Polacken - Klaus Rose - E-Book

Polacken E-Book

Klaus Rose

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Beschreibung

Was hatte den Vater im Jahr 1954 zur Flucht aus der DDR veranlasst? Waren es die großen Probleme mit den Machthabern? Gab es Schwierigkeiten privater Natur? Hatten ihn gar wirtschaftliche Erwägungen dazu bewegt? Monate später war ihm seine Frau mit mir achtjährigen Knirps und der elfjährigen Schwester mit einem Fluchtspektakel in den goldenen Westen gefolgt. Wie war es mir Rotznase bei dem Himmelfahrtskommando ergangen und wie war es nach der Flucht mit uns weitergegangen? Es war kein Zuckerschlecken im Westparadies. Und da, wo wir zufällig gestrandet waren, wurden wir von den Einheimischen als Polacken beschimpft. Jetzt als Rentner mit einem überstandenen Herzinfarkt zieht es mich zu den Schauplätzen meines Fluchtinfernos und zu meiner Geburtsstätte. Mit der Radtour will ich die Hintergründe der Flucht meiner Eltern offenlegen. In einer Zeit der heißen Debatten über Flüchtlinge ist es mir wichtig, sie vom Makel eines Wirtschaftsflüchtlings freizusprechen und ihren Status als politischer Flüchtling zu untermauern.

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Klaus Rose

POLACKEN

EINE RADTOUR IN MEINE INNERDEUTSCHE FLUCHTVERGANGENHEIT

ISBN

 

Paperback

978-3-7482-4161-4

Hardcover

978-3-7482-4162-1

e-Book

978-3-7482-4163-8

Verlag und Druck: tredition GmbH

Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

©2018 Klaus Rose

Umschlag, Illustration: Klaus Rose

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Ohne die Zustimmung des Autors und des Verlages ist eine Verwertung unzulässig. Dies gilt für die Verbreitung, für die Übersetzung und die öffentliche Zugänglichmachung.

KLAUS ROSE

POLACKEN

REPUBLIKFLUCHT ALS AUSWEG

Die tragenden Figuren der Handlung sind meiner Familiengeschichte entnommen. Auch andere Personen sind kein Produkt des Zufalls, ebenso wenig Übereinstimmungen mit vorhandenen Einrichtungen.

Das Buch:

Was hatte den Vater im Jahr 1954 zur Flucht aus der DDR veranlasst, und das ohne seine Familie? Gab es Probleme mit den Machthabern? Waren es Schwierigkeiten privater Natur? Hatten ihn gar wirtschaftliche Erwägungen dazu bewegt?

Erst Monate später war ihm seine Frau mit mir achtjährigen Knirps und der elfjährigen Schwester in eine ungewisse Zukunft gefolgt. Wie war es der Mutter, und vor allem mir Rotznase, bei dem innerdeutschen Fluchtspektakel ergangen? Es war ein Himmelfahrtskommando. Wie ging es mit uns im goldenen Westen weiter? Uns Flüchtlingen wurde nichts geschenkt, also war es kein Zuckerschlecken im Westparadies. Und da, wo wir per Zufall gestrandet waren, beschimpften uns die Einheimischen als „Polacken“.

Auch heute, die Eltern sind inzwischen gestorben und ich bin Rentner, ist das Thema Flüchtlinge hochaktuell. Wie in den Fünfziger Jahren schwappt eine Welle an Hass über das Land. Der Zorn entlädt sich besonders gegenüber Flüchtlingen mit dunkler Hautfarbe und erzeugt unbegreifliche Hysterie.

Um die Hasstiraden auch nur im Ansatz zu begreifen, beschäftigt mich der Fluchtgrund der Eltern. Waren sie der Magie des Reichtums erlegen, oder war es die Gier nach Wohlstand? Traf das zu, dann waren sie Wirtschaftsflüchtlinge, wie die AfD sie schimpft. Werde ich nach den Grundwerten der Eltern befragt, dann ist mir eine positive Antwort sehr wichtig. Also arbeite ich die Hintergründe mit einem Roadmovie auf. Das spielt sich allerdings nicht auf der Straße, sondern auf Radwegen ab. Demnach begebe ich mich mit dem Fahrrad an die Stationen meiner Fluchtvergangenheit.

Entlang der Nordsee und dem Nordostseekanal erreiche mit dem Flüchtlingslager Blankensee bei Lübeck eine wichtige Fluchtstation. Von dort radle ich nach Berlin, wo ich das Notaufnahmelager Marienfelde aufsuche, dabei erscheint die Flucht mit der U-Bahn in den Westsektor in meiner Wahrnehmung, als wäre ich abermals das Flüchtlingskind.

Weiter führt mich die Radtour in meinen Geburtsort in der Nähe Bernburgs. Nach fünfzig Jahren kehre ich an meine Wurzeln zurück, prompt sehe ich in Rückblicken den Vater vor mir, der die Ideologie des Arbeiter- und Bauernstaates strikt abgelehnt hatte. Somit stand er auf der Abschussliste. Hatte man ihn auf eine bevorstehende Verhaftung hingewiesen, woraufhin er die DDR Hals über Kopf verlassen hatte?

Als Ausklang radele ich auf dem Saale-Radweg nach Erfurt. Dort besuche ich eine Ex-Arbeitskollegin. Grob zusammengefasst ist meine Geschichte eine Liebeserklärung an das Etappenradfahren. Sie ist die Aufforderung, sich trotz des Renteneintritts nicht hängen zu lassen. Man fühlt sich nicht dem „alten Eisen“ zugehörig, sobald man aktiv bleibt für positive Unternehmungen, egal welcher Art.

Der Autor:

Klaus Rose, Jahrgang 1946, kommt 1955 als Flüchtling nach Aachen. Nach dem Studium lebt er in München. Er kehrt nach Aachen zurück, wird zweifacher Vater und engagiert sich in der Kommunalpolitik. Nach dem frühzeitigem Renteneintritt verbringt er die Freizeit mit dem Schreiben seiner Romane.

Wenn wir bedenken, dass wir alle verrückt sind, dann ist das Leben erklärt.

Mark Twain

Für meine Schwester, die nach einem Schlaganfall im Pflegeheim lebt.

1

„Du Glückspilz hast den Erfolg gepachtet. Pausenlos bewegst du dich auf der Überholspur. Und alles, was du anpackst, das geht dir locker von der Hand.“

Mir hängt das dämliche Geschwätz zum Hals raus, denn aus dem spricht der Neid. Noch dazu läuft es auf die folgenden Fragen hinaus: „Wie machst du das nur? Findest du das normal?“

„Erfolgreich ist meist der Tüchtige“, antworte ich den Neidhammeln. „Dafür braucht es eine Portion Selbstbewusstsein und die passende Partnerin.“

Und das mit meiner Partnerin stimmt, denn sie ist intelligent, sportlich und hübsch, demnach eine Augenweide. Mit fünfundfünfzig Jahren weiß sie, worauf es ankommt. Besonders zu loben ist ihr gefühlsbetonter Umgang mit Unstimmigkeiten.

Allerdings hängt momentan der Haussegen bei uns schief, denn meine Lebensgefährtin ist zurecht stinksauer, woran ich allein die Schuld trage. Unser Streitobjekt ist der von mir geplante Alleingang, mit dem ich beabsichtige, eine mehrwöchige Radtour in meine persönliche Vergangenheit zu unternehmen, und die sorgt verständlicherweise für Knatsch.

Doch da ich Gezänk jeder Art hasse, gehört es aus der Welt geschafft. Ich überlege in alle Richtungen: Meine Radtour will ich nicht aufgeben. Die steht nicht zur Debatte. Aber womit rette ich die Stimmung? Wie stelle ich den zufriedenstellenden Normalzustand zwischen uns wieder her?

Nichts ist einfacher. Die Situation erfordert kein langes Überlegen. Gegen unnötige Reibereien gibt es ein bewehrtes Allheilmittel, mit dem ich dicke Pluspunkte sammeln kann, und das ist eine wunderbare Radtour. Für die müssten wir die Fahrräder in unseren Citroen Berlingo laden und mit dem nach Holland fahren, dort könnten wir ein paar Stunden gemütlich an der Maas entlang radeln.

O ja, die Maastour ist das Nonplusultra. Bei der Idee als Problemlösung strahle ich innere Zuversicht aus. Der Vorschlag wird die düstere Miene meiner Partnerin aufhellen. Er wird mich aus dem Gröbsten befreien und die Rettung bedeuten.

Und so ist es, denn kaum habe ich den Vorschlag unterbreitet, da ernte ich breite Zustimmung. Meine Partnerin als Fahrradjunkie nickt wohlwollend, wobei ihre Augen ein zufriedener Glanz überzieht.

Mir ist mit der Spritztour durch die überwältigend schöne Flusslandschaft an der Maas das perfekte Abschiedsgeschenk eingefallen, denn das Radelvergnügen ist die letzte gemeinsame Aktivität vor der vielversprechenden Vergangenheitsradtour. Und das an einem wunderbaren Frühlingstag. An solchen Tagen werden Helden gezeugt, was für mich natürlich nicht mehr in Frage kommt, denn als Rentner bin ich zu alt für derlei Späßchen.

Wir verstauen die Räder in den Innenraum des Berlingo, danach fahren wir von Aachen über die deutsche und später über die niederländische Autobahn zum Ausflugsort Roermond am Maasufer. Das Städtchen dient als Ausgangspunkt für unser Radelvergnügen, das an einem seiner Parkplätze beginnen soll.

Nachdem wir die Räder ausgeladen und die Stadt auf dem Sattel verlassen haben, verfliegt der Trübsinn. Wir streiten nicht mehr über meine Eigenmächtigkeit, sondern treten wohlgemut in die Pedale, denn es fährt sich phantastisch auf den perfekt ausgeschilderten und asphaltierten Radwegen an der Maas. Es weht nur ein Windhauch, und der Himmel ist wolkenlos. Die Wassermassen der Maas wälzen sich im Flussbett dahin, als hätten sie die letzte Nacht durchgezecht.

Wir radeln durch hübsche Dörfer, dann führt uns der Fahrradweg durch Anbaugebiete, also bepflanzte Felder und saftige Obstwiesen, alsdann über eine der vielen Schleusen, und überall säumen freundliche Ausflugslokale die Streckenführung.

In einem Nebenarm der Maas schwimmen wir eine Weile im kalten Wasser, dann trocknen wir uns ab und legen uns auf die Handtücher, dabei weht uns das laue Lüftchen um die Nasen. Wir genießen die wärmenden Sonnenstrahlen, die sanft über unsere Haut streicheln. Am späten Nachmittag essen wir leckere Apfelpfannekuchen mit Zucker und Zimt vor einem Restaurant an der Promenade des Örtchens Maaseik. Der Trip an die Maas ist ein Festschmaus für den Magen und der Genuss für die Sinne geworden, wobei mich die Visionen der bevorstehenden Tour in meine Vergangenheit beschäftigen.

Doch das nicht lange, denn meine Partnerin reißt mich aus den Träumen. Sie knufft mich sanft, womit sie meine Zukunftsschwärmerei beendet und ich mich wieder unserem Ausflug zuwende.

Die weiteren Stunden auf dem Fahrrad gelingen reibungslos, nichtsdestotrotz rückt der Zeitpunkt unaufhaltsam näher, der den Ausklang bedeutet.

Es ist schon dunkel, als wir wohlbehalten heimgekehrt sind. Da ist die gewünschte Harmonie zwischen meiner Partnerin und mir wieder hergestellt, schließlich kennen wir uns fünfundzwanzig Jahre. Uns kann keine Macht der Welt auseinanderdividieren, so beglückwünschen wir uns zu dem gelungenen Tag.

Doch das sich anschließende früh zu Bett gehen ist eine Schnapsidee. Dagegen spricht, dass ich viel zu aufgekratzt bin, und natürlich mein Einschlafdilemma vor besonderen Ereignissen. Ich kenne viele Menschen, denen es ähnlich geht.

Um die Schwäche auszutricksen, schnappe ich mir das Buch über misslungene Fluchtversuche aus der DDR. Die Hartcoverversion ist eine Trauerausgabe zu Ehren der Ermordeten an der Berliner Mauer. Der Grenzwall hat mindestens dreißig Menschen durch Schussverletzungen das Leben gekostet.

Im Buch schildern Augenzeugen die abscheulichsten Verbrechen, die durch den Schießbefehl begangen wurden, und alle haben eins gemeinsam: Sie endeten tragisch, also mit dem Tod.

Es ist düster im Schlafraum, als ich in dem Bildband blättere. Das liegt an der schwachen Funzel auf dem Nachtischschrank meiner Partnerin. Die liest einen Krimi ihrer skandinavischen Lieblingsautorin. Ich knipse meine Nachttischlampe an und schiebe mir das Kopfkissen zurecht, dann beginne ich zu lesen.

Doch den Leseversuch breche ich ab, weil mich die Eindrücke aus meiner Kindheit mit der Flucht aus der Deutschen-Demokratischen-Republik überfallen, in der Kurzform DDR oder auch Ostzone genannt. Es war das Jahr 1954, als sich mein persönliches Fluchtspektakel abgespielt hatte.

Für mich war das ein verflixtes Jahr, denn jäh wurde mein noch junges Leben in eine Abenteuerspielwiese umgewandelt. Die aus dem Erlebnis der Flucht resultierenden Gefahren für meine Entwicklung, die waren für mich als Kind nur sehr schwer zu verarbeiten, außerdem mit unvorhersehbaren Folgen verbunden. Eine unbeschwerte und von Zufriedenheit geprägte Kindheit zu erleben, das hatte mir die Flucht verbaut.

Die Berliner Mauer als Relikt der Unterdrückung, die hatte im Jahr 1954 noch nicht existiert. Und vor deren Bau war die Grenze so löchrig wie ein Schweizer Käse, weil die mit den Ostmachthabern verbündeten Sowjets die Lage nicht in den Griff bekommen hatten. Die DDR U-Bahn Berlins hatte damals in den Bahnhöfen im Westsektor gehalten, doch dessen Bahnsteige boten den Fluchtwilligen das Schlupfloch, durch das sie der DDR entfliehen konnten. Die Folge war die in Scharen genutzte Republikflucht der Unzufriedenen.

Doch diese Schwachstelle in der Grenzsicherung war den DDR-Befehlshabern ein Dorn im Auge. Das Abhauen in den Westen war für sie unerträglich geworden. Es gehörte abgeschafft. Und was tat man gegen die massenhafte Abwanderung?

Was nur Visionäre erahnen konnten, das wurde zur Realität. Das Verbrecherpack stellte das U-Bahnnetz um, sodass die U-Bahn des Ostens nicht mehr durch den Westsektor fuhr, und zusätzlich installierte man die skandalöse Berliner Mauer. Praktisch drehte man den Fluchtmöglichkeiten den Hahn zu und riegelte die DDR vom Westen ab, so ähnlich, wie man an einer Schraube dreht.

Von dem Zeitraum an war die Grenze dicht. Doch damit nicht genug, hatten die Machthaber den Schießbefehl auf Flüchtende unterschrieben und damit die Aufforderung zum vorsätzlichen Mord in kraftgesetzt. Es waren schockierende Schweinereien, aber der verschärfte Maßnahmenkatalog war erfolgreich. Für eine Anzahl an Fluchtwilligen, die sich trotz der neuen Lage von der DDR abwenden wollten, wurden die Maßnahmen verhängnisvoll, denn sie forderten die erwähnten Toten.

Und was geschah im Westen?

In der Bundesrepublik und bei den Westmächten war ein blasser Aufschrei zu vernehmen. Mehr passierte damals nicht, obwohl die Schreckensbilder von Angeschossenen und deren Verbluten einer breiten Öffentlichkeit durch Zeitungen und Medien zugänglich gemacht wurden. Eine militärische Auseinandersetzung wurde von den Alliierten kategorisch ausgeschlossen. Für die an der Mauer Ermordeten beginnt man keinen Krieg. Der war höchstens von der neuerlich aufstrebenden Rüstungsindustrie gewollt.

Ich lege das Buch beiseite, dann lösche ich das Licht. In der Dunkelheit will ich mich zurückerinnern an die Flucht mit der Mutter und der Schwester, dabei stört mich ein gespenstisch anmutendes Lichtstrahlengeflecht an der Zimmerdecke.

Großer Gott, denke ich, das Gebilde sieht schauerlich aus. Durch welche Auswirkungen entsteht diese undefinierbare Abbildung?

Die Ursache der Lichtsequenz ist ein Sprossenfenster im gegenüberliegenden Altbau, rekonstruiere ich, aber wer wohnt hinter dem Fenster? Hat man in der dazugehörigen Wohnung Syrer oder Schwarzafrikaner einquartiert?

Schon bemächtigen sich Gräuelbilder von flüchtenden Familien auf der gefährlichen Balkanroute meines inneren Auges.

Danach schwirrt mir ein Wirrwarr an Fragen zu meiner Republikflucht im Jahr 1954, also vor dem Mauerbau, wie ein Wespengeschwader durch meinen überfrachteten Kopf

Die erste Frage lautet: Wie ging es mir Knirps während der Flucht mit der Mutter in den goldenen Westen? So wurde die Bundesrepublik in den fünfziger Jahren genannt. Und eine weitere Frage drängt sich auf: Weshalb war unsere Mutter dem Vater gefolgt und hatte die Heimat mit ungewisser Zukunft verlassen?

Eigentlich war es unverantwortlich von ihr gewesen, das Himmelfahrtskommando Flucht ins gelobte Land mit zwei Kindern zu wagen. Die ihr Nahestehenden hatten sie eindringlich von dem Vorhaben abgeraten, sie zumindest gewarnt.

„Mach das nicht“, hatten sie meine Mutter bekniet. „Die Kinder verstehen dein Vorhaben nicht und werden sich verplappern.“

Hinterher kann ich die Reaktion der Mahner nachvollziehen, denn für mich Kind war die Flucht aus der vertrauten Umgebung eine Zumutung. Ich war seinerzeit acht Jahre jung und meine Schwester mit ihren elf Jahren nur drei Jahre älter.

Der Vater, er war ein überzeugter Pazifist, hatte den Krieg ohne körperliche Blessuren überstanden. Clever hatte er sich mit Attesten eines befreundeten Arztes dem Kriegsdienst in Hitlers Armee entzogen, ja, er hatte sogar den Marschbefehl zum Volkssturm verbrannt, dann war er untergetaucht.

Seine Antikriegshaltung erwähne ich mit Stolz, denn diese Ansichten sind mir in Fleisch und Blut übergegangen. Kritisch dagegen sehe ich die Nacht- und Nebelaktion, mit der er die DDR verlassen hatte. Tja, was war das damals? War’s eine Verzweiflungstat? War’s eine Wutreaktion? Dann stellt sich die Frage: Auf wen? Auf die DDR-Regierungsriege oder auf etwas völlig anderes?

In unserem Land gibt es fremdenfeindliches Gesindel, das wirft mit Begriffen wie Wirtschaftsflüchtling und Asylschmarotzer nur so um sich. Jeder fremd Aussehende ist für sie ein unerwünschtes Subjekt. Sie erkennen weder Notsituationen wie den Hunger oder schwere Misshandlungen an, was lächerlich ist.

Für die Unangreifbarkeit des Vaters spricht, dass er seine Frau und uns Kinder zurückgelassen hatte. Der Zeitpunkt seines Aufbruchs hatte keinen Aufschub erlaubt, und der Zeitrahmen für die Vorbereitungen einer gemeinsamen Flucht hatte nicht ausgereicht. Somit passt er nicht in das Bild, das sich die Flüchtlingsgegner von einem Schmarotzer machen. Mit seiner regimekritischen Persönlichkeit gehörte er eher auf die politische Schiene. Auch das spricht gegen den Verdacht, er sei ein Wirtschaftsflüchtling gewesen.

Wir ahnungslose Kinder hatten von seinem Verschwinden nichts mitbekommen, deshalb wollten wir nicht begreifen, was mit dem Vater geschehen war. „Warum kommt der Vati nicht heim?“

Diese bedeutsame Frage hatte ich ohne Unterlass an die Mutter gerichtet, doch die hatte sich schroff von mir abgewendet.

Nach ein paar Wochen hatte die Mutter eine Nachricht des Vaters erreicht, mit der er seinen Lageraufenthalt im Westen mitgeteilt hatte. Den Ortsnamen hatte er aus Angst vor der Möglichkeit, dass der Brief abgefangen werden könnte, als versteckten Code erwähnt.

Und die Mutter war geschickt, denn ihr war es tatsächlich gelungen, mit der Ortsangabe Blankensee die Unterkunft des Vaters zu entschlüsseln, woraufhin sie sich unentwegt den Kopf gemartert hatte. Will ich über die Grenze zu meinem Mann? Der Gedanke wird ihr durch den Kopf gegangen sein, und auch der: Wage ich die Flucht, dann aber wie?

Sie hatte lange hin und her überlegt und die Risiken abgewogen. Sollte sie den Wahnsinn der Flucht durch den Todesstreifen im Harz oder das Spektakel mit der Berliner U-Bahn eingehen?

Für die Mutter gab es nur den Weg über Berlin. Die Fluchtroute mit der U-Bahn sollte es sein. So war sie ein halbes Jahr nach dem Vater mit uns Kindern nach Potsdam aufgebrochen, trotz der Überwachung unseres Hauses. Sie hatte ihr Hab und Gut zurückgelassen und eine lange Haftstrafe in Kauf genommen, denn Republikflucht war das verabscheuungswürdigste Vergehen im Arbeiter- und Bauernstaat, und die Strafen dafür waren happig.

Jetzt beschäftigt mich natürlich: Was hatte ich als Sprössling nach dem Verschwinden des Vaters empfunden? Wie bin ich damit umgegangen, so plötzlich ohne Vater dazustehen?

Seine unverständliche Abwesenheit war überaus schwierig für uns Kinder, denn er war ein guter Vater. Erschwerend für mich kam hinzu, dass mich mancher Schulfreund links liegen gelassen hatte. Aus Furcht vor Repressalien hatten deren Eltern diese Freundschaften unterbunden. Das mit den Freunden weiß ich noch gut, da sie im Heranwachsendenalter wichtig waren. Aber weit mehr interessiert mich der Umstand: Welche Eindrücke von der Flucht sind nach fünfzig Jahren in meinen Gehirnwindungen hängen geblieben?

Fest steht: Ich hatte als Knirps ein Tal des Jammers durchschritten, trotz allem habe ich nur Teilsequenzen der Flucht in meinem Hinterkopf abgespeichert, was bei einem Kind in dem Alter normal war. Aber an ein Beispiel erinnere ich mich gut.

In dem hatte ich mit weit aufgerissenen Kinderaugen zugesehen, wie zwei Volkspolizisten einen Flüchtling in der U-Bahn abgeführt hatten und die Mutter und wir Kinder sollten nach dem armen Mann abgeholt werden. Ich sehe uns von schrecklicher Angststarre befallen auf den Bänken der U-Bahn sitzen. Das Fluchtdetail war eine von vielen Apokalypsen, doch dazu später mehr.

Inzwischen sind die Eltern tot. Zuerst starb der Vater im Alter von dreiundfünfzig Jahren, kurz danach die Mutter. Die ruhen sie in einem gemeinsamen Grab.

Von der Elternseite werde ich nichts über die Hintergründe der Flucht erfahren. Doch ich werde mein Schicksal durchleuchten, denn eine Vergangenheit aus ungelegten Eiern ist schlimm. Soweit es meine Kindheit und mein Aufwachsen betrifft, gehört dem der Schleier entzogen.

Aber muss die Prozedur mit all dem Herumwühlen im Fluchtelend wirklich sein? Reicht das momentan stattfindende Ertrinken auf den Fluchtrouten über das Mittelmeer nicht aus?

Natürlich ist es schrecklich, dass so viele Menschen im Mittelmeer ertrinken. An diese Bilder werde ich mich nie gewöhnen, und dagegen setzte ich mich auch po-litisch ein, doch was heute geschieht, das hat mit der innerdeutschen Fluchtproblematik nur den Tod gemeinsam. In der jetzigen Zeit sind die Begleitumstände für die Massenflucht aus dem Arbeiter- und Bauernstaat nahezu unbekannt, doch die zerre ich ans Tageslicht. Es war der Terror, der die Panik unter den Systemgegnern verbreitet hatte. Die Fluchttragödien waren ein Zeichen der Angst vor Repressalien.

Mir ist klar, dass mein Wunsch nach Aufarbeitung der damaligen Fluchtumstände niemand versteht. Selbst enge Freunde stufen die Flucht als belanglos ein.

„Andere Familien haben ähnliche Tragödien im Gepäck.“ Das sagen sie ohne eine Regung zu zeigen, dabei schütteln sie mit dem Kopf.

Auch meiner Partnerin geht es ähnlich. Die schließt sich der Allgemeinmeinung nahtlos an. Ihr geht meine Aufklärungstour mächtig gegen den Strich, denn sie versteht meine Sturheit am allerwenigsten. Könnte es sich bei meiner mit dem Kopf durch die Wand Vorgehensweise um eine Art Altersstarrsinn handeln?

Das ist möglich, denn seit meinem Renteneintritt bin ich vom Aufklärungswahn besessen. Mit akribischer Spurensuche will ich herausbekommen, weshalb mir die Eltern den Schlamassel mit der Flucht als Kind zugemutet hatten, schließlich hatten sie meinen Werdegang damit beeinflusst.

Da wären die schulischen Ausfallzeiten durch lange Lageraufenthalte und der verpasste Weiterbildungserfolg. Der aufgezwungene Unterrichtsausfall hatte mir den Besuch des Gymnasiums vermasselt. Dieses Defizit schleppt man ein ganzes Leben mit sich herum, denn aus mir hätte was Großes werden können.

Aber leider ist es anders gekommen. Aus mir ist kein Arzt oder Wissenschaftler geworden. Das habe ich akzeptieren müssen, trotz allem bleiben die Ausbildungsversäumnisse für mich eine unerschütterliche Herzensangelegenheit.

Okay, meine Motivation habe ich verdeutlicht. Meine Überlegungen, die Wiederbelebung der Flucht betreffend, habe ich abgeschlossen. Es gibt nur den Weg, meinem Gedächtnis mit einem Road-Movie auf die Sprünge zu helfen. Das spielt sich allerdings nicht auf der Straße, sondern auf Radwegen ab. Die Erlebnisse meiner Kindheit will ich aus mir herauskitzeln. Ich hatte eine Vielzahl tragischer Situationen auszuhalten, wovon wesentliche Szenarien in Vergessenheit geraten sind. Nicht umsonst tappe ich bei einer Menge an Ungereimtheiten im Dunklen.

Demnach stellen sich mir folgende Fragen: Was war ich für ein Kind? War ich ängstlich oder ein mutiges Kerlchen? Dass die Republikflucht meinen Lebenslauf durchwachsen gestaltet hat, das ist mir durch die Ausbildungsproblematik bitter aufgestoßen.

Aber auch andere spannende Spekulationen bewegen meine Gehirnströme. Besonders die Hypothese: Was wäre aus mir in der DDR geworden, hätte die Mutter die Flucht nicht gewagt? Wie wäre ich unter der DDRKnute aufgewachsen, und wie wäre ich mit der umgegangen?

Der Fragenkomplex beschäftigt mich. Wahrscheinlich hätte ich mich der Protestbewegung angeschlossen und wäre damit im Gefängnis gelandet. Oder wäre ich ein linientreuer Parteigänger geworden? Eventuell gar ein Stasispitzel?

Das mit dem Parteigänger oder Stasispitzel ist wenig wahrscheinlich. Nehme ich meine politische Einstellung als Grüner, dann wäre ich am DDR-Regime gescheitert, oder hätte mich mit dem schwer getan. Da hätten auch Gehirnwäschen nicht gefruchtet. Für die Methode war ich ungeeignet. Und was habe ich sonst noch an wissenswerten über den gescheiterten Arbeiter- und Bauerstaat auf dem Radar?

Dass das sozialistische System Marke DDR nur mit mäßigem Erfolg existiert hatte, das ist inzwischen jedem klar. Durch Misswirtschaft war es zum Scheitern verurteilt. Die DDR stand vor dem Ruin. Weil man den Menschen durch Perspektivlosigkeit und Gleichmacherei ihre Kreativität beraubt hatte, war sie Lichtjahre von einem funktionierenden Staat entfernt.

Denke ich an die rigorosen DDR-Machthaber, dann steigt bei mir der Dampf im Kessel, ja, es schwillt mir vor Wut der Kamm. Die Schweinereien der sogenannten Ost-Eliten gehen in die Geschichte der Menschheit ein. Skrupellos war es ihnen gelungen, der kriegsmüden Bevölkerung mit dem imperialistischen Westen ein Feindbild vor die Nase zu setzen. Die Folge war der kalte Krieg zwischen Ost und West.

Doch für ihre Ideologie brauchten sie willige Untertanen, die es komischerweise gab. Und die hatten sie mit viel Einfallsreichtum bei der Stange gehalten. Jedes schmutzige Mittel war ihnen recht. Sogar Begriffe aus der Französischen Revolution hatten sie für ihre Strategie missbraucht. Die DDR’ler hatten nicht ansatzweise an der Freiheit geschnuppert.

Unter Mithilfe der Sowjetunion, war einem Wilhelm Pieck, einem Otto Grotewohl, und selbstredend diesem Walter Ulbricht mit der Fistelstimme, die Vereinnahmung der Bürger tadellos gelungen. Was die Borkenkäfer für den Wald, das waren jene Herren für einen gerechten Sozialismus.

Zusammen mit den Russen hatte das Politbüro seine Verführungskünste perfektioniert. Skrupellos hatte es den von den Kriegsgräueln gezeichneten Menschen eine heile Welt nach dem Vorbild der Sowjetunion vorgegaukelt. Man hatte die DDR-Bewohner eingelullt und ihrer strengen Kontrolle unterzogen. Das Politbüro hatte leere Phrasen gedroschen und die in den Mittelpunkt ihrer Kampagnen gestellt. Als Absicherung gab es ja die Russen. Mit deren militärischer Unterstützung saßen die Verantwortlichen fest im Sattel.

Linientreue Genossen sahen in der DDR ein gerechtes Land. Daher war es kein Wunder, dass sich die bescheuerten Thesen der Apparatschiks überzeugend verbreiten konnten. Sie schufen ein Erscheinungsbild, weit weg von der Realität, worauf ihre verblendeten Anhänger allzu gern hereingefallen waren.

Nach Umfragen in den neuen Bundesländern, ist es im Osten heute noch gängige Praxis, den DDR-Staat als Vorbild für soziale Errungenschaften hinzustellen. Doch dabei wird gern übersehen, dass die Elite den Staat sprichwörtlich heruntergewirtschaftet hatte. Der Arbeiter- und Bauernstaat war schlichtweg pleite, an der Wahrheit führt kein Weg vorbei. Die wirtschaftlichen Fehlerquellen waren alles andere als Kollateralschäden, denn sie hatten die Wiedervereinigung dramatisch beschleunigt.

Was ich jetzt schreibe, das mag dumm klingen, aber ich tue es trotzdem, denn es war nicht alles schlecht in dieser Scheindemokratie. Eine großflächige Kinderbetreuung, dazu eine geringe Arbeitslosigkeit, das waren gelungene Modelle des Sozialismus. Und in vielen Sportdisziplinen hatten die Funktionäre ihr Land zu einer beachtlichen Großmacht geformt, was allerdings durch das Staatsdoping begünstigt wurde.

Mit meinen Ansichten bin ich beileibe kein Leisetreter, der eine vorgefertigte Meinung vertritt. So gab es auch gute Seiten am Arbeiter und Bauernstaat, doch bedeutend mehr hundsmiserable. Das Pendel war zur schlechten Seite ausgeschlagen.

O je, da bricht die angestaute Wut gewaltig aus mir raus, denn was ich jetzt schreibe, das klingt nach einer offenen Rechnung, und die reibe ich den DDR-Machthabern gern unter die Nase. Für mich haben sie keine bessere Behandlung verdient. Meine Kritik an den menschenverachtenden Unterdrückungsmethoden im DDR-Staat ist beabsichtigt und mein Rachegefühl ist mächtiger, als es das Hammer- und Sichel-Emblem für die linientreuen DDR-Bürger war. Aber im Gegensatz zu dem Emblem, das man aus der DDR-Fahne ausradieren konnte, ist meine Rache im Kopf präsent geblieben. Daher habe ich im Namen der geschundenen Insassen in den Gefängnissen so manches Hühnchen mit den Staatsratsvorsitzen zu rupfen.

Für jeden, der die DDR hasst, ist es leicht, ausreichend Haare in der Suppe eines Systems aus Bürokratie und Brutalität zu finden. Beides hatte ein Leben in der DDR unerträglich gemacht. Es gab unzählige kritisch Denkende, die ohne Gerichtsverfahren spurlos in irgendeinem Knast verschwunden waren.

Und dann die Revolution am 17. Juni 1953. Den Aufstand des Volkes für Freiheit und Menschenrechte wurde von den Machthabern mit den Panzern der Sowjetunion plattgewalzt. Sie hatten ihn im Keim erstickt, was zu überfüllten Gefängniszellen führte.

Nichtsdestotrotz war es der Witzfigur Honecker gelungen, der DDR zur völkerrechtlichen Anerkennung zu verhelfen, und das war ein schlechter Witz.

Erich Honeckers oft missbrauchte Redeanwendung, „im Namen des Volkes“, und die damit verbundenen Aktivitäten, stelle ich auf eine Stufe mit skandalösen Folterungen, die in der DDR praktiziert wurden. Auch diese Vorgehensweise gehörte zur Philosophie des Unrechtsstaates.

Zu dem Thema fuhrwerken mir zwei Fragen durch die dafür zuständige Gehirnpartie: Hatten meine Eltern das Unterdrückungssystem früh durchschaut? Waren ihnen die verabscheuungswürdigen Machenschaften der SEDRiege bekannt?

Trotz mancher Widersprüche ist es eine Tatsache, dass sich viele DDR-Bürger schon bald nach der Staatsgründung vom Hof gemacht hatten. Das lag zum Teil an den wilden Versprechungen des Kapitalismus mit dem vorexerzierten Wirtschaftswunder in der Bundesrepublik. Der Warenüberfluss in den West-Schaufenstern, und der dadurch entstandene Neid bei den staunenden Ostlern, das machte es schwer, den Verlockungen zu widerstehen.

Und prompt taucht er wieder auf, der Bereicherungsaspekt. War der Vater dem zu erwartenden Wohlstand doch erlegen und wirtschaftliche Verbesserungen waren der Fluchtgrund für die Eltern?

Ich kann und will es mir nicht vorstellen, denn steinreich werden war für die Eltern bedeutungslos. Das passte nicht zu ihrer Lebensphilosophie. Sie waren keine Schmarotzer. Für sie lege ich die Hände ins Feuer. Diese Theorie gehört auf den Müll.

Wäre es anders, dann hätte ich dafür Belege in ihrer späteren Lebensform gefunden. Anderseits sind materielle Wünsche zur Verbesserung des Lebensstandards verständlich. Ist der Schmarotzerverdacht daher wirklich so suspekt?

Hatte es die Bereicherungserwägungen bei der Flucht gegeben, dann waren die ihr unausgesprochenes Geheimnis geblieben. Erläuterungen dazu hatten die Eltern für sich behalten. Kein Sterbenswörtchen war über ihre Lippen gekommen. Sie hatten uns Kinder mit Andeutungen abgespeist. Ihr gemeinsamer Tenor hieß: Vieles habe in der DDR nicht gestimmt.

Schluss, Punkt, aus, und damit hatte es sich. In der Fluchtbeurteilung waren sie sich einig. Aber diese Erklärung reicht mir nicht. Deshalb werde ich mich nicht hinsetzen und mir zufrieden die Hände reiben. Das ist mir zu mager.

Doch nun zu was anderem.

Was weiß die jetzige Generation über die damaligen Fluchtursachen? Interessieren sich junge Leute für die Gründe? Herrscht gar Unverständnis über die Fluchtwelle von Ost nach West?

Zur Wiedervereinigung kam es vor bald dreißig Jahren, dennoch bleibt die vorherige Fluchtbewegung ein heikles Thema, so kehre ich ein letztes Mal zum springenden Punkt zurück.

Und der ist, dass die DDR-Machthaber zwar ihre soziale Ausrichtung beteuert hatten, und dessen Errungenschaften hatten sich auch großartig angehört, aber mit sinnlosen Worthülsen und Angriffen auf den Kapitalismus des Westens hatte man die sich mehrenden Fehler im eigenen bankrotten Wirtschaftssystem übertüncht. Bei ihren Lobhudeleien über den DDR-Sozialismus hatte es sich um Augenwischerei gehandelt.

Mit pausenlos aufgewärmten Parolen, wie: „Einheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, waren die Menschen den Verführern ins Netz gegangen, obwohl sie sich für die Sprüche nichts kaufen konnte. Aber sie klangen vielversprechend. Sie ähnelten dem heutigen populistischen Gewäsch, aber der jetzige Populismus steckt im Gegensatz zur DDR im braunen Gewand, und das ist rechtsradikal.

Und nun noch einmal, und das zum mitschreiben: Die sozialistische Einheitspartei Deutschlands, kurz SED, hatte sich darauf konzentriert, dass ihre Ideologie auf fruchtbaren Boden fallen möge. Sie hatten ihre Phantastereien den Unterdrückten mit reißerischen Plakaten vor die Nase gesetzt.

Und das hatte bestens funktioniert, denn die Slogans der Macher waren den Gehirngeschädigten durch die Naziherrschaft als volle Dröhnung ins Blut eingedrungen. Sie hatte die systemkonformen Anhänger begeistert, nichtsdestotrotz waren die Wahlergebnisse mit einhundert Prozent für die SED-Einheitspartei unglaubhaft, aber rechtskräftig.

Die waren Wahlbetrug am Volk. Und der war möglich, weil die Opposition keinen Fuß in die Tür bekommen hatte oder im Knast vermodert war. Die Einflussnahme der Gegner wurde von den DDR-Drahtziehern rigoros ausgeschlossen, das ist amtlich. Ich kann es gar nicht oft genug betonen: In der DDR hat es nie freie Wahlen gegeben.

So, jetzt muss es aber gut sein. Ich habe mich über die Machenschaften in der DDR ausführlich ausgetobt. Die Erkenntnisse müssen ausreichen. Mehr Wissenswertes gibt es über deren Chronik nicht festzuhalten. Es lohnt nicht, den Irrtum der Geschichte aufzuwerten. Die DDR ist Gott sei Dank Vergangenheit.

Und das es letztendlich zur Wiedervereinigung gekommen war, das war kein Verdienst der westdeutschen Politiker, die sich gern damit geschmückt hatten.

O nein, es hatte daran gelegen, dass die Sowjets den bankrotten DDR-Staat fallen ließen, wie eine zu heiße Kartoffel.

Als Schlusspointe halte ich fest: Durch den 17. Juni hatte es keine wünschenswerten Veränderungen gegeben. Das Unrechtssystem blieb in Stein gemeißelt. Der Vater hatte nicht mehr an eine positive Wende geglaubt, deswegen hatte er sich der Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt und sich über den Grenzwall in die Bundesrepublik gewurstelt.

Aber jetzt, nach fünfzig Jahren, sind Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Geschichte in mir aufgeflammt. Mir liegen die Fluchtgründe zu offensichtlich auf der Hand. Sie wirken zurechtgeschustert. War eventuell doch ein bescheidener Wohlstand der Fluchtgrund? Oder hatten familiäre Spannungen unter der Oberfläche gebrodelt?

Das Zusammenleben innerhalb der Verwandtschaft im Heimatdörfchen ging damals nicht reibungslos über die Bühne, aber über Problematiken innerhalb der Familie hatten die Eltern stillschweigen gewahrt. Sie hatten die Reibereien nicht an die große Glocke gehangen. Darüber sprach man nicht. Uns Kindern gegenüber gab es keine Ungereimtheiten im Familienverbund, obwohl ein anderer Eindruck in mir schlummert.

Waren gekränkte Eitelkeit, gepaart mit Gefühlsverletzungen, der wahre Anlass für die abrupte Flucht des Vaters?

Mit großem Elan werde ich Ursachenforschung betreiben. Warum der Vater, und später die Mutter mit uns Kindern, die Fliege gemacht hatten, das bekomme ich mit der Deutschlandradtour in meine Vergangenheit raus, auch wenn es schwierig erscheint.

Aber von unmöglich Erscheinendem lasse ich mich nicht ins Boxhorn jagen. Das die Eltern politische Flüchtlinge waren, das werde ich untermauern, aber dazu brauche ich Gewissheit. Ich will mich meiner Eltern rühmen und Flüchtlingshassern die Stirn bieten, anstatt mich wegen der Eltern angreifbar zu machen.

Gegen die Beschimpfungen der ewig Gestrigen, wie: „Du bist der Sohn von Wirtschaftsflüchtlingen. Solche Parasiten wie euch hätte man gar nicht ins Land lassen dürfen“, will ich mich wehren können.

Mit Gleichgesinnten werde ich gegen die üble Rechtspropaganda ankämpfen. Keinen Zentimeter werde ich den Schwachköpfen für ihre Hasstiraden überlassen. Ist das verständlich?

Dabei helfen wird mir das Aufsuchen der Fluchtstationen. Ich verspreche mir von den Fluchtorten eine lückenlose Aufklärung der Fluchtgründe, ob mir diese zusagen, oder nicht.

Doch bevor mein Spektakel vonstatten gehen kann, brauche ich Schlaf. Aber leider geht die Nacht sprichwörtlich in die Hose. Die Hollandradtour noch in den Knochen, wälze ich mich von der Seitenlage über den Rücken in die Bauchlage. Und bin ich kurz weggedöst, dann träume ich vom himmlischen Heer der Engel auf Rädern. Mich umschwirren Fahrräder, immer wieder Räder.

Sehr witzig.

Noch dazu liege ich mit der Blase im Clinch. Mehrmals stehe ich auf und schlurfte zur Toilette. Da sind auch altbewehrte Psychotricks aussichtslos, denn ich schaffe es einfach nicht abzuschalten, weshalb meine Lebensgefährtin murrt: „Mensch Klaus, nun schlaf endlich.“

Tja, man schläft schlecht, stemmt sich die Abschiedsbeklemmung gegen die Aufbruchstimmung. Der Denkapparat ist auf Konfrontation geschaltet. Total unnötig arbeiten die Gehirnzellen im Akkord.

Aber so ist das mit der inneren Unruhe. Leider bin ich nicht gelassen und abgebrüht, wie ich’s mir wünsche. Weiterhin befällt mich die Aufregung vor Arztterminen und Behördengängen, manchmal reicht der bevorstehende Wandertag auf dem Eifelsteig oder eine Radtour in die Umgebung.

Die Nacht verabschiedet sich. Es ist sechs Uhr in der Frühe und der ominöse Tag X nimmt seine Betriebstemperatur auf. Einen Tusch auf den Montag. Ich bin innerlich in Hochstimmung, was ich beweise, indem ich meine neben mir schlummernde Lebensgefährtin mit einem herzhaften Kuss wecke.

Danach stehe ich auf und schmeiße die Kaffeemaschine an, dann setze ich das Eierwasser auf. Anschließend hole ich die Zeitung vom Haustürbriefschlitz, und letztlich decke ich den Frühstückstisch, während sich meine Partnerin duscht.

Als sie fertig ist, putze ich mir die Zähne und dusche ebenfalls, dann ziehe ich die Klamotten für die Abreise an. Auf dem Kalenderblatt lese ich, wie der verstaubte Volksmund meine Vorgehensweise nennt: Morgenstund hat Gold im Mund.

Für meine Herzallerliebste ist der Spruch wenig erbaulich. Sie ist das Gegenmodell der Frühaufsteherin. Bei ihr läuten eher bei dem Spruch: Reisende soll man nicht aufhalten, die Alarmglocken, denn der tangiert unser Reizthema.

Wegen meiner Radreise in die Vergangenheit mit dem Ziel, die Gründe für die Republikflucht zu durchleuchten, ist sie immer noch angesäuert. Wegen der hatte sie mir Egoismus vorgeworfen.

Wir hatten wie die Kesselflicker über die Notwendigkeit der Radtour gestritten. „Lass deine Eltern in Frieden ruhen“, hatte meine Partnerin rumort. „Was ändert es für dich, ob sie dies oder jenes waren.“

Aber an meiner Grundeinstellung war nicht zu rütteln. „Das stimmt ja alles, meine Liebste“, hatte ich geantwortet. „Aber mir geht es um das Reinwaschen der Eltern. Ihre Flucht zu rechtfertigen, darin bin ich hartnäckig.“

„Ja, das bist du“, hatte sie nachgeschoben, woraufhin ich den Disput mit den Sätzen beendet hatte: „Und darin werde ich mich auch nicht ändern. Nimm mich bitte, wie ich bin.“

Es klingt jetzt zwar verrückt, aber die Macke hat sich tief in meine Gehirnstränge eingebrannt. Von meinem in der Vergangenheit wühlen, kann mich keine Macht der Welt abbringen.

Nun gut, den Streit haben wir während der Hollandradtour beigelegt. Bei meiner Partnerin und mir ist alles im Lot, so sagt man wohl dazu. Zwischen uns passt kein Blatt Papier.

Wir frühstücken in liebgewonnener Manier. Ich habe Vollkornbrötchen mit Körnern aufgebacken und liebevoll auf den Tellern verteilt. Mein Brötchen schneide ich in zwei Hälften und die beschmiere ich mit Honig. Wir lesen in der Zeitung und hören Radio. Das Ritual hat sich seit zwanzig Jahren bewehrt. Danach haucht mir meine Partnerin ins Ohr: „Pass gut auf dich auf. Wir haben danach noch allerhand vor.“

Ich verberge meinen Abschiedsschmerz, als ich meine Partnerin zum Auto begleite, wo ich ihr einen dicken Kuss auf die Wange drücke, bevor sie als Lehrerin in ihre Gesamtschule verschwindet.

Die Zeiger der Uhr stehen auf sieben Uhr dreißig und ich habe noch eine Menge Zeit bis zum Aufbruch. Die Wettervorhersage ist verheißungsvoll. Achtzehn Grad an der Nordsee sollen es werden, das sind phantastische Voraussetzungen für manchen Freudensprung.

Anstatt Freudensprünge zu veranstalten, könnte ich als Rentner die Hände in den Schoß legen, doch mein Lebensmotto lautet: DA GEHT NOCH WAS.

Mensch Leute, lasst es Krachen. Mit vierundsechzig gehört man nicht zum alten Eisen. Von wegen, es sich mit dem Kissen auf der Fensterbank bequem machen, oder mit der Knabbertüte vor dem Fernseher versauern und schwabbelig werden. Nein, sich fit halten, das ist wichtig.

Ich will nicht als Gesundbeter oder Apostel der einen oder anderen Krankenkasse auftreten, aber Sport hat noch keinem geschadet. Wie wär’s mit joggen, walken reicht auch? Was halten Sie von täglichen Radtouren? Bewegung hält jung. Ich kann zurecht behaupten, dass ich vielen Jüngeren locker davonrenne. In meiner Tennisklicke bin ich der Hero, denn es gewinnt derjenige, der mit mir im Doppel antreten darf.

Dennoch lautete die meistgestellte Frage vor meinem Renteneintritt im Freundeskreis, wobei man milde angelächelt hatte: „Was machst du eigentlich, wenn du nicht mehr arbeitest? Dir fällt sicher die Decke auf den Kopf.“

Tja, diese landläufige Meinung ist sehr weit verbreitet, deshalb hatte ich darauf geantwortet: „Es gibt wichtigeres auf dem Planeten, als die Arbeit. Für mich ist die Gesundheit das höchste Gut.“

Und ich weiß, wovon ich rede, denn ich habe vor wenigen Jahren meine zweite Chance bekommen. Völlig unvorbereitet hatten mich die Folgen eines Herzinfarktes überrascht, den ich auf dem heimischen Sofa an der Seite der Lebensgefährtin durchgestanden hatte. Mein Herz war zum rasenden Ungeheuer geworden. Es drohte zu bersten. Nur hauchdünn hatte ich den Infarkt überlebt. Seither kenne ich den Begriff Todesangst.

Die Vorboten des Infarktes spürte ich bei der Heimfahrt in der Höhe des Aachener Klinikums. Das verdächtige Ziehen im Bereich des linken Armes und die dazugehörigen Atembeschwerden.

Es waren Symptome, die ich bis dato nicht kannte, deshalb hatte ich den Seitenhieb ignoriert. Anstatt zum Klinikum abzubiegen und mich in die Obhut der Fachärzte zu begeben, hatte ich die Autofahrt fortgesetzt.

Und als sei nichts passiert, hatte ich am darauffolgenden Tag den Kindergeburtstag meines Sohnes mit einem Fußballspielbesuch im Stadion des 1. FC Köln gefeiert.

Zwei Tage nach dem Zwischenfall war ich zum Hausarzt gegangen, und der hatte mir meinen Dusel mit einem EKG drastisch vor Augen geführt.

„Mensch, Klaus“, hatte er Gott zum Erbarmen geschimpft. „Du hattest einen Herzinfarkt. Ab ins Klinikum.“

Energisch hatte er mir Beine gemacht, was richtig war, denn auf der Intensivstation wurde ich notversorgt. Es dauerte eine Stunde, dann brachte man mich in den OP, wonach mein erster Stent für Entspannungen in der Herzregion sorgte.

In den Krankenhaustagen hatte ich viel Zeit, über meine miserable Lebensführung nachzudenken. Mir wurde klar, dass ich meine ungesunden Gewohnheiten abzustellen hatte. Ich setzte auf gesunde Ernährung, verabschiedete mich vom Rauchen und versuchte mich mit autogenem Training in die Spur zu bringen.

Eine Rolle rückwärts galt es zu vermeiden und den lasterhaften Umgang mit Fehlern und Schwächen nicht mehr zuzulassen, doch hinterher blieb es bei Lippenbekenntnissen. Ich redete mir die Laster schön.

Erst nach drei weiteren Stents war mir der Radikalschnitt mit dem Schlussstrich unter meine Lasterhaftigkeit gelungen, zu sehr hatte ich am Weiterleben gehangen.

Die Eingriffe an meinem Herzen hatten mein Leben verändert. Immer wieder hatte ich meine Vergangenheit hinterfragt, dabei war ich auf meine Republikflucht in der Kindheit gestoßen. Schrill hatte der Wunsch in mir aufgeleuchtet, das Katastrophenszenario neu aufleben zu lassen, da es an Leib und Seele geknabbert hatte. Ich aber hatte es verdrängt oder vor mir hergeschoben.

Doch die Aufarbeitung war wichtig für meine innere Ausgewogenheit. Sich über seine Erlebnisse der Vergangenheit zu Lebzeiten Klarheit zu verschaffen, das ist eine Unabdingbarkeit.

Um es in der Sprache meiner Kinder auszudrücken, fand ich die Idee mit der Radtour oberaffengeil. Komischerweise war mir der Einfall bei einem Plausch mit der Schwester gekommen, mit der ich so gut wie gar nichts gemeinsam habe. Sie ist eine Frau ohne Lebensfreude und Zukunftsperspektive.

Nach dem Tod der Mutter und der Scheidung von ihrem Mann, der wegen seiner Plumpheit schlecht zu ihr gepasst hatte, war ihr Lebensablauf in tristen Bahnen verlaufen. Für sie war die Zeit stehen geblieben. Ihre Redebeiträge drehten sich nur um das Fluchterlebnis mit mir und der Mutter aus der DDR.

Auch in der jetzigen Zeit ist das so. Sie hält sich weder an der PEGIDA-Bewegung mit deren Hetzparolen, noch an den Diskussionen über die Menge an Flüchtlingen und der Integration selbiger auf. Warum war der Vater damals allein geflüchtet? Nur der Gedanke beschäftigt sie und macht sie krank.