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Volker Klüpfel

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Beschreibung

Endlich kehrt der prachtvolle Burgschatz mit der Reliquie von St. Magnus, dem Schutzpatron des Allgäus, nach Altusried zurück. Vor Jahrzehnten wurde unter der Burgruine Kalden der sagenhafte Schatz gefunden und ging auf weltweite Ausstellungsreise. Nun muss Kluftinger an einer Arbeitsgruppe teilnehmen, die eigens für die Sicherung der Kostbarkeiten gegründet wurde. Priml!  abei hat er doch ganz andere Probleme: Er hat den Mord an einer alten Frau aufzuklären, der zunächst als natürlicher Tod eingestuft wurde. Oder hat das eine gar mit dem anderen zu tun? Kluftingers Nachforschungen werden dadurch erheblich erschwert, dass sein Auto gestohlen wird, was er aus Scham allerdings allen verschweigt – den Kollegen und sogar seiner Frau Erika. Das bringt ihn mehr als einmal in Bedrängnis. Vor allem natürlich, wenn Dr. Langhammer mit von der Partie ist ...

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Für Michi. Danke, Volki   Für Volker. Danke, Michi

ISBN 978-3-492-95259-0 Juni 2015 © Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2011 Umschlaggestaltung: Cornelia Niere Umschlagabbildungen: Cornelia Niere (Artwork + Hintergrund), Roland Werner (Schild), Robert Knöll / Mauritius Images (Burgruine), Mauritius Images (Burgbasis) Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck  

Künder ew’ger, froher Wahrheit, unsres Land’s Apostel, du, bringe uns ersehnte Klarheit und im Sturm der Zeiten Ruh.

(Aus dem Magnuslied nach D. Haugg)

Heiliger Antonius, kreizbraver Ma, fihr mi an des Plätzle na, wo i mei Sach verlore ha.

(Volksmund)

Prolog

»Wotan?«

Reglos lauschte er in die vorabendliche Stille hinein. Kein Laut. Er drehte sich einmal um die eigene Achse, doch das diffuse Licht der heraufziehenden Dämmerung, das durch die Wipfel der knorrigen Bäume hinunter zum feuchten Waldboden drang, ließ ihn nur wenige Meter weit sehen.

»Wotan!«

Wie immer, wenn er den Namen rief, war er ihm ein wenig peinlich. Selbst schuld, dachte er, niemand hat dich gezwungen, deinem winzigen Hund einen derart martialischen Namen zu geben. Aber er hatte den Kontrast so putzig gefunden: der kleine Dackel mit den krummen Beinchen und der Name der germanischen Gottheit. Langsam begann er sich Sorgen um ihn zu machen. Es war nicht Wotans Art, einfach so fortzulaufen.

»Wotan?« Er schnippte seine Zigarette weg, trat sie aus und hielt inne. Hatte er da nicht etwas gehört? Er blickte zurück auf den Weg, der, mit Baumstämmen befestigt, hinunter ans Flussufer führte. Nichts.

Vor ihm ragte das Plateau mit der Ruine auf. Bei ihrem Anblick fröstelte es ihn. Nebelschwaden hatten sich auf der Wiese ausgebreitet und hüllten die moosbewachsenen Steine des Turms in einen fahlen Schleier. Das Dämmerlicht hatte die Farben aus der Natur gewaschen, alles wirkte grau, trostlos und unheimlich. Er gestand es sich nur ungern ein, aber der Schauder, der von ihm Besitz ergriff, kam nicht von der Temperatur. Er versuchte sich einzureden, dass es nur die Angst um seinen Hund war, denn er wagte gar nicht, sich auszumalen, was passiert sein könnte, wenn Wotan nicht in Richtung Auto, sondern zum Steilufer gelaufen war. Mühelos hätte er unter den Latten des Zauns dort hindurchschlüpfen können, um dann … Gerade als er seinen Blick mit einer bösen Vorahnung in Richtung Abgrund wandte, hörte er ihn.

Es war ein ungewöhnlich aggressives Knurren, aber es kam zweifellos von seinem Hund. Ohne zu zögern, rannte er los, achtete nicht auf die Äste, die ihm ins Gesicht peitschten, sprang über Wurzeln und welkes Laub, blieb stehen und lauschte, den Kopf geneigt, den Blick unbestimmt in die Dämmerung gerichtet. Da! Erneut ein Knurren. Es kam … er kniff die Augen zusammen, als könne er so seine Sinne schärfen … ja, es kam eindeutig von der Lichtung.

Aus der Richtung des Gedenksteins flog Erde und Laub in hohem Bogen auf die Lichtung. »Wotan!« Sein Hund scharrte wie verrückt in der Erde und knurrte den Waldboden an. Gar nicht auszudenken, was dieser Dreck auf den Polstern des neuen Autos anrichten würde. Nur noch Wotans Hinterteil ragte hinter dem Tuffstein hervor, dessen altertümliche Inschrift an die »Veste Alt-Kalden« erinnerte, eine mächtige Burg, die einst hier in Altusried gestanden hatte. Er erinnerte sich noch, dass irgendeine Katastrophe ihr ein jähes Ende bereitet hatte.

»Hör – jetzt – auf!«, schrie er wutentbrannt, da das Tier nicht reagierte. Er stampfte dabei mit dem Fuß auf, was ein merkwürdig dumpfes Geräusch verursachte, als sei es unter der Grasnarbe hohl. Erschrocken hob der Dackel den Kopf, jaulte einmal kurz und kam auf ihn zu, da spürte der Mann einen Zug modriger Luft von unten, hörte das Krachen berstenden Holzes und fiel ins Bodenlose. Dann wurde es dunkel.

Finsternis und Kälte. Mehr nahm er zunächst nicht wahr, als er wieder zu sich kam. Doch sofort gesellten sich rasende Kopfschmerzen hinzu, ein Hämmern hinter der Schläfe, als wolle ihm jemand von innen den Schädel sprengen. Unwillkürlich fasste er sich an den Kopf, spürte ein feuchtes, warmes Rinnsal und wusste, auch ohne es zu sehen, worum es sich dabei handelte: Blut. Sein Blut.

Urplötzlich drängte sein Mageninhalt mit aller Gewalt nach oben, und er übergab sich heftig. Mit dem Handrücken fuhr er sich zittrig über den Mund. Er versuchte, seine Gedanken trotz des mörderischen Pochens in seinem Schädel zu sammeln. Was war passiert? Sein Spaziergang auf dem engen Waldweg zum Fluss fiel ihm wieder ein, der Aufstieg, die Ruine, der Stein, Wotans plötzliches Verschwinden …

»Wotan?«

Jetzt erst bemerkte er das verzweifelte Bellen über sich. Er legte den Kopf in den Nacken, was das Hämmern in seinen Schläfen noch verstärkte. Oder war es die Tatsache, dass über ihm nichts war als undurchdringliche Schwärze? Wie lange war ich weg? Er hatte keinerlei Gefühl für die Zeit, die seit seinem Sturz vergangen war. Sein Sturz! Hektisch tastete er seinen Körper ab. Er schien einigermaßen glimpflich davongekommen zu sein. Offensichtlich war nichts gebrochen, nur sein Schädel brummte erbärmlich. Doch die Erleichterung wurde sofort von einem beängstigenden Gedanken verdrängt: Wie sollte er hier je wieder rauskommen? Wotans Bellen klang, als käme es aus mindestens vier, fünf Metern Höhe. Der Hund musste an der Stelle stehen, wo er eingebrochen war, doch nicht ein einziger Lichtstrahl drang bis hier unten vor. Ächzend stand er auf, breitete die Arme aus und drehte sich mehrmals um die eigene Achse. Blind stolperte er ein paar Schritte nach links, bis er gegen eine feuchte Wand stieß. Seine Finger tasteten über behauene Steine. Er versuchte, sich an ihnen hochzuziehen, aber sie waren glitschig, und er fand keinen Halt. Verzweifelt ließ er sich zu Boden sinken und lehnte seinen malträtierten Kopf an die kühle Mauer. Was würde er jetzt für eine Zigarette geben. Er hielt inne. Die Streichhölzer! Aufgeregt kramte er sie aus seiner Hosentasche, schob die verbeulte Packung vorsichtig auf und zündete eines an. Zuerst fiel sein Blick auf seine vom Dreck beinahe schwarzen Finger. Sie zitterten, als er das Hölzchen hob. Die Wände des Lochs schienen im flackernden Schein der Flamme einen schaurigen Tanz aufzuführen. Sein Verlies maß höchstens fünf auf fünf Meter, und ihm war sofort klar, dass er keine Chance hatte, sich aus eigener Kraft daraus zu befreien. Zu steil und glitschig waren die Wände. Er drehte sich noch ein Stückchen weiter, dann musste er das Streichholz fallen lassen, und es verlosch.

»Scheiße«, zischte er. Es war vielleicht noch ein Dutzend Hölzer in der Packung. Er musste sie sich gut einteilen. Auch wenn es hier unten stockfinster war, schloss er die Augen, um sich das Bild, das er sich von dem Raum gemacht hatte, noch einmal in Erinnerung zu rufen. Plötzlich riss er sie wieder auf. »Das Gitter«, flüsterte er, zündete ein weiteres Streichholz an und hielt es mit ausgestreckter Hand nach vorn. Tatsächlich, er hatte sich nicht getäuscht: In die gegenüberliegende Wand war ein rostiges Gitter eingelassen. Er starrte so fasziniert darauf, dass er die Flamme ganz vergaß und erst wieder daran dachte, als sie ihm die Fingerkuppe ansengte. Doch er ignorierte den Schmerz, krabbelte zu dem Gitter und rüttelte mit aller Kraft daran. Er merkte schnell, dass es nicht lange dauern würde, bis er es aus seiner Verankerung herausgerissen hätte. Stück für Stück löste es sich aus der Mauer. In einer letzten Anstrengung zerrte er keuchend daran, biss die Zähne zusammen, als das rostige Metall in seine Finger schnitt – und riss es schließlich mit einem Krachen aus der bröckeligen Steinwand. Er warf es neben sich und entzündete ein weiteres Streichholz: Vor ihm tat sich ein etwa fünfzig Zentimeter hoher Gang auf, der in eine ungewisse Schwärze führte.

Er hielt kurz inne und faltete die Hände. Da er nicht wusste, welcher Schutzheilige für seine missliche Situation zuständig war, schickte er einfach ein kurzes Stoßgebet gen Himmel. Er bekreuzigte sich hastig und kroch hinein. Schon nach wenigen Metern jedoch bereute er seine Entscheidung: Der Gang war so eng und schwarz, dass sich die Panik wie ein enger, dunkler Mantel um ihn legte. Er holte hektisch ein weiteres Streichholz heraus. Er brauchte Licht, musste etwas sehen – und schrie auf. Direkt vor ihm, ausgestreckt auf dem Boden, lag ein Mensch. Das heißt: Das, was von ihm übrig war, denn er starrte direkt in die schwarzen Höhlen eines Totenschädels. Er erschrak so heftig, dass er das Streichholz fallen ließ, worauf er sofort ein neues entzündete. Der Schädel sah nicht so aus wie die Skelette, die er aus dem Fernsehen kannte. Dieser hier war nicht weiß, sondern dunkel, fast schwarz, und in seiner Stirn klaffte ein Loch. Er veränderte seine Haltung etwas, und das Licht der Flamme brach sich nun in Metall, offenbar Teile einer uralten Rüstung. Als er die knöchernen Überreste einer Hand sah, war seine Angst urplötzlich wie weggeblasen. Denn an einem der Finger prangte ein schillernder, blitzender Ring, dahinter lag ein mit Edelsteinen besetzter Armreif. In diesem Moment erlosch die Flamme wieder.

Mein Gott, ein Schatz, dachte er, kramte ein weiteres Hölzchen heraus, nicht mehr darauf bedacht, es für seine beschwerliche Rückkehr an die Oberfläche aufzusparen. Er leuchtete den Boden ab, entdeckte die andere Hand, deren Fingerknochen auf etwas zu zeigen schienen. Und tatsächlich: In einem Spalt zwischen zwei Steinen steckte ein Messer, dessen Griff ebenfalls mit Edelsteinen besetzt war. Ohne nachzudenken, griff er danach, zog es heraus, worauf sich einer der Mauersteine löste und einen Hohlraum freigab. Er entfernte noch weitere Steine aus der Wand, dann wurde es wieder finster.

Was kommt denn jetzt noch?, fragte er sich, streckte seine Hand im Dunkeln aus und fasste in das Loch. Er bekam etwas Weiches zu fassen, griff zu, merkte, dass darunter etwas Metallisches war, zog es heraus und zündete eines seiner letzten Streichhölzer an: Er starrte auf einen halb verfaulten Stofffetzen, der um etwas Großes, Metallisches geschlagen war. Sein Mund war trocken, als er den Stoff abzog – und einen selbst unter all dem Dreck golden schimmernden Gegenstand in Händen hielt, der über und über mit Edelsteinen besetzt war. Er wusste nicht genau, was es war, das er da in Händen hielt: Ein prächtiger Strahlenkranz ging von der Mitte aus, unten besaß es einen massiven Fuß, der ebenfalls aus Gold zu sein schien.

Fahrig suchte er im Dunkeln nach weiteren Gegenständen. Neben einigen Ringen ertastete er noch einen Kelch und zwei verzierte Armreifen. Er raffte seinen Fund zusammen, schlug alles notdürftig wieder in den Stoff ein und robbte damit weiter. Sein ganzes Denken kreiste nun nicht mehr um seinen Weg nach draußen, sondern um die geheimnisvollen Gegenstände. Wie sind sie hierhergekommen? Warum hat sie vor mir niemand entdeckt? Woher kommt das Loch in dem Totenschädel? Bin ich jetzt reich? Er merkte gar nicht, wie der Gang um ihn herum sich weitete, immer geräumiger wurde. Erst als er statt Erde feuchte Holzplanken spürte, hielt er inne. Er erhob sich ganz langsam und stand plötzlich wieder aufrecht. Wo bin ich bloß? Er kramte die Streichholzschachtel hervor. Nur noch ein Hölzchen befand sich darin. Er biss sich auf die Lippen: Das muss jetzt klappen. Atemlos stand er da, als sich die Flamme flackernd entzündete. Dann seufzte er erleichtert. Er ahnte, wo er war.

Kaum eine halbe Stunde später atmete er wieder die klare, kalte Nachtluft. Der Gang hatte ihn in einen Hohlraum unter der Turmruine geführt, von dort hatte er sich mithilfe ein paar herumliegender Hölzer durch die brüchige Mauer einen Weg nach draußen gebahnt, wo Wotan winselnd einen Freudentanz um ihn herum vollführt hatte. Jetzt saß er in seinem Wagen und sog gierig den Rauch der Zigarette in seine Lungen. Seine neuen Polster waren ihm nun vollkommen egal. Er starrte nur ungläubig auf die Dinge, die er aus der Unterwelt mitgebracht hatte.

Jetzt musste er eine Entscheidung treffen.

Ein warmes Gefühl der Selbstzufriedenheit im Bauch sagte ihm, dass er den richtigen Entschluss gefasst hatte. Er lenkte seinen Wagen zielsicher durch die dunkle Kemptener Innenstadt. Außer den riesigen Köpfen auf den Wahlplakaten, die die Straßen säumten, war keine Menschenseele zu sehen. Als er anhielt und ausstieg, fiel sein Blick für einen Moment auf das Plakat in der Mitte des Rathausplatzes. Beim Anblick des dicken Mannes mit dem roten Kopf musste er grinsen. Dass ein Bayer Bundeskanzler werden könnte, schien selbst hier im Allgäu äußerst unwahrscheinlich. Doch die Wahl, für die er sich noch vor wenigen Stunden so brennend interessiert hatte, war ihm nun nicht mehr als einen flüchtigen Gedanken wert.

»Komm, Wotan«, zischte er, nahm die Sachen vom Beifahrersitz und betrat das Gebäude.

»Moment, Hunde ham da herin nix zu …« Der junge Mann am Schreibtisch verstummte mitten im Satz. Seine Augen weiteten sich, als die verdreckte Gestalt mit dem blutverkrusteten Gesicht in den Schein der Lampe trat. Der Mann wurde begleitet von einem nicht minder schmutzigen Dackel.

»Kohler. Andreas Kohler mein Name, grüß Gott. Lassen Sie sich nicht von meinem Aussehen täuschen«, rief die Gestalt durch das Zimmer, lief zum Tresen und legte ohne weitere Erklärungen ihre Fundstücke darauf. »Ich glaub, ich hab da was für Sie.«

Dem jungen Beamten klappte der Kiefer nach unten. Er erhob sich langsam aus seinem Stuhl und ging auf den Tresen zu, wobei er die Gegenstände, die nun dort lagen, nicht aus den Augen ließ.

Kohler schätzte den Polizeibeamten auf etwa fünfundzwanzig Jahre, auch wenn ihn sein schütteres Haar älter wirken ließ. Der Polizist war schlank, und in seiner Uniform wirkte er sportlich. Als er den Tresen erreicht hatte, schluckte er und murmelte nur ein Wort: »Priml!«

»Aus Dietmannsried?«

»Aus Dietmannsried.«

»Andreas Kohler, richtig?«

»Richtig.«

Der Beamte tippte die letzten Angaben umständlich in die Schreibmaschine ein, wobei er immer wieder fluchend unterbrach und mit Tipp-Ex auf dem Papier herummalte. Schließlich zog er den Bogen heraus und reichte ihn über den Tresen. »Gut, wenn Sie das Protokoll bitte hier unterschreiben, Herr Kohler.«

»Und wie geht es jetzt weiter?«

Der junge Beamte kratzte sich am Kopf. »Ehrlich gesagt: Das weiß ich nicht. Also, einen Schatz, das haben wir hier meines Wissens noch nie gehabt.«

»Aber ich krieg doch eine Belohnung?«

»Ja, sicher. Das steht Ihnen ja zu. Obwohl Sie die ja wohl gar nicht nötig haben.« Der Polizist grinste und deutete durch die Scheibe auf das nagelneue graue Auto, das vor der Wache im Schein einer Laterne parkte.

»Ja, schön, gell? Aber es gehört nicht mir.«

Der Blick seines Gegenübers verfinsterte sich.

»Ich meine, doch, doch, schon meins, aber ich bin Autoverkäufer und fahre immer die neuesten Vorführwagen.«

»Sie meinen, der wär zu verkaufen?«

Kohler hob die Augenbrauen. Warum sollte er nicht auch noch ein Geschäft machen, so ganz nebenbei, auf der Polizeiwache? Der Tag war ohnehin schon verrückt genug verlaufen. »Sind Sie interessiert?«

»Mei, schon. Käme halt auf den Preis an. Was ist es denn für ein Modell?«

»Ein Volkswagen. Der nagelneue Passat Variant – als Diesel. Ist erst seit ein paar Tagen auf dem Markt. Der hält ewig. Und ist sparsam obendrein.«

»Sparsam?« Der Polizeibeamte zog interessiert die Brauen hoch. »Sie verstehen Ihr Handwerk. Aber ewig muss er ja gar nicht halten, bloß ein paar Jahre.«

Der Autoverkäufer fischte mit seinen schmutzigen Fingern eine Visitenkarte aus dem Geldbeutel. »Rufen Sie mich einfach an.« Dann winkte er seinem Hund und ging.

Dienstag, 7. September

»Himmelarsch!«

Missmutig knallte Kluftinger die Fahrertür seines alten Passats zu. Dabei war er vor zwanzig Minuten noch leidlich gut gelaunt zu Hause aufgebrochen. Und die kurze Fahrt von seinem Wohnort Altusried bis zu seinem Büro in der Kemptener Innenstadt hatte ihn sogar noch fröhlicher gestimmt. Kluftinger liebte es, wenn sich der Sommer allmählich seinem Ende entgegenneigte. Endlich durfte man sich wieder guten Gewissens drinnen aufhalten, und seine Frau würde ihn nicht mehr mit absurden Vorschlägen wie »Wollen wir nicht zum Baden gehen?« traktieren. Über der Iller standen wieder erste Nebelschwaden, die ungemütliche Hitze des kurzen Sommers war einer herrlichen Frische gewichen, und die Septembersonne tauchte die Landschaft in mildes Licht.

Doch wieder einmal hatte Kluftingers Freude über diesen wunderschönen Tag keinen Bestand angesichts eines beinahe allmorgendlichen Ärgernisses: Seit die Kemptener Kriminalpolizei vor einigen Monaten in ein neues Gebäude umgezogen war, gab es keine reservierten Parkplätze für die Mitarbeiter mehr. Noch nicht einmal für ihn als leitenden Kriminalhauptkommissar. Nur Dienstautos durften im Hof abgestellt werden. Aber er fuhr halt lieber mit seinem eigenen Wagen und rechnete die gefahrenen Kilometer ab. Er hatte einmal mittels eines komplizierten Rechenvorgangs, den er selbst nicht mehr nachvollziehen konnte, herausgefunden, dass ihm dies finanzielle Vorteile brachte. Nun wurde er das Gefühl nicht los, dass es sich bei der neuen Parkplatzregelung um eine Art Erziehungsmethode für renitente Selbstfahrer handelte. Aber er dachte nicht daran, mit dieser Gewohnheit zu brechen. Jetzt erst recht nicht!

Dennoch verfluchte er sich regelmäßig dafür, denn hier in der Innenstadt waren die kostenfreien Parkplätze mehr als rar. Zwar gab es in hundert Meter Entfernung ein Parkhaus, in dem mittlerweile die meisten seiner Kollegen Plätze zu einem reduzierten Preis gemietet hatten, doch für Kluftinger kam das nie und nimmer infrage. Allein der Gedanke, dafür zu zahlen, dass er während der Arbeit sein Auto abstellen durfte, trieb ihm Schweißperlen auf die Stirn.

Heute war es jedoch besonders schlimm. Kein einziger der ihm bekannten Gratisparkplätze war mehr frei gewesen. Und jetzt war er auch noch zu spät dran. Wenigstens bekam das sein oberster Vorgesetzter, Polizeipräsident Lodenbacher, nun nicht mehr mit. Denn der residierte weiterhin im Polizeikomplex am Stadtrand. Für Kluftinger eigentlich die beste Neuerung, die der Umzug mit sich gebracht hatte.

Nach langer Suche überquerte der Kommissar nun mit hastigen Schritten die Straße. Er nickte dem Bordellbesitzer von nebenan freundlich zu, der wie fast jeden Morgen seinen ziemlich ungemütlich aussehenden Hund ausführte, von dem aber sowohl das Herrchen als auch die für ihn arbeitenden Frauen behaupteten, dass er ein »ganz ein Lieber« sei. Der Kommissar schmunzelte. Niemals hätte er gedacht, dass sich ein so gutes nachbarschaftliches Verhältnis zwischen den beiden doch so gegensätzlichen Etablissements entwickeln würde.

Gedankenversunken stieg er die Treppe zu »seinem Stockwerk« hoch; sein Büro lag in der zweiten Etage.

»So, so! Wenn die Katz ausm Haus is, tanzn die Mäus aufm Tisch, oda, Kluftinga? I glaub, i muass wieder a bisserl mehr kontrollieren, in Ihrem Saustall da heroben!«

Kluftinger hielt kaum merklich einen kurzen Moment inne und schloss die Augen. Priml. Lodenbacher! Die niederbayerische Heimsuchung! Noch bevor er den Treppenabsatz erreicht hatte, presste er hervor: »Ah, Herr Lodenbacher, was verschafft uns denn heut schon so früh die … Ehre?«

Mit zusammengezogenen Brauen musterte der Polizeipräsident den Kommissar, auf dessen Stirn sich winzige Schweißtröpfchen bildeten – sei es wegen seines Zuspätkommens oder wegen des hastigen Tempos, mit dem er die Treppen genommen hatte. Schließlich fasste Lodenbacher den Kommissar am Arm und zog ihn in Richtung der Büros.

»Auf geht’s, mit dera Sach, die wo heut ansteht! I hob net vui Zeit, i bin nachher beim Golf mit dem Landrat. Kemman S’! Alle warten schon im großen Besprechungsraum auf Sie, ned wahr? Gehen S’ weiter und walten S’ Ihres Amtes!«

Kluftinger sah ihn ratlos an. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was heute Besonderes auf dem Programm stand. Außer einer Serie von Autodiebstählen ging es bei der Kemptener Kripo gerade ziemlich ruhig zu.

»I hob Eahna doch a Memo gschickt!«, beantwortete der Polizeipräsident Kluftingers fragenden Blick.

Au weh, dachte der Kommissar. Seine E-Mails kontrollierte er eher unregelmäßig. Aber er hatte doch die Abteilungssekretärin Sandy Henske gebeten, ihm wirklich Wichtiges auszudrucken! Und am Vortag hatte sie ihm nichts gegeben. Kluftinger wischte sich mit der flachen Hand den Schweiß von der Stirn.

Von Lodenbacher wurde er nun vehement in Richtung des großen Besprechungsraumes geschoben.

»Ich schau nur noch schnell in meinem Büro vorbei«, versuchte Kluftinger wenigstens einen kleinen Aufschub zu bekommen, vielleicht konnte er ja sogar Sandy oder einen seiner Mitarbeiter fragen, worum es heute gehen sollte. Richard Maier, der Streber, wusste doch immer, was gerade los war. Doch sein Chef dachte gar nicht daran, ihn noch einmal entkommen zu lassen, und stieß die Tür des Besprechungsraums auf. Kluftinger hörte das eintönige Gemurmel einer lockeren Unterhaltung, dann verstummten nach und nach die Gespräche. Er sah sich im Raum um und blickte in die erwartungsvollen Gesichter seiner »Kernmannschaft«, wie er sie gerne nannte: die Kommissare Richard Maier, Eugen Strobl und Roland Hefele. Sie hatten sich alle drei vor einer Platte mit kalten Häppchen postiert, und dem Zustand dieser Platte nach zu urteilen, standen sie schon eine Weile dort. Doch es waren noch weitere Personen im Raum, was Kluftinger zu dem Schluss kommen ließ, dass es sich wohl um eine Angelegenheit von einiger Wichtigkeit handelte, wegen der sie heute hier zusammengerufen worden waren: Willi Renn, Chef des Erkennungsdienstes, stand am Fenster, wippte ungeduldig von einem Bein auf das andere und warf dem Kommissar einen vorwurfsvollen Blick zu, der wohl seiner Verspätung geschuldet war. Willi hasste Unpünktlichkeit noch mehr als verwischte Spuren am Tatort. Es hatten sich außerdem noch ein paar Mitarbeiter der Verwaltung eingefunden sowie einige Sekretärinnen aus anderen Abteilungen.

Kluftinger war völlig ratlos, was das Ganze zu bedeuten hatte. Die einzige Gemeinsamkeit, die ihm zu den hier anwesenden Personen einfiel, war die Tatsache, dass sie bei der Polizei arbeiteten.

Er wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als Lodenbacher mit einem deutlich vernehmbaren Knall die Tür hinter sich zuzog und sich ein Geschenk samt Schleife und Karte griff, das auf einem Sideboard bereitlag. Daneben stand, in einem Bierglas als provisorischer Vase, ein üppiger Blumenstrauß.

Kluftinger zuckte schließlich mit den Schultern und wollte sich zu seinen Kollegen gesellen. Er würde ja bestimmt gleich erfahren, worum es sich handelte, und nahm sich vor, bei Lodenbachers Rede, die ihnen sicherlich drohte, hin und wieder wissend zu nicken. Als er an seinem Chef vorbeiging, nahm der ihn noch einmal beiseite.

»Jetzt fangen S’ amol an mit Ihrer Rede, ich schließ mich dann an.«

»Meiner …«

»Jetzt gengan S’ zua. I hob aa ned ewig Zeit.« Lodenbacher machte eine Handbewegung, als verscheuche er ein lästiges Insekt.

Rede?

Das Wort dröhnte in seinem Kopf wie der grollende Donner eines nahenden Gewitters. Wie sollte er eine Rede halten, wenn er nicht einmal wusste, weswegen? Kluftinger sah auf und blickte in die erwartungsvollen Augen der versammelten Kollegen, alle Gespräche waren verstummt.

Herrgott, denk nach!, befahl er sich. Wieder begann er zu schwitzen. Er versuchte es mit seiner kriminalistischen Kombinationsgabe: ein Jubiläum vielleicht. Zumindest kein einfacher Geburtstag, zu dem wären schließlich der Präsident und die Kollegen aus den anderen Abteilungen nicht extra gekommen. Kluftinger blickte in die Runde, ein Gesicht nach dem anderen nahm er sich vor. Hefele. Ein runder Geburtstag? Nein, Hefele war in etwa sein Jahrgang. Außerdem stand sein untersetzter Kollege dermaßen unbeteiligt herum, dass es um jemand anderen gehen musste. Maier. Ein Dienstjubiläum? Zwanzig Jahre? Er hätte nicht sagen können, wie lange es her war, dass Richie von der baden-württembergischen zur bayerischen Polizei gewechselt war. Allerdings: Wenn es um ihn gegangen wäre, würde er sich sicher nicht so vornehm zurückhalten. Also Strobl. Vielleicht ja doch eine Beförderung? Eigentlich unmöglich, dann würde Eugen mit ihm gleichziehen. Schließlich war Kluftinger selbst seit … Kluftinger stutzte – vor wie vielen Jahren war er damals in den Polizeidienst eingetreten? Polizeischule mit neunzehn. Er versuchte zu überschlagen. Mit Mitte zwanzig dann der Eintritt in die Kriminalpolizei. Mitte zwanzig? Sollte heute sein dreißigjähriges Dienstjubiläum bei der Kripo Kempten sein? Das könnte ziemlich genau hinkommen. Noch einmal sah er in die Gesichter der anderen. Alle lächelten ihn an. Sie warteten auf eine Rede. Natürlich, ein paar launige Worte zu seinem Jubiläum. Die Anspannung wich von ihm. Er zupfte seinen Janker zurecht und legte los.

»Meine lieben … Kollegen, liebe … andere Anwesende. Schön, dass ihr hier zusammengekommen seid, es freut und ehrt mich gehörig. Wie ich hier seinerzeit als junger Beamter angefangen habe, da war ich noch … jung … also relativ halt. Dreißig Jahre ist das jetzt her …«

»Herr Kluftinger, jetzt warten S’ halt!«, unterbrach ihn sein Vorgesetzter. Der Kommissar stutzte über den wenig feierlichen Ton, den Lodenbacher anschlug. An seinem großen Tag könnte der ja schon ein wenig netter sein.

»Wir wollen schließlich ned ohne die Hauptperson beginnen. Es geht ja ned bloß allweil um Sie!«

Kluftinger schluckte. Also doch nicht sein Jubiläum. Lodenbacher legte ihm eine Hand auf die Schulter und nahm ihn beiseite.

»Wissen Sie, Herr Kluftinger«, begann er leise, »amol unter uns, was Eahna, ich mein Ihnen, auch nicht schaden daad … dät … äh … würde, wär ein Rhetorikkurs mit Sprecherziehung. Sind ja auch ein Vorgesetzter … irgendwie!«

Der Kommissar runzelte die Stirn.

»Ja, Sie stöpseln halt schon allweil recht rum. Und die erziehen Ihnen auch Ihren graißlichen Dialekt ein bisserl ab, ned? Mir hat dös wahnsinnig gutgetan. Ich hab gleich nach meiner Beförderung einen Wochenendkurs bei dem Münchener Promitrainer gebucht. Bei dem sind auch die ganzen Schauspieler, wissen S’? Und Moderatoren und so weiter. Konn ich Eahna … Ihnen … nur empfehlen. Ned ganz billig, aber guat!«

Ein zaghaftes »Mhm« war alles, was Kluftinger herausbrachte. Tatsächlich war ihm schon aufgefallen, dass bei Lodenbacher weniger niederbayerische Färbung zu hören war als noch vor ein paar Monaten. Allerdings hatte er im Moment andere Sorgen, schließlich musste er seine ungehaltene Rede geistig gerade noch einmal umschreiben. Zunächst galt es aber herauszufinden, welcher Hauptperson diese gelten sollte. Noch einmal blickte er in die Runde. Lediglich Sandy Henske fehlte. Wäre sie doch bloß hier! Sie hätte ihm bestimmt helfen können.

In diesem Moment ging die Tür auf, und seine Sekretärin betrat den Raum: Sie trug ein hautenges, mattschwarzes Minikleid und derart hochhackige Schuhe, dass dem Kommissar schon beim Anblick schwindlig wurde. Ihre zurzeit wasserstoffblonden Haare hatte sie hochgesteckt, nur eine Strähne fiel ihr ins Gesicht. Perlenohrringe und ein knallrotes seidenes Halstuch komplettierten das Bild. Auf einmal begriff Kluftinger, um wen es heute ging. Auch die anderen ließ der Auftritt der Sächsin nicht unbeeindruckt: Während Strobl leise pfiff, entfuhr Hefele ein etwas zu lautes »Brutal!«.

Alle Köpfe ruckten herum und sahen ihn an. Sein Gesicht nahm schlagartig eine ungesunde dunkelrote Färbung an. Mit einem beschämten Räuspern wandte er sich ab und stopfte sich noch ein paar Häppchen in den Mund.

»Alle Achtung, Frau Henske!«, sagte Lodenbacher und deutete einen Applaus an.

Sandy lächelte.

Maier, der sich unbemerkt hinter Kluftinger gestellt hatte, flüsterte ihm ins Ohr: »Jetzt aber wirklich! Das ist keine angemessene Kleidung für eine Polizeidienststelle! Ich komm schließlich auch nicht in meiner Badehose!«

»Gott sei Dank, Richie«, raunte Kluftinger flüsternd zurück. »Und jetzt sag mir lieber mal, worum es da überhaupt geht!«

Doch Maier kam nicht zu einer Antwort, denn sein Chef wurde von Lodenbacher nun unsanft in die Mitte des Raumes geschoben, und erneut sahen ihn alle erwartungsvoll an. Sandy strahlte mit ihren makellos weißen Zähnen übers ganze Gesicht. Maier tippte auf seinem Handy herum, hielt es wie eine Videokamera vor sich und filmte in Kluftingers Richtung.

Die Gedanken rasten durch Kluftingers Kopf. Dienstjubiläum? Geburtstag? Die wenigsten Fehltage? Mitarbeiterin des Jahres? Kurzerhand entschied er sich für eine der vielen Möglichkeiten. Es gab Situationen im Leben, da musste man einfach alles auf eine Karte setzen. »Liebes Fräulein Henske, liebe Sandy!«, hob er an und bemühte sich, dabei weniger dialektal zu klingen als sonst, »wenn man sich andere Vierzigjährige so anschaut …«

Sandy riss entsetzt die Augen auf. Priml, dachte Kluftinger. Daneben. Er wandte seinen Blick zum Boden: Dort kauerte Maier mit seinem Telefon, offenbar um ihn aus der Froschperspektive zu filmen. Das erleichterte ihm die Konzentration auf die schwierige Rede nicht gerade. Fahrig fuhr er fort: »… sind diese anderen Vierzigjährigen doch deutlich weniger kindisch als du, Richie! Jetzt reiß dich halt mal zusammen und steh auf, Herrgott!«

Maier erhob sich langsam, wobei er keinen Moment das Smartphone senkte. Stattdessen kommentierte er murmelnd: »Hier sehen Sie den leitenden Hauptkommissar Kluftinger, der nun endlich eine kleine Laudatio auf unsere Sandy Henske halten wird.«

»Was machst denn du da überhaupt?«, zischte Kluftinger.

»Vorsicht, wird alles aufgezeichnet!«

»Jetzt mach’s mal aus, Kruzifix!«

»Wieso? Es soll doch eine schöne Erinnerung werden, ein Andenken für Sandy!«

Hoffnung keimte in Kluftinger auf: »Ein Andenken … woran?« Er versuchte, dabei so gleichmütig wie möglich zu klingen, musste sich aber eingestehen, dass es eher einem Flehen gleichkam.

»Ja, an das heutige Ereignis halt!«

Lodenbacher räusperte sich lautstark.

So kam er nicht weiter, das war Kluftinger klar. Kein Geburtstag, also Dienstjubiläum.

»Liebes Fräulein Henske, oder, wie wir Sie in all den Jahren genannt haben, liebe Sandy«, hob der Kommissar wieder in feierlicherem Ton an, »ach, all diese Jahre – sind sie nicht viel zu schnell vergangen? Diese wunderbaren … sagen Sie, wie lange sind Sie jetzt hier bei uns bei der bayerischen Polizei?«

»Dreizehn Jahre sind es jetzt schon, Chef!«

Kruzifix!

»Aber in Bayern bin ich ja schon ein bisschen länger, nicht wahr. Gut zwanzig Jahre, kaum zu glauben!«

Na also, seufzte Kluftinger innerlich. War ja auch Zeit geworden! »Ja, wenn ich mir vorstelle, was für eine harte Zeit das für Sie gewesen sein muss, diese Flucht!«

Sandys Stirn bewölkte sich.

Au weh, dachte sich der Kommissar, jetzt kommen bei ihr die Erinnerungen hoch.

»Wir alle haben noch die Bilder im Kopf von den überfüllten Botschaften in den Ostblockländern. Schwierige Verhältnisse müssen das gewesen sein.«

Kluftinger hielt für einen Moment inne. Alle starrten ihn an, auch Lodenbacher schien er in den Bann gezogen zu haben. Von wegen Rhetorikkurs! Sandy hatte feuchte Augen bekommen.

»Gut zwanzig Jahre, ja. Die grüne Grenze, Sie müssen furchtbare Angst gehabt haben. Es gab ja kein Zurück! Hatten Sie denn überhaupt ein Auto zur Verfügung? Sind Sie denn über Ungarn rübergekommen? Durch ein Loch im Eisernen Vorhang in die große Freiheit? Was haben Sie denn damals mit Ihrem Begrüßungsgeld gemacht?«

Sandy schluchzte nun laut auf. Kluftinger blickte die anderen nach Bestätigung suchend an. Ja, wenn es emotional wurde, dann wusste er, welche Worte man wählen musste. Seine jahrzehntelange Laienspielerfahrung tat dabei natürlich das Ihrige. Gut, dass Richard Maier diesen Moment für immer festgehalten hatte.

Lodenbacher drehte sich irritiert zu Maier, der gerade über seine Schulter filmte, und fragte konsterniert: »Was hot denn des oiß mit dem Anlass zum tun?«

»Fräulein Henske, schämen Sie sich Ihrer Tränen nicht!« Kluftinger hatte sich geradezu in einen Rausch geredet. »Gerade heute, an Ihrem großen Tag!« Er ließ seine Worte ein wenig verklingen. Diese Sprache! Unglaublich, wozu er unter Stress fähig war! Er zwinkerte in Maiers Handykamera.

»Ach ja?«, brach es nun aus der Sekretärin heraus. »Worum geht’s denn heute? Sie haben … es … ver…« Der Rest des Satzes ging in einem heiseren Schluchzen unter.

Hefele stellte sich eilig neben sie, hielt ihr ein Papiertaschentuch hin und legte ihr zaghaft eine Hand auf die Schulter. Dann warf er Kluftinger einen tadelnden Blick zu.

Maier fuchtelte mit dem Handy dicht vor Sandys Gesicht herum. »Könntest du noch einmal schnäuzen und danach so nett aufschluchzen? Das hab ich nicht in der Nahaufnahme draufbekommen!«

Da streckte Hefele seine Hand aus und bedeckte damit das Objektiv. »Herrgottzack, Richie, jetzt hör mal mit dem Schwachsinn auf! Siehst du nicht, wie’s der Sandy geht? Jetzt verschwind und lass sie in Ruh, sonst hau ich dir das Ding um die Ohren!«

Wortlos machte Maier einige Schritte zur Seite. Dann streckte er seinen Arm aus, richtete das Objektiv auf sein Gesicht aus und sagte: »Dienstag, siebter September, soeben wurde ein heftiger, jähzorniger Wutausbruch des Kollegen Hefele dokumentiert. Hat sich in Stresssituationen immer weniger unter Kontrolle, gerade wenn er emotional stark involviert ist. Eventuell Kontaktaufnahme mit dem psychologischen Dienst vonnöten!«

»Dich sollten sie einweisen, du G’schaftlhuber!«

»Erneute Unbeherrschtheit …«, brachte Maier noch heraus, dann riss ihm Hefele das Telefon aus der Hand.

Kluftinger und Strobl sahen sich bedröppelt an. Vielleicht ist sie schwanger, schoss es Kluftinger durch den Kopf. Auch Erika hatte in diesem Zustand bei jeder Gelegenheit Tränen vergossen. Er würde Sandy in den nächsten Tagen im Auge behalten, um das herauszufinden.

Maier hatte inzwischen seinen ersten Schreck überwunden und wollte sich sein Telefon zurückholen, das Hefele jedoch in gebückter Haltung mit seinem Körper schützte.

Plötzlich übertönte ein Schreien den Tumult: »Schluss jetzt! Mir san doch da nicht bei den Hottentotten! Ned? Was soll denn des?« Lodenbachers Kopf war knallrot angelaufen. »Reißen S’ Eahna zamm, mir sind da ja nicht auf dem Pausenhof! Und wos hat dieses ganze Geschwafel von Eahna mit der Lebenszeitverbeamtung von Frau Henske zum tun, Kluftinga?«

Lebenszeitverbeamtung! Kluftinger schlug sich gegen die Stirn. Aber da konnte man doch beim besten Willen nicht draufkommen. »Ja, ich wollt ja grad drauf zu sprechen kommen. Also, so eine Verbeamtung, liebe Frau Henske, die ist ja heutzutage gerade im Verwaltungsdienst gar nicht mehr so häufig, gell? Die meisten bleiben im Angestelltenverhältnis und verdienen dadurch weniger. Umso mehr freut …«, begann er erneut, doch Sandy fuhr mit starrem Blick herum.

Dann rief sie unter Tränen: »Geben Sie sich keine Mühe, Chef! Übrigens: Ich bin mit einem VW Golf aus Dresden gekommen. Über die Autobahn. 1991 gab’s die nämlich schon!« Dann stürmte sie aus dem Raum und knallte die Tür hinter sich zu.

Keine zwei Sekunden später öffnete die sich wieder, und Gerichtsmediziner Georg Böhm trat ein. Als er in die erhitzten Gesichter der Anwesenden blickte, schnalzte er mit der Zunge und sagte: »Mist, da hab ich wohl wieder was verpasst!«

»Ich muss schon sagen: An dir ist ein Komiker verloren gegangen. Schad, dass ich nur so wenig mitbekommen hab.« Böhm zog seine hellblaue Baseballkappe vom Kopf und rubbelte sich die kurz geschorenen Haare. »Also wirklich, Klufti, bei dir ist einfach immer was geboten!«

Kluftinger warf seinem schelmisch grinsenden Gegenüber einen zerknirschten Blick zu. »Jaja, Hauptsach, du hast deinen Spaß«, sagte er, nachdem er seine Bürotür hinter sich zugezogen hatte. »Ich mein, ich muss das mit der Sandy ja jetzt wieder ausbaden. Himmelherrgott, bloß, weil ich eine einzige Mail ausnahmsweise mal nicht gelesen hab. Früher hat man sich die wichtigen Sachen doch auch einfach so gesagt, oder? Heut muss man immer erst ein Memo schreiben oder einen Termin im … Mail anmelden.«

Böhm pfiff durch die Zähne. »Respekt. Der leitende Herr Hauptkommissar steht jetzt auf Du und Du mit der modernen Kommunikationstechnik, scheint’s!«

Kluftingers Augen verengten sich. Prüfend sah er den Pathologen an. Es gab nicht viele, die so mit ihm reden durften. Böhms Respektlosigkeiten waren jedoch regelmäßig der Auftakt zu ausgefeilten Wortgefechten. Manchmal war sich der Kommissar allerdings nicht sicher, ob der junge Mann tatsächlich nur einen Spaß machte.

»Du hast leicht reden«, gab er murrend zurück. »Die Menschen, mit denen du dich bei deiner Arbeit so umgibst, die beschweren sich nicht, wenn du ihnen eine Rede hältst, die sie für nicht angemessen halten, oder wenn du mal ihren Geburtstag oder ihre Beförderung vergisst.«

»Treffer. Hast schon recht, die sind unkomplizierter. Meistens. Mir persönlich aber ein bisschen zu zurückhaltend, wenn ich mich mit ihnen unterhalten will.«

Wieder musterte ihn der Kommissar. Er kannte ein paar Pathologen, und nicht wenige von ihnen hatten einen leichten Hau, wie er es zu sagen pflegte. Kluftinger konnte das nur zu gut verstehen. Allein beim Gedanken, tagtäglich von Leichen umgeben zu sein, wurde ihm ganz anders. Und ihm war klar, dass es ihn buchstäblich um den Verstand bringen würde, wenn er an ihnen auch noch rumschnippeln müsste. Aber er wusste auch, dass Böhm das wusste und sich in der Vergangenheit immer wieder einen Spaß daraus gemacht hatte, Kluftingers Grenzen der Leichenunverträglichkeit auszutesten.

»Ganz ehrlich, Schorschi«, erwiderte Kluftinger, weil er wusste, dass zu den wenigen Dingen, die Böhm aus der Fassung bringen konnten, die Verballhornung seines Namens gehörte. »Ich glaub, du solltest öfter mal unter Menschen. Also: atmende, mit einer Körpertemperatur oberhalb des Gefrierpunkts und einer Gesichtsfarbe, die …«

In diesem Moment flog die Tür auf, und ein sichtlich erregter Lodenbacher stürmte herein. »Naa, naa, Kluftinga, no amoi, des is … i moan, des ko ned sei. Ned amoi a läppische Urkundenverleihung kenna Sie anständig über die Bühne bringen. Seit i so weit weg bin, is des oiß nix mehr.«

Der Kommissar hob die Augenbrauen: Tatsächlich hatte er genau das gegenteilige Gefühl.

»Jetzt schaung S’ aber, dass Sie de hoaklige Soch do wieder hibiagn«, schimpfte der Polizeipräsident und schien in der Erregung seine mühsam und teuer erworbenen Rhetorikkenntnisse komplett zu vergessen. Er habe sich persönlich beim Ministerium dafür eingesetzt, dass Fräulein Henske nach ihren dreizehn Dienstjahren noch verbeamtet werde. Im Übrigen bedeute ihre Ernennung, dass sie nun neben den klassischen Aufgaben als Sekretärin auch mit anderen Verwaltungsaufgaben der Kripo betraut werde und nun wohl öfters Wichtigeres zu tun habe, als Kluftinger und seinen Männern Kaffee zu kochen.

Dann knallte er die Ernennungsurkunde auf Kluftingers Schreibtisch. »I hob koa Zeit für an so an Schmarrn, i muaß zum Golfen mit dem Herrn Landrat.« Er hob mahnend den Zeigefinger: »Aber i überleg mir was, wie i wieder mehr zu meine Leut komm.« Mit diesen Worten lief er ebenso ungestüm aus dem Büro, wie er es kurz zuvor betreten hatte.

Zwei ratlose Gesichter blickten sich an.

»Klingt wie eine Drohung«, bemerkte Böhm.

»Immer, wenn es um seine Führungsqualitäten geht, sind wir seine Leut«, maulte der Kommissar.

»Ist doch nett. Sag ich zu meinen Leichen auch immer.«

Angewidert verzog Kluftinger das Gesicht.

»Was war denn eigentlich genau los?«

Kluftinger winkte ab. »Weiber!« Dann rückte er etwas auf seinem Stuhl nach vorn und fügte verschwörerisch hinzu: »Wahrscheinlich schwanger.«

Wieder pfiff der Pathologe. »Wirklich? Nicht schlecht, Herr Specht. Die Sandy hat doch früher nix anbrennen lassen. Wird sie jetzt häuslich oder was? Und wer ist denn der Glückliche?«

»Was weiß denn ich? Meinst du, die erzählt mir so was? Da verliert man eh den Überblick. Und überhaupt tät es mich auch gar nicht interessieren.«

»Verstehe. Mich allerdings schon. Na ja, muss ich halt bessere Quellen anzapfen. Jetzt aber zu was anderem: Du solltest mal mitkommen, ich hätt da nämlich was für dich.«

»Mitkommen? Mit dir?« Kluftinger zog besorgt die Augenbrauen zusammen.

»Ja. Ich fahr dich auch und bring dich wieder her, versprochen.«

»Wohin?«

»Na, nach Memmingen halt, in mein Büro.«

Der Kommissar seufzte. Er wusste, dass das Böhms Bezeichnung für seine Leichenkammer war. »Wart mal, ich schau mal in meinem Kalender, ob ich heut noch irgendwelche Termine hab.« Er tippte auf seinem Rechner herum, wobei sich plötzlich die E-Mail von Lodenbacher öffnete, in der er die Urkundenverleihung von heute ankündigte. Der letzte Satz der Nachricht lautete: »… und geben Sie sich bitte besonders Mühe, Sie wissen, wie sensibel Frau Henske ist.«

Mit einem Seufzen löschte Kluftinger die Nachricht.

Böhm stand auf. »Jetzt komm schon mit. Oder hast du in deinem Mailprogramm irgendwas Wichtiges gefunden, was dagegen spricht?«

»Ja, Kruzifix, ich komm ja«, grummelte Kluftinger zurück.

Als sie am Schreibtisch von Sandra Henske vorbeikamen, sagte Kluftinger: »Bitte, Fräulein Henske, verschieben Sie doch bitte … alle wichtigen Termine heute. Der Böhm will mir was …«, er schluckte, »zeigen.«

Die Sekretärin quittierte das mit einem gleichgültigen Achselzucken.

»Ja, aber vorher noch herzlichen Glückwunsch, Sandy«, sagte Georg Böhm eifrig und streckte ihr die Hand entgegen. »Find ich echt toll.«

»Danke, Georg. Endlich gratuliert mir hier mal jemand anständig«, erwiderte sie mit einem Seitenblick auf Kluftinger.

»Wann ist es denn so weit?«

Irritiert blickte Sandy den Pathologen an. »Wie jetzt? Heut. Heut ist es doch so weit.«

Der Pathologe legte die Stirn in Falten, machte dann aber eine wegwerfende Handbewegung und sagte: »Jetzt beginnt eine sehr schwere, aber auch sehr schöne Zeit. Ab jetzt ist schonen angesagt, gell? Das sag ich dir als Arzt!«

Sandy grinste. »Ja, genau wie bei uns in den Behörden in der DDR, nich wahr?«

Kluftinger fröstelte beim Anblick der mit grünem Tuch abgedeckten Körper, die auf den Edelstahltischen lagen. Nur gut, dass ich heut noch nichts gegessen hab, dachte er, als die Übelkeit ihm unaufhaltsam den Magen umdrehte. Sein letzter Besuch hier im Keller des Memminger Klinikums war schon eine ganze Weile her. Damals hatte er sich nicht nur die Leiche eines Mannes, sondern auch die einer Krähe ansehen müssen, und das Ganze hatte für ihn auf der Toilette geendet. Er versuchte krampfhaft, an das Lied zu denken, das er in solchen Fällen immer innerlich anstimmte. Wie ging das noch?

Ein weißes Boot im Sonnenglanz … »Was willst du mir denn eigentlich zeigen?«

Böhm begab sich zu einem der Tische … und du schenkst mir den Blütenkranz …

Kluftinger versuchte, sich auf alles vorzubereiten, was da kommen könnte. Verstümmelungen? Verätzungen? Ich folgte dir ins Paradies …

»Weißt du eigentlich, wie viele Morde jährlich unentdeckt bleiben?« Mit diesen Worten schlug der Pathologe das Tuch zurück.

… ein Märchenland, das Barbados hieß. Kluftinger stutzte. Unter dem grünen Tuch kam der Kopf einer sehr korpulenten alten Frau zum Vorschein. Auf ihrem Gesicht lag ein friedlicher Ausdruck, der ihn an seine Großmutter erinnerte, die mit einem Lächeln um die Lippen entschlafen war.

Als er, verwirrt von dem Anblick, der viel weniger grausam war, als er erwartet hatte – jedenfalls über die Tatsache hinaus, dass er auf eine Leiche blickte –, wieder in Böhms Gesicht schaute, merkte er, dass der auf eine Antwort wartete. »Hm?«

»Morde? Unentdeckt?«

»Ja, unentdeckte Morde. Schlimm.« Wartete unter dem Tuch noch eine weitere Überraschung? Die Frau ohne Unterleib oder etwas in der Richtung?

»Herrgott, jetzt konzentrier dich halt, ich versuch dir hier was zu sagen. Aber ich seh schon, mit Pädagogik kommen wir hier nicht weiter. Also gut, dann eben Frontalunterricht: nach neuesten Schätzungen etwa tausendzweihundert.«

Kluftinger starrte ihn fragend an.

»Morde. Die nicht entdeckt werden.«

Der Kommissar kniff die Augen zusammen: »Willst du jetzt unsere Arbeit kritisieren, oder was? Du weißt doch, dass wir tun, was wir …«

»Nein, jetzt hör halt zu. Ich spreche nicht von denen, die nicht aufgeklärt werden. Nein, tausendzweihundert Morde, die gar nicht erst entdeckt werden, die gar nicht in die Statistik eingehen. Schau, zum Beispiel diese Frau hier: Maria Zahn aus Kempten. Tot aufgefunden in der ehemaligen Autowerkstatt ihres Mannes: Die hat der Hausarzt bei der Leichenschau … na ja … untersucht, aber eine falsche Todesursache festgestellt.«

Kluftinger fiel es schwer, hier einen klaren Gedanken zu fassen, aber er versuchte krampfhaft, Böhms Ausführungen zu folgen. »Ach so, du meinst, der Hausarzt hat sie …«

»Nein, Schmarrn, das mein ich nicht, ich meine, dass die Hausärzte gar nicht dafür ausgebildet sind, dass sie gewaltsame Tode feststellen. Liegt wie immer am Geld. Weißt du, was die für eine Leichenschau kriegen? Lausige fuffzig Euro zum Beispiel in Berlin, bei uns so um die hundert, aber mit allem Drum und Dran, der ganze Verwaltungskram und so. Ich mein, da würd ich mir auch kein Bein ausreißen. Viele ziehen die Toten nicht mal aus, was eigentlich Pflicht wäre.«

»Kann ich verstehen«, murmelte Kluftinger.

»Hm?«

»Du meinst, wir hätten tausendzweihundert Morde mehr zu bearbeiten, wenn die das gründlicher machen würden?«

»Genau, jetzt hast du’s. Die Zahl gilt allerdings für ganz Deutschland, keine Ahnung, wie viele davon für uns abfallen würden. Ich mein, man muss nur mal bedenken, dass bei uns nur zwei Prozent der Leichen obduziert werden, in Österreich macht man das zum Beispiel schon mal bei zwanzig Prozent. Immerhin soll es besser werden, es gibt da jetzt einen neuen Beschluss, nach dem wir die Hausärzte für so was schulen sollen. In anderen Ländern ist das eh schon längst so. In unserem Fall jedenfalls hatten wir Glück, weil die Frau verbrannt werden sollte. Und da wird standardmäßig obduziert, was die meisten nicht wissen. Sonst hätte niemand entdeckt, dass die Frau keineswegs an Herzversagen als Folge einer Vorerkrankung und ihres Übergewichts gestorben ist, wie das der Arzt vermutet hat, sondern daran.« Böhm zog das Leintuch noch ein bisschen mehr zurück, zeigte auf ihren Hals und winkte Kluftinger näher zu sich.

»Herrgott, Georg, wenn’s der Arzt nicht gesehen hat, werd ich’s auch nicht feststellen. Sag halt einfach, was los ist.«

»Ja, ja, schon gut. Hier sind ganz klar Würgemale zu erkennen. Jedenfalls, wenn man danach sucht.«

Der Kommissar stieß einen leisen Pfiff durch die Zähne aus. »Wie alt ist die Frau noch mal?«

»Zweiundachtzig laut Totenschein. Ich geh mal davon aus, dass das stimmt.«

»Sie ist mit zweiundachtzig noch erwürgt worden?«

»Ja, und?«

»Rentiert sich doch gar nimmer.«

Sie sahen sich an.

»Und jetzt?«, fragte der Kommissar.

»Jetzt bist du dran.«

»Aha. Klingt wie eine Drohung.«

Mehrere Monate zuvor

Er wählte den Weg über den Friedhof, weil er hoffte, dort um diese Zeit den wenigsten Menschen zu begegnen. Doch er hatte sich geirrt: Selbst bei diesem nasskalten Wetter und zu dieser dämmrigen Stunde war hier erstaunlich viel los. Nach einem ersten Zögern störte es ihn allerdings nicht mehr. Niemand hatte Augen für ihn, jeder war vertieft in das, womit er sich gerade beschäftigte: Manche harkten in der feuchten Erde herum, andere standen nur da und starrten auf die Grabsteine, ein paar alte Frauen unterhielten sich leise.

Er schlug seinen Mantelkragen noch ein wenig höher und beschleunigte die Schritte. Der Kies knirschte ungewöhnlich laut unter seinen Sohlen, so kam es ihm jedenfalls vor. Schließlich hatte er das schmiedeeiserne Tor erreicht. Er erwartete, dass es quietschen würde, doch es schwang fast geräuschlos auf. Nur noch ein paar Schritte, dann war er am Portal. Er atmete tief durch, als er die schwere Tür hinter sich schloss. Unwillkürlich wanderte sein Blick über die Bänke, die so leer und verlassen wirkten, als habe nie ein Mensch auf ihnen gesessen. Er schaute empor, sah die imposanten Deckenfresken, in deren Zentrum eine Darstellung stand, die Jesus auf einer Wolke zeigte, die Hände wie schützend über seine Jünger haltend. Schließlich kam sein Blick auf dem goldenen Kreuz auf dem Altar zur Ruhe. Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn, als er das Kruzifix betrachtete. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sich hier zu treffen. Andererseits: Es war nicht sein Vorschlag gewesen, und er hatte keine Wahl gehabt. Dennoch kam es ihm jetzt vor wie ein schlechter Scherz.

Das Schlagen der Kirchturmglocke ließ ihn zusammenzucken. Es klang hier drin wesentlich hohler als draußen, und man konnte das mächtige Uhrwerk arbeiten hören. Er drehte sich einmal um die eigene Achse: Wo war nur der Beichtstuhl? Er hielt sich nicht oft in Gotteshäusern auf, genau genommen überhaupt nie. Geschweige denn, dass er jemals in einem dieser Dinger Platz genommen hätte. Er war noch nicht einmal getauft. Da! Er hatte ihn gefunden. Ein kunstvoll geschwungener hölzerner Rahmen, üppig mit Gold verziert, der in die seitliche Kirchenwand eingelassen war und wie ein Triptychon drei Türen beherbergte. Das musste er sein. Jetzt wurde er langsam nervös. Was, wenn der andere nicht da wäre? Und was, wenn er doch da wäre, ihm das, was er ihm zu sagen hatte, aber nicht gefallen würde? Langsam ging er auf den Beichtstuhl zu. Seine Schritte hallten durch das Kirchenschiff, und der trübe Schein von ein paar Kerzen erhellte es nur spärlich.

Er öffnete die Tür und kniete sich auf das Bänkchen in dem winzigen Raum. Knapp über dem Boden war die weiße Farbe, mit der das Holz getüncht war, abgeblättert – hier hatten offenbar schon viele vor ihm gekniet. Allerdings aus gänzlich anderen Motiven. Er versuchte, durch das hölzerne Gitter vor ihm zu spähen, um zu sehen, ob der andere schon da war.

In diesem Moment tönte von der anderen Seite eine tiefe Stimme: »Nun, mein Sohn, was bedrückt dich? Du kannst ganz offen mit mir sprechen.«

Für einen Moment dachte er, er hätte etwas falsch verstanden, hätte die Zeit oder den Ort verwechselt und fände sich nun einem richtigen Priester gegenüber. Doch dann erkannte er die Stimme, die noch tiefer klang als sonst.

»Lassen Sie den Quatsch«, entfuhr es ihm wütend. Er war nicht hier, um alberne Späße zu treiben, dazu war die Sache einfach zu ernst. Und er wollte diesen Ort so schnell wie möglich wieder verlassen. Schon jetzt verursachte die harte Kniebank ihm stechende Schmerzen. Obwohl es in der Kirche sehr kühl war, bildeten sich kleine Schweißtröpfchen auf seiner Oberlippe. Er war froh um die Dunkelheit, so würde wenigstens seine Nervosität verborgen bleiben.

»Na, na, nicht so aufgeregt«, sagte die Stimme im Beichtstuhl jedoch.

»Ich bin nicht aufgeregt.«

»Kommt mir aber so vor.«

»Könnten wir diesen Humbug lassen und zum Wesentlichen kommen, verdammt noch mal?«

»Oho, mein Sohn! Wer wird denn an dieser heiligen Stätte fluchen? Bist du nicht hier, um Vergebung zu erlangen?«

»Wissen Sie was? Mir reicht’s.«

»Willst du wieder gehen?«

»Ich … nein, aber …«

»Gut, gut, ich wusste ja nicht, dass dir jeder Funken Humor fehlt. Also, lass uns über das Vorhaben reden.«

Er seufzte. Endlich schien das Gespräch einen normalen Verlauf zu nehmen. Wenn man in einem solchen Fall überhaupt von normal reden konnte. »Gut, ich habe die Infos, die Sie brauchen.«

»Alles?«

»Soweit ich das beurteilen kann, schon.«

»Okay, das Wichtigste zuerst: Wie viel ist insgesamt drin?«

Er senkte die Stimme noch etwas mehr, sodass seine nächsten Worte nicht mehr waren als ein Wispern: »Genau 4,35 Millionen.«

Stille. Die Kirchturmuhr schlug erneut. Er dachte schon, das Treffen wäre beendet, da sagte die Stimme: »Gut. Wir teilen achtzig-zwanzig.«

»Und … für wen sind die achtzig?«

Die Stimme gluckste: »Was glaubst du denn?«

Die Zornesröte stieg ihm ins Gesicht. Musste er wirklich so mit sich reden lassen? Immerhin war er hier der Auftraggeber. »Vergessen Sie’s«, sagte er deshalb lauter, als er gewollt hatte.

»Das ist nicht verhandelbar«, lautete die Antwort. »Rechne es dir aus: Es bleibt genug übrig. Und ich trage das gesamte Risiko.«

»Das stimmt doch gar nicht, ich habe doch auch …«

Sein Gegenüber ließ ihn gar nicht ausreden. »Du hörst nicht zu, mein Sohn. Ich sagte: nicht verhandelbar. Und du weißt doch: Geben ist seliger denn Nehmen, wie uns das Neue Testament lehrt.«

Zähneknirschend presste er hervor: »Akzeptiert.«

»Sehr weise, mein Sohn. Dafür spreche ich dich zwar nicht von deinen Sünden, dafür von deinen Sorgen los. Und jetzt erzähl mir, was ich wissen muss.«

Ein Besucher in der Kirche hätte nur das gedämpfte Murmeln gehört, das für Beichtgespräche charakteristisch ist. Die Männer achteten peinlich darauf, dass ein unwillkommener Zuhörer von ihrem Gespräch nichts mitbekommen konnte.

»Hast du die Pläne?«, zischte es schließlich von der Seite, auf der normalerweise der Pfarrer saß.

Wortlos schob er ein zusammengefaltetes Papier durch eine Öffnung in der Trennwand.

»Gut, das war’s dann fürs Erste.« Die Stimme nahm wieder einen sakralen Ton an: »Bete drei Vaterunser und drei Ave-Maria, das sollte genügen.«

»Ihre Nerven möchte ich haben«, seufzte er und erhob sich.

»Halt.« Die Stimme hatte das Wort nur gezischt, doch es kam derart schneidend bei ihm an, dass er sich sofort wieder hinkniete. »Ich werde zuerst gehen. Du bleibst hier für die Dauer der Gebete, die ich dir aufgegeben habe. Erst dann darfst du dich entfernen.« Dann stand sein Gegenüber auf.

»Moment«, warf er hastig ein, »wie kann ich Sie erreichen?«

»Sehr gut, mein Sohn, das hätte ich beinahe vergessen.«

Er hörte, wie der andere etwas aus einer Tasche zog und es zu ihm herüberschob. »Hier ist ein Handy.«

»Ich habe selbst eines.«

»So eins nicht«, kam es ungehalten durch das Gitter. »Es ist mit einer Prepaidkarte versehen. Im Speicher findest du genau eine Nummer. Es gibt allerdings nur zwei Szenarien, bei denen du diese Nummer wählen darfst: Entweder es tritt ein Notfall ein, oder an den eben besprochenen Rahmenbedingungen ändert sich etwas. Egal was, du informierst mich. Solltest du aus einem anderen Grund anrufen, war’s das. Dann hörst du nie wieder von mir. Verstanden?«

»Ja, ja, sicher«, entgegnete er hastig. Der andere stand auf, und er hörte, wie die Tür des Beichtstuhls knarrend aufschwang. Plötzlich fiel ihm noch etwas ein. »Warten Sie! Noch eine Frage: Wie darf ich Sie nennen?« Er hörte den anderen atmen.

»Sagen wir einfach, ich bin dein Schutzpatron. Es sieht ganz danach aus, als könntest du einen gebrauchen!«

»Männer, kommt’s ihr mal alle sofort zu mir?« Auch wenn sein Chef ihm nahegelegt hatte, doch die Einladungsfunktion »in seinem Lotus« zu nutzen, wenn er eine Konferenz einberufen wolle, hielt Kluftinger die Schreien-aus-der-offenen-Tür-über-den-Gang-Methode jeglichem Lotus und sonstigen asiatischen Erfindungen weit überlegen.

Als sich – wie er fand, als Beweis der Überlegenheit seiner analogen Methode – seine Kollegen wenige Sekunden später in seinem Büro eingefunden hatten, setzte er sich zufrieden auf die Schreibtischkante.

»Was gibt’s denn so Dringendes?«, wollte Strobl wissen.

Kluftinger hob gerade zu einer Antwort an, da öffnete sich die Tür, und seine Sekretärin kam herein. Wortlos legte sie ihm einen Stapel Papier auf den Schreibtisch und wandte sich wieder zum Gehen. Er blickte flüchtig darauf und sah dann, dass ihre Ernennungsurkunde immer noch bei ihm lag. »Fräulein Henske, die können Sie gleich mitnehmen«, rief er ihr hinterher und wedelte mit dem Papier in der Luft. »Ich brauch die ja jetzt nicht …«

Er kam nicht dazu, seinen Satz zu vollenden, denn Sandy brach in ein herzzerreißendes Schluchzen aus und stürmte aus dem Zimmer.

Mit leerem Gesichtsausdruck starrte der Kommissar auf die Tür, die sie hinter sich zugeknallt hatte, dann seufzte er vernehmlich und sagte: »Schwanger, wenn ihr mich fragt.«

Sofort brach Richard Maier in ein meckerndes Lachen aus, worauf ihn die anderen Kollegen missbilligend anstarrten. »Na, ich war’s nicht«, erklärte er und hob abwehrend die Hände. Darauf wandten sich die Köpfe in Richtung Hefele, der rot anlief und polterte: »Ja, Himmelherrgott, jetzt schaut’s doch nicht so saudumm, was weiß denn ich, was die hat, ich kapier’s doch auch nicht …«

»Dabei bist du doch der Frauenversteher«, erwiderte Maier grinsend, und Kluftinger merkte, dass die Stimmung zu kippen drohte und Hefele im Begriff war, auf seinen Kollegen loszugehen. Doch Strobls »Ich weiß gar nicht, was ihr habt, das ist doch schön!« entschärfte die Situation etwas, und alle beruhigten sich wieder.

»Danke, Eugen«, sagte Kluftinger, der die ganze Aufregung auch nicht so recht verstand. Er räusperte sich und beeilte sich dann, zum eigentlichen Thema ihrer Zusammenkunft zu kommen. »Also, ich war grad bei unserem Pathologen Böhm in Memmingen«, begann er und machte eine kurze Pause. Keiner reagierte. »In seinem … Dings … seinem … Mausoleum.«

Wieder keine Reaktion. Ein bisschen Anerkennung hätte er sich schon erwartet. Keiner stieg gern in Böhms Totenreich hinab, und wenn doch, dann hatte er dafür Respekt verdient – besonders, wenn es sich dabei um ihn drehte, fand Kluftinger.

Da räusperte sich Maier: »Genau genommen …«

Kluftinger machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, komm, Richie, ist nicht der Rede wert. Das hätte jeder von euch genauso gemacht.«

Irritiert blickte ihn sein Kollege an. »Was ich sagen wollte, war: Genau genommen ist der Georg kein Pathologe.«

Der Kommissar zog die Augenbrauen hoch.

»Ich meine, ihr sagt das immer, aber er ist halt Gerichtsmediziner.«

Hefele, noch immer merklich in Rage, ging ihn feindselig an: »Und? Er schnippelt an Toten rum, oder?«

»Eben.«

»Wie, eben?«

»An Toten. Pathologen schnippeln an Lebenden.«

Sie blickten sich erstaunt an.

»Allerdings ist das, womit sie es zu tun haben, totes Gewebe.«

»Was jetzt«, fragte Kluftinger gereizt, »tot oder lebendig?«

»Beides.«

»Sehr hilfreich. Der Böhm hat sich jedenfalls noch nie beschwert.«

»Wahrscheinlich hat er’s aufgegeben.«

Etwas aus dem Konzept gebracht, fuhr Kluftinger fort: »Es ist jedenfalls so, dass viele Morde von Hausärzten unentdeckt bleiben.«

»Von Hausärzten?«, fragte Hefele nach, der sich offensichtlich wieder beruhigt hatte.

»Ja. Das habt ihr nicht gewusst, gell?«, entgegnete Kluftinger stolz.

Seine Kollegen schüttelten den Kopf.

»Ist ja auch kein Wunder«, sagte Hefele, »die haben ja eine medizinische Ausbildung, da kann man leicht was vertuschen.«

»Nein, das vertuschen die ja gar nicht aktiv, das kriegt man nur eben gar nicht mit.« Kluftinger blickte in fragende Gesichter. Er versuchte, sich an die Ausführungen von Böhm zu erinnern. »Über eintausend Morde sind das. Also, tausend mehr, als es sonst wären, halt.«

In ein langes Schweigen hinein fragte Strobl: »Ohne Ärzte gäbe es weniger Morde?«

Maier schob nach: »Willst du uns jetzt sagen, dass lauter mordende Serienkiller-Hausärzte da draußen unterwegs sind?«

»Was? Nein, ich mein nicht Morde von Ärzten. Sie entdecken nur die Morde nicht! Herrgott, jetzt seid’s doch nicht so schwer von Begriff: Die Hausärzte finden bei der Leichenschau eben nicht die Hinweise auf ein Verbrechen, weil sie gar nicht danach suchen. Oder nicht ausgebildet sind dafür.«

Nun hellten sich die Mienen der Kollegen deutlich auf. »Jetzt wird’s Tag«, sagte Strobl, und die anderen nickten.

»Und außerdem werden eh nur fünf Prozent …« Kluftinger dachte nach. Er wusste nicht mehr genau, was Böhm ihm erzählt hatte. »Also, im Vergleich zu Österreich zumindest … die obduzieren viel mehr. Zwanzig Prozent.«

»Von was?«, fragte Maier.

Kluftinger lief rot an. »Von hundert, Herrgott. Bin ich beim Verhör oder was? Jedenfalls haben wir in Deutschland anscheinend ein Problem mit der Leichenschau.«

»Ja, darüber hab ich auch schon was gelesen«, erklärte Maier.

»Ja, ja. Sicher hast du das«, erwiderte Hefele mit übertriebenem Nicken. »Wahrscheinlich hast du’s sogar selber geschrieben.« Dann wandte er sich an Kluftinger. »Wie viele waren das noch mal?«

»Über tausend.«

»Im Jahr?«

»Ich … hm, also, ja, ja, bestimmt.«

»Und wo? In Deutschland? In Bayern? Oder bei uns?«

Kluftinger dachte angestrengt nach, dann platzte er heraus: »Zefix, sind wir hier im statistischen Landesamt oder … oder … woanders? In Deutschland, ja. Also, auf jeden Fall hab ich heute einen entdeckt, von diesen Morden.«

Jetzt bekamen die Kollegen große Augen, und Kluftinger hatte endlich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Nun wurde es ernst. Er erzählte ihnen von der Frau und den Würgemalen. Als er fertig war, setzte er sich hinter seinen Schreibtisch und musterte sie zufrieden.

»Also, eigentlich …«

»Ja, Richie?«

»Eigentlich, streng genommen, hat ja dann der Böhm den Mord entdeckt, oder?«

Strobl biss sich auf die Lippen, und Hefele hielt sich die Hand vor den Mund.

Kluftinger setzte sich auf: »Ist denn das nicht völlig wurscht? Wer das entdeckt hat? Wichtig ist doch, dass wir hier einen Mord haben, um den wir uns kümmern müssen.«

Die anderen nickten. Nur Maier schien noch nicht zufrieden: »Ich mein ja bloß, weil du gesagt hast, du hättest ihn …«

In diesem Moment klingelte das Telefon. Auf dem Display wurde eine Mobilnummer angezeigt. Kluftinger zuckte die Achseln und hob ab.

»Ja? … Ach so, Entschuldigung, Kluftinger … Natürlich, Sie haben völlig recht, Herr Lodenbacher.«

Kluftingers Kollegen grinsten. Strobl bedeutete ihm, doch laut zu stellen, damit alle mithören konnten.

»Ich steh do grad auf der Dreifing-Räinsch«, quäkte es aus dem kleinen Lautsprecher.

»Wo sind Sie?«, fragte Kluftinger und beugte sich dabei über den Lautsprecher, worauf Strobl ihm zuflüsterte: »Beim Golfen!«

»Auf der Driving-Range, Kluftinga. Und wissen Sie, wer neben mir steht?«

Kluftinger hielt das für eine rhetorische Frage, doch als Lodenbacher nicht weitersprach, erwiderte er: »Der schwarze Mann?«

»Herr Kluftinga, lossen S’ den Blödsinn. Der Herr Landrat steht neben mir, ned?«

»Sag ich ja: der schwarze Mann«, antwortete er und sah zufrieden, wie seine Kollegen mühsam ein Lachen unterdrückten.

»Herr … Herr Kluftinga, ich hab das Handy auf Laut geschaltet.«

Der Kommissar setzte sich kerzengerade hin und lief knallrot an. Nun bereitete es seinen Kollegen noch mehr Mühe, nicht loszuprusten.

»Oh, ah so, ja, ich … Grüß Sie Gott, Herr Landrat.«

Er hörte ein dumpfes Gemurmel am anderen Ende, dann fuhr Lodenbacher fort – wie immer, wenn Honoratioren in der Nähe waren, besonders krampfhaft um hochdeutsche Diktion bemüht: »Es geht um die Soche, Sie wissen schon, die Ausstellung in Altusried. Des is a ganz große … also Soche, vor allem die Sicherheit liegt mir sehr am Herzen. Des sind ja Dinge von gewaltigem Wert, des sucht ja seinesgleichen im Allgäu, ach was, in Bayern, Deutschland, ned wahr? Do kemma uns koan Fehler leisten.«

Er redete sich in Rage und vergaß dabei, auf seine Aussprache zu achten. Es folgte ein zweiminütiger Monolog, in dem es immer wieder um »immense Werte«, »großes öffentliches Interesse« und ein »einmaliges Ereignis« ging. Auch wenn Lodenbacher nicht direkt sagte, worum es sich drehte, war Kluftinger klar, was er meinte. In seinem Heimatort gab es ja seit Wochen kein anderes Thema. Alle redeten nur noch von der »Heimkehr des Schatzes«, wie die Lokalzeitung es genannt hatte. Ihm schwante nichts Gutes.

»… und deswegen wollen mir, dass Sie bei dera Arbeitsgruppe auch dabei san«, schloss sein Vorgesetzter.

Kluftinger sah sich in endlosen und – wie meist bei derartigen von Lodenbacher ins Leben gerufenen Arbeitsgruppen – fruchtlosen Sitzungen dahinvegetieren, deswegen sagte er schnell: »Aber das wär doch eine Sache für den Maier. Der ist in so was viel besser, der kann das, und er kennt sich aus, und er ist eh grad hier und …«

Maier richtete sich auf. Seine Augen leuchteten.

»Naa, Kluftinga, der is allweil so kompliziert und drängt sich immer in den Vordergrund.«

Richard Maier ließ sich wieder in seinen Stuhl sinken.

»Ich hab auch den Lautsprecher an, Herr Lodenbacher.«

»Oh … Kluftinga, wia gsogt, des is wichtig. Außerdem sind Sie ja aus Altusried, also da sind Sie genau der Richtige. Morgen is die erste Sitzung, da könna mir alles Weitere besprechen.« Grußlos beendete er das Telefonat.

Als Kluftinger aufsah, bemerkte er, dass seine Kollegen gerade dabei waren, sein Büro zu verlassen. »Und wo wollt ihr jetzt hin?«

Maier antwortete schnell: »Na, du hast ja jetzt einen Auftrag, da musst du dich sicher um einiges kümmern, und da dachten wir …«

»Ja, das tät euch so passen. Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun.«

Als Kluftinger vor der alten Autowerkstatt am Ufer der Iller in der Kemptener Altstadt die Tür des Dienstwagens öffnete, standen dort bereits der weiße BMW von Willi Renn und ein Streifenwagen, mit dem wohl sein Team gekommen war. Wie die das nur schafften, immer noch vor ihnen an den Tatorten zu sein! Kluftinger stieg aus und ging auf den Erkennungsdienstler zu, der gerade im Kofferraum seines Autos kramte.

»Willi, auch schon da?« Kluftinger klopfte dem Kollegen auf die Schulter. Er mochte Renn und hätte nicht sagen können, wie lange er schon mit dem kleinen Mann zusammenarbeitete, an wie vielen Tatorten sie schon gemeinsam nach Spuren und Indizien gesucht hatten, Kluftinger eher intuitiv, Willi akribisch und genau. Und der Kommissar wusste, dass man sich immer auf »Willi, den Wühler« verlassen konnte, nicht nur, wenn es um Spurensicherung ging.

»Klufti, du weißt doch, dass wir von der schnellen Truppe sind! Wo hast du denn dein Auto gelassen?«, wollte Renn wissen.

»Du, der Eugen ist gefahren. Hast du heut gar keinen Strampelanzug an?« Der Kommissar grinste. Normalerweise trugen Renn und seine Kollegen an Tatorten einen weißen Einweg-Papieranzug, Kopfhaube und Handschuhe, um keine Spuren zu verwischen oder mit eigenen Haaren oder Hautschuppen zu verunreinigen.

»Ein Anzug hilft da drin höchstens noch gegen Ölschlamm und Wagenschmiere, vernünftige Spuren werden wir wohl kaum finden. Da hat schon die Putzfrau zusammengekehrt!«, brummte Renn. Dann zog er sich die blau karierten Gummistiefel an, die er eben aus dem Kofferraum geholt hatte.

Kluftinger warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Ich hab keine Lust auf Ärger mit meiner Frau, weil ich die neuen Mokassins aus dem Spanienurlaub mit Altöl versaut hab!«, erklärte Renn, griff augenzwinkernd doch noch nach einem Einwegoverall und entfernte sich.

Kluftinger ließ den Blick über das Haus wandern, vor dem er stand: ein L-förmiges Gebäude, das den geteerten Hof begrenzte, links von ihm das große Wohnhaus und direkt vor ihm in rechtem Winkel dazu die etwas niedrigere zweistöckige Werkstatt. Das gesamte Gebäude hatte schon bessere Zeiten gesehen: Beim Wohnhaus blätterte der Putz ab, die meisten der zahlreichen Fenster waren trüb. Einige der schäbigen grünen Läden fehlten. Nur wenige Fenster waren gegen neuere Kunststoffmodelle ausgetauscht worden. Deren Scheiben jedoch waren sauber geputzt, mit Gardinen versehen, dahinter konnte man Zimmerpflanzen erahnen. Nur hier schien noch jemand zu wohnen. Der Werkstatttrakt war in einem moosigen Grünton gestrichen, im Erdgeschoss zwei alte Klapptore, eines davon halb offen, der erste Stock wirkte ungenutzt, die kleinen Fenster waren voller Spinnweben. An einem kleinen Balkon, einer Art winziger Dachterrasse auf der Werkstatt, leuchteten üppig blühende rote Geranien aus hellgrauen Plastikblumenkästen. Ein bizarrer Mix, fand Kluftinger.

Über den Toren prangte als Relief in verwitterten grauen Lettern ein Schriftzug: Auto-Zahn, Fahrzeugreparaturen aller Marken. Inh. Herbert Zahn.

In diesem Moment bog ein Lieferwagen mit der Aufschrift Motorrad-Center Biberach auf den Hof ein. »Himmelarsch, kann man denn nirgends in Ruhe arbeiten?«, schimpfte Kluftinger und ging auf das Auto zu.

»Was gibt’s denn?«, fragte der Mann auf dem Beifahrersitz, nachdem sie das Fenster heruntergelassen hatten.