht erklären konnte. Außerdem befand er sich inmitten eines Waldes, dabei war er sich sicher, dass er an der sonnengewärmten Mauer von Aberystwyth Castle gesessen hatte. Und dort hatte es weit und breit keinen Wald gegeben, sondern nur ein paar Parkanlagen.

Ein großer Schwarm Raben hatte sich in den umliegenden Bäumen und Sträuchern niedergelassen. Wenn ihn sein Schädel nicht so verflucht quälen würde, hätte er geglaubt, dass die Vögel ihn gerade noch gewärmt hatten. Aber etwas in dieser Art anzunehmen war gewiss lächerlich.

Corryn tastete mit der Hand nach der pochenden Stelle an seinem Kopf.

Er blutete!

Verdammter Mist!

Er blickte in die Höhe, als könnte er dort die Faust Gottes erkennen, die ihn getroffen hatte, oder was immer das gewesen sein mochte. Natürlich war nichts zu entdecken. Fröstelnd rieb er sich die bloßen Arme. Auf seinem Leib begann sich Gänsehaut zu bilden. Klar, für FKK war es nicht die richtige Jahreszeit. Seine Zehen krümmten sich, denn das Gras, in dem er stand, war ebenfalls nass und kalt.

„Hallo?“, rief er, die Hand auf die Kopfwunde gepresst. Ihm war ein bisschen schwindlig und übel, was in Anbetracht der Verletzung sicherlich kein Wunder war.

„Hallo? Ist da jemand?“

Niemand antwortete ihm, nur die Raben in seinem näheren Umkreis regten sich leicht.

Was sollte er tun?

Hier stehenzubleiben und auf den Bus zu warten, während er sich wunderte, wie er hierher gelangt war, erschien unsinnig. Drei, vier Yards von ihm entfernt, verlief ein schlammiger Weg, der von unzähligen Pfützen unterbrochen wurde. Reifenspuren waren nirgendwo zu entdecken. Er hatte keine Ahnung, ob er nach links oder rechts laufen sollte. Wo Aberystwyth und das Meer lagen, vermochte er auch nicht zu bestimmen. Da der Himmel hinter einer grauen Wolkendecke verschwand, konnte überall Norden sein. Also entschied er sich spontan für rechts. Hauptsache er bewegte sich, damit ihm wärmer wurde. Corryn mied den matschigen Weg und wanderte stattdessen neben dem Pfad auf dem Grasstreifen, die Arme eng um sich geschlungen. Er war seit mindestens einer Stunde unterwegs, als aus dem Nieseln ein leichter Regen wurde. Seine Stimmung sank weiter. Wenn das von irgendjemandem ein blöder Scherz sein sollte, dann konnte er darüber überhaupt nicht lachen. Erneut tastete er nach der Platzwunde auf dem Kopf. Sie blutete nicht länger, was wenigstens etwas Positives war.

Es war ein Fehler, das Buch aus dem Museum zu schleusen, dachte er sich. Bestimmt hat jemand den Wert des Exponates erkannt, mich überfallen, irgendwo ausgesetzt und das Buch gestohlen.

Was nicht erklärte, weshalb man ihn nackt zurückgelassen hatte. Oder warum kein einziger Tourist in der Burganlage den Angriff und die Entführung bemerkt hatte. Schlotternd marschierte er weiter, in der Hoffnung, eine Hütte oder wenigstens einen Jagdunterstand zu finden. Oder aus diesem verdammten Wald herauszukommen. Warum traf er eigentlich keinen Spaziergänger, der seinen Hund Gassi führte? Keinen Wanderer, keinen Jogger, keinen Radfahrer? Seit wann waren Wälder menschenleer? Corryn wischte sich Regenwasser aus dem Gesicht – und stockte mitten im Schritt. Sie waren gar nicht menschenleer. Vor ihm waren zwei Männer auf Pferden aufgetaucht. Eigentlich hätte er sich über ihren Anblick freuen sollen, wenn ihm diese Reiter nicht äußerst seltsam vorgekommen wären. Sie trugen Lederharnische und einer von ihnen hatte tatsächlich einen Kettennackenschutz unter seinem Helm. Und Corryn meinte nicht einen samtüberzogenen Reithelm, sondern einen alten Kriegshelm aus zerbeultem Eisen. Die beiden starrten ihn genauso entgeistert an wie er sie.

„Ihr kommt nicht zufällig aus Aberystwyth?“, sprach er die beiden mit ungewohnt dünner Stimme an.

„Woher?“, wurde er gefragt.

„Aberystwyth?“, wiederholte er verblüfft. Das Seebad war schließlich bekannt.

„Gehörst du zu Rhys ap Gruffydd?“

„Hä? Der ist doch längst ...“

„Also bist du ein Anhänger der Normannen?“

„Ich verstehe nicht …?“

Der ältere Reiter wurde deutlicher: „Gehörst du zu Roger de Clares Männern?“

„Na bitte, da haben wir ja die Verbindung. Roger de Clare hat doch Aberystwyth Castle erbaut …“ Corryn beschlich das unangenehme Gefühl, dass das eine völlig falsche Antwort gewesen war. Die beiden Reiter zogen nämlich Schwerter. Beinahe hätte er gelacht. Sie hatten wirklich Schwerter dabei!

„Ihr wart auf einem Kostümfest, richtig?“

„Ergib dich!“

„Was? Hört zu, Jungs. Das ist ein echt blöder Joke. Mir ist kalt, es regnet, mein Schädel dröhnt und … Hey!“

Die Pferde setzten sich in Trab und hielten direkt auf ihn zu. Schlamm spritzte bis zu den Beinen der Reiter … Krieger hinauf, was diese allerdings nicht zu bekümmern schien. Ihre Gesichter waren grimmig verzogen. Das wirkte nicht länger wie ein Witz, eher wie verdammter Ernst. Mit aufkeimender Furcht wirbelte Corryn herum und begann zu rennen. Weit gelangte er nicht, lediglich ein paar Yards, bevor ihn ein mieser Tritt in den Rücken bäuchlings in eine Pfütze katapultierte. Spuckend und prustend versuchte er sich aufzuraffen, wurde allerdings schon im nächsten Moment niedergerungen. Ehe er protestieren konnte, banden ihm die Krieger die Hände auf dem Rücken zusammen.

„Wie verrückt muss man sein, bei diesem Wetter ohne Kleidung herumzulaufen?“, brummte der eine.

„Es soll uns garantiert in Sicherheit wiegen. Er wird als Spion auf uns angesetzt worden sein.“

„Spion? Ich bin kein Spion.“

Corryns Protest wurde ignoriert.

„Die verdammten Normannen lassen sich aber auch ständig etwas Neues einfallen.“

Grobe Hände rissen ihn auf die Füße und stießen ihn in die Richtung vorwärts, aus der die Männer gekommen waren. Plötzlich flogen bestimmt zwanzig Raben dicht über ihre Helme hinweg. Die Pferde bäumten sich erschrocken auf, beinahe wurde Corryn von den schlagenden Hufen getroffen. Unbeholfen taumelte er durch den rutschigen Schlamm. Die Krieger griffen fest in die Zügel ihrer Tiere und brachten sie rasch unter Kontrolle.

„Okay“, sagte Corryn und zerrte vergebens an seinen Fesseln. „Der Spaß ist vorbei. Wo ist die Kamera? Das ist doch eine Inszenierung für irgendeine dämliche Sendung, oder?“

„Halt’s Maul! Du kannst reden, wenn der Capten dich verhört.“

Wieder wurde er grob geschubst. Allmählich begann es Corryn zu dämmern, dass er sich wirklich nicht mehr in Aberystwyth befand. Und dass dies hier nicht einmal mehr sein Jahrhundert war. Üblicherweise gab es in Wäldern gestapelte Stämme am Wegesrand, Hinweisschilder für Wanderer und mit Farbe gesprühte Zeichen auf den Bäumen. Wälder im 21. Jahrhundert wirkten … aufgeräumt. Dagegen war dieser Wald undurchdringlich, verwildert und düster. Und es rannten in seiner Zeit keine Männer in Kostümen herum, die derartig realistisch gestaltet waren, bis hin zu einer aufgetrennten Naht am fleckigen Wams.

Ein Traum!

Genau das musste es sein. Ein schlechter Traum, hervorgerufen dank des üblen Hiebes auf seinen Schädel. Er lag mit einer gemeinen Gehirnerschütterung in einem Krankenhausbett und fantasierte sich das alles zusammen. Zumindest hoffte er das.

„Bitte“, wandte er sich an die Krieger. „Sagt mir, in welchem Jahr wir uns befinden.“

Ein breites Grinsen antwortete ihm. „Es ist zu früh, um den Verwirrten zu spielen. Damit kannst du anfangen, wenn der Capten dich foltert.“

Folter?

Corryn schluckte schwer. „Ich mache euch nichts vor, ehrlich nicht. Ich …“ Er gab es auf, irgendwelche Beteuerungen von sich geben zu wollen. „Welches Jahr?“

„1164, du Dummkopf.“

1164!

Corryn stöhnte und nicht nur vor Schmerz. Während er mit schöner Regelmäßigkeit grob geschubst wurde, damit er auf seinen nackten Sohlen schneller voranmarschierte, überlegte er krampfhaft, was er über diese Zeit wusste.

König Henry II war derzeit König von England und er herrschte über einige walisische und schottische Gebiete sowie einen Teilbereich Irlands. Außerdem gehörte ihm aufgrund seiner Heirat mit Eleonore von Aquitanien das westliche Frankreich. In seinem Auftrag baute Roger de Clare Aberystwyth Castle, die Burg war einst unter dem walisischen Namen Castell Llanbadarn bekannt. Das war im Jahr 1158 und stellte selbstverständlich einen Teil der Museumsausstellung dar. Soweit zum Geschichtsunterricht. Es war also kein Wunder, dass er ausgerechnet von dieser Zeit fantasierte, schließlich hatte er tagtäglich damit zu tun. Wenn diese Krieger in ihm einen Normannen und damit den Feind sahen, mussten sie folglich Anhänger von Rhys ap Gruffydd sein, dem Fürsten von Deheubarth.

„Die verfluchten Höllenvögel verfolgen uns.“ Einer der Kerle deutete auf die Raben, die mit ihnen zogen. Jetzt wo der Mann seinen Kameraden darauf aufmerksam machte, fiel es Corryn ebenfalls auf. Die Vögel flogen ihnen stets ein Stückchen voraus und warteten dann in den Bäumen, bis sie aufgeholt hatten. Dabei verhielten sie sich merkwürdig ruhig.

„Sie haben mich gewärmt“, sagte er, bevor ihm einfiel, dass es womöglich besser war, den Mund zu halten.

„Gewärmt?“, wurde prompt nachgefragt.

„Ich habe einen Schlag auf den Kopf erhalten und war ohnmächtig. Als ich zu mir kam, saßen sie dicht um mich herum. Sie müssen mich die ganze Zeit über gewärmt haben.“

„Du bist geschlagen worden?“

„Ja, bin ich. Irgendjemand hat mich überfallen. Oder wie erklärst du dir, dass ich ohne meine Kleidung durch die Gegend laufe? Es ist arschkalt!“

„Und wer soll der Angreifer gewesen sein?“

„Keine Ahnung.“

Ein harter Griff in die Handfesseln sorgte dafür, dass er stehenblieb. Finger wühlten in seinen Haaren und fanden die Platzwunde.

„Autsch!“

„Kein Wunder, dass er wirr ist. Da wächst wirklich eine riesige Beule.“ Der Krieger lachte rau und ließ ihn los. „Geh weiter!“

Folgsam stolperte Corryn voran.

„Und wenn es wahr ist?“, fragte der andere mit einem schrägen Seitenblick auf Corryn. „Denk an die Worte des Derwydd über Cigfran ap Arawn. Er wird zu den Cymry kommen und sie zum Sieg führen.“

„Derwydd? Druiden? Cigfran ap Arawn?“, rief Corryn überrascht, was ihm einen harten Knuff einbrachte. „Au!“

Unglaublich!

Professor Basseys Mythengestalt verfolgte ihn!

Na bitte! Er musste das alles wirklich träumen.

„Der da soll Cigfran sein? Mann, hast du gesoffen? Der ist nie und nimmer ein Krieger.“

„Bin ich auch nicht“, murrte Corryn zähneklappernd. „Totaler Schwachsinn.“

„Halt’s Maul!“ Das ertönte zweistimmig.

„Und wie erklärst du dir die Raben?“, fragte der ältere der beiden Krieger seinen Kameraden. Der blieb ihm die Antwort schuldig, was Corryn schade fand. Er hätte nämlich selbst gerne eine Erklärung für das seltsame Verhalten der Tiere gehabt.

Dolen

„Capten? Loyde und Hopcyn bringen einen Gefangenen.“ Macsen drückte sich Wasser aus dem grauen Bart. Der Regen wurde von Stunde zu Stunde stärker. Wenn es auf diese Weise weiterging, würde ihr kleines Lager mit den schmutzfleckigen Zelten bald völlig im Schlamm versinken.

„Haben sie die Normannen gefunden?“ Dolen war müde und gerade erst in sein Zelt gegangen. Der Abend war heran und er seit knapp dreißig Stunden auf den Beinen. Mittlerweile sehnte er sich nach einer Mütze voll Schlaf und einem warmen Essen.

„Nay. Oder ja. Vielleicht.“ Macsens Antwort war ein einziges Herumdrucksen.

„Was denn nun?“, knurrte Dolen ungehalten.

„Sie haben einen nackten Mann aufgegriffen. Hopcyn behauptet, er würde für die Normannen spionieren. Loyde dagegen glaubt … Ach, was! Das ist total verrückt.“

„Bist du irgendwo gegen gelaufen oder was hat dein Gestammel zu bedeuten? Was glaubt Loyde?“ Dolen wurde ungeduldig. Jede Verzögerung hielt ihn unnötig lang von seinem angestrebten Nachtlager fern.

„Loyde sagt, dass es sich bei dem Gefangenen um Cigfran ap Arawn handelt.“ Macsen lächelte betreten. Das ist nicht auf meinem Mist gewachsen, sollte dieses Lächeln bedeuten.

„Cigfran ap Arawn?“, wiederholte Dolen langsam und deutlich.

„Äh! Ja.“

Er zwang sich, nicht zu lachen. „Wie kommt Loyde auf diese Idee?“

„Womöglich wegen der vielen Raben, Capten.“

„Raben.“

„Ähem, ja. Da sind jetzt eine Menge Raben im Lager.“

Misstrauisch musterte Dolen seinen besten Freund. Hatte der etwa getrunken? Seufzend griff er nach dem Umhang und schlang ihn sich um die Schultern.

„Dann sehe ich mir den Kerl besser an.“

Es war tatsächlich eine große Anzahl Raben in der näheren Umgebung. Überrascht starrte Dolen auf die Vögel, die ruhig in den umliegenden Bäumen hockten. Zu ruhig. Gelegentlich streckte einer seine Flügel, rieb ein Tier den Schnabel an einem Ast oder schüttelte sein Gefieder.

Ein paar Vögel. Mehr nicht. Dolen fand keine logische Erklärung für die unverhoffte Anwesenheit dieses großen Schwarms, daher ignorierte er sie und richtete seine Aufmerksamkeit lieber auf den Gefangenen, der neben dem hell lodernden Lagerfeuer im Schlamm kniete. Die Hände des Fremden waren gefesselt und der Oberkörper leicht vornübergebeugt. Die Flammen zauberten einen rötlichen Schimmer auf seine nackte Haut. Dolens Männer hatten ihn umringt, hielten allerdings einen respektvollen Abstand. Schlank war er und jung, erkannte Dolen, als sein unfreiwilliger Gast mit einer Mischung aus Angst und Neugier zu ihm aufschaute. Er fuhr zusammen, als ihn der Gedanke Rabenkrieger! angesichts tiefschwarzer Augen und Haare durchzuckte. Rabenkrieger! Gleich darauf wischte er den absurden Gedanken beiseite. Es war albern, an eine Kindergeschichte glauben zu wollen, eine Mär, die gebrechliche Großmütter erzählten.

Die nackte Gestalt vor ihm schlotterte vor Kälte und die Zähne klapperten sicherlich nicht bloß vor Furcht. Es rief Mitleid in ihm wach, was in dieser Situation vollkommen unangebracht war.

„Dein Name?“, fragte Dolen im absichtlich harten Ton.

„Ich heiße Corryn Pryce.“

Eine schöne Stimme, weich und samtig. Sie passte zum gesamten Erscheinungsbild. Dolen spürte, wie es ihn warm durchrieselte, eine Empfindung, die ihn lange nicht mehr gepackt hatte. Und die er in Anbetracht eines Gefangenen überhaupt nicht fühlen wollte. Er wandte sich an Loyde und Hopcyn: „Corryn, sagt er. Nicht Cigfran.“

Loyde deutete auf die Vögel. „Und die willst du leugnen, Capten?“

„Es sind nicht die ersten Raben, die ich in meinem Leben sehe. Wie kommst du darauf, dass sie in Verbindung mit ihm stehen?“

„Sie sind ihm bis hierher gefolgt“, antwortete Hopcyn geradezu ehrfürchtig.

„Ihm oder euch? Oder doch eher zufällig?“

Seine beiden Männer schwiegen, als er sie mit Spott konfrontierte, wechselten allerdings einen Blick miteinander, der davon sprach, dass sie von seiner Meinung nicht überzeugt waren. Cigfran ... das war schlichtweg lächerlich.

„Wer bist du?“

Die Stimme jagte seinen Puls in die Höhe. Das war ja nicht zu fassen. Dolen wandte sich erneut dem Fremden zu.

„Ich bin der Mann, der dir wehtun wird, wenn du nicht wahrheitsgemäß antwortest.“

Angst zeigte sich in der Miene des Knienden. Der Mutigste schien er jedenfalls nicht zu sein. Kurz biss er sich auf die Lippe. Eine Reaktion, die durchaus reizvoll war. Gleich darauf straffte er die Schultern, als wollte er Dolens Drohung von sich abschütteln.

„Ihr kämpft für Rhys ap Gruffydd, nicht wahr?“

„Stelle ich die Fragen oder du?“, schnauzte er ihn an, wütend, weil diese bibbernde Figur ihn vom Schlafen abhielt, er im Regen eine Befragung abhalten musste, die verdammten Vögel ihn zu beobachten schienen und seine Männer abergläubisch waren und an Mythengestalten glaubten.

„Vermutlich nicht ich.“ Die Schultern des Fremden sanken ergeben herab.

„Wieso bist du nackt?“ Eine Frage, die Dolen wirklich beschäftigte, oder besser gesagt, seine Lendenregion interessierte.

„Ich weiß es nicht“, flüsterte es ihm verlegen entgegen.

„Wo sind deine Leute?“

„Im Ceredigion Museum von Aberystwyth.“

Dolen runzelte die Stirn. Ein Museum war ihm nicht bekannt. Was sollte das sein?

Corryn schien sein Unverständnis zu bemerken, weil er zitternd erklärte: „Du wirst keine Ahnung haben, wovon ich spreche. Direkt an der Mündung des Afon Rheidol und des Ystwyth liegt Aberystwyth. Um das Jahr 1277 entsteht dort zunächst ein Dorf, später eine Stadt. Heute ... in meiner Zeit ist es ein Seebad an ...“ Er dachte kurz nach. „... an der Bae Ceredigion.“

„Dort hat Robert de Clare eine Burg errichtet“, sagte Macsen.

„Castell Llanbadarn“, fügte Corryn hinzu.

Macsen warf ihm einen kurzen Blick zu, bevor er fortfuhr: „Eine Burg, um Geld für seinen geliebten Henry zu scheffeln.“

Dolens Männer spuckten aus. „Syr Curtmantle sollte sich lieber in der Normandie verkriechen. Dieser eitle Geck. Oder in die Arme seiner Eleonore zurückkehren.“ Darin waren sie sich einig.

Inzwischen versuchte Dolen Corryns wirre Worte zu verdauen. Was redete er über einen Ort, den es erst in hundert Jahren geben würde? Gehörte Corryn etwa zu den Derwydd? Nein, wie einer der weisen Männer wirkte er nicht. Also schwindelte ihm der Gefangene das Blaue vom Himmel.

Dolen versuchte es ein letztes Mal: „Was ist dein Auftrag?“

„Ich bin für die literarischen Exponate des Museums zuständig. Außerdem fertige ich die Schautafeln, wenn ein neues Ausstellungsstück hereinkommt.“

Dolen war müde. Und er hasste es, angelogen zu werden. Zudem hatte er einen beschissenen Tag im Nassen hinter sich. Daher holte er aus und schlug dem Gefesselten ins Gesicht, nur so als kleine Warnung. Mit einem dumpfen Laut kippte der hinten über, wo er ächzend auf dem Rücken liegenblieb.

„Capten ...“ Unruhig trat Loyde einen Schritt auf ihn zu.

„Was?“, grollte er. Seine grimmige Miene brachte den Mann zum Schweigen, sodass er sich wieder dem Gefangenen widmen konnte. Corryn ...

„Was ist dein Auftrag?“

„Willst du die Wahrheit hören?“, rief der mit sichtlicher Verzweiflung.

„Sicher.“

„Aber du willst doch hören, dass ich für die Normannen spioniere. Dann müsste ich dich anschwindeln, um dir diesen Gefallen zu tun. Sage ich die Wahrheit, schlägst du mich.“

„Solltest du mich weiterhin anlügen, wirst du froh sein, wenn es nur Schläge sind. Da du ja angeblich nicht für die Normannen spionierst, was tust du sonst völlig entblößt hier?“

Die Nacktheit seines Gegenübers störte ihn. Schon viel zu lange hatte er sich nicht mehr an einen attraktiven Körper schmiegen können. Natürlich könnte er den Versuch starten, mit einem seiner Männer anzubandeln. Das hatte er jedoch bewusst unterlassen, weil er vermeiden wollte, dass Streit aufkam, weil behauptet wurde, er als Capten würde einen unter ihnen begünstigen.

Corryn fürchtete ihn. Es war deutlich an der sich schnell hebenden und senkenden, regennassen Brust zu erkennen, wie er hektisch atmete und seine Kiefermuskeln arbeiteten. Die Hilflosigkeit des Fremden und sein ansprechendes Äußeres erregte Dolen, das vermochte er nicht zu leugnen. Allerdings war er jemand, der sich zu beherrschen wusste, und nicht wie ein Tier über einen Gefangenen herfiel.

„Ich habe keine Ahnung, wie ich hierherkomme. Ich stamme aus dem 21. Jahrhundert und habe vor einer Weile eine Anstellung in einem Museum angetreten. Mich hat etwas am Kopf getroffen ...“

„Du willst ernsthaft behaupten, dass du aus der Zukunft kommst?“

Corryn nickte. Pure Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Kein Wunder, denn wer sollte ihm diese absurden Lügen glauben?

„Dich trifft gleich wieder etwas am Kopf, wenn du weiterhin solche Märchen erzählst. Denkst du wirklich, ich nehme dir diese alberne Geschichte ab?“

„Ich würde es vermutlich selbst nicht glauben“, flüsterte der Gefangene. „Wollte ich dich anlügen, würde ich mir da eine solche Story ausdenken?“

Dolen kniff sich in die Nasenwurzel, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Mit einem letzten Rest von Geduld startete er noch einen Versuch: „Wie viele seid ihr? Wo ist euer Lager? Was genau ist dein Auftrag?“

„Ich bin allein. Ich wohne in Aberystwyth und arbeite dort im Museum.“

Es reichte. Die Grenzen seiner Langmut waren überschritten. Dolen trat zu, erwischte den Lügner im Magen und beobachtete verärgert, wie der sich würgend krümmte. Tränen schimmerten in den dunklen Augen und glänzten im Feuerschein. Ein raues Krächzen ertönte. Die Raben regten sich, stiegen auf und kreisten um das Lager, schossen mehrere Fuß herab, um gleich erneut an Höhe zu gewinnen. Verblüfft verfolgte Dolen diesen Aufruhr und merkte, dass seine Männer nervös wurden.

„Capten!“ Gwal zupfte ihn wie ein Kleinkind am Ärmel. „Wenn er nun tatsächlich Cigfran ist?“

Er bemerkte, dass mittlerweile sämtliche Krieger unruhig waren und zwischen ihm, dem Gefangenen und den aufgebrachten Vögeln hin- und herschauten.

„Fang jetzt nicht auch noch mit dieser Mär an. Glaubt ihr wirklich, dass diese lächerliche Figur Cigfran ap Arawn ist? Der Sohn des Herrschers der Anderwelt Annwn? Würde sich der Rabenkrieger von mir dermaßen demütigen lassen?“ Mit dem Stiefel drückte er das Gesicht des zuckenden Gefangenen verächtlich in den Schlamm, wobei er darauf achtete, rechtzeitig loszulassen, bevor dieser ersticken konnte. Hustend und spuckend rollte sich Corryn zur Seite.

„Dolen ...“

Die Raben kreisten trotz des Regens immer wilder. Ihr Kreischen schmerzte in den Ohren. Was, bei allen Dämonen, regte die Vögel zu der späten Stunde dermaßen auf? Wohl kaum dieser Wicht zu seinen Füßen.

„Dolen, du bist erschöpft.“ Macsen brachte es mit einem besorgten Blick in Richtung Raben auf den Punkt. „Geh schlafen.“

Er nickte ergeben, da er an dieser Stelle offenbar ohnehin nicht weiterkam. Natürlich hätte er dem Heuchler so lange Schmerzen zufügen können, bis der die Wahrheit ausspuckte, obwohl es ihm widerstrebte, jemandem zu quälen oder sogar zu verstümmeln. Es gab andere Möglichkeiten.

„Bindet ihn dort hinten an einen Baum. Wenn er genug gefroren hat und bereit ist mir etwas über seinen Auftrag zu erzählen, könnt ihr mich wecken.“

Das Zögern seiner Leute entging ihm nicht.

„Bei allen Heiligen! Schenkt mir Geduld“, flehte er. „Muss ich ihn selbst zu einem Baum schleifen?“

„Ihr habt es gehört! Fesselt ihn“, gab Macsen den Befehl weiter und zog ihn dann mit sich. „Ich stelle Wachen auf, Dolen. Leg dich schlafen. Man kann dich nicht ertragen, wenn du dermaßen gereizt bist.“

„Ist das ein Wunder?“ Er wurde auf sein Zelt zu geschoben. „Glaubst du an die Mär von Cigfran ap Arawn?“, wollte er von dem alten Kämpen wissen.

„Es ist mehr zwischen Himmel und Erde als wir vermuten.“

„Weichst du etwa meiner Frage aus?“

Macsen kniff die Augen halb zusammen. „Kann sein.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Die Raben benehmen sich seltsam. Es sind zudem verflucht viele. Und sie tauchten zusammen mit dem Fremden auf.“

„Corryn.“

„Wenn das sein wirklicher Name ist, ja.“

„Ich würde es nicht gutheißen, wenn im Lager der Aberglaube ausbricht.“

Macsen lachte leise. „Was willst du dagegen unternehmen? Du kannst den Männern nicht das Denken verbieten.“

Dolen seufzte. „Es wird Zeit, dass der verfluchte Krieg endet.“

„Er hat dich aus der Ackerfurche geholt, dieser verfluchte Krieg. Du bist von einem Bauernsohn zum Capten aufgestiegen und ein Günstling Arglwydd Rhys‘ geworden. Zudem hast du Aussicht auf ein eigenes Stückchen Land.“

„Wenn ich den Krieg überlebe.“

„Ja, wenn.“ Macsen tätschelte ihm den Rücken. „Schlaf, Dolen. Ruh dich aus, sorg dich nicht, zerbrich dir nicht den Kopf. Sobald Cigfran auspacken will, werde ich dich wecken.“

„Corryn!“

„Von mir aus auch der.“

„Macsen, ich sollte dir in den Hintern treten.“

Sein Freund schmunzelte. „Wenn du wieder munter bist, kannst du es gerne versuchen. Gute Nacht.“

Er nickte dem treuen Gefährten zu und betrat sein Zelt. Das Holzstück in der Kohlenpfanne war fast ganz heruntergebrannt, verbreitete ein wenig Wärme. Dolen hängte den nassen Umhang auf und zog sich aus. Er hatte den Krieg wirklich satt. All das Blutvergießen, die vielen toten Landsleute und das geschundene Wales. Eine Menge Leid, bloß weil irgendein Adliger aus Frankreich kam und sich als König von England bezeichnete. Liebend gern würde er Henry den Hals umdrehen. Es klebte ohnehin schon genug Blut an seinen Händen. Ein Toter mehr oder weniger, den er auf dem Gewissen hatte, würde nicht weiter ins Gewicht fallen. Zumindest nicht, wenn es den Krieg beendete.

Corryn

Corryn fror entsetzlich. Nachdem die walisischen Krieger ihn an einen Baum gefesselt hatten, war er nicht weiter beachtet worden. Die meisten der Männer suchten in ihren Zelten Schutz vor dem Regen und schliefen, andere hielten Wache.

Der Capten hatte ihn überrascht. Corryn hatte mit jemandem gerechnet, der deutlich älter war. Dennoch hatte der Mann Autorität ausgestrahlt. Autorität und Härte. Dieser Dolen war niemand, der sich auf der Nase herumtanzen ließ. Das hatte Corryn am eigenen Leib erfahren müssen. Der Tritt hatte wehgetan und der Hieb ins Gesicht war ebenfalls nicht von schlechten Eltern gewesen. Sein Kopf brummte wie ein aufgebrachter Bienenschwarm. Aber er war immerhin nicht mit glühenden Eisen gefoltert worden und man hatte ihm keine Fingernägel ausgerissen. Zumindest bislang nicht.

Kälte konnte allerdings eine recht fiese Form der Folter darstellen, wie er inzwischen merkte. Er war kurz davor, nach einem der Männer zu rufen und alles Mögliche zu gestehen, wenn er dafür eine Decke bekam und sich an das Feuer setzen durfte.

Corryn riss an den Fesseln. Irgendwie musste er entkommen, bevor ihn der unleidliche Capten durch die Mangel drehte. Die entsprechenden Muskeln besaß er ja dafür. Zudem ein sehr markantes, anziehendes Gesicht. Und jetzt lag dieser gemeine Arsch in seinem warmen Zelt, während er selbst sich die Eier abfror. Plötzlich wurde er auf eine Bewegung in der Nähe aufmerksam. Während seine Zähne wie Kastagnetten klapperten, verfolgte er, wie mehrere Raben aus dem Unterholz heranhüpften. Die Vögel verschwanden hinter dem Baum, an dem er saß. Gleich darauf zupfte es an dem Seil. Die Raben mussten sich daran zu schaffen machen. Verblüfft verrenkte sich Corryn den Hals, um herauszufinden, was die Tiere in seinem Rücken taten. Irrte er sich oder halfen sie ihm gerade? Hackten sie tatsächlich auf die Stricke ein? Und aus welchem Grund taten sie es? Oder war das ihr typisches Verhalten? Raben galten als schlaue, neugierige Vögel. Hatte ihnen vielleicht jemand dieses Benehmen andressiert? Das würde weitere Fragen aufwerfen. Nach einem letzten leichten Ruck war er tatsächlich frei. Corryn unterdrückte einen Jubelschrei. Er konnte es kaum glauben. Langsam bewegte er die steifen Arme, stützte sich mit den Händen am Boden und am Baum ab, während er sich vorsichtig aufrichtete. Seine Muskeln schienen aus Eis zu bestehen, die Füße waren nahezu gefühllos. Trotzdem zwang sich Corryn, sie Stück für Stück in Richtung des Unterholzes zu bewegen und sich davonzuschleichen. Unweigerlich kam der gefürchtete Moment. Eine der Wachen drehte den Kopf und schaute zu ihm herüber. Für eine Sekunde starrten sie sich direkt an, dann sprang Corryn mit einem unbeholfenen Satz in den Wald und begann stolpernd zu rennen, während ein lauter Schrei erscholl.

„Der Gefangene flieht! Der Gefangene flieht!“

Ein Pfeil schlug hinter ihm in einen Baum, gegen den er in der Dunkelheit beinahe gerannt war.

„Scheiße!“

Corryn streckte tastend die Arme aus. Außerhalb des Feuerscheins war es stockdunkel. Barfuß und nackt würde er es nicht weit schaffen. Halb erfroren, wie er sich fühlte, kam er ohnehin kaum von der Stelle. Und ihm waren kampferprobte und an Strapazen gewöhnte Krieger auf den Fersen. Machte diese Flucht überhaupt einen Sinn? Mit einem Mal wurde der Wald lebendig. So jedenfalls kam es Corryn vor. Nachdem ein zweiter Pfeil sich dicht hinter seinen Füßen in den Boden grub, war die Luft voller Federn und Gekrächze.

Raben!

Es mussten Hunderte sein. Sie bildeten eine skurrile Mauer zwischen ihm und den Kriegern. Einige Vögel flatterten wie tiefschwarze Gespenster vor ihm auf und ab und wollten offenbar, dass er ihnen folgte. Sie waren nicht mehr als dunkle Schatten inmitten der Finsternis, aber Corryn tat ihnen den Gefallen und rannte ihnen hinterher. Wo hätte er auch sonst hinlaufen sollen? Den Worten seiner Häscher nach mussten sich hier irgendwo Normannen befinden. Und er wollte bestimmt nicht vom Regen in die Traufe geraten.

Die Raben führten ihn tiefer in den Wald, der Lärm des Ablenkungsmanövers und der fluchenden Männer blieb hinter ihm zurück. Schon bald war Corryn zerkratzt und die Zehen hatte er sich mehrfach angestoßen, doch wenigstens wurde ihm bei seiner Flucht ein bisschen wärmer. Dennoch war ihm klar, dass er raus aus der Nässe und der Kälte musste. Und er wollte nach Hause. In sein Jahrhundert. Wenn er bloß eine Ahnung hätte, wie er das anstellen sollte.

Äste und Zweige griffen wie feindliche Wesen nach ihm, und jeden Augenblick fürchtete er, auf eine dornige Ranke zu treten und nicht mehr weiterlaufen zu können. Panik drohte ihn zu verschlingen.

Es ist alles bloß ein Traum. Wenn du aufwachst, wirst du darüber lachen und es auf Professor Basseys Notizen und seinen Spleen von Cigfran ap Arawn schieben, versuchte er sich einzureden. Blöderweise war es ein sehr realistischer Traum, als er in ein weiteres Matschloch trat und mit den Füßen in eisiges Wasser eintauchte. Jetzt fluchte er nicht minder deftig als seine Verfolger, die er hoffentlich dank der Vögel abgeschüttelt hatte. Drei von den Raben flatterten ihm weiterhin voran und zeigten ihm die Richtung, die er einschlagen sollte.