Rapoto von Ortenburg - Klaus Rose - E-Book

Rapoto von Ortenburg E-Book

Klaus Rose

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Beschreibung

Das 12. Jahrhundert als Erlebnisroman und Rapoto Graf von Ortenburg als bedeutende Romanfigur, als Guide durch diese von zahlreichen Höhepunkten gesegnete Epoche der deutschen Geschichte - das ist die Zielsetzung des Autors Klaus Rose, seinerseits Historiker und Politiker um die Wende des 21. Jahrhunderts. Es geht dem Autor um die eigentlichen Highlights der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung, nicht um Sex and Crime im angeblich dunklen Mittelalter. Die Intrigen der Mächtigen spielen trotzdem ihre Rolle - sie wirken nämlich real und modern. Nur wenige greifbare Quellen beleuchteten bisher Rapoto, den altbayerischen Grafen aus der Dynastenfamilie der Spanheimer. Als einer der ersten beklagte diesen Umstand Richard Loibl, Direktor des Hauses der bayerischen Geschichte. Er urteilte trotzdem über Graf Rapoto, dass er "zu den fähigsten Territorialpolitikern seiner Zeit gehörte". Die Durchforstung der damaligen Herrschaftsentwicklung mit Hilfe des "Historischen Atlas von Bayern" ermöglichte dem Autor eine umfangreiche Neubewertung. Klaus Rose sieht seinen Romanhelden in Bayern als großen Mitspieler um die Macht, die er mit legalen Mitteln anstrebte. Als nachgeborener Sohn musste sich Rapoto seine eigene Grafschaft erarbeiten, begünstigt natürlich durch seine hohe Abkunft. Seine Familie saß schließlich auf dem Herzogsstuhl in Kärnten, auf zahlreichen Bischofsstühlen im Reich sowie im Zentrum der französischen Königsgeschichte - Rapotos Schwester Mathilde wurde durch Heirat im fernen Troyes zur Ahnfrau von Königinnen und Königen. Durch die Verbindung nach Troyes und in die Champagne, dem Zentrum der Kaufmannsmessen und der höfischen Dichtung, schwappte die Kunst des Minnesangs auch auf die Donau über. Rapoto machte sich zum Förderer der zeitgenössischen Kultur und ließ den Passauer Raum teilhaben, wo er als Graf und Vogt der Passauer Kirche segensreich wirkte. Im Roman erfährt dieser Aspekt seine besondere Würdigung. Schließlich erinnert noch heute die Ortenburg-Kapelle am Dom zu Passau an glanzvolle Zeiten.

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Inhaltsverzeichnis

Barbarossas Großer Hoftag

Der finstere Wald

Rapotos Erzählungen

Der Brautwerbungszug

Gerissene Königsmörder

Die Witwe des Gemeuchelten

Todesangst am Großglockner

Hochzeit in der Champagne

Der Teufelsfels

Jenseitssehnsucht

Die Schwertleite

Burgenbau und Grafenrechte

Der Generationenwechsel

Der Bruderzwist

Die hölzerne Brücke

Der missratene Kreuzzug

Der Graf als Vogt

Der neue Imperator

Die späte Vermählung

Der Grafenumritt

Brüderliches Erbe

Das höfische Fest

Requiescat

Epilog

Anhang

Liste der wesentlichen historischen Personen

Mittelalterliche Begriffe

Rapotos Familie

Die Spanheimer und ihr Einflussbereich

Bischofs- und Grafensitz Troyes an der Seine

Rapotos Besitzungen und Einflussbereich

Barbarossas Großer Hoftag

Mainz

Pfingsten 1184

„Wenn der Kaiser nicht zu uns kommt, reiten wir zu ihm.“

Rapoto Graf von Ortenburg stachelte seine Söhne an. Schelmisch fuhr er fort:

„Junge Grafen aus hochedlem Geschlecht, rüstet Euch!

Ihr, mein Erstgeborener, Rapoto genannt wie ich, und Ihr, Heinrich, genannt wie mein Lieblingsbruder und auch wie mein ältester Onkel, sollt unseren hehren Kaiser von Angesicht sehen. Er lädt die Großen des Reichs zu einem besonderen Hoftag nach Mainz. Da gehören wir dazu. Wir machen uns übermorgen auf den Weg. Auch ich möchte den Herrscher noch einmal von Angesicht zu Angesicht vor mir haben. Wir haben nicht bloß Scharmützel gegeneinander ausgetragen. Wir sind im Gegenteil mehrfach verwandt und ich habe den Kaiser wie seine beiden Vorgänger immer unterstützt, bis ich von ihm arg enttäuscht wurde. Aber ich stehe einem so weitreichenden Grafschaftsgebiet vor, dass ich mich mit allen messen kann. Vor allem bin ich nicht nachtragend.“

Schnell waren die beiden Brüder herbeigeeilt, als der Vater sie rief. Als sie hörten, was des Vaters Wunsch war, schauten sie sich stolz an.

„Was, wir dürfen erstmals zu einem Hoftag, wenn auch nur im Gefolge des Vaters? Wir können miterleben, welch bedeutende Größen von Kirche und Reich dort zusammentreffen? Natürlich legen wir unsere beste Kleidung an und nehmen die Ritterrüstung mit, also das Kettenhemd und den Lederhelm. Wir wollen gewappnet sein und sind neugierig, was wir erleben werden.“

Friedrich der Rotbärtige, seit 1152 römisch-deutscher König und seit 1155 Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, hatte wieder einmal zum Hoffest geladen. Von seinen vielen Italienzügen war er als „Barbarossa“ heimgekehrt, aber auch als ein nach zahlreichen, zum Teil brutalen Auseinandersetzungen unumschränkter Herrscher. Die übliche Streitlust der mittelalterlichen Fürsten untereinander und mit ihrem König verringerte sich inzwischen auf ein Mindestmaß. Der Hauptgegner und unangenehmste Leugner des Treueids zum König, Bayerns und Sachsens Herzog Heinrich der Löwe, war 1180 so entmachtet worden, dass keine Gefahr mehr von ihm ausging.

Es nahm daher nicht wunder, dass des Kaisers Einladung an die geistlichen und weltlichen Großen, aber auch an seine Gefolgsleute aus Schwaben und Franken, aus Bayern und Sachsen, aus Österreich und Böhmen, aus Burgund und Lothringen, auf breite Resonanz gestoßen war. Als feierlicher Anlass des Hoffestes zu Mainz galt die vorgesehene Schwertleite für die Kaisersöhne Friedrich und Heinrich. Der Kaiser wollte sich im Glanz seiner stattlich gewordenen Familie sonnen.

Von seiner ersten Ehefrau Adela von Vohburg im bayerischen Nordgau hatte er keinen Nachwuchs bekommen. Doch die zweite Frau nach der Scheidung, Beatrix von Burgund, hatte Macht- und Familienzuwachs erbracht. Dass der älter gewordene Kaiser eine Sechzehnjährige zur Frau gewinnen konnte, stärkte zusätzlich das Ansehen. Wenn ein solcher Herrscher einlud, so dachte jeder, musste man unbedingt dabei sein.

Zu Pfingsten im Jahre des Herren 1184 trafen Zehntausende von Gästen in Mainz ein. Nicht bloß der Einladende wollte Protz und Prunk zeigen, auch die Eingeladenen gaben ihr Bestes. Die Größe des Gefolges sollte beweisen, wie einflussreich und wohlhabend jeder war. So kam es, dass die sechs Erzbischöfe, neunzehn Bischöfe, die zwei Reichsäbte und neun Herzöge, die vier Markgrafen und drei Pfalzgrafen, der Landgraf von Thüringen, viele Grafen und die riesige Zahl der kaiserlichen Ministerialen wetteiferten, wer den größten Tross mitgebracht hatte. Beim Erzbischof von Mainz glaubte man etwa tausend Ritter zu zählen, beim Erzbischof von Köln nahezu das Doppelte. Herzog Friedrich von Böhmen aber schien die weitaus größte Unterstützerschar auf die Beine gestellt zu haben.

Doch Ulrich, der Herzog von Kärnten, hatte nicht erscheinen können. Er war als Fünfjähriger 1181 seinem verstorbenen Vater, Herzog Hermann, nachgefolgt und stand deshalb noch unter der Vormundschaft seines Onkels, des Babenberger Herzogs Leopold von Österreich. Dieser aber hatte, wohl aus anhaltender Verärgerung über die Erhebung der Mark Steyr zu einem selbständigen Herzogtum, nur etwa fünfhundert Begleiter aufbieten wollen. Ulrichs Großonkel Rapoto aber, Graf von Ortenburg, war mit mehr als zweihundert Gefolgsleuten in Mainz anwesend. Er wollte seine ganze Macht zeigen.

Graf Rapoto hatte seit Jahren Stützpunkte und Burgen zwischen Passau und Eggenfelden aufgebaut und von seinem 1173 verstorbenen Bruder, dem langjährigen Markgrafen Engelbert von Istrien, die Grafschaft Kraiburg und Marquartstein im Chiemgau mit zahlreichen Ministerialen übernommen. Diesseits und jenseits des mittleren Inn, an Donau, Vils und Rott, vom Watzmann bis zum Fichtelgebirge, reichte seine Herrschaft, herausgefordert nur von wenigen. Die Erzbischöfe von Salzburg waren Partner und Rivalen, die Bischöfe von Bamberg, Passau und Regensburg ebenfalls. Mit den Grafen von Wasserburg hatte sich Graf Rapoto arrangiert, die Grafen von Vornbach hatte er überlebt. Nur die Grafen von Bogen und die Wittelsbacher griffen ihn immer wieder an. Letztere hatten beim Kaiser dafür gesorgt, dass der Markgrafentitel von Istrien nach dem Tod Engelberts 1173 dem Andechser Geschlecht übereignet worden war.

Obwohl ihn das geärgert hatte, wusste Rapoto doch: er befand sich jetzt auf dem Höhepunkt der persönlichen Macht. Seit der Verehelichung mit Elisabeth von Sulzbach besaß er den zusätzlichen Grafentitel von Murach. Seine Familie der Spanheimer und deren angeheiratete Verwandte saßen in ganz Europa auf Fürstenthronen. Sogar für Barbarossas vierten Sohn Otto, geboren 1170, sah der Kaiser die Ehe mit einer Verwandten Rapotos vor. Margarete von Blois, die Enkelin von Rapotos Schwester Mathilde und des Grafen Theobald des Großen, sollte für dynastische Verflechtungen im Westen des Reichs und im Osten Frankreichs sorgen. Es gab also Gründe genug, dass der mehrfache Graf Rapoto die Nähe des Kaisers in Mainz suchte. Zu seinen heranwachsenden Söhnen hatte er gesagt:

„Ich selbst bin schon betagt, aber Euch zuliebe nehme ich die beschwerliche Reise nach Mainz nochmals auf mich. Ihr seid im richtigen Alter, zum Ritter geschlagen zu werden und einen Teil der Welt kennenzulernen. Wir schaffen es bestimmt, in die Nähe des Kaisers zu gelangen und sein Wohlwollen zu erhaschen. Ich weiß aus meinem eigenen Leben, was es bedeutet, gefördert und nicht bestraft zu werden. Das Reiten macht Euch Spaß, während ich mir das Vergnügen eines Gefährts leiste. Mainz ist stets eine Reise wert. Wie ich hörte, lässt sich Kaiser Barbarossa die Bewirtung seiner Gäste einiges kosten. Da könnt Ihr so richtig zulangen und Erlesenes vernaschen, was es sonst nicht alle Tage gibt. Außerdem lernt Ihr höchstinteressante Menschen kennen.“

Als Graf Rapoto mit seinem Gefolge in der Nähe von Mainz ankam, wurde er auf die rechte Rheinseite dirigiert, wo auf Anweisung des Kaisers zahlreiche Zelte aufgeschlagen worden waren. Der kaiserliche Hof hatte auch einige Holzgebäude errichten lassen. Schon von Ferne sah alles prächtig aus, die unterschiedlich gefärbten Zelte und die Versorgungskarren, die Lebensmittel im Überfluss herangeschafft hatten. Dazu kamen die verschiedenartig gekleideten Menschen, manche in teuerste Seidengewänder gehüllt, andere in der Ritterrüstung glänzend. Auch die Pferde waren prächtig geschmückt, die Kutschen massiv gebaut. Es war aber nicht einfach, die passende Unterkunft zu finden. Doch die Erfahrung mit großen Ritterheeren auf den Italienzügen oder auf den Kreuzfahrten erwies sich als nützlich. Der ältere Sohn Rapoto nahm seinen Bruder Heinrich beiseite und stöhnte:

„Oh Gott, wo sind wir da hingeraten. Wenn wir das alles überstehen, gehören wir tatsächlich zur Elite des Reichs. Aber aller Anfang ist eben schwer. Halte dich stets an meine Seite, damit du nicht verloren gehst.“ Der junge Heinrich blieb stumm vor Ergriffenheit.

Die nächsten Tage und vor allem den Pfingstsonntag erlebten Graf Rapoto und seine Söhne mit zunehmendem Vergnügen. Sie erfuhren von Wundergeschichten über den großen Herrscher und über dessen Pläne für die nächsten Jahre. Als sie dann am Pfingstsonntag das Herrscherpaar erblickten, wie es gebührlich die Kaiserkrone trug, während der bereits zum König bestellte junge Sohn Heinrich die Königskrone aufgesetzt hatte, schlug ihr Herz höher. Das abendliche Bankett genoss wiederum der Vater, da er endlich wieder guten Rheinwein eingeschenkt bekam. Er hielt sich aber zurück, sobald er bemerkte, genug zu haben.

Am Pfingstmontag war der große Tag der Schwertleite. Die Kaisersöhne wurden feierlich mit dem Schwert umgürtet. Das war eine prächtige Zeremonie, als der Kaiser persönlich, mit der Kaiserkrone auf dem Haupt, den Ritterschlag vornahm. Zum ritterlichen Kampfspiel hatte man aber die Losung ausgegeben, ohne schwere Waffen anzutreten. Es genügte den Rittern, ihre Schilde, Lanzen und Banner ohne gefährliche Vorstöße zu zeigen. Man konnte trotzdem durch Reitkünste glänzen oder durch eine elegante Figur beeindrucken. Sogar der Kaiser hatte seinen prächtigen Schild gezeigt, wobei der junge Heinrich von Ortenburg, der ziemlich nahe gekommen war, von der durchschnittlichen Größe des Herrschers enttäuscht war. Er hatte sich Barbarossa wegen der Erzählungen fast als Riesen vorgestellt.

Nicht enttäuscht gaben sich alle über den Ablauf der Feierlichkeiten. Das Mainzer Hoffest verkörperte die Welt der schon längst gültigen höfischen Werte. Die ritterliche Kampfgemeinschaft hatte auch Barbarossas militärische Erfolge beflügelt. Jetzt kam es darauf an, dass Barbarossas Söhne sowie die vielen anderen, die ebenfalls an der Schwertleite teilnahmen, demselben Wertekanon verpflichtet wurden. Alle Teilnehmer am Mainzer Hoffest sollten Treue zur Herrscherfamilie manifestieren. Deshalb hatte man erstmals eine Massenpromotion der zum Ritter geschlagenen jungen Adligen des Reichs organisiert. Auch Rapoto und Heinrich von Ortenburg erhielten feierlich ihren Ritterschlag. Sie wie die anderen ergriffenen Ritter sollten diesen Pfingstmontag nie vergessen. Trotz aller inneren Bewegung hatte der ältere, Rapoto, aber auch manchen Blick erhascht. Ihm gefielen die rassigen Schönheiten, die die Gelage bereicherten oder an so manchem Stand Waren anboten. Mehr als ein Blick geziemte sich allerdings nicht, das wusste der junge Graf.

Graf Rapoto von Ortenburg hatte beim Kaiser auch nochmals in seiner eigenen Sache vorfühlen lassen. Er hatte nämlich mitbekommen, dass Graf Balduin von Hennegau an der westlichsten Grenze des Reichs die Rangerhöhung zum Markgrafen anstrebte und dazu seine eigenen Besitzungen und bald zu erwartenden Reichslehen seines siechen Onkels, des erblindeten Grafen Heinrich von Namur und Luxemburg, dem Kaiser anbot, damit dieser den vergrößerten Bereich dem neuen Markgrafen als Reichslehen zurückübergeben konnte. Beide hätten eine Aufwertung gehabt, der Kaiser das vergrößerte Reichslehen und der neue Markgraf die gesteigerte Ehre. Die einflussreichen Berater des Kaisers, darunter Graf Heinrich von Diez, welcher auch schon in Kärnten und in der neuen Steiermark vermittelt hatte, oder Kanzler Gottfried, der spätere Bischof von Würzburg, hatten vorgearbeitet. Graf Balduin durfte bei der Pfingstprozession dem Kaiser das Schwert vorantragen und in den Reiterspielen die Lanze Barbarossas halten. Der Kaiser hatte allerdings auch Schlimmes im Schilde. Mit der Erhöhung Balduins wollte er seinen früheren Kanzler und Kölner Erzbischof, Philipp von Heinsberg, öffentlich bestrafen. Dieser hatte sich nämlich bei kriegerischen Scharmützeln in Flandern auf die falsche Seite geschlagen.

Graf Rapoto hatte jedenfalls, wenn auch etwas kurzfristig, seine wohl letzte Chance zum glanzvollen Titel nutzen wollen. Als Spanheimer gehörte er zwar zum höchsten Adel, aber eine besondere Urkunde des Kaisers mit Bestätigung der alten Reichslehen, wozu er sein gesamtes Eigengut zählen wollte, und der daraus abgeleitete Rechtstitel sowie die Regalien, also Einnahmen aus Zoll, Münze, Märkten und Gerichten oder auch Stadtgründungen, wie sie beispielsweise Heinrich der Löwe praktiziert hatte, hätten ihm eine zusätzliche Aufwertung eingebracht. In seiner Familie waren oftmals höchste Titelwürden vorgekommen, sein Vater und sein ältester Bruder waren Herzöge in Kärnten geworden. Da Rapotos Besitz inzwischen vom alten Nordgau bis zum Erzbistum Salzburg reichte, wäre ein entsprechender Reichstitel passend gewesen. Territorial betrachtet war Rapotos Besitz im alten Bayern umfangreicher als der Besitz der Welfen oder auch der Wittelsbacher. Wenn schon der Griff nach der bayerischen Herzogswürde unerfüllt geblieben war, weil kurz zuvor des Kaisers engster Gefolgsmann, Graf Otto von Wittelsbach, mit dem Herzogtum Bayern belehnt worden war, so sollte doch mit einer anderen Auszeichnung der langjährigen Kaisertreue der Vertreter des Geschlechts der Spanheimer Rechnung getragen werden.

Die einfachste Möglichkeit wäre einst gewesen, so dachte Graf Rapoto immer wieder, den angestammten Markgrafentitel von Istrien zu erben. Da hatte sich der Kaiser aber anders entschieden. Besonders im Jahr 1180 hatte sich zusätzlich viel verändert. Denn neben dem neuen Herzog von Bayern, Otto von Wittelsbach, war auch die Markgrafenwürde in der Steiermark zur Herzogswürde erhoben worden. Es gab also durchaus alle möglichen Neubenennungen. Jetzt war denkbar, einen anderen Markgrafentitel oder einen nicht unmittelbar mit einem Territorium verbundenen Herzogstitel zu vergeben. Ähnliches war auch schon üblich geworden, beispielsweise beim Zähringergeschlecht und der Aufspaltung bisherigen Territoriums in Schwaben. Man hätte also auch das Herzogtum Bayern nach der Entmachtung des Welfenherzogs verändern können – der Wittelsbacher als Herzog von Bayern, der Markgraf von Steyr als neuer Herzog der Steiermark und der Spanheimer Rapoto als Titelherzog über seine großen Besitzungen, die sowieso jenen der Wittelsbacher überlegen waren. Außerdem hörte man vom Andechser Berthold, einem Neffen des neuen bayerischen Herzogs, dass er neben dem Titel Markgraf von Istrien auch noch den Ehrentitel eines Herzogs von Meranien bekommen sollte. Wegen des möglichen neuen Markgrafen Balduin von Hennegau hatte Graf Rapoto in Mainz zu seinen Söhnen gesagt:

„Schaut Euch diesen Grafen genau an. Der hat seine Grafschaft weit im Westen, ganz nah an der Grafschaft Champagne, welche schon dem französischen König lehenspflichtig ist. Ihr habt doch mitbekommen, als ich mit Eurer Mutter vor drei Jahren in die Champagne reiste, dass dort die Nachkommen meiner geliebten Schwester Mathilde herrschen. Sie sind seit kurzem durch Ehen mit den Hennegauern verbunden. Eigentlich müsste Graf Balduin beim Kaiser bewirken, dass nicht bloß ihm, sondern auch mir ein Markgrafentitel zusteht. Ich habe stets Treue gezeigt, während der Graf von Hennegau seine Tochter mit dem jungen König von Frankreich verbunden hat. Unser hehrer Kaiser sorgt sich seither, dass die westlichste Grafschaft Hennegau seinem Reich genauso wie Flandern verloren gehen könnte.“

Rapotos junge Söhne verstanden noch nicht alles. Sie wussten auch nicht, wo die erwähnten Grafschaften lagen. Dass aber ihr Vater verstimmt war, weil der Kaiser nur unverbindlich mit ihm umging, während er andere mit höchsten Würden ausstattete, verstanden sie durchaus. Die politischen Zusammenhänge durchschauten sie allerdings nicht.

Graf Rapoto hatte einst gespürt, dass er durch die Heiratsverbindung mit Elisabeth von Sulzbach dem territorial denkenden Kaiser ins Gehege gekommen war. In seinem inzwischen über siebzigjährigen Erdenleben hatte Rapoto manchen Streit überlebt, mit den Grafen von Bogen oder von Vornbach, den Bischöfen von Passau oder von Bamberg oder eben auch mit den Staufern selbst. Sein älterer Bruder Engelbert, einst Markgraf von Istrien und Graf von Kraiburg, hatte schon vor gut vierzig Jahren die junge Gräfin Mathilde von Sulzbach geheiratet, leider aber keinen Nachwuchs bekommen. So griff deren Bruder, Graf Gebhard, neben seinem Besitz im Nordgau und den Bamberger Lehen an der Donau auch nach manchen Gütern im Chiemgau. Gebhards Vater Berengar von Sulzbach hatte schon um das Jahr 1105 die Klöster Berchtesgaden und Baumburg gegründet, alles auf altem Sieghardinger Grund. Denn Berengars Vater, Graf Gebhard I. von Sulzbach, hatte durch seine Ehe mit Irmgard von Rott vor rund hundert Jahren deren Witwengut aus der Verbindung mit dem früheren Sieghardinger Grafen Engelbert erhalten. Die Sieghardinger, ursprünglich aus dem rheinfränkischen Kraichgau stammend, hatten sich im ganzen Alpenland ausgebreitet. Auch Graf Rapoto entstammte von der Urgroßmutter her einer Linie der Sieghardinger.

Die ständigen Territorialgelüste verschiedener Adliger, besonders der Sulzbacher, hatte aber auch die Staufer auf den Plan gerufen, zumal eine Schwester Gebhards, Gräfin Gertrud von Sulzbach, mit dem Staufer Konrad III. verheiratet gewesen war, dem Vorgänger Barbarossas. Der Kaiser kannte sich im Machtkampf stets gut aus.

Das Mainzer Hoffest war also überladen mit vielerlei Problemen und Wünschen, mit denen der Kaiser halbstündlich konfrontiert wurde. Sogar der entmachtete Heinrich der Löwe hatte ein Gnadengesuch gestellt, war aber an der Ablehnung der Fürsten gescheitert. Auch ein bizarrer Sitzstreit hatte die festliche Veranstaltung überschattet. Als sich nämlich am Pfingstsonntag alle Großen zur Messe versammelten, wollten den Regeln gemäß der Erzbischof von Mainz rechts vom Kaiser sitzen und der Erzbischof von Köln links. Letzteren Platz beanspruchte aber auch Abt Konrad von Fulda, angeblich nach einem überlieferten Recht, dass bei Hoftagen in Mainz der Vorsteher des im Erzbistum Mainz gelegenen Reichsklosters Fulda dort Platz nehmen durfte. Fast hätten die Streithähne und ihre Gefolgsleute zum Schwert gegriffen, hätte nicht Barbarossas Sohn, König Heinrich, geistesgegenwärtig Erzbischof Philipp von Köln umarmt und diesen damit seiner besonderen Wertschätzung vor aller Augen versichert. Die Ungnade Barbarossas gegenüber dem Kölner war dadurch abgeschwächt, eine Verstimmung auf allen Seiten war aber zurückgeblieben.

Graf Rapoto hatte bei der langen Anreise nach Mainz zu seinen Söhnen auch gesagt:

„Ich kann bestimmt keine schnelle Entscheidung des Kaisers erwarten. Dessen wichtigste Berater sollten nur das gerechte Begehren notieren, auch meine zusätzliche kleine Bitte um Gewährung eines eigenen Reitersiegels. Unsere Familie hat seit Jahrzehnten im Dienste des Reichs und der Kirche gewirkt und verdiente sich, wie man hörte, unschätzbare Anerkennung. Ich lasse mich nicht wie irgendeinen der plötzlich neu auftauchenden Grafen behandeln, sondern als Vertreter eines alten Hochadelshauses. Das Geschlecht der Spanheimer, in Kärnten inzwischen schon in der vierten Generation auf dem Herzogsstuhl, muss ebenbürtig leuchten mit Babenbergern, Staufern, Welfen oder Zähringern, sollte vor allem dem Emporkömmling Wittelsbach mehr als gleichgestellt sein. Das bin ich auch Euch schuldig, meinen geliebten zwei Söhnen.“

Zu diesen hatte der Vater dann in Mainz geäußert:

„In einigen Tagen wird in der nahen Kaiserpfalz Ingelheim ein großes Turnier abgehalten. Wir freuen uns schon darauf. Ich habe einen Wink bekommen, dass mich unser werter Herrscher empfangen wird. Ich traf ihn schon häufig. Meist verliefen unsere Begegnungen in gegenseitigem Respekt. Unsere Familien waren immer ebenbürtig. Wie die Staufer am Rhein, so waren auch die Spanheimer in Kärnten zu Herzögen aufgestiegen. Sie standen auch immer auf der Seite der Staufer, seit diese die Königswürde erstrebt hatten. Ich hoffe, mein Lebensziel der zusätzlichen Rangerhöhung doch noch erreichen zu können.“

Die jungen Grafen hatten dem Vater eifrig gelauscht. Sie verspürten tiefes Verständnis, dass dieser im Alter von mehr als siebzig Jahren eine letzte große Anerkennung verdient hatte. Doch sie hielten sich mit Äußerungen zurück. Lediglich Rapoto, der ältere Sohn, legte seine Hand auf des Vaters Arm und drückte diesen.

Dann passierte aber am Pfingstdienstag etwas Seltsames. Über den Turnierort in Ingelheim fegte ein schweres Unwetter hinweg. Es riss Häuser und Zelte mit sich. Ob man das Geschehen als Wink Gottes auffassen musste, spielte keine Rolle. Das Fest wurde abgesagt. Die meisten Reichsfürsten machten sich vorzeitig auf die Heimreise, auch die Delegation der Ortenburger. So wichtig war dem Grafen Rapoto die kaiserliche Huld jetzt auch wieder nicht.

Zu Hause auf der heimischen Burg angekommen, fühlte Graf Rapoto erstmals seit langer Zeit wieder so etwas wie Zufriedenheit. Der Anblick des prächtigen Gebäudes auf dem Sporn oberhalb der Wolfach gab ihm das Gefühl der Größe. Natürlich musste er sich von den Strapazen der Reise länger als früher erholen. Doch der Stolz auf seine beiden Söhne, auf seinen Besitz und auf sein bisher Erreichtes ließ ihn nicht mehr ins Grübeln kommen. Dieser Stolz verführte lediglich zur Erinnerung an ein aufregendes Leben. Dieses war von Anfang an wild und erfolgreich, aber auch mit gewaltigen Herausforderungen belastet. Dieses wilde Leben hatte schon bei einem Ausritt vor Jahrzehnten begonnen.

Damals bedeckte dichter Wald das Land. Graf Rapoto erinnerte sich an das Geschehen wie am ersten Tag. Er hatte als junger Grafensohn von Kraiburg und Marquartstein mit seinem Vater, dem Markgrafen Engelbert, die Heimat seiner Mutter Uta aufgesucht. Bei Vertretern der Familie, welche als Edelfreie die ehemalige Grafschaft Geisenhausen auf dem Sitz Haarbach an der Vils verwalteten und vom Markgrafen auch an die Wolfach gelotst worden waren, hatte es eine Unterkunft gegeben. Diese Herren von Haarbach saßen nahe an anderen entfernten Verwandten, die einst dem Burggrafen Ulrich von Passau gedient hatten, nach dessen unerwartetem Tod aber manche Vogtei und vor allem die Besitzrechte auf dem ehemals kirchlichen Gebiet um Steinkirchen an der Wolfach an sich gerissen hatten. Sie nannten sich nach ihrer Heimat Cham am Regen, aber auch nach anderen Sitzen, an denen sie sich abwechselnd aufhielten. Markgraf Engelbert war mehr oder weniger an der Wolfach willkommen. Der junge Rapoto aber ritt dort in Haarbach gerne aus. Ein besonderes Geschehen hatte sich ihm eingeprägt. Er erzählte dieses spannend wie am ersten Tag.

Der finstere Wald

Steinkirchen

im Jahr 1120

„Ja“, betonte Graf Rapoto später bei jeder Gelegenheit, „das lief damals an der Wolfach genauso ab wie ich es jetzt zu Gehör bringe. Lauschet!“

Nach einer kurzen Erinnerungspause fuhr er fort, dabei sich selbst als einen leichtsinnigen Reiter beschreibend:

„Also, höret, plötzlich schnaubte Tassilo. Seine Nüstern zitterten. Ehe sein Reiter die Zügel enger ziehen konnte, wuchtete sich das Pferd auf den Hinterbeinen hoch. Seine starken Muskeln traten hervor. Der Reiter spürte einen Schlag auf den Hinterkopf. Er schrie kurz auf. Doch es war nur ein dicker Ast, der in die Quere gekommen war. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Was hatte Tassilo derart in Angst versetzt? Hatte ihn eine Hornisse gestochen oder eine Schlange erschreckt?“

Graf Rapoto merkte, wie die Zuhörer gespannt zu lauschen begannen.

„Nein, es war keine Schlange“, fuhr er fort, „im dichten Untergehölz verschwanden zwei kleine Tiere. Es ging alles so schnell. Tassilo wieherte erneut. Da brach aus dem Gehölz ein gewaltiges Wildschwein hervor. Das Pferd schlug instinktiv mit den Vorderhufen dagegen und verlor beinahe das Gleichgewicht. Der Reiter aber hing auf der dem Ungeheuer entgegengesetzten Seite am Pferd herab und hielt sich nur mühevoll am Sattel fest. Als er das wilde Tier bemerkte, wusste er, dass dieses bestimmt nicht allein den Angriff wagte. So kraftvoll es ging, schnappte er nach den Zügeln und riss Tassilo herum. Mit einer Rotte von Wildschweinen wollte er es auf keinen Fall aufnehmen. Im finsteren Wald gab es nur eine Rettung, und die hieß Flucht.

Ja, es ging tatsächlich alles sehr schnell. Der Reiter merkte gar nicht, dass er seinen breiten Hut verlor und mit seinem Bogen an einer Buschspitze hängen blieb. Sei’s drum, dachte er dann, obwohl er sich unbehütet fühlte. Ich kann ja wiederkommen und nach meinen Sachen suchen. Doch jetzt galt die wenig tapfere Devise „Nichts wie weg“. Ohne Bogen gab es auch keine Abwehr. So lange er auf dem Rücken des Pferdes sitzen konnte, war alles zu retten. Doch wo war der Waldweg?“

Graf Rapoto steigerte sich jetzt selbst in seine Erinnerungen. Er klopfte sich an die Brust:

„Jetzt rächte sich, liebe Zuhörer, dass der jugendliche Leichtsinn damals die Oberhand gewonnen hatte. Der Reiter namens Rapoto, das war also ich, hatte sich selbst beweisen wollen und hatte sich von seinem kleinen Trupp entfernt. „Vielleicht finde ich ein junges Schwein und kann es einfangen“, hatte er sich gedacht.

Mit einem Jagdspieß hatte er sich nicht bewaffnet. Der Jungmann war erst zwölf Jahre alt. Natürlich hatte er die körperliche Ertüchtigung geliebt, das Laufen, Jagen, Speerwerfen.

Im Umfeld seines Vaters betätigten sich manche tapferen Kämpfer, die schon Schlachten durchlebt hatten. Ihnen war es ein Anliegen, den jungen Grafen mit gewissen Techniken vertraut zu machen. Dieser gab sich gelehrig. Manchmal rief er „Nochmal“, wenn er den Speer gut geschleudert hatte. Sein Körperbau wurde immer kräftiger. Trotzdem brauchte alles seine Zeit, auch das Reifen zum Mann. Der junge Reiter befand sich an der Schwelle vom Knaben zum Jüngling.“

Graf Rapoto fragte an dieser Stelle immer, ob er noch weiter erzählen solle. Stets vernahm er die Antwort:

„Ja, bitte, bitte, fahrt fort. Das ist wirklich alles spannend.“ Das tat er dann, indem er seine Stimme senkte.

„Hört mir zu“, sagte er, „obwohl es noch hell am Tage war, wusste der junge Reiter damals im dichten Wald bald nicht mehr weiter. Jetzt drohte die Gefahr, dass ihn nicht bloß ein massiges Wildschwein und dessen Rotte verfolgten. Er begann zusätzlich zu fürchten, er werde nicht mehr ernst genommen, weder von seinen Reitgenossen noch von seinen Geschwistern. Wenn die erführen, dass er vor einem Wildschwein Reißaus genommen hatte, würden sie ihn vielleicht bemitleiden. Dass er aber ohne seinen herrschaftlichen Hut und ohne seinen kräftigen Bogen nach Hause kommen müsste, würde ihm auch die Schelte des Vaters bescheren. Er hatte sich nämlich nicht an die Regeln gehalten.

Damals, am Wildbach nahe der Burg am Inn“, der Erzähler hob jetzt wieder seine Stimme,

„sah ihn sein Vater auch nicht gern. Er wollte an diesem Bach doch bloß Forellen fangen und nicht hineinfallen. Doch plötzlich war es geschehen. Triefend nass zog ihn sein Begleiter aus dem Wasser und brachte ihn auf die Burg. Dummerweise stand sein Vater nahe am Tor und begann zu schimpfen.

Und heute, was mache ich bloß, dachte der junge Mann erschrocken.

Dem Schwein tapfer in die listigen Augen geschaut, redete er sich schnell Mut zu.

Als der Reiter also bemerkte, dass sich auch Tassilo beruhigt hatte, ging es ihm schon wieder besser. Sein Pferd war ebenfalls noch jung, er hatte es vor einem knappen halben Jahr von seinem Vater geschenkt bekommen, als dieser von einem Aufenthalt an einer fernen Küste zurückkam. Das Pferd war ein Geschenk, weil der junge Herr ungewöhnlich früh stramm im Sattel saß.“

Fast wörtlich hatte Graf Rapoto immer wieder seine Erinnerung hervorgekramt. Er hatte sich längst angewöhnt, in der „Er-Form“ von sich zu sprechen. Das hielt er für passender, auch für spannender, vor allem aber für schützender. Von sich selbst so dramatisch zu berichten, hielt er für nicht bescheiden genug. Sich aber als Erzähler eines gewissen Reiters zu betätigen, galt ihm als höfisch-zeitgemäß. Er hatte längst von den Troubadouren gehört, welche Geschehnisse von edlen Menschen in Reime gossen oder auch mit sanften Melodien ummalten. So stellte er sich auch seine Erzählungen vor und so geriet er immer wieder in den Mittelpunkt, auch schon, als er als noch junger Mensch Geschichten vortrug. Sein Reit-Erlebnis fand daher die sanfte Fortsetzung:

„Oft hatte der Reiter mit Tassilo geredet, seinen schön gewölbten Hals getätschelt, seine großen Nüstern leicht gestreichelt. Er freute sich immer, wenn das Pferd seine Liebkosungen erwiderte und ihn mit seinem wunderschönen, feinen Kopf anstupste. Er hatte dem jungen Hengst einen besonderen Namen geben wollen und war auf Tassilo gekommen. In seiner Familie wurden nämlich oft und gern Geschichten aus alten Zeiten und aus fernen Gegenden erzählt. Der Name Tassilo hatte es dem jungen Reiter schon immer angetan. Ob der Name zu einem arabischen Vollblut passte, war ihm egal. Es musste nur gut traben und vor allem galoppieren können. Denn der junge Reiter schwang sich gern in den Sattel.

Der leichtsinnige Reiter, also ich, war ja auch nicht irgendein junger Mann. Wer auf einem Pferd reiten durfte und einen rot-grünen Hut auf dem Haupte trug, gehörte einer herrschaftlichen Familie an. Wir schrieben das Jahr 1120. Der Reiter war ausersehen, in große Fußstapfen zu treten. Doch jetzt, beim Rückzug aus dem Wald, schien die Welt recht klein zu sein. Erst musste die Schmach der Flucht überstanden werden, dann konnte man sich wieder zu Größerem aufmachen.

Aufmerksame Augen suchten damals also die verlassenen Reitgenossen. Da, ganz plötzlich, vernahm der Reiter ein Pferdewiehern. Auch Tassilo reagierte freudig. Auf einer kleinen, erst vor kurzem angelegten Lichtung standen drei Pferde. Auf ihnen saßen junge Männer, die schelmisch lachten. Ihre Namen lauteten Konrad, Wernhard und Luitpold. Obwohl sie mit dem Reiter, einem Grafensohn, nicht ebenbürtig standen, liebte dieser ihre oftmalige Gegenwart. So manchen Streich hatten sie miteinander ausgeheckt. Konrad und Wernhard waren die Söhne von Vasallen, Luitpold aber Sohn des Mundschenks vom Vater des Reiters.

„Unser Herr, wo ward Ihr verblieben?“ Diesen Begrüßungssatz konnte der junge Reiter ertragen. Ehe ihm weitere unangenehme Fragen gestellt werden konnten, gab er Tassilo die Sporen und rief den anderen zu:

„Mir nach. Auch ohne meinen Hut habt Ihr mich erkannt. Das lässt mich hoffen.“

Sie stutzten, wagten aber nicht, irgendwelche Fragen zu äußern. Im schnellen Trab suchten sie die heimische Unterkunft auf. Der Reiter streichelte dort seinen Liebling nochmals.

„Danke, mein Lieber, das hast du heute gut gemacht“, flüsterte er. Dann übergab er Tassilo einem Stallknecht, damit dieser das Pferd noch weiter bewegte. Es war immer noch unruhig. Da der Vater des Reiters längst zu einer fernen Amtshandlung aufgebrochen war und keine unangenehmen Bemerkungen machen konnte, war das Erlebte also schnell vergessen. Der Reiter aber sagte zu sich: „Mein Tassilo und ich haben fein gehandelt. Weder Wildschwein noch garstiger Feind können uns etwas anhaben. Doch mehr wappnen muss ich mich schon.“

So oder so ähnlich hatte Graf Rapoto immer wieder seine Geschichte mit Tassilo und dem Wildschwein vorgetragen. Sie hatte sich am Rande eines tiefen Waldes abgespielt. Rapoto beschrieb deshalb begeistert auch den Wald.

„Der Forst“, so gab er sich altklug, „er war riesig und nur von einem einzigen schmalen Weg durchzogen. Dieser führte von West nach Ost und lief die Höhen über einem breiten Strom entlang. Es handelte sich um die uralte Donau, die von ungezählten Völkerscharen als Transportmittel genutzt worden war. Einfach war das nie, denn nicht selten ragten Felsbrocken aus dem Fluss. Ein andermal führte er reißendes Hochwasser mit sich und zwang die Reiter und Fuhrleute, auf die Anhöhen hinauf zu streben oder einen großen Umweg zu planen. Das mussten sie schon zwanzig Kilometer vor der Kaiserpfalz Passau tun, denn auf der rechten Flussseite versperrte ein gewaltiges Felsmassiv das Weiterkommen. Auch auf der linken Donauseite war es unwirtlich, da der große Nordwald immer noch undurchdringlich wirkte. Auf der rechten Seite aber war es immer ein Abenteuer, den schnell wuchernden Wald zu überwinden.

Dort also, wo der junge Rapoto sein Wildschwein-Erlebnis durchmachte, hatte der Wald noch keinerlei Verbindungswege zugelassen. Nur die kleine Lichtung, sie war von Menschenhand geschaffen. Bis zu ihr gab es einen schmalen Landweg. Auf diesem hatten die vier jungen Männer schon mehrmals Reitübungen veranstaltet. Sie wussten eigentlich, dass man vom Waldweg nicht abweichen sollte. Denn wie man ihnen immer wieder eingeschärft hatte, hätte man auch mit einem Pferd bald einen halben Tag unterwegs sein müssen, um das andere Ende des Waldes und die große Burg zu erreichen. Mit den dortigen Burgherren hatte es aber immer wieder Streit gegeben. Es war also besser, am südwestlichen Rand des Forstes zu bleiben. Es reichte ja, vom Herrschaftssitz eines Gefolgsmannes des Vaters aus etwa hundert Meter hinab zur Wolfach zu reiten, dem Bächlein zu folgen, nach einer knappen halben Stunde auf die rechte Seite des Flüsschens zu schwenken und die steinerne Laurentiuskirche aufzusuchen, die dort seit Menschengedenken zum Gebet und zum Dienen vor Gott einlud. Das spritzige Überqueren des Wassers brachte stets Jubelschreie ein.

Der Große Wald hatte eine große Geschichte. Wie alle Waldgebiete der Nachrömerzeit gehörte er dem obersten Herrscher. Seine Nutzung stand allein dem Herzog oder König zu. So erhielt er sich als Königsgut über mehrere Jahrhunderte nahezu unberührt. Majestätisch schweigend boten Tausende von Baumriesen ihre starken Kronen zum Schutz vor Sonne, Schnee und Sturm. Nur der Bischof von Passau hatte einen stadtnahen Forst geschenkt bekommen, den er gerne zur Jagd nutzte. Auch die in der Nähe beheimateten Grafen von Vornbach, die als zunächst treue Gefolgsleute des Kaisers galten, hatten sich immer mehr Teile des Waldes angeeignet. Bald sprach man nicht mehr vom Passauer Hart. Die Bezeichnung Neuburger Wald spielte sich ein. Ab der Regierungszeit von Kaiser Heinrich, welcher Bamberg besonders förderte und auch mit Gütern im Rottachgau beschenkte, dessen Hauptsitz einst Passau war, erduldete der Forst immer mehr Verwundungen. Ab dem Jahr Eintausend nach Christus war nämlich die Zeit des Rodens und landwirtschaftlichen Nutzens gekommen. Lichtungen entstanden, neue Verbindungswege, Hofstätten und Äcker. Die neuen Hintersassen durften zum Hausgebrauch Holz schlagen. Auch ein neugegründetes Kloster unten an der Inn-Enge bei Vornbach hatte zunehmenden Holzbedarf. Diesem Kloster waren landwirtschaftliche Güter beigegeben, Gärten, ein Meierhof und eine Mühle. Die Mönche erhielten das Recht, Holz zu fällen. Sie durften auch eine Schweinemast im Wald betreiben. Der große Wald behielt zwar sein Gesicht, er bekam aber immer neue Narben.

Wer den Wald liebte, freute sich über ausgedehnte Mischwälder von Buchen, Eichen, wilden Obstbäumen, Schlehen oder auch Haselsträuchern, manchmal sogar Nadelbäumen. Auch die Grafen von Vornbach, nach ihrer neuen Burg auch Grafen von Neuburg genannt, freuten sich über ihren Wald. Sie sahen in ihm ein angenehmes Gelände für das Jagdvergnügen und die Beschaffung von Wildbret. Zu jagen gab es allerlei, Rotwild und Schwarzwild, Hasen, Füchse, Luchse, Marder und manchen Wolf. Den zahlreicher gewordenen Bauern machten natürlich die Wildschäden ständigen Ärger. Sie lebten von Gänsen und Hühnern, von Kühen, Schafen, Schweinen und Ziegen, von Fischen, von denen sie auch an die königlichen Besitzer oder deren Verwalter abgeben mussten. Es gab seit Kaiser Karl eine Landgüterverordnung für den königlichen Bauernhof, der sich auch auf Pferde- und Bienenzucht verstand. Im Herbst wurden die Schweine in die umliegenden Eichenwälder getrieben. Da setzten sie viel Schmalz an. Die Bauern, und jeder Herr war auch ein gelernter Bauer, freuten sich über Beerenwein, Bier, Branntwein, Butter, Essig, Gepökeltes, Honig, Käse, Mehl, Met, Most, Senf, Wachs, Wein oder Würste. Dazu brauchte es handwerkliches Können in den Mühlen, in der Weberei, Tischlerei, Schmiede oder Färberei. Im Kräuter- und Gemüsegarten wurden Dutzende von Arten gezüchtet, ebenso verschiedene Obstbäume, dazu auch Winteräpfel.“

An dieser Stelle hielt der junge Erzähler stets inne. Er gab immer zu, dass er manches auch nur vom Hörensagen wusste. Seit einigen Jahren hatte er mit seinen Eltern im mittleren Inntal gelebt, wo der Vater die Kraiburg hatte erbauen lassen. Weitere Geschwister waren dort zur Welt gekommen. Auf diese freute er sich immer, wenn er endlich wieder zu Hause war.

Manchmal schien er von seinen eigenen Erinnerungen überwältigt zu werden. Doch dann fragte er, scheinbar erholt, in die Runde, ob sie den Fortgang der Geschichte wissen wollten. Natürlich kam sofort die entsprechende Antwort, so dass er weitermachen konnte. Das tat er auch noch im fortgeschrittenen Lebensalter. Doch damals, kurz nach dem tatsächlichen Wildschweinerlebnis, hatten ihn seine Geschwister gerührt.

„Wo ward Ihr so lange, werter Bruder, wir haben Euch so vermisst“, hatten ihn, den jüngeren Bruder, Bert, Heinrich und Mathilde gefragt.

„Wir wollen mit Dir spielen“, hatten die kleinen Geschwister Adelheid und Hartwig gerufen.

Die Mutter war damals lächelnd zur Seite gestanden. Endlich hatte sie ihre Kinder wieder vereint gesehen, bis auf den Ältesten namens Ulrich, welcher in die angestammte Heimat in Istrien und Kärnten zurückgekehrt war. Der Vater brauchte stets Unterstützung, da er mit immer mehr Amtsgeschäften und königlichem Dienst beladen war. Auch damals befand sich der Graf zu einem wichtigen Gespräch in Regensburg.

Rapoto hatte also erwidert:

„Setzt Euch her, meine lieben Geschwister, ich muss Euch von einem wilden Ereignis erzählen.“

Sie waren näher zusammengerückt. Rapoto hatte begonnen:

„Ihr wisst ja, wohin ich mit unserem Vater geritten war, in die Nähe der Heimat unserer Mutter. Mich hatte mit einigen jungen Freunden dort der Teufel geritten.“

Adelheid war bei der Erwähnung dieses Namens zusammengezuckt. Sie war sehr fromm. Mit dem Teufel wollte sie nichts zu tun haben. Der kleine Hartwig aber hatte geschluchzt:

„Ihr könnt doch so gut reiten, Bruder Rapoto, habt Ihr den Teufel hinter Euch lassen können?“

Rapoto hatte eine ernste Miene aufgesetzt, dann aber gelächelt.

„Nein, nein“, hatte er betont, „Ihr denkt ganz falsch. Ich habe nicht den Teufel gesehen, es war noch schlimmer. Ein gewaltiges Wildschwein stellte sich mir plötzlich in den Weg.“

Rapoto breitete dabei die Arme aus, um anzuzeigen, wie riesengroß dieses Ungetüm tatsächlich war.

„Huch“, schluchzte Hartwig jetzt noch mehr.

Für ihn war die angedeutete Größe furchteinflößend. Der bereits siebzehnjährige Engelbert aber hatte geurteilt:

„Du wirst mal ein guter Jäger, denn erzählen kannst Du schon vortrefflich. Nur wissen möchte ich, wie die Geschichte mit dem Teufel oder dem Wildschwein ausging.“

Rapoto hatte kurz überlegt, ob er die Wahrheit sagen sollte. Dann hatte er seine Stimme angehoben und getönt:

„Ich bin doch schon ein Held. Mit einem Wildschwein nehme ich es längst auf. Aber wenn Ihr dem Vater nichts sagt, dann gestehe ich, dass ich zusammen mit Tassilo Reißaus genommen hatte und dass ich dabei meinen Hut verlor. Ihr habt bestimmt bemerkt, dass ich mit einer fremden Kopfbedeckung zurückgekommen bin.“

Die jüngeren Geschwister wollten dann mehr wissen, die älteren aber wandten sich ab und murmelten sich zu:

„Geschichten erzählen kann unser Bruder wie kein Zweiter. Aber dieses Mal glauben wir ihm gar nichts.“

Rapoto aber hatte in den kommenden Monaten viel Unterricht bekommen, wie es sich für einen jungen Grafen geziemte. Dann hatte ihn sein Vater wieder einmal mitgenommen, „in die Heimat deiner Mutter“, wie er sagte.

Damit war Passau gemeint, der Rottachgau, einige Gegenden darüber hinaus, dort also, wo Burggraf Ulrich von Passau das Sagen gehabt hatte. Für Rapotos Vater Graf Engelbert ging es darum, das über seine Gemahlin erworbene Gebiet zu sichern, es vielleicht sogar einem Sohn zu überlassen, nachdem ihn selbst verschiedene andere Geschäfte in Atem hielten. Außerdem hatten auch immer wieder andere Herren Gelüste nach Landgewinn, in der Gegend von Rott und Wolfach vor allem die Vögte der Bischöfe von Passau oder von Bamberg, die nach Besitz gierten. Es gab sogar die fernen Grafen von Sulzbach, die ihre Hände mit im Spiel hatten. Nicht einmal Verwandtschaftsbeziehungen halfen zum Schutz des erworbenen Eigentums.

Graf Engelbert von Spanheim, wie sich Rapotos Vater trotz weiterer Titel nannte, hatte sich nach dem Tod seiner Eltern in der überkommenen Heimat aufgehalten, dem Lavanttal im südöstlichen Kärnten. Seine beiden älteren Brüder Heinrich und Siegfried, auch kaum zwanzig Jahre alt, sprachen dort einst zu den drei jüngeren Geschwistern:

„Weinet nicht, dass wir keine Eltern mehr haben. Wir haben es hier gut getroffen. Die Eltern haben uns nicht nur eine kleine Burg hinterlassen, sondern auch ein neues, mit Leben gesegnetes Kloster. Wir werden uns schon zurechtfinden. Schaut Euch im Kloster um, reitet aber auch die Lavant hinauf bis zum Sattel der Berge, wo Ihr einen Blick zurück auf das weite Tal werfen könnt. Zu beiden Seiten schützen die Bergzüge, die wir Koralpe und Saualpe nennen.“

Siegfried warf ein:

„Ja, der lange Bergrücken auf der einen Seite heißt Saualpe, er kommt von der Glan rüber und weist sieben Zweitausender auf, naja, auch noch zusätzliche Fastzweitausender. Aber eigentlich ist die Saualpe eine breite, ruhige Almwiesenlandschaft mit wohlriechenden Blumen wie dem Almrausch. Lasst Euch auch nicht täuschen, dass viele runde Felshaufen zu sehen sind, so etwa zehn Meter hohe, über die es natürlich viele schaurige Geschichten gibt. Denn sie stammen aus fernen Urzeiten.“

Engelbert wollte wissen:

„Woher kommt eigentlich der hässliche Name? Wir durften doch von den Eltern her nie das Wort „Sau“ in den Mund nehmen.“

Heinrich schaute Siegfried an und dieser wiederum den älteren Bruder. Dann einigten sie sich auf die Antwort, dass der Name wohl eine deutsche Übersetzung des slawischen Wortes „svinja“ sei, was „Schwein“ bedeute. Heinrich schob aber hinterher, dass auch das slawische Wort svinec dahinterstecken könnte, das für den Bodenschatz „Erz“ verwendet werde und den Erzreichtum der Gegend beschreibe. Dann kratzte sich Siegfried nochmals am Ohr. Er tönte altklug:

„Vielleicht hat es früher noch mehr Wildschweine hier gegeben als heute. Die Menschen nennen den Höhenzug halt Saualpe. Wer sich daran stört, soll die Namen der Bergspitzen verwenden, zum Beispiel den Ladinger Spitz oder den Geierkogel. Vielleicht bürgert sich irgendwann ein ganz anderer Name ein.“

Jetzt meldete sich der junge Hartwig zu Wort:

„Hört mal, ich habe schon einmal dort wandern dürfen und weil ich noch so klein war, fielen mir die Blumen und Pflanzen auf. Ich konnte mir nicht alle Namen merken, die ich auf meine Fragen zu hören bekam. Doch die Gamsheide blieb mir haften, auch weil sie so schöne rosa Kronblätter hatte. Vom Namen her gefiel mir besonders die Soldanelle, die eine blauviolette und glockenförmige Krone aufwies. Dann waren es verschiedene Enzianarten und auch die dunkelroten Kratzdisteln, an die ich mich deshalb erinnere, weil ihre Blüten von Hummeln, Faltern und anderen Insekten besucht wurden. Mehr weiß ich aber jetzt wirklich nicht, es waren zu viele schöne Pflanzen. Aber doch, jetzt erinnere ich mich, dass wir sehr gewarnt wurden vor dem Blauen Eisenhut, weil der doch so giftig ist. Aber ob ich einen sah, weiß ich jetzt nicht mehr.“

Es lag jetzt wieder an Engelbert, mit Kenntnissen zu prahlen:

„Das Stichwort „Gift“ erinnert mich an manche Kleintiere, die ich sah, natürlich nicht die Käfer oder Spitzmäuse, aber die Kreuzottern und die Kreuzspinnen. Weniger Angst hatte ich vor den Grasfröschen oder Murmeltieren. Überhaupt keine Angst habe ich vor den vielen Pilzen. Man muss sich halt auskennen. Es ist schön, dass der eine oder andere Wanderweg vorhanden ist, damit man auch vorankommt.“

Die Geschwister hatten sich fast in Erregung geredet. Dann fragte aber der jüngere Hartwig:

„Wenn schon unsere Großeltern hierherkamen, dann gab es doch bestimmt auch Menschen, wenn vielleicht auch nur wenige. Jäger oder Krieger werden durch die Wälder gestreift sein. Ich weiß darüber gar nichts.“

Jetzt war wieder der älteste Bruder Heinrich gefragt, seine Kenntnisse zum Besten zu geben. Er hatte gehört, sagte er, dass bestimmt auch in der Eiszeit einzelne Menschen Schutz suchten. Doch später sei die Saualpe von Urwald bedeckt gewesen, der dann von Menschen gerodet wurde, die sich zum Volk der Kelten zählen ließen. Wegen der Eisenerze sei bald eine stolze Wirtschaftsentwicklung eingetreten, die auch die Römer anlockte und bald auch viele Slawen. Doch das eigentliche Lavanttal sei nur spärlich besiedelt gewesen. Die neuen Bewohner von Karantanien, also das Mischvolk aus Kelten, Römern und Slawen, hätten irgendwann Schutz gesucht vor den berüchtigten Awaren. Da habe der Herzog von Bayern in den Abwehrkampf eingegriffen und seine besten Krieger entsendet. Sogar christliche Missionare aus Salzburg seien aufgetaucht, was wiederum von der Urbevölkerung behindert wurde. Erst als fränkische Grafen die Macht übernahmen, hätten diese die slawischen Fürsten verdrängt.

„Na, und dann kamen auch die deutschen Könige und Kaiser“,

betonte jetzt der junge Graf Heinrich,

„auch diese mussten in den unruhigen Alpengegenden für Ordnung sorgen. Jetzt hört mal“,

Graf Heinrich hob seine Stimme,

„einer der von den deutschen Königen entsandten Krieger war unser Großvater Siegfried Graf von Spanheim. Von ihm tragen wir den Namen, von seiner Gemahlin Richgard aber die Verantwortung für diesen Flecken Land im Lavanttal. Denn Großvater und auch unser lieber Vater sahen als Grafen im Lavanttal nach dem Rechten. Sie wirkten als kaiserliche Vertreter des Reichs. Sie ließen roden und legten neue Siedlungen an. Der Höhepunkt für unsere Eltern wiederum war die Gründung des Klosters St. Paul hier im Lavanttal. Das war nicht einfach. Wir drei ältere Brüder halfen kräftig mit. Leider verstarben unsere geliebten Eltern gegen Ende der Gründungsphase. Jetzt müssen halt wir uns um alles kümmern.“

Graf Heinrich bat jetzt die Geschwister um ein stilles Gebet für Eltern und Großeltern und schloss dann die Erinnerungsrunde mit den Worten:

„Wenn in späteren Zeiten über unser Wirken ebenso viel berichtet wird wie durch uns heute über unsere Vorfahren, dann soll uns das recht sein. Wir wissen aber, dass wir uns anstrengen müssen und viel bewirken natürlich auch. Das gilt für jeden von uns.“

Es sollte sich ergeben, dass nicht lange nach dieser Unterhaltung tatsächlich die Vorfahren im Mittelpunkt standen. Einem der Spanheim-Brüder war ein Sohn geboren worden, der sich als wahrer Geschichtenerzähler entpuppte. Obwohl noch jung an Jahren, wusste er über die umfängliche Familiengeschichte so viel zu berichten, dass niemand aus dem Staunen heraus kam. Es war jener Rapoto, der auch schon die legendäre Wildschweingeschichte so trefflich vorzutragen wusste.

Der junge Rapoto hatte sich gerne gemerkt, was schon sein Vater so spannend vorgetragen hatte. Er hatte vor allem ins Gedächtnis geschrieben bekommen – das eigentliche Schreiben und Lesen lernte er gerade – und sich immer wieder vorgesagt, dass man zum eigenen Ruhm große Taten vollbringen musste und möglichst oft am Tisch der allerhöchsten Herren sitzen sollte. So nahm Rapoto aus den Erzählungen des Vaters, dessen alte Heimat das südöstliche Alpengebiet mit Kärnten und Istrien war, den Stammbaum der väterlichen Linie zum Anlass, seinen jungen Weggefährten in Haarbach die Abstammung aus gleichsam königlichem Blut zu erläutern. Stolz schwang mit, wenn er ab und zu den Erzähler geben konnte. Die Zuhörer, kaum über die eigene Scholle hinausgekommen, hörten wissbegierig zu.

Rapotos Erzählungen

Haarbach

Winter 1120/21

Als jene Reiterfreunde von Haarbach also wieder einmal zusammensaßen und Erfahrungen austauschten, begann der junge Graf Rapoto zu schwärmen:

„Denket mit mir an jene fernen Gegenden, die Ihr zwar nicht kennt, über die ich Euch aber so gerne berichten will, wie mein Vater das tat. Mein Vater hatte die Geschichte von meinem Großvater gleichen Namens, den ich aber nicht mehr kennenlernen durfte, und dieser Großvater bekam wiederum alles erzählt von seinem Vater. Denn wie bei uns waren auch in den Jahren zuvor die Winter kalt, die Nächte lang und die Feuerstelle im großen Haus so breit, dass alle um sie herumsitzen konnten und gerne lauschten, was der hohe Herr vortrug.

Da kam also“, so fuhr Rapoto jetzt feierlich fort,

„das Wort immer wieder auf Siegfried, den Grafen von Spanheim. Er war am Rhein geboren worden, Ihr kennt bestimmt den Namen der großen Stadt des Erzbischofs von Mainz und wisst, dass dort immer wieder wichtige Hoftage und Kirchensynoden abgehalten werden. Dort in der Nähe lebten meine Vorfahren vom Vater her. Einige Verwandte wird es wohl noch geben, aber Genaues weiß ich nicht. Ich muss nämlich sowieso bald hundert Jahre zurückblicken, also in die Zeit der deutschen Könige aus dieser Gegend, König Konrad und König Heinrich, den man als den Dritten zählte. Denn mit diesen zusammen war Graf Siegfried aufgewachsen und mit diesen hatte er auch gekämpft für das Reich und für die Kirche. Mein seliger Ahne war dort ebenso Graf in manchen Gauen wie die Familie der Könige, die den großen Sachsenkaisern nachfolgten. Die Namen derer Gaue lauteten Nahegau, Speyergau und Wormsgau. Einer der Grafen, sie nannten ihn Konrad den Roten, wurde Herzog von Lothringen, was ihm aber nicht gut bekam. Wegen einer zur Last gelegten Verschwörung wurde er seines Amtes enthoben. Da half ihm auch nicht, dass er seinem Kaiser Otto dem Großen tapfer in die Ungarnfeldzüge gefolgt war. Denn im Jahr Unseres Herren 955 fand er in der Nähe von Augsburg mit Tausenden anderen den Tod. Da er aber mit einer Kaisertochter verheiratet war, erlebte der gemeinsame Sohn Otto, Graf im Wormsgau, einen besonderen Aufstieg. Bei der Neuordnung des Reichs im Südosten bekam er zusätzlich das neue Herzogtum Kärnten. Auch die Markgrafschaft Verona wurde ihm verliehen. Beides gehörte in Zukunft zusammen. Er war ein so hoher Herr, dass er im Jahr Unseres Höchsten Herren 1002 für die Königsnachfolge vorgesehen war. Der Widerstand des neuen Bischofs von Worms ließ diese Gelegenheit jedoch verstreichen. Otto von Kärnten und Worms starb 1004, zwei seiner Enkel wurden jedoch im Jahr Unseres Herren 1024 für die Königswürde ausersehen. Sie trugen beide den Namen Konrad, nämlich der Ältere und der Jüngere.

Zunächst muss ich noch schnell erzählen, dass neben dem Wormsgau auch der Kraichgau, Pinzgau oder Uffgau im jeweiligen Familienwechsel und im königlichen Auftrag verwaltet wurden. Mein Urgroßvater Siegfried war Graf im Kraichgau, den der neue König frei gegeben hatte. Unsere Familien waren verwandt miteinander.

Ihr wisset ja“, meinte Rapoto vielsagend,

„das Erbe und die Macht muss immer in den eigenen Händen bleiben. Bei den Hochzeiten schauen wir auch darauf, wie der Einfluss und die Zunahme an Macht gesteigert werden. Die Familie kommt zuerst. Die Liebe kommt dann schon dazu, und wenn nicht, haben wir auf jeden Fall für viele Menschen Großes geleistet, diese in unsere Gefolgschaft aufgenommen und für sie gesorgt.“

Wie ein weiser alter Mann sprach Rapoto. Als würde er dessen gewahr, forderte er plötzlich seine Gefolgsleute auf, den Bierkrug zu nehmen und ein Hoch auf die Ahnen auszurufen.

„Hurra“, hallte es durch den Raum.

Konrad murmelte zu seinem Nachbarn:

„Übernimm dich nicht beim Biertrinken, damit kein Unsinn aus deinem Munde kommt, wenn du redest.“ Rapoto verstand nur das Wort „Unsinn“, aber bevor er nachfragen konnte, betonte Konrad schnell:

„Ich habe aus der Bibel zitiert, in der auch das Biertrinken vorkommt.“

Das war Rapoto zwar neu, doch natürlich war den jungen Leuten bewusst, dass Bier noch nicht zu ihnen passte. Aber sie hatten das Dünnbier des Gesindes genommen und taten nur so, als wären sie geübte Trinker.

Dann fuhr Rapoto fort:

„Ich werde Euch heute sowieso nicht zu lange erfreuen. Doch was mir mein Vater berichtet hat, sollt auch Ihr wissen. Also höret:

die hohen Familien sind seit Jahrhunderten untereinander verwandt. Manche Ehe wurde von der Heiligen Kirche für ungültig erklärt, weil sie ungebührlich nah an der Abstammung der beiden Familien angekommen war. Wer aber die Macht hatte, hörte nicht auf die Heilige Kirche. Die Vertreter Unserer Heiligen Kirche waren selbst nicht immer rein. So ergaben sich ständig Ärgernisse, der Ruf nach Reformen wurde laut. Die gesamten zurückliegenden hundert Jahre waren voll von Reform und Gegenreform. Meine Ahnen halfen kräftig mit. Nicht alles bekam ihnen gut. Aber lasst mich noch von der Königserwählung Konrads berichten, den ich vorher schon genannt hatte. Denn damals war etwas Besonderes eingetreten. Der 1024 verstorbene Kaiser hatte sich um keine Nachkommen gesorgt. Mit seiner Gemahlin Kunigunde baute er zwar das Bistum Bamberg auf und belehnte dieses mit ungezählten Reichsgütern, auch hier an der Donau sowie im fernen Südosten des Reichs. Leibliche Erben jedoch gab es nicht. Deshalb trafen sich die Großen des Reichs am 4. September 1024 in Kamba zur Wahl. Ihr staunt, dass ich das Datum so genau weiß?“

Die Zuhörenden staunten aber auch über den Namen Kamba. Rapoto klärte sie bereitwillig auf. Stolz sagte er:

„Kamba liegt auf der rechten Seite des Rheins, gar nicht weit weg von Mainz, der Stadt des großen Erzbischofs, flussaufwärts.“

Dann fuhr er fort:

„Es bewarben sich zwei Große des Reichs, die von mir schon erwähnten zwei Konrade. Doch der Erzbischof von Mainz, Aribo, der seit 1021 auf dem Hohen Bischofsstuhl saß, lenkte die Versammlung zugunsten des älteren Konrad – der jüngere verzichtete, was aber die Lothringer nur ungern hinnahmen. Sie reisten verärgert ab. Vier Tage später fanden Weihe und Krönung nach altem Ritus statt. Das war der 8. September, und dieser Tag wiederum war das Fest Mariä Geburt. Der neue König stellte sich unter den Schutz Mariä. Das sollte für seine ganze Familie gelten. Konrad streckte sich also auf dem Boden des Gotteshauses aus, wurde gesalbt und gekrönt. Seiner Frau Gisela wurde die Zeremonie verweigert. Wenig später holte der Kölner Erzbischof die Krönung nach, er wollte auf den alten Kölner Krönungsrechten bestehen. Ja, und dann folgte der Königsumritt, Ihr wisst, was dieser bedeutet. Ein König muss im ganzen Reich umher und hoffen, dass nicht die einen huldigen und die anderen die Abwesenheit ausnutzen.“

Da lachten die Freunde, baten aber, Rapoto möge noch nicht aufhören, über so spannende Dinge zu erzählen. So erzählte Rapoto weiter.

„Wisset“, sagte er jetzt betont leise,

„Konrad musste ins Sachsenland, weil dort der alte Herrschaftsraum seiner Vorgänger lag. Er musste das harte Gesetz der Sachsen aus Karls Zeiten bestätigen. So ritt er mit großem Gefolge zunächst von Köln aus nach Lüttich und Nimwegen, dann, es war schon der Januar des neuen Jahres angebrochen, hinüber nach Verden an der Aller und nach Paderborn, zur Abtei Corvey und nach Hildesheim, selbstverständlich auch zu den Pfalzen in Goslar und Quedlinburg. Magdeburg wollte er stärken, weil es für die Abschirmung gegen die feindlichen Slawen so ungemein wichtig war. Nach anderen Stationen kam Konrad schließlich nach Fulda, wo er lange am Grab des hehren Apostels Bonifatius verweilte. Es ging dann in den Süden, wo in Augsburg die Würdenträger besonders unterwürfig auftraten, und schließlich nach Regensburg, der wichtigen Hauptstadt der Bayern. Dort hatte sich auch die Große Reichsversammlung eingefunden. König Konrad konnte also versuchen, auch die Südostflanke unter seine Botmäßigkeit zu bekommen. Über Beratshausen ritt die königliche Gefolgschaft in Richtung Bamberg und von dort über Würzburg wieder nach Mainz. Fast einen Monat brauchte es für den Umritt zum letzten Ziel. Zu Pfingsten 1025 huldigten nämlich in Konstanz auch die Vertreter Italiens. Doch Konrad war über die Abgesandten aus Pavia erzürnt. Dort hatte man nach Heinrichs Tod sofort die kaiserliche Pfalz zerstört. Konrad nahm das Ganze als Anlass zu einem Bekenntnis: ‚Wenn der König stirbt, bleibt doch das Reich bestehen, ebenso wie ein Schiff bleibt, dessen Steuermann fällt‘. Das hatte zumindest der spätere Geschichtsschreiber Wipo so verfasst. Er wird schon die Wahrheit geschrieben haben.

Heimwärts ging es dann über Zürich nach Basel und dann den Rhein abwärts über Straßburg in vertrautes Gelände um Speyer und Worms, bis der königliche Zug endlich zurück nach Mainz kam. Konrad glaubte fest an die geschworene Treue der Fürsten zu ihrem König.“

Das sagte Rapoto alles wortgenau zu seinem Gefolge. Er wollte, dass es sich an die Namen ferner Gegenden gewöhnte und dass es reizte, vielleicht selbst einmal an großen Taten beteiligt zu sein. Weil aber Rapoto schon mal von der großen weiten Welt erzählte, wollte er auch die folgenden Jahre Konrads noch anfügen. Denn wie die früheren deutschen Könige sollte auch der erste Vertreter einer neuen Königsfamilie zum Kaiser gekrönt werden. Zu diesem Zweck musste er nach Italien reisen und dort den italienischen Adel gewinnen. Dafür reichte die einfache Huldigung von Konstanz nicht.

Rapoto beleuchtete also auch noch die Versuche Konrads, den Süden des Reichs und die dortigen Nachbarn vollends zu gewinnen.

„Ihr könnt Euch kaum vorstellen, wie schwierig und gefährlich das ganze Unternehmen war“, flüsterte Rapoto mit sorgenvoller Stimme.

„Klar, schon 1026 ritt Konrad mit seinem Gefolge über die westlichen Alpen nach Mailand, wo Erzbischof Aribo die Krönung zum König von Italien vornahm. Mit Italien war das südliche Alpengebiet gemeint. Dort war es immer wieder unruhig, so dass sich Konrad nach Tumulten in Ravenna und wegen der Sommerhitze sogar ins Gebirge zurückziehen musste. Doch der endgültige Zug nach Rom ergab sich anfangs des Jahres Unseres Herren 1027. Der König hatte sich fast das ganze Jahr 1026 in Oberitalien aufhalten müssen. Zu Ostern sollte die Kaiserkrönung erfolgen und konfliktfrei vonstattengehen. Doch wer durfte den künftigen Kaiser in die Kirche geleiten? Natürlich nahm der Erzbischof von Mailand dieses Recht für sich in Anspruch. Aber Heribert von Ravenna ergriff unverblümt Konrads Hand und führte ihn zum Altar. Mailand und Ravenna waren sich deswegen noch lange gram.

Für Konrad aber war wichtig, dass bei der Zeremonie auch die Könige von Burgund und von Dänemark anwesend waren, die das Privileg in Anspruch nahmen, den Neugekrönten feierlich ins Gemach zu geleiten. An den nächsten Tagen stellte der Kaiser viele Urkunden für die regionalen Vertreter aus. Schließlich unterwarf er noch weitere Städte wie Benevent oder Capua. Die Kaiserkrönung bewirkte viele neue Großtaten, auch nördlich der Alpen. Das Herzogtum Bayern war gerade frei geworden. Am 24. Juni 1027 setzte Konrad seinen Sohn Heinrich dort ein. Dieser wurde sogar, die Erbfolge sollte ja anders als 1024 frühzeitig geregelt werden, am 14. April 1028 selbst zum König gewählt, vom Kölner Erzbischof gesalbt und in Aachen gekrönt.

Meine früheren Verwandten“, betonte jetzt Rapoto selbstbewusst,

„sie hatten die Macht angenommen und gefestigt. Auch die spätere Verlobung Heinrichs mit Gunhild, der Tochter des englisch-dänischen Königs Knut des Großen, stärkte die Herrschaft Konrads. Dann kam aber das makabre Glück dazu, dass im Jahr Unseres Herren 1032 der letzte König von Burgund verstarb. Rudolf III. hatte vereinbarungsgemäß die Reichsinsignien an Konrad übersandt. Doch wieder einmal war alles nicht so einfach. Rudolfs Neffe, Odo Graf von Champagne, erhob Ansprüche. Kaiser Konrad suchte persönlich das Zentrum Burgunds auf und wurde schließlich zu Mariä Lichtmess 1033 in Peterlingen zum König gekrönt. Die Kaiserkrone, mehrere Königskronen, aber auch Grafentitel, erhoben den ersten Familienvertreter der Rheinfranken um Speyer und Worms herum in geradezu mystische Höhen. Nachfolger Heinrich hatte es viel leichter. Schon ein Jahr nach dem Tod seines Vaters, also schon im Jahr 1040, nahm er die Königskronen von Burgund und Italien in Empfang. Auch den Herzog der Böhmen, Bratislaw, brachte er zur Huldigung.

Weil Heinrich III.“, schloss Rapoto für diesen Abend die gerne gegebenen Erläuterungen, „1042 auch noch gegen die Ungarn zog und weil dort der Vater meines Großvaters geschätzte Dienste erwies, weil also Graf Siegfried vom Kraichgau zu militärischen Erfolgen an der March beitrug, müsste ich Euch diesen hehren Teil unserer Geschichte noch gesondert ans Herz legen. Das machen wir aber ein andermal. Jetzt bitte ich nochmals um einen kräftigen Schluck in der Erinnerung an große Zeiten und im Bewusstsein, dass unsere Vorfahren, jeder an seinem Platz, zu Gottes und der Kirche Ehr und zum Schutz des Reiches Bedeutendes beitrugen. Salve!“

Gerührt und auch ein bisschen stolz verließen Konrad, Wernhard und Luitpold die herrschaftliche Stätte. Dass der junge Graf sie so ins Vertrauen gezogen hatte und sie so spannend und umfangreich über die eigene Ahnengeschichte aufklärte, werteten sie als großzügigen Vertrauensbeweis. Sie wollten nun ihrem Herrn noch treuer dienen. Dessen manchmal mürrischer Vater war in der nächsten Zeit nur mehr selten anwesend. Umso mehr genossen sie die Nähe zu Rapoto. Doch dieser war bald wieder zur Kraiburg zurückgekehrt.

Die folgenden Wochen, inzwischen war tiefer Winter eingekehrt, gab es auf der Kraiburg viel zu tun. In den Ställen mussten die Knechte und in den Kammern die Mägde für Ordnung sorgen. Das Füttern der Pferde und Kühe, das Schlachten der Gänse kurz vor Weihnachten und das Backen von Brot und köstlichen Spezereien oblag Knechten und Mägden, aber Rapoto trieb sie an und motivierte mit manchen Späßen. Sein jugendlicher Frohsinn steckte an. Natürlich waren zwischen dem eigentlichen Gesinde und dem Burgherren noch Aufseher beschäftigt. Doch im Winter begegnete man sich häufiger als im Frühjahr und Sommer, wenn draußen auf den weiten Feldern, Wiesen und Wäldern oder auch an ferneren Stätten nach dem Rechten gesehen werden musste.

Trotz dicker Schneedecken tauchten ab und zu auch Gäste auf. Graf Engelbert war noch gefragter geworden. Man bereitete Hoftage vor und besprach die Reichspolitik. Seit vielen Jahren brachte der Graf von Kraiburg, gemeinsam mit seinem Bruder Hartwig, dem Bischof von Regensburg, sein Geschick ein, sowohl den Streit zwischen Kaiser und Papst als auch die Fehden zwischen dem Kaiser und seinen Reichsfürsten zu entschärfen. Die Familie sah ihren Vater immer seltener, die später geborenen Kinder vermissten ihn umso mehr. Als das Frühjahr kam, sprach Graf Engelbert zu seinem Sohn Rapoto, er möge ihn erneut einige Wochen in die Gegend von Haarbach begleiten, dort stünden wichtige Geschäfte an, auf jeden Fall die Beurkundung von Lehensrechten und Stiftungen. Wörtlich hatte der Vater geäußert:

„Ich nehme Dich mit, lieber Sohn Rapoto, weil Deine älteren Brüder für andere Aufgaben ausersehen sind. Die nachgeborenen Kinder müssen ihren Platz immer selbst finden. Hilfe dürfen sie natürlich annehmen, in unserem Fall die Heranführung an mir vertraute Gebiete und Menschen. Es liegt an jedem selbst, was er aus seinem Erfahrungsschatz macht.“

Dann war es also so weit. Ein großer Tross begab sich entlang des Inns und dann der Rott in die Gegend an der Wolfach. Der Tross hatte Eindruck gemacht, nicht zuletzt wegen der mitgeführten Waffen, den Lanzen und Schwertern. Niemand stellte sich in den Weg, im Gegenteil, manche adlige Herren suchten die Nähe des noch bekannter gewordenen Grafen. Rapoto bemerkte natürlich die neue Situation, konnte sie aber nicht richtig deuten. Jedenfalls freute er sich auf das Wiedersehen mit seinen Freunden. Doch erst einmal gab es viel zu tun. Der Vater musste auch manche Urkunde bezeugen. Da nahm er seinen Sohn mit. Auch dieser sollte in der Zeugenreihe stehen. Das galt besonders für die Urkunden des Klosters Asbach, welches aus dem Familienkreis heraus gegründet worden war.

Während der Tage an der Wolfach stellte sich dann wieder einmal ein regnerischer Spätnachmittag ein. Rapoto ließ über einen Boten fragen, ob nicht seine drei wissensdurstigen Freunde den Abend mit ihm verbringen möchten. Er ließ auch ausrichten, dass er einen großen Laib Brot, Käse und Schmalz ins Kaminzimmer habe bringen lassen und dass der Most des vergangenen Herbstes recht gut gelungen sei.

Tatsächlich klopfte kurz nach dem allgemeinen Abendessen der heimische Wernhard mitsamt Konrad und Luitpold an die Tür. Die beiden letzteren hatten sich mit ihren Pferden zum Hof aufgemacht und bekamen dort schnell Einlass. Es war aber auch ein vierter Kumpan dabei, ein gewisser Ruodpert, welcher seit einigen Tagen bei Konrad geweilt hatte und neugierig auf den jungen Grafen war. Natürlich wurde auch ihm Einlass gewährt. Auf fünf Stühlen saßen sie nun um das Feuer im Kamin, sprachen den Köstlichkeiten zu und ließen sich von Rapoto überzeugen, dass sie trotz jugendlichen Alters bei garstigem Wetter nicht nur Wasser trinken, sondern auch etwas vom Apfelmost kosten sollten. Dazu war dieser eigens heiß erwärmt worden. Er floss die Kehle hinab und stärkte die Sinne. Begierig lauschten sie, was Rapoto ihnen dieses Mal zu sagen hatte.

Der junge Geschichtenerzähler griff auf das Ende seiner früheren Sätze zurück, indem er fragte:

„Womit hatte ich beim letzten Mal mit meiner Schilderung aufgehört?“.

Konrad rief sofort:

„Mit den Ungarn, denn mit diesen hat der König mit dem schönen Namen Konrad seine liebe Not gehabt.“

„Du erinnerst dich gut“, freute sich Rapoto.