Rauhnacht - Volker Klüpfel - E-Book
SONDERANGEBOT

Rauhnacht E-Book

Volker Klüpfel

5,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eigentlich sollte es für die Kluftingers ein erholsamer Kurzurlaub werden, auch wenn das Ehepaar Langhammer mit von der Partie ist: ein Winterwochenende in einem schönen Allgäuer Berghotel samt einem Live-Kriminalspiel. Doch aus dem Spiel wird blutiger Ernst, als ein Hotelgast unfreiwillig das Zeitliche segnet. Kluftinger steht vor einem Rätsel: Die Leiche befindet sich in einem von innen verschlossenen Raum. Und über Nacht löst ein Schneesturm höchste Lawinenwarnstufe aus und schneidet das Hotel von der Außenwelt ab. Kommissar Kluftinger ist ganz auf sich allein gestellt. Das heißt: fast. Denn Doktor Langhammer mischt bei den Ermittlungen kräftig mit. Und das alles während der berüchtigten Rauhnächte, über die man sich hier in den Bergen grausige Geschichten von bösen Mächten erzählt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 519

Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2009

ISBN 978-3-492-95083-1

© Piper Verlag GmbH, München 2009

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München

Umschlagabbildungen: AbleStock/Jupiterimages (Berg);

Ludwig Mallaun/Mauritius images (Bauernhof);

imagebroker.net/Mauritius images (Verkehrsschild);

jupiterimages (hinten)

Die Höllenfahrt, erster Teil

In sich zusammengesunken sog Kluftinger die feuchtwarme Luft in seine Lungen. Seine Nasenflügel bebten. Aus müden Augen betrachtete er die vorüberziehende Allgäuer Landschaft, die ihm so unwirklich vorkam wie die Dekoration einer Spielzeugeisenbahn. Um den Brechreiz niederzukämpfen, der ihm den kalten Schweiß auf die Stirn trieb, lehnte er seinen Kopf an die beschlagene Fensterscheibe. Die Kälte tat ihm gut.

Noch vor wenigen Wochen hatte alles so schön ausgesehen in seinem Leben. Ein goldener Oktober war einem herrlichen Altweibersommer gefolgt, und als sich der Herbst schließlich von seiner nasskalten Seite gezeigt hatte, hatte es der Kommissar genossen. Er war erleichtert, dass dieser Sommer so glücklich zu Ende gegangen war. Ein Sommer, den er sein Leben lang nicht vergessen würde …

Auch das Weihnachtsfest vor einer Woche mit seinen Eltern, seinem Sohn Markus und dessen Freundin war ungewohnt harmonisch abgelaufen.

»Uaaah!« Ein Schlagloch drückte Kluftingers Magen für einen kurzen Moment gefährlich nach oben.

»Alles klar da hinten auf den billigen Plätzen?«

Kluftinger sah in den Innenspiegel und nickte dem Fahrer zu. Alles, was er sah, waren zwei leuchtende Augen hinter einer riesigen Brille. Der Blick, der seinem begegnete, wirkte wie ein Versprechen. Ein Versprechen, dass die kommenden Tage die Hölle werden würden. Wie hatte er nur einwilligen können? Wie hatte er die Einladung der Hotelmanagerin nur annehmen können? Doch er wusste genau, weshalb er weich geworden war: Die Aussicht, ein Wochenende in einem Berghotel hoch oben in den Allgäuer Alpen zu verbringen, umgeben von blauem Himmel und weißen Gipfeln, hatte ihn korrumpiert. Außerdem hatte ihn die Frau ja praktisch angefleht: Er müsse kommen, er habe ihr doch das Leben gerettet letzten Sommer. Ja, das hatte er. Nicht nur ihr … Kluftinger rieb sich die Schläfen: Seine Gedanken kehrten immer wieder zu diesem dunkelsten Kapitel seiner beruflichen Laufbahn zurück. Zum Laienspiel, zur Terrorbedrohung … Er schüttelte den Kopf, als könne er so auch die düsteren Gedanken loswerden.

Aber wohin hatte ihn das alles geführt? Er saß im überheizten Jeep des Altusrieder Gemeindedoktors, sein Gepäck auf dem Schoß, und rang mit seiner Übelkeit. Hätte er nur nicht eingelenkt, als ihn Erika bekniet hatte! Und dann hatte Dr. Martin Langhammer natürlich auch noch darauf bestanden zu fahren – nun bretterte er mit seinem winzigen »Winterauto« wie ein Irrer um die engen Kurven und weigerte sich strikt, ein Fenster aufzumachen.

»Aufpassen!«, schrie der Kommissar plötzlich mit schriller Stimme, als er einen Begrenzungspfahl rasend schnell auf sich zukommen sah.

Langhammer quittierte den Hinweis mit einem abrupten Schlenker, der Kluftingers Magen erst recht Achterbahn fahren ließ. »Kein Problem«, beruhigte der Doktor, »darum haben wir ja diesen Offroader. Wissen Sie, ich muss ja oft mal zu abgelegenen Höfen, wenn ich Hausbesuche mache. Und da kann ein bisschen mehr Bodenfreiheit nicht schaden.«

Kluftinger wischte mit der Hand über die Seitenscheibe. Vor einer Viertelstunde hatte es heftig angefangen zu schneien, und die Straße war bereits von einer mehr als fingerdicken weißen Matschschicht bedeckt.

»Ja, bei so einem Wetter ist ein Geländewagen wirklich viel sicherer. Gell, ihr habt auch einen Haufen Dienstautos mit Allradantrieb, oder?«, sagte Erika in dem Bemühen, ein Gespräch unter den Männern über dieses vermeintlich maskuline Thema anzukurbeln.

»Mhm«, grunzte ihr Ehemann und machte damit unmissverständlich klar, was er von diesem Vorstoß hielt.

»Also, Allrad hat er jetzt nicht, der Jeep, oder, Martin?«, warf Annegret Langhammer vom Beifahrersitz aus ein.

Kluftinger horchte auf. Er setzte sich aufrecht hin, soweit das die Gepäckstücke auf seinem Schoß zuließen, und lehnte sich nach vorn. »Ähm, Sie haben einen Jeep ohne Allrad? Was genau ist denn dann der Vorteil gegenüber einem richtigen Auto? Dass er praktisch keinen Kofferraum hat und man sein Gepäck ganz nah bei sich am Körper tragen darf? Oder dass man beim Fahren die Straße viel unmittelbarer spürt? Quasi rustikal-alpin?« Er sah Beifall heischend zu Erika hinüber, die an den Auseinandersetzungen der beiden Männer aber keinerlei Interesse zeigte und gelangweilt aus dem Fenster blickte.

»Ach, das kennen Sie noch nicht?«, nahm Langhammer die Herausforderung an. »Das ist der neue Trend bei den Japanern. Da geht es um Gewichtsreduzierung und um eine bessere Ökobilanz. Das sind sogenannte Softroader …«

Kluftinger stieß hörbar die Luft aus und grinste. Softroader. Eine Viertelstunde genoss er einfach schweigend dieses Wort. Die schlechte Luft, das Gepäck, die Enge auf der unbequemen Sitzbank, ja nicht einmal die Meditationsmusik – eine Mischung aus Vogelgezwitscher und Fußgängerzonen-Flötengruppe – konnten ihm im Moment etwas anhaben.

Plötzlich drehte der Doktor aber die Musik ab, sah in den Rückspiegel und verkündete: »So, meine Lieben, genug gedöst, jetzt machen wir ein bisschen Gehirnjogging, wie? Wir müssen ja fit sein für den kniffligen Fall am Krimiwochenende. Vor allem Sie, mein Lieber. Sie haben ja geradezu einen Ruf zu verlieren!«

Priml, dachte Kluftinger. Es reichte nicht, dass er den Jahreswechsel hier in diesem abgelegenen Winkel oberhalb von Oberstdorf mit dem allwissenden Doktor verbringen musste. Nein, ausgerechnet zu einem Kriminalspiel waren sie geladen, bei dem die Hotelgäste selbst einen Fall aufzuklären hatten. Und bestimmt würden alle erwarten, dass er dieses Rätsel lösen konnte – auf Anhieb, versteht sich. Genau diese Befürchtung hatte der Doktor eben bestätigt.

»Sie sind dran, mein lieber Kluftinger!«, riss Langhammer den Kommissar aus seinen Gedanken. »In meinen Koffer packe ich ein Stethoskop …«, wiederholte der Doktor mit erwartungsvollem Blick. »Na?«

Kluftinger verstand nicht. »Ja, sicher, ein Stethoskop. In Ihrem Koffer. Sie sind ja auch Arzt.«

»Nein, nein, das Spiel: Ich packe meinen Koffer. Ich sage, was ich einpacke, Sie müssen es wiederholen und auch was dazutun … also?«

Kluftinger schüttelte nur den Kopf. Das würde dem Quacksalber so passen, dass er sich bei so einem Kinderspiel wieder zum Deppen machte. »Ich kenn dieses Spiel nicht!«, log er daher in ruppigem Ton.

»Ach«, sagte Langhammer und runzelte die Stirn, »ist das die Möglichkeit? Das kennt doch jedes Kind! Also, noch mal, das geht so: Jeder nennt Dinge, die er …«

»Stethoskop und eine Scheibe Leberkäs! Und jetzt mach ich nicht mehr mit, ich kann mir die Sachen nicht merken!«

»Ach kommen Sie! Seien Sie kein Spielverderber!«

Die Frauen packten munter mit, und schon nach dreißig Sekunden war die Reihe wieder am Doktor. »In meinen Koffer packe ich ein Stethoskop, eine Scheibe Leberkäs, eine Gurkenmaske, zwei Nachthemden und einen Medizinball«, sagte er, demonstrativ ohne nachzudenken. »Und nun Sie, mein Lieber!«

»Kreuzkruzifix, ich mach nicht mit, ich kann mir den Schmarrn nicht merken«, brummte Kluftinger.

»Ähm, mein Mann hat ein bissle Migräne, das kommt sicher von dem plötzlichen Wetterumschwung, gell, Butzele?«, säuselte Erika.

Kluftinger kochte. Migräne. Und Butzele. Priml. Er hatte gute Lust, sich nachher im Hotel ein Taxi zu bestellen und wieder zurück nach Hause zu fahren. Nur die horrenden Kosten für solch eine Fahrt würden ihn noch daran hindern können.

»Ach, mein Lieber, das wusste ich nicht, dass Sie unter Migräne leiden. Unter normalen Umständen würde ich sagen, das ist der Stress, aber bei Ihnen als Beamter muss das andere Ursachen haben.«

Der Beamtenwitz des Doktors senkte Kluftingers Taxifinanzierungshemmschwelle deutlich.

»Aber ich hab was in meiner Arzttasche dabei, keine Sorge. Und solange Sie keine Aura haben, ist es noch nicht allzu beunruhigend. Oder haben Sie eine?«

»Mehr als du allemal!«, knurrte Kluftinger, allerdings so leise, dass das Motorengeräusch seine Stimme übertönte.

»Da haben Sie einen Prismenkreis im Sehfeld, bei so einer Aura. Ein seltsames Gefühl, das sage ich Ihnen.«

»Mhm. Nein, das hab ich dann nicht, in dem Fall. Und jetzt brauch ich ein bissle meine Ruh, und dann ist die …«, er machte eine kurze Pause und sah mit bitterer Miene zu seiner Frau, »… Migräne sicher gleich vorbei.«

»Also, dann mach ich mal weiter«, versetzte Erika betont freudig. »In meinen Koffer packe ich ein Stethoskop, eine Scheibe …«

Ein kalter Luftzug wehte Kluftinger um die Nase. Er musste eingenickt sein. Der Wagen stand vor dem Hotel, auf dessen Front in riesigen Lettern der Name »Königreich« stand. Langhammer war bereits ausgestiegen.

»Mir sind da-ha!«, lachte ihn Erika an, und Kluftingers Verstimmtheit wich einer resignierten Milde. Er konnte sowieso nicht weg hier, und das nicht etwa wegen des Taxipreises, sondern vielmehr eines emotionalen Zwanges wegen, der ihn schon so manche unangenehme Situation hatte überstehen lassen. Mit dem Gefühl, eine Sache Erika zuliebe über sich ergehen zu lassen, fiel ihm manches leichter.

Kluftinger schob seine Reisetasche von seinem Schoß und stieg aus. Mittlerweile war aus dem leichten Schneefall ein beißender Sturm geworden. Der Kommissar zog den Kopf ein, drehte sein Gesicht aus dem Wind und schlug den Kragen seines Lodenmantels hoch. Er ging nach hinten, um sich Erikas Koffer zu schnappen. Dort begann Langhammer bereits, einem Hotelangestellten seine Habseligkeiten in die Hand zu drücken: Neben zwei großen Schalenkoffern befanden sich in dem Kofferraum sage und schreibe zwei Beautycases, eine Sporttasche von der Größe, wie sie professionelle Surfer benutzen würden, zwei Paar zottelige Moonboots, Wanderstöcke und zwei sogenannte Zipflbobs aus Plastik, einer in Neonpink, einer in Leuchtgelb. Erikas kleiner Koffer lag obenauf, und als der Doktor ihn dem Helfer in die Hand drücken wollte, schritt der Kommissar vehement ein.

»Nix da, den nehm ich selber. Den geb ich nicht aus der Hand, der ist noch fast neu!«, rief er, ohne den Hotelmitarbeiter eines weiteren Blickes zu würdigen, und griff sich das Gepäckstück.

Erika und Annegret hatten sich derweil im Hoteleingang untergestellt. Schwer bepackt machte sich Kluftinger gerade auf den Weg zu ihnen, als er ein Stöhnen vernahm. Er drehte sich um. Der Kofferträger hievte gerade einen der beiden langhammerschen Riesenkoffer aus dem Wagen.

»Zefix!«, entfuhr es dem Mann in breitem Oberallgäuer Dialekt, »isch der schwer!«

Kluftinger grinste und rief ihm zu: »Kein Wunder, da sind ja auch ein Stethoskop, eine Scheibe Leberkäs, eine Gurkenmaske, zwei Nachthemden, ein Medizinball, ein Sparschwein, eine Duftkerze, ein Allgäukrimi, ein Glas Honig, vier Packungen Vollkornbrot, eine Kamelhaardecke, ein Schweizer Taschenmesser, ein Paar Wollsocken, ein DVD-Player, ein Laptop, ein Kopfkissen, ein Kniffelspiel, zwei DVDs, eine Nagelschere, eine Flasche Massageöl und ein Schutzengel drin.« Dann sah er lächelnd zum Doktor, der ihn verdutzt anblickte, und wollte mit seinen Koffern durch den Schnee davonstapfen, wurde aber vom Gepäckträger aufgehalten.

»Jetzt geben S’ mir halt wenigstens ein Gepäckstück, Sie sind ja Gast bei uns!«, sagte der Mann unwirsch und griff nach Kluftingers Reisetasche. Dessen eher zaghaftes »Nein, jetzt, ich nehm das schon!« wurde vom Schneetreiben verschluckt.

Priml. Und jetzt? Nicht, dass der Kommissar wirklich Angst um seine Habseligkeiten gehabt hätte. Was ihm keine Ruhe ließ, war die Frage, was er dem Mann würde zahlen müssen. Kluftinger fuhr zum Missfallen seiner Frau ja nur selten in Urlaub, und wenn, dann irgendwohin, wo es garantiert niemanden gab, der einem die Koffer schleppte. Und nun? In einem Film hatte er einmal gesehen, dass man in Amerika nach der Anzahl der Gepäckstücke bezahlte. War das hier auch so? Oder ging es in Europa eher nach der Wegstrecke? Gab es Alpinzuschläge? Und wenn ja, was genau war ein Tarif, mit dem man sich nicht allzu sehr blamierte, andererseits aber auch nicht unnötig Geld hinauswarf?

Unsicher trottete Kluftinger seiner Tasche hinterher und hielt sie sogar an einem Zipfel fest, um dem Träger ein wenig seine Arbeit zu erleichtern. Das würde er später guten Gewissens vom Trinkgeld abziehen können.

Das Spiel beginnt

Beim Betreten der Hotelhalle besserte sich Kluftingers Laune wieder. Das war eine Herberge so ganz nach seinem Geschmack: Große Panoramafenster gaben den Blick auf den verschneiten Garten frei, die Halle war mit einem hellen Steinboden ausgelegt, alles wirkte freundlich, gemütlich und gepflegt. Und teuer, was ihn eigentlich am meisten freute – musste er sich doch eingestehen, dass er sich einen Aufenthalt in einem derartig luxuriösen Hotel nicht leisten könnte. Oder nicht leisten wollte, das traf die Sache vielleicht noch besser.

Die Empfangshalle war weitläufig und hatte ein Glasdach, das automatisch die Blicke zu den vier galerieartig darunter angeordneten Stockwerken zog. Hinter den gedrechselten Geländern sah man die Türen, die goldene Schildchen mit den Zimmernummern zierten. Das Dach gab den Blick in den inzwischen ziemlich bedrohlich aussehenden Himmel frei, aus dem dicke Flocken fielen, die aber auf dem Glas sofort schmolzen und als kleine Rinnsale nach unten flossen. Es war eine spektakuläre Aussicht, aber es würde sie sicher nicht mehr lange geben, vermutete der Kommissar, denn wenn der Schneefall nicht bald aufhörte, würde sich die weiße Masse wie eine Decke auf das Glasdach legen.

»Schön hier, oder?« Erika schmiegte sich an Kluftingers Seite, und als er sich ihr zuwandte, sah er, dass auch sie wie gebannt nach oben schaute.

»Ja, sehr schön«, antwortete er ehrlich. Die Kombination aus rustikaler Gemütlichkeit, die die vielen Holzelemente verströmten, und moderner, lichter Bauweise gefiel ihm gut. Kluftinger blickte sich um und sah, dass auch Langhammers von dem Anblick angetan zu sein schienen. »Gar nicht so schlecht, oder?«, sagte Kluftinger ein wenig stolz, denn immerhin kamen sie seinetwegen in den Genuss dieses kostenlosen Wochenendes. Gut, ein klein bisschen hatte der Doktor auch dazu beigetragen, wenn er ehrlich war. Aber nur minimal.

»Ja, ganz ausgezeichnet, mein Lieber. Und das haben wir alles nur Ihnen zu verdanken«, erwiderte Langhammer, und Kluftinger schämte sich ein wenig, weil er Langhammers Verdienst um diese Sache gedanklich so herabgewürdigt hatte.

»Darf ich mal?« Der Mann, der vorher Kluftingers Koffer getragen hatte, drängte sich mit Langhammers Gepäck an ihnen vorbei. Sie traten zur Seite und bemerkten erst jetzt die anderen Gäste, die sich schon hier befanden. Vor dem Panoramafenster saß eine Frau mit strengem Gesichtsausdruck und schmalen Lippen, vielleicht Mitte vierzig, die auf Kluftinger wirkte, als komme sie nicht aus Deutschland. Er wusste auch nicht, warum, aber wenn es um Nationalitäten ging, landete er fast immer einen Treffer. In ihrem Fall tippte er wegen des blassen Teints und der blonden Haare auf Schweden oder ein anderes skandinavisches Land. Er war gespannt, ob er richtig liegen würde. Neben ihr saß ein junger, durchtrainierter Mann mit langen schwarzen, zum Pferdeschwanz gebundenen Haaren. Ihm gegenüber nippte ein braungebrannter Mann mit schlohweißem Haar an seiner Kaffeetasse, seine Beine wippten im Takt der Musik aus den Lautsprechern. Die Musik! Erst jetzt fiel dem Kommissar auf, dass die Lobby mit munteren Klängen beschallt wurde, was die heitere Atmosphäre der Einrichtung noch verstärkte. Die Melodie kam ihm bekannt vor. War das nicht …

»Ah, Miss Marple«, flüsterte eine Stimme an seinem Ohr. Er drehte sich um und blickte in das grinsende Gesicht des Doktors.

»Wie bitte?«

»Die Musik. Aus den Miss-Marple-Filmen. Tatata-taataa-taatata … wirklich herzallerliebst.«

Natürlich. Jetzt fiel es auch dem Kommissar wieder ein. Es war die Titelmelodie dieser Agatha-Christie-Verfilmungen, in denen eine dicke, schrullige Alte die englische Hobbydetektivin gab. Die Organisatoren hatten wirklich an jedes Detail gedacht.

»Herr Kluftinger!« Eine durchdringende Frauenstimme hallte durch die Lobby und ließ die anderen Gäste aufsehen. »Kommissar Kluftinger! Hallo!« Die Frau, die hinter der aus massivem Holz gebauten Rezeption stand, winkte ihm fröhlich zu.

Erika stieß ihren Mann in die Seite: »Guck mal, die Julia König.«

»Ja, ich hab’s gesehen«, sagte Kluftinger, dem es peinlich war, dass sich die Aufmerksamkeit der übrigen Gäste so auf ihn konzentrierte. Also winkte er hastig zurück, und sie durchquerten die Halle mit schnellen Schritten in Richtung Empfangstresen. Noch bevor sie diesen erreicht hatten, kam die Frau dahinter hervor und lief freudestrahlend auf sie zu. »Endlich«, sagte sie und breitete ihre Arme aus. »Meine Ehrengäste!«

Kluftinger fühlte sich geschmeichelt und wurde ein bisschen verlegen – auch, weil die Hotelbesitzerin sehr attraktiv war. Ihr mintgrünes Dirndl passte – das fand zumindest Kluftinger – wunderbar zu ihrem strohblonden Pagenkopf und ihrer gesunden Bräune. Doch landeten die Blicke der meisten Männer wohl erst einmal in ihrem ausladenden Dekolleté – was Kluftinger einen Rippenstoß seiner Frau und Langhammer einen strafenden Blick von Annegret einbrachte.

»Ich freu mich so, dass Sie kommen konnten. Ich hätte ja gar nicht zu hoffen gewagt, dass Sie meiner Einladung folgen. Sie sind sicher wahnsinnig beschäftigt.« Julia König war nicht zu bremsen.

»Ach, das ist halb so wild«, antwortete Langhammer, drängte sich an Kluftinger vorbei und begrüßte die Hotelbesitzerin mit zwei Küsschen auf die Wange. Kluftinger, dem solche Begrüßungsrituale suspekt waren, reichte ihr lediglich die Hand.

»Mei Frau«, sagte er und deutete dabei auf Erika, »und … sei Frau«, fügte er hinzu und deutete auf Annegret, nachdem Langhammer keine Anstalten gemacht hatte, seine bessere Hälfte selbst vorzustellen.

»Das freut mich wirklich sehr, eine so prominente Sportlerin kennenzulernen«, sagte Erika in fast ehrfürchtigem Tonfall und schüttelte Frau König die Hand.

Julia König winkte ab: »Ach was. Exsportlerin. Und so prominent war ich nun auch wieder nicht.«

»Na hören Sie mal«, protestierte Kluftinger, »immerhin waren Sie Olympiasiegerin im … Superski.«

Die König sah ihn prüfend an, weil sie sich nicht sicher war, ob er einen Witz gemacht hatte. Als sie keine Anzeichen dafür fand, murmelte sie: »Jaja, der Super-G, das war schon was … ist ja aber auch schon fast nicht mehr wahr.«

»Das war doch vor höchstens fünf Jahren«, schaltete sich Langhammer in schmeichlerischem Tonfall ein, was der Hotelchefin ein gekünsteltes Kichern entlockte.

»Sie sind mir ja einer! Mir kommt es vor, als ob es eine Ewigkeit her ist. Das war in Sarajevo, 1984, da war ich gerade mal zwanzig. Noch ein richtiges Baby, sozusagen.« Sie lachte laut.

»Ich bin auch begeisterter Skifahrer«, fuhr Langhammer fort, der gar nicht zu merken schien, dass Annegret inzwischen gelangweilt an der Rezeption lehnte. »Vielleicht können wir uns da mal ein bisschen austauschen. Fürs richtige Wachs könnte ich noch ein paar Tipps gebrauchen.«

»Vielleicht wären ein paar Tipps zum richtigen Pflugbogen noch wichtiger«, grummelte Kluftinger eingedenk eines gemeinsamen Skiausflugs und zog Erika ebenfalls in Richtung Tresen.

Dort bekamen sie gerade noch mit, wie sich ein elegant gekleideter Mann, den Kluftinger trotz seiner grauen Schläfen auf höchstens fünfundvierzig schätzte, lautstark bei einem Hotelangestellten beschwerte. »Ich hab gedacht, das Hotel ist neu, da sollte man ja wohl davon ausgehen können, dass die Sachen funktionieren.«

Der Hotelangestellte, ein gedrungener Mann in roter Livree, entschuldigte sich unterwürfig und fügte an: »Aber unser Hotel ist nicht neu, es wurde nur grundlegend saniert.«

»Brauchen Sie mir nicht erzählen, weiß ich doch«, fuhr ihn der Mann an. »Und da haben Sie die kaputten Sachen gleich dringelassen?« Während der ganzen Zeit spielte er dabei mit seinem Handy herum, das golden glänzte. »Ich hab es gleich gewusst, ich hätte nicht herkommen sollen. Das war eine blödsinnige Idee, dieser Einladung zu folgen.«

Als Kluftinger das Wort »Einladung« hörte, wurde er hellhörig. Er wusste nicht, dass die anderen Gäste auch geladen worden waren. Noch weniger verstand er aber, wie man sich, wenn man schon alles umsonst bekam, so aufführen konnte wie der Mann neben ihm.

Inzwischen stand auch Langhammer bei ihnen, und die Hotelchefin hatte wieder ihren Platz hinter dem Tresen eingenommen. Als der Beschwerdeführer merkte, dass ihn alle anblickten, setzte er sofort ein verbindliches Lächeln auf und fuhr in ausnehmend freundlichem Tonfall fort: »Na gut, da ist dann wohl nichts zu machen. Vielleicht benutze ich einfach Ihren Hotelsafe hier unten, wenn meiner nicht geht.«

»Nein, kein Problem, lass nur, ich kümmere mich persönlich darum«, warf Julia König plötzlich ein. Ihre Stimme war ruhig, ihr Blick sicher. Kluftinger bewunderte sie dafür, dass sie selbst bei derartig unangenehmen Zeitgenossen noch freundlich bleiben konnte. Ein Serviceberuf wäre definitiv nichts für ihn gewesen. Da arbeitete er schon lieber im öffentlichen Dienst, wo man immerhin einigermaßen ehrlich sagen konnte, was man von seinen Zeitgenossen hielt.

»Ich komm schnell zu dir, dann klären wir das.« Frau König ging um den Tresen herum, redete beschwichtigend auf den Mann ein, der weiter verärgert schien und sie immer wieder anzischte, was der Mann in der roten Uniform mit unverhohlener Missbilligung beobachtete. Schließlich schien der Beschwerdeführer zufrieden und wandte sich ab. Als er bemerkte, dass ihn die eben eingetroffenen Reisenden noch immer fixierten, streckte er ihnen die Hand entgegen und zeigte bei seinem Lachen eine makellose Zahnreihe.

»Weiß. Carlo Weiß. Guten Tag.«

Passt zu seinen Zähnen, dachte der Kommissar. Sie reichten ihm nacheinander die Hände, Kluftinger allerdings nur widerwillig. Der Kommissar konnte mit Menschen nichts anfangen, die andere, von denen sie glaubten, sie stünden gesellschaftlich unter ihnen, herablassend behandelten. Als Weiß Kluftingers Zögern bemerkte, beeilte er sich zu sagen: »Es tut mir leid, dass ich da gerade etwas aufbrausend war. Wissen Sie, ich bin Halbitaliener, wie Sie vielleicht wegen meines Aussehens schon vermutet haben.«

Kluftinger hatte nichts dergleichen gedacht.

»Eigentlich müsste ich ja Bianco heißen, Sie wissen schon, Weiß auf Italienisch«, er grinste breit. »Aber meine Eltern waren nicht verheiratet, und jetzt heiße ich eben so wie meine …«

Weiß verstummte. Sein Gesicht wirkte wie erstarrt und er war auf einen Schlag kreidebleich geworden. Er sah an Kluftinger vorbei in Richtung des Panoramafensters. Kluftinger folgte seinem Blick. Auch die Gäste in der Sitzgruppe vor dem Fenster sahen hinaus. Die Wolken hatten sich verdichtet und sahen bedrohlich schwarz aus. Es schneite nun derart heftig, dass man das an den Hotelgarten angrenzende Waldstück kaum mehr sehen konnte.

»Ach, das ist halb so schlimm«, wollte Kluftinger ihn beruhigen. »Das hört schon wieder auf zu schneien, das geht hier ganz schnell in den Bergen.« Doch seine Worte schienen den Mann gar nicht zu erreichen, der mit einer fahrigen Entschuldigung auf dem Treppenabsatz verschwand.

»Unsympathischer Zeitgenosse«, flüsterte Kluftinger seiner Frau ins Ohr. »Bestimmt ein Arzt«, schob er mit Blick auf Langhammer noch nach.

»Darf ich Ihnen vielleicht gleich einen kleinen Imbiss anbieten?«, fragte die Hotelchefin, als sie ihnen die Anmeldeformulare über den Tresen schob.

»Nein, danke. Mir ist von … vorhin noch ein bissle flau im Magen«, antwortete Kluftinger.

»Der Herr Kommissar verträgt das Autofahren durchs alpine Gelände nicht so, stimmt’s?«, mischte sich Langhammer ein und klopfte ihm kumpelhaft auf die Schulter. »Ist vielleicht doch eher ein Flachlandtiroler, was?«

»Besser als Flachwichser«, murmelte Kluftinger und füllte sein Formular aus.

Der Doktor tat es ihm gleich, und als Kluftinger sah, dass der mit Großbuchstaben »DR. MED.« vor seinen Namen setzte, schrieb er ein »HAUPT KOMM. KRIMPOL.« vor den seinen.

»Ich habe Ihnen zwei schöne Doppelzimmer direkt nebeneinander reserviert, ich hoffe, das war in Ihrem Sinne?«

So lang eine dicke Mauer dazwischen ist, lag dem Kommissar auf der Zunge, heraus kam jedoch nur ein gequältes »Freilich«.

»Gut, Sie sind gleich im ersten Stock untergebracht, einfach die Treppe rauf und den Gang entlang. Ihr Gepäck bringen wir Ihnen hoch.«

»Ich hoffe, Sie haben eine schöne Spielwiese für uns im Zimmer bereitgestellt«, grinste Langhammer die Hotelchefin an und kniff seiner Frau in den Po.

Kluftinger wurde gerade mit dem Formular fertig; er hatte nur das Wort Wiese mitbekommen. »Mei, mit Wiese wird’s an dem Wochenende wohl nix, Herr Langhammer. So wie das schneit.«

Die Eheleute sahen ihn erstaunt an und kicherten dann wie ein Teenagerpärchen, bevor Langhammer, ohne den Blick von Annegret abzuwenden, sagte: »Den werden wir schon zum Schmelzen bringen, nicht wahr, meine Taube?«

Zwar verstand Kluftinger nicht, was der Doktor da faselte, seinem Gesichtsausdruck entnahm er jedoch, dass das Gespräch eine Richtung eingeschlagen hatte, der er keineswegs würde folgen wollen. »Also dann: pack mer’s«, sagte er schließlich und sah sich nach ihrem Gepäck um – aber von dem Kofferträger war bereits nichts mehr zu sehen.

Die Verwandlung

»Nur die eine Tasche und der kleine Koffer bei uns in Zimmer 105, der Rest vom Wagen kommt auf die 106«, sagte Kluftinger, als er seine Tür aufsperrte. Hinter ihm stand der Hotelbedienstete mit einem messingfarbenen Gepäckwagen, der bis an seine Belastungsgrenze beladen war. Langhammer, der gerade die Tür nebenan aufschloss, nickte ihm zu und sagte: »Ja, mein Lieber, auf einen gewissen Komfort möchten wir nun mal nicht verzichten, meine Taube und ich. Das sind wir uns wert!«

Kluftinger lächelte erleichtert, weil sie nun wenigstens für ein paar Minuten eine Wand zwischen sich und den Doktor bringen würden, und betrat noch vor Erika und dem Träger das Zimmer. Als sie den kleinen Korridor durchschritten hatten und im Wohn- und Schlafraum standen, blieb Kluftinger abrupt stehen. Ganz offensichtlich waren sie im falschen Zimmer, denn der Fernseher lief, und leise Musik war zu hören. Eine Programmzeitschrift lag aufgeschlagen auf dem Nachttisch, darauf die Fernbedienung. Wahrscheinlich würde jeden Moment jemand aus dem Bad kommen. Am Ende nackt. Kluftinger wandte sich bereits wieder zum Gehen, da fiel sein flüchtiger Blick auf den Bildschirm. Er konnte nicht glauben, was er da las, und stieß seine Frau in die Seite, damit sie seinen Sinneseindruck bestätigte: Auf dem Videotext im Fernseher stand: »Herzlich willkommen, Familie Kluftinger!«

Als seine Frau anerkennend nickte, war er einigermaßen beruhigt, wenn auch ein Rätsel blieb: »Wie kommen wir denn ins Fernsehen?« Er hatte die Frage geflüstert, denn er wollte nicht, dass der Angestellte sie hörte. Der stand nämlich immer noch im Zimmer – sicher, um sein Trinkgeld zu kassieren. Priml, dachte Kluftinger. Nun war er also da, der Moment der Entscheidung. Langsam zog er sein Portemonnaie. Auf dem Weg hatte er beschlossen, dass ein Euro eigentlich genug sein müsste. Die eine Hälfte fürs Tragen, die andere als Schlechtwettergeld. Und er kam sich dabei durchaus großzügig und weltmännisch vor. Der Blick ins Münzfach seines Geldbeutels offenbarte jedoch unerwartete Komplikationen: Dort befanden sich nämlich neben drei Eincentstücken lediglich zwei größere Münzen – einmal fünfzig Cent sowie ein Zweieurostück. Im Kommissar entbrannte nun ein innerer Kampf: Doch nur fünfzig Cent? Zwei Euro? Nein, nicht für eine Leistung, die gerade mal drei Minuten gedauert hatte. Und bloß weil er für dieses Wochenende keinen Pfennig für Kost, Logis und Krimispiel zahlen musste, brauchte man ja nicht gleich das Geld verprassen. Schließlich war Erikas Koffer gar nicht schwer. Zudem hatte er beim Tragen geholfen, sodass sich das Gewicht noch mal reduziert hatte. Insofern schien ihm das goldfarbene Geldstück mittlerweile ohnehin eine viel angemessenere Entlohnung als ein ganzer Euro. Fünfzig Cent, das wär früher eine Mark gewesen. Eine große, silberne Münze. Nur weil das Pendant in der jetzigen Währung nicht so repräsentativ aussah, war es ja nicht weniger wert. Und außerdem hatte man vergessen, das Radio auszustellen und die Fernsehzeitung vom letzten Gast wegzuräumen. Aber einen Cent konnte er auch schlecht geben. Mit einem gequälten Lächeln entnahm er schließlich die goldene Münze seinem Geldbeutel und reichte sie dem Mann mit einem Kopfnicken, das bedeuten sollte, er solle es ruhig annehmen, er habe es sich ja verdient, es sei schon gut so, da brauche er jetzt kein großes Aufhebens darum machen.

Ungläubig blickte der Helfer auf die Münze in seiner Hand und sagte nach einer kleinen Pause mit gerunzelter Stirn: »Oh, das … hätt’s doch … nicht gebraucht.«

Dann verließ er das Zimmer und murmelte beim Hinausgehen: »Da kann ich’s heute Abend ja mal richtig krachen lassen.«

Für einen kurzen Moment war sich der Kommissar nicht sicher, ob er vielleicht doch zu wenig gegeben hatte, dann siegte die Empörung über die Dreistigkeit des Angestellten. Er überlegte, ob er ihm hinterherrufen sollte, dass des Talers nicht wert sei, wer den Pfennig nicht ehre, verwarf den Gedanken aber. Schließlich waren sie eingeladen; zudem wusste der Kommissar ja, was sich gehörte.

Statt sich also über etwas aufzuregen, das er sowieso nicht ändern konnte, tat er das, was Erika immer kopfschüttelnd seinen Zimmerkontrollgang nannte.

Zuerst versicherte er sich mehrmals, dass die Verbindungstür zu Langhammers Räumlichkeiten fest verschlossen war. Dann nahm er sich die Schränke vor. Zu seiner Überraschung waren die nicht vollständig leer. Es fanden sich vielmehr Dinge darin, die den Kommissar aufs Höchste verwunderten: Neben einer Zusatzmatratze und zwei Frotteestapeln, die er schnell als Bademäntel nebst Schlappen identifiziert hatte, und einem Schuhlöffel mit Hotellogo, den er geistesabwesend in der Jackentasche verschwinden ließ, stieß er auf einen einzelnen Handschuh aus Stoff. Vielleicht für eine erfrischende Gesichtsmassage? Da entdeckte er die golden aufgestickten Buchstaben darauf: Geeignet für alle Schuharten. Er räusperte sich, legte den Handschuh schnell zurück und klemmte sich die praktischen Wäschebeutel unter den Arm, um sie in seine Tasche zu stecken.

Dabei dachte er sich nichts, seit ein Richter bei einer Verhandlung, bei der er zugegen gewesen war, festgestellt hatte, dass kleinere Hotelartikel vom Gast als kleine Präsente verstanden werden konnten. Das hatte Kluftinger sich gemerkt. Anschließend studierte er den an der Tür aufgehängten Fluchtwegeplan. Kopfnickend murmelte er immer wieder unverständliche Silben, begleitet von unkoordiniert wirkenden Bewegungen seiner rechten Hand.

»Was machst du denn da?« Seine Frau war unbemerkt hinter ihn getreten.

»Hm?«

»Was du da machst! Du siehst aus wie ein Skifahrer, der vor dem Rennen in Gedanken die Strecke durchgeht.«

Kluftinger ließ seine Hand sinken. »Ich? Ach, hab bloß … gesungen.«

»Soso.«

»Jetzt pack du lieber mal aus«, erwiderte der Kommissar und schob seine Frau zurück ins Schlafzimmer. Sollte sie ruhig den Kopf über ihn schütteln. Im Notfall war er jedenfalls fein raus – im wahrsten Sinne des Wortes. Und sie mit ihm.

Um den Blicken seiner Frau zu entgehen, setzte er seinen Rundgang im Bad fort. Der Föhn war funktionsfähig und wies zumindest äußerlich keine Sicherheitsmängel auf. Wobei … bei diesen Dingern wusste man ja nie. Sie waren wie die ganze elektrische Installation in Feuchträumen mit Vorsicht zu genießen. Er hatte mehr als eine Leiche in der Badewanne gesehen, die eine Dosis Wechselstrom abbekommen hatte. Gut, Unfall war nie einer dabei gewesen, immer nur Selbsttötung oder Mord, aber Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste. Doch die Steckdosen wie die Lampen bestanden seine Sichtprüfung.

»Da!« Erika reichte ihm ihre beiden Kulturbeutel durch die Tür. Dankbar nahm Kluftinger sie an sich, öffnete ihren und räumte die ganzen kleinen Fläschchen, die im Bad standen, mit ein paar schnellen Handgriffen hinein. Sie hatten immer ihre eigenen Fläschchen dabei. Die kleinen, die vorn im Drogeriemarkt standen. Diese hier sahen dagegen ungleich edler und vor allem teurer aus. Kluftinger schätzte, dass allein das Shampoo locker für drei Haarwäschen reichen würde. Nur die Duschhauben ließ er in dem kleinen Körbchen auf der Ablage.

Als er in den Spiegel blickte, zuckte er zusammen und unterdrückte einen Schrei: Seine Frau war offenbar nicht gleich wieder gegangen und starrte ihn nun mit ungläubiger Miene an.

»Und was wird das, wenn’s fertig ist?«

Auch wenn er nichts Falsches getan hatte, fühlte er sich, als hätte ihn Erika genau dabei erwischt. »Ich … äh …«, stotterte er. Dann holte er tief Luft und streckte die Brust heraus: »Ich sammle die kleinen Proben ein. Die sind ja dazu da, dass man sie benutzt.«

»Ja, schon, aber hier, nicht bei uns daheim.«

»Das spielt keine Rolle. Ist alles …« Kluftinger hielt inne. Schon während er den Satz aussprach, bemerkte er, dass es komisch klingen würde, weil sie doch als Gäste hier waren. Er fand jedoch keinen anderen Schluss und endete: »… im Preis inbegriffen.«

Erika zog lediglich die Augenbrauen nach oben und schwieg. Er hasste es, wenn sie das tat. Sie wollte schon wieder nach draußen gehen, da fiel ihr noch etwas ein: »Warum räumst du dann nicht am Ende unseres Aufenthalts hier ab?«

Seine Augen verengten sich. Sollte er ihr wirklich den Grund nennen? Sie würde ihn kaum gutheißen. Aber schließlich war er im Recht; er tat nur das, wozu das Hotel ihn praktisch aufforderte. »Weil sie es dann nicht jeden Tag auffüllen«, sagte er mit selbstbewusst nach vorne geschobenem Kinn.

Seine Frau seufzte und verschwand aus dem Türrahmen.

Erleichtert öffnete er den Klodeckel und schloss ihn wieder. Alles in Ordnung hier. Er verließ die Nasszelle und betrat den Schlafraum. Erika hatte den Inhalt ihres Koffers bereits zum größten Teil in einem der Einbauschränke verstaut. Fein säuberlich geordnet natürlich.

»Du, meine Wertsachen leg ich in den kleinen Safe im Schrank. Hast du auch was zum Reinlegen?«, fragte sie ihn, ohne sich umzudrehen.

»Bloß das Handy. Das scheint hier oben eh nicht zu funktionieren. Das Geld hab ich im Brustbeutel!«

»Im was?« Erika sah ihren Gatten verwundert an.

»Hm?«

»Wir sind doch hier nicht in Chicago oder in Palermo. Dein Brustbeutel, das alte Ding! Du gehst doch auch nicht durch Kempten damit!«

»Ja und? Im Urlaub muss man auf Geld und Dokumente besonders aufpassen, das solltest du schon wissen. Da ist man oft mal abgelenkt, und schwupps, findest du dich auf dem Konsulat wieder, ohne Papiere, ohne Geld, ohne Schlüsselbund!«

»Du hast deinen Schlüsselbund …«

»Im Brustbeutel, jawoll«, sagte Kluftinger trotzig, und Erika gab auf. Wenn sie wieder zu Hause wären, würde sie dieses Achtzigerjahrerelikt aus mittlerweile ziemlich speckigem Naturleder, das sie für eine Italienreise angeschafft hatten, dezent verschwinden lassen. Bei Nachfragen würde sie ihrem Mann einreden, dass er es wohl verschlampt haben müsse.

»Ich hoff nur, dass die Annegret und der Martin das nicht spitzkriegen, die lachen sich ja tot!«, sagte Erika resigniert.

»Beim Doktor wär’s kein großer Verlust!«, knurrte Kluftinger. Er hatte sich unterdessen darangemacht, die Bestandsliste der Minibar mit dem tatsächlichen Inhalt des kleinen Kühlschranks zu vergleichen. Man wusste ja nie, was die einem alles auf die Rechnung setzen würden. Erika schüttelte den Kopf und bemerkte: »Wir sind hier eingeladen und zahlen keinen Pfennig. Meinst du, die wollen sich an einem kleinen Mineralwasser bereichern?«

Doch Kluftinger ließ sich nicht beirren. »Sicher ist sicher. Da ist auch Prosecco drin. Für sieben Euro. Piccolo! Muss ja nicht sein, oder?«

»Gib mir doch grad ein Fläschle Orangensaft«, bat Erika, während sie ihren Badeanzug aus dem Koffer zog. »Und dann deinen Koffer, ich räum ihn für dich aus.«

»Das braucht’s jetzt ja wohl nicht, würd ich mal sagen.«

»Was?«, erkundigte sich Erika.

Der Kommissar räusperte sich. »Das mit dem Koffer mein ich.« Vielleicht würde Erika über diese Diskussion ihre Orangensaftforderung vergessen. Der kostete nämlich nur unwesentlich weniger als der Sekt. Wobei das nicht das eigentliche Problem an der Sache war. Hier ging es ums Prinzip. Er war kein Minibarkonsument. Er würde nie einer sein. Und Erika, wenn sie ehrlich war, auch nicht. Sie stammte wie er aus bescheidenen Verhältnissen. Sie hatten nie Geld verprasst. Denn genau dafür stand nach seinem Dafürhalten die Institution Minibar: Völlerei und Verschwendungssucht. Vier Euro für einen Zehntelliter Saft! Dazu waren weder er noch seine Frau der Typ. Umso mehr wunderte er sich. Aber vielleicht wollte sie ihn nur provozieren. Prüfend sah er zu Erika auf. Die aber blickte ihn mit großen Augen an und wiederholte langsam und deutlich: »O-ran-gen-saft?«

»Wie, Orangensaft? Das fangen wir ja jetzt wirklich nicht an! Hast du nix dabei zum Trinken?« Die Frage kam in rüderem Ton, als er eigentlich gewollt hatte.

»Du, gell … wir sind hier zur Erholung und nicht auf dem Spartrip.« Das kaum vernehmliche Schluchzen am Ende des Satzes machte Kluftinger bewusst, dass er den Bogen ein wenig überspannt hatte. Mit seinem treuesten Dackelblick reichte er ihr das gewünschte Fläschchen und fügte an: »Du musst doch nicht mein Zeug ausräumen, du bist schließlich zur Erholung da. Außerdem, bei zwei Nächten lass ich mein Gwand eh in der Tasche. Ich räum bloß mein Knabberzeug raus.«

Erika griff sich den Saft und begab sich wortlos ins Bad.

Ihr Mann hingegen kniff die Augen zusammen und sah sich einen kurzen Moment skeptisch im Raum um, wie um zu überprüfen, ob die Luft rein sei, und ließ den Flaschenöffner, ein kombiniertes Modell aus Korkenzieher und Kronkorkenheber, flugs in Erikas Handtasche gleiten. So würde die Minibardiskussion sich von selbst erledigen.

Ächzend setzte er sich auf seine Seite des Bettes. Schnell hatte er beschlossen, welche das sein würde: die zum Fenster gewandte, wie zu Hause. Zwar lag die in diesem Fall auf der linken, Erikas Seite. Aber Fenster oder Tür wogen stärker als rechts oder links. Das hatte sich, auch wenn sie nicht oft und in seinem Falle auch nicht gern auswärts schliefen, schon zu Beginn seiner Ehe so eingebürgert. Kluftinger schlug die Decke zurück, die zu seinem Missfallen viel zu fest unter die Matratze gesteckt war. Wegen seines Problems mit den heißen Füßen benötigte er aber dringend Luft an denselben.

Das Allerschlimmste an dieser Art Bettzeug war aber, dass den Kern meist eine Steppdecke bildete, die in ein loses Laken eingeschlagen war, das sich im Laufe der Nacht unweigerlich von der Decke löste. Warum, das konnte sich der Kommissar auch nicht erklären. Er wusste nur, dass er morgens stets in eine blanke, bereits von unzähligen Fremden benutzte Decke eingekuschelt aufwachte, mit einem Zipfel davon direkt im Gesicht. Er seufzte und zupfte ein wenig an seiner Decke, wobei er peinlich darauf achtete, Erikas Hälfte nicht zu beschädigen, die diese Bettformation geradezu abgöttisch liebte.

Als er die Laken zu seiner Zufriedenheit drapiert hatte, nahm er schließlich seine Tasche, zog den Reißverschluss auf und verstaute in seinem Nachttisch zwei Prinzenrollen, eine Tüte Studentenfutter, eine Tafel Schokolade und eine große Portion Gummibärchen sowie eine Dose »Nüssle«, wie er seine geliebten gerösteten Pistazien nannte, deren Brösel im Bett Erika schon mehr als einmal zur Weißglut getrieben hatten. Er stellte die Tasche gerade neben sein Bett, als Erika aus dem Bad trat, die Hände in die Hüften gestützt.

»Hör halt mit dem Schmarrn auf!«, seufzte sie. »Ich nehm ja wirklich viele von deinen Marotten hin, aber jetzt reiß dich mal ein bissle zusammen!«

Fragend blickte der Kommissar seine Frau an. Er war sich keiner Schuld bewusst.

»Tu bitte nicht so naiv! Wenn du schon die ganzen Pflegemittelchen aus dem Bad klaust, dann steck sie dir in deine eigene Tasche, nicht in meinen Kulturbeutel. Was sollen wir denn überhaupt mit dem Zeug, hm? Wir haben ein ganzes Fach in unserem Spiegelschrank voll davon. Die Sachen sind teilweise noch aus den Achtzigern! Ist das nicht sogar Diebstahl?«

»So ein Schmarrn, Diebstahl«, gab Kluftinger beleidigt zurück, »das sind Gastgeschenke. Wenn man die nicht annimmt, sondern einfach achtlos stehen lässt, dann ist das unhöflich, das solltest du eigentlich auch wissen. Ich wollt dir nur einen Gefallen tun, dass du immer was dabei hast auf Reisen, aber bitte …«

Erika dachte gar nicht daran, auf diese »Ich-hab’s-nur-für-dich-getan«-Masche einzusteigen. »Was dabei hast, alles klar. Ich hab heute noch Salz- und Pfefferbrösel von unserem Ostereinkauf in München in meiner Handtasche. Die hast du mir in dem Schnellrestaurant mit diesen Tütchen vollgepackt. Die sind alle aufgegangen. Und ich hab’s dir nicht einmal gesagt, weil du so viel um die Ohren hast und ich mich nicht immer beschweren will. Du mit deinem komischen Sammeltrieb, das ist doch eine Manie.«

»Manie, so ein Krampf. Mit dem Salz und dem Pfeffer zum Beispiel, das ist halt einfach praktisch. Und höflich«, verkündete Kluftinger in leidendem Tonfall.

»Höflich?«, erkundigte sich Erika und schien mehr interessiert als verstimmt.

»Ja, höflich. Stell dir vor, wir gehen nobel essen …«

»Was wir fast nie tun«, unterbrach Erika ihren Mann.

»Das tut jetzt nix zur Sache. Geht eben nicht so oft, ich bin auch nur …«

»… ein kleiner Beamter, ich weiß. Und weiter?«

»… im Restaurant fehlt es am Pfeffer auf den Kässpatzen …«

»… ah, wir essen Kässpatzen im Nobelrestaurant. Lecker. Mal was ganz anderes!«

»Wie dem auch sei: Man möchte doch nicht nach dem Salzstreuer fragen. Stattdessen langt man in die Tasche und würzt ganz diskret nach.«

Erika schüttelte nur den Kopf und schnappte sich ihre Tasche. »Jetzt zeig ich dir, was diese Notfallgewürze für einen Dreck hinterlassen haben in …«

Erikas Augen weiteten sich. Irgendetwas schien ihre Aufmerksamkeit erregt zu haben. Kluftinger schluckte. Der Öffner! Jetzt saß er wirklich in der Tinte.

»Also, das ist doch wohl das …«

Es klopfte. Erika hielt inne, raunte ihm zu, dass sie sich darüber noch zu unterhalten hätten, setzte ein ziemlich echt wirkendes Lächeln auf und forderte ihren Mann auf, zur Tür zu gehen.

Kluftinger tat, wie ihm geheißen, und blickte kurz darauf in die strahlend blauen Augen der Hotelchefin, die ihm mit einem Berg Kleider gegenüberstand. Prüfend begutachtete Kluftinger den Stapel in ihren Armen, bis Julia König sagte: »Darf ich reinkommen?«

»Oh, sicher, mei, Entschuldigung.« Er trat zur Seite, und die König ging rasch an ihm vorbei ins Zimmer, wo sie den Klamottenberg auf einen Stuhl gleiten ließ.

»Sie, das ist sehr nett, Frau König, aber wir haben eigentlich genug Sachen dabei. Wir haben auch für die kalte …«

Die Hotelchefin unterbrach ihn: »Nein, nein, das verstehen Sie jetzt falsch«, sagte sie lachend. »Das sind die Sachen für heute Abend.«

»Wie, Sachen?«, fragte Erika.

»Ach so, natürlich, Sie sind ja noch gar nicht im Bilde, sollte eine Überraschung sein. Also: Unser Spiel heute soll in authentischen Kostümen stattfinden. Die anderen wissen noch gar nix davon, die kriegen die Kostüme erst aufs Zimmer gelegt, wenn wir uns nachher zum Begrüßungscocktail treffen. Aber es wäre toll, wenn Sie Ihre gleich anziehen könnten, zur Anschauung für die anderen. Sie beide sind ja erfahrene Schauspieler, wie ich selbst feststellen durfte.«

Kluftinger machte eine wegwerfende Handbewegung. »Also, Schauspieler ist vielleicht ein bissle …«

»Jetzt bloß keine falsche Bescheidenheit, Herr Kluftinger. Ich habe mich davon überzeugt – jedenfalls solange das Stück damals gedauert hat bis zu dem … Zwischenfall.« Die Hotelchefin sah, dass den beiden das Thema unangenehm war, und fuhr munter fort: »Jedenfalls habe ich hier einen prächtigen Anzug, wie er einem Meisterdetektiv gebührt.«

Kluftinger runzelte die Stirn.

»Sie haben schon richtig gehört. Ich würde Sie nämlich bitten, in unserem Spiel nachher die Rolle des Hercule Poirot zu übernehmen. Ich meine, wenn man schon einmal so einen berühmten Ermittler unter den Gästen hat …«

Kluftinger errötete leicht. Er fühlte sich außerordentlich geschmeichelt. »Ach, Frau König, also wissen Sie …«

»Also, Sie machen es?«

Kluftinger zögerte nicht lange und sagte schließlich: »Gern.« Er hatte ein Faible für Detektivgeschichten. Jedenfalls gehabt, denn als er noch regelmäßig Bücher gelesen hatte, also in seiner Jugend, waren viele Romane von Arthur Conan Doyle oder Agatha Christie dabei gewesen. Selbst die allerdings meist nur deswegen, weil seine Mutter ihm, wenn er ein Buch las, immer bereitwillig seine geliebten Kässpatzen gekocht hatte. Dennoch war er nicht die von ihr erhoffte Leseratte geworden. Das Spielen mit den anderen Buben, draußen im Dorf, hatte er immer der Ofenbank vorgezogen, Kässpatzen hin oder her. Früher jedenfalls.

Und so war ihm Agatha Christies berühmter Detektiv ein Begriff. Auch aus den Verfilmungen natürlich. Und Kluftinger freute sich darauf, seine Kenntnisse nun schauspielerisch anwenden zu können. Immerhin war es eine bedeutende Rolle, in die er da schlüpfen durfte, auch wenn sich seine Befürchtungen bestätigten: Er würde den »Fall«, oder was auch immer heute Abend stattfinden würde, aufklären müssen.

»Wunderbar, ich hatte nichts anderes von Ihnen erwartet.« Julia König strahlte ihn an und zerstreute so seine Bedenken. »Um achtzehn Uhr dann im Salon, zum Begrüßungscocktail?«

Kluftinger nickte. Allein das Wort »Salon« versetzte ihn zurück in die Zeit, in der diese Detektivgeschichten spielten, die Jahrhundertwende oder die Zwanzigerjahre, als man noch mit Droschken oder heutzutage völlig veraltet anmutenden Automobilen durch neblige englische Grafschaften oder über die Küstenstraßen der Côte d’Azur fuhr. Und sehr viel Wert auf angemessene Kleidung legte, weswegen er, sobald die Hotelbesitzerin verschwunden war, neugierig in den Kostümen stöberte, die diese dagelassen hatte.

»Schau mal, was für ein schönes Kleid«, rief Erika erfreut aus und hielt einen blau glänzenden, mit Spitzen besetzten Stoff in die Höhe. Kluftinger nickte nur kurz und fügte ein beiläufiges »Mhm, toll« an, denn er betrachtete konzentriert die Sachen, die für ihn bereitgelegt worden waren: ein cremefarbener Anzug, eine Weste und schwarz-weiße Schuhe, die aussahen, als kämen sie direkt aus einem Mafiafilm. Sogar ein Monokel und eine Uhrenkette waren dabei – und ein kunstvoll gezwirbelter Schnauzer samt Bartkleber.

»Die Frau König hat ja wirklich an alles gedacht.« Erika lächelte ihren Mann an. »Komm, machen wir uns schnell fertig, damit wir die Sachen anprobieren können.«

Die Hotelchefin hatte geschafft, was Kluftinger heute nicht mehr gelungen wäre: Erika war ihm überhaupt nicht mehr böse. Kluftinger verzog sich ins Bad, um sein Kostüm anzulegen. Zehn Minuten später stand er, samt Schnauzbart, in der Tür. »Und?«

»Du siehst …« Es schien, als fehlten Erika buchstäblich die Worte, dann vollendete sie den Satz mit einem heiseren: »… toll aus.«

Kluftinger stand vor dem mannshohen Spiegel am Kleiderschrank und betrachtete sich selbst ein wenig ungläubig. Er sah wirklich fabelhaft aus, da hatte seine Frau nicht übertrieben. Er hatte die Daumen in die Westentaschen gehakt und erinnerte, auch von der Statur, ein wenig an Peter Ustinov, der den Detektiv in den legendären Verfilmungen gespielt hatte. Der gezwirbelte Schnurrbart tat ein Übriges, um die Ähnlichkeit noch zu verstärken. Eine dunkelbraune Fliege und ein Einstecktuch vervollständigten das Bild. »Ja, du hast recht, das Kostüm ist …«

»Würdest du vielleicht auch mal was zu mir sagen?«

Verlegen drehte sich Kluftinger um. »Natürlich, Entschuldigung, du bist auch, also wirklich …«

»Lass gut sein, mein Meisterdetektiv«, sagte Erika und hauchte ihrem Mann einen Kuss auf die Wange. Sie wusste, dass dieses Gestammel so ziemlich das größte Kompliment war, das er zustande brachte. Und sie fand es absolut gerechtfertigt: Das lange, dunkelblaue Trägerkleid hatte ein spitzenbesetztes Dekolleté, ihre Hände steckten in dunklen Handschuhen aus Samt, die bis über den Ellenbogen reichten. Dazu trug sie einen extravaganten, ebenfalls dunkelblauen Hut. »Ich glaub, so können wir uns sehen lassen.«

»Abär sischerlisch, Madame«, sagte Kluftinger und ahmte dabei einen starken französischen Akzent nach. »Wollen wir nun die Lang’ammers ’olen?«

Erika lachte und hakte sich ausgelassen bei ihm unter.

Wenig später klopfte Kluftinger am Nachbarzimmer mit der Nummer 106.

»Na, da sind Sie ja endlich, wir haben schon …« Langhammer brach den Satz abrupt ab. Mit großen Augen musterte er Kluftingers Aufmachung und sagte dann abschätzig: »Na, haben Sie aus Versehen den Koffer Ihres Großvaters mitgenommen?«

Da trat Kluftinger einen Schritt zur Seite und gab den Blick auf die hinter ihm stehende Erika frei.

»Erika … du … ich meine … auch?«

»Gefällt dir unser Aufzug etwa nicht?«, fragte sie ein wenig pikiert, und Kluftinger freute sich darüber, dass Erika nun auch einmal eine Dosis von des Doktors Arroganz abbekam.

Da hatte Langhammer sich aber schon wieder gefangen: »Doch, doch, natürlich, meine Liebe. Ihr seht ganz phantastisch aus. Wie aus einem Hollywoodfilm, nicht wahr, meine Taube? Da wirst du uns unten aber ganz schön die Show stehlen, Erika.«

Kluftinger konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass Langhammer mit dem letzten Satz seine tatsächliche Gefühlslage verriet. Er grinste nur und antwortete mit Blick auf Langhammers Cordanzug: »Nun, ein ’Err sollte sisch in Gesellschaft doch wissen zu kleiden, Misjö. Wir sehen uns im Salon? Wenn Sie misch suchen, fragen Sie einfach nach … Hercule Poirot. Kommen Sie, meine Liebe!«

Mit diesen Worten zwirbelte er seinen falschen Bart, hielt Erika wieder seinen Arm hin, und sie stolzierten, Langhammers ratlose Blicke im Rücken, den Gang entlang.

Ein seltsamer Scherz

Das Hallo war groß gewesen, als Kluftingers den Salon betreten und in ihren Kostümen eine kleine Runde durch den Saal gedreht hatten. Der Kommissar hatte in französischem Akzent ein paar Bonmots zum Besten gegeben, wie es ihm ohne Verkleidung wohl nie möglich gewesen wäre. Es war schon seltsam: Wenn er sich, wie beim Laienspiel in seinem Heimatort Altusried, hinter einer Maske verstecken konnte, wurde er zu einem anderen Menschen. Manchmal sogar zu dem Menschen, der er gerne sein würde. Dann scheute er sich nicht, vor einem Auditorium zu sprechen, das aus mehr als zehn Zuhörern bestand – in den Zuschauerraum der Freilichtbühne passten 2500 Besucher. Dann hatte er kein Problem, Frauen selbstbewusst Komplimente zu machen. So war es auch jetzt: Er war nicht er selbst, er war Hercule Poirot. Jedenfalls eine ziemlich gelungene Allgäuer Ausgabe des belgischen Detektivs, wie er fand.

Bei seinem Rundgang hatte Kluftinger Zeit, sich die anderen Gäste anzuschauen. Er zählte ungefähr ein Dutzend. Ungefähr, weil er sich nicht sicher war, wer von ihnen zum Hotelpersonal gehörte. Er war etwas enttäuscht über sich selbst, denn er war überzeugt, dass Hercule Poirot darauf anhand scheinbarer Nebensächlichkeiten wie der Länge der Fingernägel, der Form des Schuhabsatzes oder ähnlich abstruser Dinge messerscharf geschlossen hätte. So musste er warten, bis sie sich einander bekannt gemacht hatten. Alle standen im Halbkreis um Erika und ihn herum und machten ihnen Komplimente über ihren Aufzug. Die blonde Frau vom Panoramafenster sogar mit – er hatte es ja gleich gewusst – unverkennbar holländischem Akzent: »Sie säihen abr wirklich gans putschig aus! Toll«, sagte sie, was er mit einer wegwerfenden Handbewegung beantwortete. Ihr Kommentar löste nicht nur bei Erika große Heiterkeit aus. Auch der langhaarige Sportlertyp brach in schallendes Gelächter aus und umarmte die Holländerin. Offenbar war er ihr Freund, auch wenn er nach Kluftingers Schätzung rund zwanzig Jahre jünger zu sein schien. Der Mann mit den weißen Haaren war ebenfalls da und klatschte anerkennend.

In diesem Moment kamen Langhammers die Treppe herunter, und Kluftinger konnte am Gesicht des Doktors unschwer ablesen, dass der ihnen die Aufmerksamkeit der anderen zutiefst missgönnte.

Nur einer der Gäste saß etwas abseits an einem der geschmackvoll gedeckten Tische. Kluftinger erkannte in ihm den unangenehmen Beschwerdeführer von der Rezeption.

»Ja, meine Damen und Herren, liebe Gäste, darf ich für einen Augenblick um Ihre Aufmerksamkeit bitten?« Julia König klatschte in die Hände und verschaffte sich so Gehör. Alle wandten sich der Hotelchefin zu, die sich zu ihrer Begrüßungsrede vor den aus groben Natursteinen gemauerten Kamin stellte, der das Zentrum des Raumes bildete. In ihm loderten zwar Flammen, aber nicht aus Holzscheiten, sondern aus einer Art länglichem Gasbrenner hinter einer Glasscheibe. Auch hier fand Kluftinger die Verbindung von modernen und rustikalen Elementen beeindruckend – wenn auch nichts über die Behaglichkeit eines echten Kaminfeuers ging.

»Sie haben aber einen feschen Mann an Ihrer Seite«, hörte Kluftinger plötzlich eine Stimme flüstern. Er sah zweimal hin, um sicherzugehen, dass die Stimme der Person neben seiner Gattin gehörte: Es war eine attraktive junge Frau, um die dreißig, in einem hautengen roten Stretchkleid, das ihre weiblichen Formen stark betonte.

Als die Frau bemerkte, dass Kluftinger sie gehört hatte, lächelte sie ihm zu und streckte ihm die Hand hin: »Gertler. Alexandra Gertler«, sagte sie und blickte das Ehepaar erwartungsvoll an. Als die beiden nicht reagierten, schob sie nach: »Sie kennen mich ja bestimmt aus dem Radio.«

Kluftinger schüttelte den Kopf. »Nein, ich hör nur Bayern 1«, sagte er ganz selbstverständlich.

Erika blickte ihn vorwurfsvoll an und sagte: »Natürlich, Frau Gertler.« An ihrem Tonfall merkte der Kommissar, dass auch sie keine Ahnung hatte, wer sie war.

»Ich freue mich sehr, dass Sie alle meiner Einladung gefolgt sind. Und den Gewinnern des Preisausschreibens meinen ganz herzlichen Glückwunsch!« Mit diesen Worten gewann Julia König ihre Aufmerksamkeit zurück. Also doch, dachte sich Kluftinger, die anderen waren also auch eingeladen.

»Sind andere also auch eingeladen worden«, flüsterte Langhammer, der sich dicht neben ihm postiert hatte.

»Ja, wussten Sie das denn gar nicht?«, gab Kluftinger zurück.

»Ich möchte Ihnen kurz den Ablauf bekannt geben«, fuhr die Hotelchefin fort, »und Sie dann alle zu einem kleinen Umtrunk einladen.«

Applaus brandete auf.

»Also, wie Sie ja wissen, weihen wir mit Ihnen und unserem kleinen Mörderspiel dieses neue, wunderschöne Hotel ein. Nach einer anstrengenden Umbauphase wirklich ein Grund zum Feiern. Alles ist genau so geworden, wie wir es uns vorgestellt hatten.« Mit diesen Worten breitete sie die Arme aus und deutete unbestimmt in den Raum.

Wieder applaudierten die Gäste.

»Wenn ich wir sage, dann meine ich mich und mein Team: Da wäre einmal unser Concierge, den haben Sie alle ja schon kennengelernt.« Erst als Julia König rechts hinter sich deutete, sah Kluftinger, dass dort, im Halbdunkel, noch ein paar Menschen an einem Tisch saßen. Einer von ihnen, der Mann mit der roten Livree, stand nun auf und deutete eine Verbeugung an.

»Ferdinand Sacher wird sich um all Ihre Wünsche kümmern. Ebenso wie Arndt Vogel, auch wenn es bei ihm etwas handfester zugeht.« Ein sportlicher junger Mann mit weißen Hosen und weißem Hemd stand auf. »Er ist nämlich unser Masseur«, sagte die König verschmitzt grinsend. Erika und Annegret warfen sich erfreute Blicke zu.

»Herrlich, mein lieber Kluftinger! Ein Masseur! Der wird unsere müden Glieder wieder auf Vordermann bringen, wie?«

Kluftinger sah den Doktor stirnrunzelnd an.

»Jetzt sagen Sie bloß, dass Sie nicht auch hin und wieder einen Fachmann an Ihren … Astralkörper lassen!«

Bevor Kluftinger antworten konnte, fuhr Frau König fort: »Dann wäre da noch unsere Waschfrau, die, na eben beim Waschen ist. Unsere Mitarbeiter im Service werden Sie heute ja noch kennenlernen, aber die sind gerade damit beschäftigt, Ihr Dinner für eine Leiche vorzubereiten, wenn ich mal einen bekannten Filmtitel zitieren darf.«

Da keiner der Gäste lachte, ging Kluftinger davon aus, dass, wie er, niemand diesen Film kannte.

»Ich will Ihnen nicht verhehlen, denn Sie wissen es ja sicher aus der Presse, dass wir, Klaus und ich, in den letzten Jahren wirtschaftlich nicht gerade eine Glückssträhne hatten.« Bei diesen Worten blickte sie zum Durchlass in die Lobby, an der ein Mann in einem schlecht sitzenden Anzug und mit teigigem Gesicht lehnte. Er blickte aus müden Augen zurück und nickte, wobei ihm sein schütteres Haar strähnig ins Gesicht fiel.

Kluftinger erkannte in ihm den Kofferträger von ihrer Ankunft wieder. Aus dem »wir« schloss er, dass es sich dabei um ihren Geschäftspartner, Lebensgefährten oder sogar ihren Mann handelte, hielt Letzteres aber für nicht allzu wahrscheinlich, denn er schien glatt zwanzig Jahre älter als sie. Noch mehr wunderte sich der Kommissar allerdings darüber, dass sich dieser Klaus um Dinge wie das Gepäck der Gäste kümmerte.

»Aber diese Zeiten sind nun vorbei«, fuhr die König fort, »denn wir werden alles auf ganz neue Beine stellen. Mit unserer neuen Ausstattung und dem Viersternestandard haben wir den Anfang gemacht. Und wenn Sie uns dabei helfen und es überall herumerzählen, dann wird unser Erfolg nicht ausbleiben.«

Die Hotelchefin machte eine Pause, als erwarte sie wieder Applaus, doch als sich niemand rührte, fuhr sie fort: »Wir möchten ein etwas anderes Unterhaltungsprogramm anbieten als andere. Wir werden das einzige Hotel im Allgäu sein, das solche ›Mordstage‹ veranstaltet. Aber es soll nicht einfach ein Theaterstück werden, das Sie sich ansehen. Nein, Sie werden aktiv daran teilnehmen, in eine Rolle schlüpfen, mitermitteln, mitraten …«

»… und mitsterben.«

Ein Raunen ging durch die Menge. Die Köpfe drehten sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, die Julia König unterbrochen hatte. Etwas abseits an einem Tisch saß ein Mann, ein Glas mit einem offensichtlich hochprozentigem Getränk in der Hand.

»Also wirklich, ein seltsamer Scherz …«, zischte Annegret, und ihr Mann schüttelte ebenso den Kopf wie einige andere Gäste.

Die Bemerkung hätte unter anderen Umständen als Spaß durchgehen können, aber der Ernst, mit dem Carlo Weiß – denn so hieß er, erinnerte sich Kluftinger – sie gemacht hatte, ließ keine heitere Stimmung aufkommen. Doch Julia König schien sich dadurch nicht ihre gute Laune verderben zu lassen, und einmal mehr bewunderte Kluftinger sie für ihren Gleichmut.

»Ja, Carlo, auch sterben, aber natürlich so, dass keinem ein Haar gekrümmt werden wird, nicht wahr, meine Damen und Herren? Nur Theaterblut soll hier im ›Königreich‹ fließen. Und wenn es knallt, dann bitte nur aus Spielzeugwaffen. Schließlich sollen Sie danach ja überall erzählen, wie gut es Ihnen hier bei uns gefallen hat. Tot nützen Sie mir also gar nichts.«

Gelöstes Lachen.

»Offenbar kennt sie diesen Muhackel«, flüsterte Erika ihrem Mann ins Ohr. Auch ihm war nicht entgangen, dass die König ihn beim Vornamen genannt hatte, aber das war auf der anderen Seite nicht weiter verwunderlich, schließlich hatte sie ja die meisten Gäste persönlich eingeladen. Und nach jemandem, der an einem Preisausschreiben teilnimmt, sah Weiß ganz und gar nicht aus.

Kluftinger musterte den Mann noch einmal. Auch der stimmte nun in das Gelächter mit ein, offensichtlich war ihm seine Bemerkung doch unangenehm. Er stand auf und stellte sich neben eine Frau, etwa in seinem Alter, die sich auf einen Stock stützte. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr und strich ihr über den Rücken, doch sie drehte sich weder nach ihm um, noch reagierte sie sonst auf ihn. »Francesca«, zischte Weiß ihr zu, doch die Frau wandte sich noch ein Stück weiter von ihm ab, sodass Kluftinger ihre rechte Gesichtshälfte sehen konnte. Er erstarrte für einen Moment, denn der Anblick war schrecklich: Ihre Wange war vernarbt, die Haut wirkte wächsern, wie geschmolzen. Schwerste Verbrennungen, schoss es Kluftinger durch den Kopf. Erika hatte die Narben offensichtlich auch bemerkt, denn ihre Hand krallte sich für einen kurzen Moment in seinen Arm.

Dann zog Julia König wieder die Aufmerksamkeit der beiden auf sich: »Ich möchte Ihnen nur kurz die Regeln unseres Spiels erklären, dann können wir beginnen. Also: Damit Sie alle aktiv am Geschehen teilhaben können, wird Ihnen eine Rolle zugewiesen. Die bekommen Sie jetzt gleich auf einem Kärtchen zu lesen, das wir Ihnen austeilen. Klaus?«

Der Mann mit dem teigigen Gesicht setzte sich mit einem Seufzen in Bewegung und schlurfte mit leicht gesenktem Kopf zu ihr. Als er bei ihr angekommen war, legte sie einen Arm um seine Schulter und sagte: »Das ist, wie gesagt, Klaus Anwander, mein Mann. Er ist, wie ich, Ansprechpartner in allen Belangen. Wenn Sie etwas benötigen, lassen Sie es uns einfach wissen. Tja, und jetzt lassen Sie sich bitte nicht in die Karten schauen, ja? Schließlich wird es später darum gehen, einen Mordfall aufzuklären. Da ist Spürnase gefragt, kein Schummeln. Und es soll doch für alle spannend sein, nicht wahr?«

Alle nickten ihr zu.

»So, und jetzt kommen wir zu einem ganz besonderen Gast des heutigen Abends.«

Der Kommissar blickte gespannt in die Runde.

»Herr Kluftinger?« Die Hotelchefin bat ihn mit einer Geste zu sich.

Verwirrt ging der Kommissar auf sie zu. Er hatte keine Ahnung, dass er ein »ganz besonderer« Gast war. »Bringen Sie doch Ihre Gattin gleich mit«, schob die König nach, worauf Kluftinger rot anlief. Linkisch winkte er Erika zu sich her, worauf einige Anwesende leise zu kichern begannen.

»Herr Kluftinger ist der berühmteste Kriminalkommissar des Allgäus«, sagte sie, und ein anerkennendes Raunen ging durch die kleine Gruppe. Verlegen blickte Kluftinger zu Boden.

»Natürlich wird er den Meisterdetektiv geben. Vielleicht haben Sie ihn schon erkannt?«

»Hercule Poirot! Hercule Poirot!«, rief Langhammer und hüpfte dabei wie ein Schuljunge, der eine Antwort weiß. Grinsend blickte er in die Runde.

»Sehr gut, Herr Doktor Langhammer. Sie kennen sich ja ganz offensichtlich aus in der Welt der großen Krimis.«

Ganz ungeniert antwortete der Doktor mit einem gespielt bescheidenen »Ach, na ja … man hat eben das eine oder andere gelesen«.

»Damit Sie sich alle leichter in die längst vergangene Zeit der legendärsten Ermittler einfühlen können, werden gerade im Moment passende Kostüme zu Ihnen aufs Zimmer gebracht.«

Erneuter Applaus.

»Jetzt verteilen wir aber erst einmal die Rollen.« Die König ließ sich von ihrem Mann die Karten geben. Während sie jedem Gast eine davon reichte, sagte sie laut dessen Namen. Kluftinger sah sich die Anwesenden noch einmal genau an. Es war ein bunt zusammengewürfelter Haufen, den er da vor sich hatte, und er war gespannt, welche Geschichten sich hinter den Gesichtern verbargen. Eigentlich war er nicht der Typ, der im Urlaub gerne neue Leute kennenlernte. Seine Frau hingegen schon, denn die schleppte meist schon am ersten Abend irgendwelche Bekanntschaften aus der Lobby oder dem Hallenbad zum Abendessen an ihren Tisch. Aber diesmal war das natürlich anders: Sie würden alle zusammen bei diesem Spiel mitmachen und sich dadurch zwangsläufig näherkommen.

»Sie brauchen ja keine Karte mehr, Herr Kommissar«, sagte die König, als sie an Kluftinger vorbeiging.

Als sie Langhammer sein Kärtchen gab, sah der Kommissar, dass der, bevor er es auseinanderfaltete, verstohlen zu dem Mann mit dem weißen Haar blickte, den die Hotelchefin mit »Herr Eckstein« angesprochen hatte. Dann schaute er auf seine Karte und grinste zufrieden.

»So, meine Damen und Herren!« Die Hotelbesitzerin klatschte erneut in die Hände. »Wenn Sie jetzt alle Ihre Rolle kennen, können wir ja zum gemütlichen Teil übergehen. Aber heben Sie sich Ihre ›Identität‹ gut auf. Noch eins: Ich würde Sie bitten, nach dem Umtrunk zügig auf Ihre Zimmer zu gehen und sich umzuziehen, denn in etwa …«, sie blickte auf die große Standuhr gegenüber dem Kamin, »einer Stunde gibt es Essen. Dafür haben wir uns eine kleine Überraschung ausgedacht, deswegen wäre es nett, wenn Sie pünktlich kommen würden. Ich sage nur so viel: Wir haben zwei Schauspieler engagiert, die uns nicht nur durch das Spiel geleiten werden, sondern auch als kleine Einführung ein kurzes … aber ich verrate schon viel zu viel. Herbert?«