Reise in die Finsternis - John Douglas - E-Book + Hörbuch
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Reise in die Finsternis E-Book und Hörbuch

John Douglas

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Beschreibung

Ob David Berkowitz, Ted Bundy oder Jeffrey Dahmer: Es gibt kaum einen US-Serienkiller, den John Douglas als weltweit führender Experte und Pionier im Bereich Profiling nicht befragt hätte. Nach seinem Bestseller »Mindhunter«, Vorlage für die erfolgreiche Netflix-Serie, taucht er in »Reise in die Finsternis« nun noch tiefer in die Gedankenwelt von Serienmördern und anderen gefährlichen Verbrechern wie dem Unabomber ein. Am Beispiel zahlreicher, mitunter erschreckender Fälle offenbart er, mithilfe welcher Methoden es gelingt, Mörder, ihre Emotionen und Motive ausfindig zu machen. Seine Reise in menschliche Abgründe erforscht monströse Taten, die ein ganzes Jahrhundert bewegten – aber auch Kriminalfälle, von denen Sie noch nie gehört haben. Eine Must-have für alle True-Crime-Fans.

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Zeit:16 Std. 11 min

Sprecher:Mike Langhans

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JOHN DOUGLAS & MARK OLSHAKER

REISE IN DIE FINSTERNIS

JOHN DOUGLAS & MARK OLSHAKER

REISE IN DIE FINSTERNIS

Der berühmte FBI-Profiler über die Fahndung nach Serienmördern und seine packendsten Fälle

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

1. Auflage 2023

© 2023 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285–0

Fax: 089 652096

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1997 bei Scribner, New York, unter dem Titel Journey into Darkness. © 1997 by Mindhunters, Inc. All rights reserved.

Copyright der deutschen Erstausgabe:

Copyright © 1997 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, in Zusammenarbeit mit dem SPIEGEL-Buchverlag, Hamburg

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Karin Dufner und Hans-Maria Dürr

Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt

Umschlagabbildung: shutterstock/Photo Contributor/zizar

Satz: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978–3-7423–2446–7

ISBN E-Book (PDF) 978–3-7453–2215–6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978–3-7453–2216–3

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Für Karla Brown, Suzanne Collins, Kristen French, Ron Goldman, Amber Hagerman, Cassandra Hansen, Tammy Homolka, Christine Jessop, Megan Kanka, Polly Klaas, Leslie Mahaffy, Shawn Moore, Angie, Melissa und Nancy Newman, Alison Parrott, Nicole Brown Simpson, Shari Faye Smith, alle anderen Unschuldigen und ihre Eltern, Freunde und Angehörige. Außerdem für alle engagierten Frauen und Männer bei Polizei und Justiz, die sich unermüdlich für den Sieg der Gerechtigkeit einsetzen. Ich widme ihnen dieses Buch in Respekt, Bescheidenheit und Zuneigung.

Inhalt

Vorwort

PROLOG

Aus der Sicht eines Mörders

KAPITEL EINS

Reise in die Finsternis

KAPITEL ZWEI

Das Motiv

KAPITEL DREI

Bonbons von fremden Männern

KAPITEL VIER

Ist denn überhaupt nichts mehr heilig?

KAPITEL FÜNF

Im Namen der Kinder

KAPITEL SECHS

Verteidigung

KAPITEL SIEBEN

Sue Blue

KAPITEL ACHT

Tod einer Marinesoldatin

KAPITEL NEUN

Der Leidensweg von Jack und Trudy Collins

KAPITEL ZEHN

Das Blut der Lämmer

KAPITEL ELF

Haben wir den Falschen eingesperrt?

KAPITEL ZWÖLF

Mord im South Bundy Drive

KAPITEL DREIZEHN

Verbrechen und Strafe

Über die Autoren

Vorwort

Unser herzlicher Dank gilt allen, die zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben. Wie bei unserem ersten gemeinsamen Band bestand das Team wieder aus unserer Lektorin Lisa Drew und unserem Agenten Jay Acton, den beiden Menschen, die unsere Sicht der Dinge teilten, uns zum Durchhalten ermutigten und uns auf unserem Weg unterstützten. Wir danken auch Carolyn Olshaker, die als Projektkoordinatorin, Finanzverwalterin, Seelentrösterin, Kritikerin fungierte, uns anfeuerte und vor allem für Mark eine große Stütze bedeutete. Ann Hennigan, die die Recherchen leitete, war ebenfalls nicht wegzudenken und hat eine Menge zu diesem Projekt beigetragen. Und außerdem wussten wir, dass alles glatt und reibungslos ablaufen würde, da Marysue Rucci uns bei Scribner mit einer umwerfenden Mischung aus Effizienz und guter Laune betreute. Ohne diese fünf ...

Darüber hinaus danken wir von ganzem Herzen Trudy, Jack und Stephen Collins, Susan Hand Martin und Jeff Freeman, die uns von Suzanne erzählten. Wir hoffen, dass wir mit unserer Schilderung von Suzannes Geschichte ihr Vertrauen in uns nicht enttäuscht haben. Auch Jim Harrington in Michigan und Henry »Hank« Williams, Bezirksstaatsanwalt in Michigan, schulden wir viel, da sie ihre Erinnerungen und Einblicke mit uns teilten. Das Gleiche gilt für unseren Praktikanten David Altschulter, für Peter Banks und für alle Mitarbeiter des National Center for Missing and Exploited Children. Wir danken ihnen für ihre Freundlichkeit und dafür, dass sie uns ihre Untersuchungsergebnisse und ihre Erfahrungen zugänglich machten und dass wir ihnen bei der Arbeit zusehen durften.

Schließlich wollen wir wie immer Johns Kollegen in Quantico danken, vor allem Roy Hazelwood, Steve Mardigian, Gregg McCrary, Jud Ray und Jim Wright. Sie werden immer wichtige Pioniere und Forscher sein, die uns auf unserer Reise in die Finsternis begleiten und uns helfen, wieder ans Licht zurückzufinden.

John Douglas und Mark Olshaker

Oktober 1996

PROLOG

Aus der Sicht eines Mörders

Auf den folgenden Seiten geht es nicht um eine bereinigte oder beschönigende »künstlerisch wertvolle« Aufbereitung à la Hollywood, sondern um nackte Realität – obwohl diese meine Schilderung an Grauen wahrscheinlich noch übertrifft.

Wie schon so oft versuche ich, mich in die Rolle des Mörders zu versetzen.

Ich weiß nicht, welche Frau mein Opfer sein wird, aber ich will jetzt jemanden töten. Auf der Stelle.

Meine Frau hat mich den ganzen Abend lang allein gelassen, ist lieber mit Freundinnen zu einer Tupperware-Party gegangen, anstatt bei mir zu bleiben. Aber eigentlich spielt das keine Rolle, denn wir streiten uns sowieso ständig. Heute haben wir uns wieder den ganzen Tag in den Haaren gelegen. Doch es deprimiert mich trotzdem, und ich habe es satt, so behandelt zu werden. Vielleicht treibt sie sich ja mit anderen Männern herum wie meine Ex. Allerdings hat die ihren Denkzettel bekommen – sie ist mit dem Gesicht nach unten in der Badewanne gelandet und an ihrer eigenen Kotze erstickt. Das hat sie nun davon, dass sie so mit mir umgesprungen ist. Unsere beiden Kinder leben jetzt bei meinen Eltern; das macht mich zusätzlich sauer – anscheinend bin ich nicht mehr gut genug für sie.

Eine Weile sitze ich herum, sehe fern und trinke Bier. Ein paar Sechserpacks und dann eine Dreiviertelliterflasche Wein. Aber es geht mir immer noch dreckig. Ich fühle mich immer mieser, brauche mehr Bier oder sonst etwas Trinkbares. Wie spät ist es jetzt? So zwischen neun und halb zehn. Ich stehe auf und fahre zum Lebensmittelladen neben dem Supermarkt für Navy-Angehörige. Dann bis zur Armour Road. Dort bleibe ich einfach im Auto sitzen, trinke mein Bier und überlege.

Je länger ich so ganz allein dasitze, desto schlechter geht es mir. Ich wohne als Familienangehöriger meiner Frau auf dem Stützpunkt, alle Freunde sind ihre Freunde – ich habe keine eigenen. Nicht einmal meine Kinder darf ich sehen. Ich war auch mal in der Navy und dachte, ich könnte dort weiterkommen. Hat aber nicht geklappt. Inzwischen stolpere ich von einer beruflichen Sackgasse in die nächste. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Vielleicht sollte ich heimfahren, auf meine Frau warten und sie zur Rede stellen, um endlich ein paar Dinge zu klären. All diese Gedanken schießen mir gleichzeitig durch den Kopf. Ich würde jetzt gern mit jemandem sprechen, aber es ist niemand da. Verdammt, ich kenne sowieso keinen Menschen, dem ich meine Probleme erzählen könnte.

Es ist stockfinster. Allmählich wird die Atmosphäre irgendwie ... einladend. Ich verschmelze mit der Nacht. Die Dunkelheit macht mich anonym. Die Dunkelheit macht mich allmächtig.

Ich sitze in meinem Auto am nördlichen Ende des Stützpunkts hinter den Rinderkoppeln und trinke immer noch Bier, als ich sie sehe. Wahrscheinlich haben sogar diese Rinder mehr vom Leben als ich.

Gerade hat sie die Straße überquert und joggt ganz allein weiter, obwohl es schon dunkel ist. Sie ist groß, ziemlich hübsch und schätzungsweise so um die 20. Die dunkelblonden Haare hat sie zu einem Zopf geflochten. Der Schweiß auf ihrer Stirn glänzt im Mondlicht. Ja, sie ist wirklich hübsch. Sie trägt ein rotes T-Shirt, auf das vorne in Gold das Emblem der Marines aufgedruckt ist. Dazu knappe rote Shorts, die ihren Arsch und ihre endlos langen Beine richtig schön zur Geltung bringen. Kein Gramm Fett am Körper. Die Frauen bei den Marines halten sich wirklich fit. Ständig nur Sport und Exerzieren. Nicht wie bei der Navy. Die könnten einen Durchschnittsmann ordentlich vermöbeln, wenn man sie lässt.

Ich beobachte sie eine Weile. Ihre Titten hüpfen im Takt ihrer Schritte auf und ab. Ich überlege, ob ich aussteigen und mitjoggen soll, um vielleicht mit ihr ins Gespräch zu kommen. Doch ich weiß, dass ich keine Chance habe, mit ihr mitzuhalten. Außerdem bin ich sturzbetrunken. Ob ich neben ihr stehen bleibe und ihr anbiete, sie zurück zur Kaserne oder sonst irgendwohin zu fahren? Vielleicht redet sie dann mit mir.

Aber dann fällt mir ein, dass sie von einem Typen wie mir wahrscheinlich sowieso nichts will, wenn sie es mit den tollen Kerlen von den Marines treiben kann. Solche Mädchen sind so eingebildet, dass sie einem nicht einmal die Uhrzeit verraten. Egal, was ich sage, die lässt mich garantiert abblitzen. Und überhaupt: Was ich bis jetzt einstecken musste, reicht eigentlich für ein ganzes Leben.

Nein, ich mach diese Scheiße nicht länger mit – heute Nacht ist endgültig Schluss. Ich nehme mir einfach, was ich haben will; sonst kommt man in dieser Welt immer zu kurz. Die Fotze wird mit mir reden müssen, ob es ihr nun passt oder nicht.

Ich lasse den Motor an, fahre neben ihr her und lehne mich zum Beifahrerfenster hinüber. »Entschuldigen Sie!«, rufe ich. »Wissen Sie, wie weit es zurück zum anderen Ende des Stützpunkts ist?«

Offenbar hat sie überhaupt keine Angst. Bestimmt liegt das am Stützpunktaufkleber an meinem Auto, und außerdem denkt sie sicher, dass sie als Marine schon mit mir fertigwird.

Sie bleibt stehen und nähert sich vertrauensselig meinem Auto. Ein bisschen außer Atem, beugt sich zum Fenster herein, zeigt nach hinten und sagt, es wären etwa viereinhalb Kilometer. Dann lächelt sie sehr hübsch und will weiterjoggen.

Ich weiß, dass das meine einzige Gelegenheit ist, sie zu kriegen – wenn ich noch eine Sekunde warte, ist sie weg. Also reiße ich die Autotür auf, springe raus und laufe ihr nach. So fest ich kann, verpasse ich ihr eine von hinten, und sie fällt hin. Ich packe sie. Als sie merkt, was los ist, schnappt sie nach Luft und versucht abzuhauen. Sie ist zwar groß und stark für ein Mädchen, aber ich bin etwa 30 Zentimeter größer und 50 Kilo schwerer als sie. Ich halte sie fest und haue ihr mit aller Kraft eine gegen die Schläfe, dass sie wahrscheinlich Sternchen sieht. Trotzdem wehrt sie sich mit Händen und Füßen, versucht, mich zusammenzuschlagen und davonzulaufen. Das wird sie mir büßen. So was lasse ich mir von einer Fotze nicht bieten.

»Fass mich nicht an! Verpiss dich!«, schreit sie. Ich muss sie fast ersticken, um sie zum Auto schleppen zu können. Ich verpasse ihr noch eine, damit sie das Gleichgewicht verliert. Dann packe ich sie und stoße sie auf den Beifahrersitz.

In diesem Moment sehe ich, wie zwei Jogger rufend auf mein Auto zurennen. Also gebe ich Vollgas und verdufte.

Mir ist klar, dass ich den Stützpunkt so schnell wie möglich verlassen muss. Also fahre ich zum Tor neben dem Kino, dem einzigen, das um diese Zeit noch offen ist. Das weiß ich, weil ich auf diesem Weg reingekommen bin. Ich setze die Frau auf dem Sitz neben mir so hin, dass es aussieht, als wären wir ein Pärchen. Ihr Kopf lehnt romantisch an meiner Schulter. Die Dunkelheit ist offenbar auf meiner Seite, denn der Wachmann winkt uns einfach durch.

Draußen auf der Navy Road kommt sie zu sich und fängt wieder an zu schreien. Sie droht, die Bullen zu rufen, wenn ich sie nicht laufen lasse.

Das lasse ich mir nicht bieten. Außerdem ist es inzwischen ohnehin egal, was sie will. Ich bin der Boss, ich habe hier das Sagen, nicht sie. Deshalb nehme ich die Hand vom Steuer und verpasse ihr eine ins Gesicht. Sie hält den Mund.

Ich weiß, dass ich sie nicht mit nach Hause nehmen kann. Meine Alte wird jeden Moment zurück sein. Und dann hätte ich ein Problem. Soll ich ihr etwa erklären, dass die Kleine nur das abkriegt, was sie eigentlich selbst verdient hätte? Nein, ich will mit dieser Fotze allein sein; niemand darf uns stören. Ich muss irgendwohin, wo ich mich wohlfühle und wo ich mich auskenne, damit ich loslegen kann, ohne dass uns jemand unterbricht. Da kommt mir eine Idee.

Ich fahre bis zum Ende der Straße und biege nach rechts in den Park ein – es ist der Edmund Orgill Park. Weil ich denke, dass sie sicher bald wieder aufwacht, knalle ich ihr noch mal eine gegen die Schläfe. Ich fahre an den Basketballfeldern, den Klos und den übrigen Gebäuden vorbei zum anderen Ende des Parks, wo es einen See gibt. Am Ufer halte ich an und stelle den Motor ab. Jetzt sind wir ganz allein.

Ich packe sie am T-Shirt und zerre sie aus dem Auto. Sie ist nur halb bei Bewusstsein und stöhnt. Am Auge hat sie eine Platzwunde, und sie blutet aus Mund und Nase. Aber als ich sie auf den Boden werfe, versucht sie aufzustehen. Die Fotze gibt immer noch nicht auf. Also setze ich mich rittlings auf sie und haue noch ein paarmal zu.

Ganz in der Nähe steht ein großer Baum mit ausladenden Ästen. Irgendwie gemütlich und romantisch. Sie gehört jetzt ganz mir. Ich bestimme, was hier läuft. Ich kann mit ihr machen, was ich will. Zuerst reiße ich ihr die Sachen runter – Joggingschuhe von Nike, dann das schicke Marine-T-Shirt, die knappen Shorts und das blaue Stirnband. Sie leistet kaum noch Widerstand, ist auf einmal gar nicht mehr so stark. Ich ziehe sie ganz aus, sogar die Socken. Sie will zwar abhauen, aber sie hat keine Chance, denn ich habe hier das Sagen. Ich kann bestimmen, ob die Fotze lebt oder stirbt und wie sie draufgeht. Die Entscheidung liegt allein bei mir. Zum ersten Mal heute Abend fühle ich mich mächtig.

Ich drücke ihr den Unterarm gegen die Kehle, damit sie ruhig ist, und grapsche gleichzeitig nach ihrer linken Brust. Aber das ist erst der Anfang. Ich werde es dieser Fotze besorgen, bis ihr Hören und Sehen vergeht.

Ich sehe mich um. Kurz stehe ich auf, greife nach oben, packe einen Ast und breche ihn ab – etwa 75 Zentimeter bis einen Meter lang. Das ist ziemlich schwierig, denn das Ding hat einen Durchmesser von fast fünf Zentimetern. An der Bruchstelle ist es scharfkantig wie eine Pfeilspitze oder ein Speer.

Gerade noch sah es aus, als wäre sie bewusstlos, aber jetzt brüllt sie wieder. Ihre Augen sind weit aufgerissen und schmerzerfüllt. Allmächtiger, so viel Blut, wahrscheinlich war sie noch Jungfrau. Die Fotze schreit vor Schmerzen.

Das ist für alle Frauen, die mich verarscht haben, sage ich mir. Für alle Leute, die mich reinlegen wollten. Für das Leben – soll doch zur Abwechslung mal jemand anderer bluten! Inzwischen wehrt sie sich nicht mehr.

Nachdem der Rausch und die Wut vorbei sind, beruhige ich mich allmählich. Ich lehne mich zurück und sehe sie an.

Sie liegt ganz still und reglos da. Ihr Körper ist bleich und wirkt leer, als ob plötzlich irgendwas fehlt. Es ist verdammt lange her, seit ich mich zum letzten Mal so lebendig gefühlt habe.

So stellt es sich dar, wenn man in die Haut eines Verbrechers schlüpft. Man muss Opfer und Täter kennen und wissen, was zwischen den beiden vorgefallen ist. Das lernt man, indem man viele Stunden in verschiedenen Strafanstalten verbringt, den Tätern gegenübersitzt und sich ihre Geschichte anhört. Danach fängt man an, die Fakten miteinander zu verknüpfen. Die Tat bekommt eine Stimme. Und so schrecklich diese Stimme auch klingen mag, man darf die Ohren nicht vor ihr verschließen, wenn man etwas erfahren will.

Als ich diese Technik vor Kurzem einer Reporterin beschrieb, antwortete sie: »Über so etwas wage ich nicht einmal nachzudenken!«

Ich entgegnete: »Schön und gut, aber wenn wir wollen, dass weniger solche Verbrechen stattfinden, dürfen wir die Tatsachen nicht verdrängen.«

Und wenn jeder das versteht – nicht nur theoretisch betrachtet, sondern aus dem Bauch heraus –, können wir vielleicht nach und nach etwas bewirken.

Mit der vorangehenden Schilderung habe ich versucht zu rekonstruieren, was in der Nacht des 11. und am frühen Morgen des 12. Juli 1985 vorgefallen ist. In jener Nacht starb U.S. Marine Lance Corporal Suzanne Marie Collins – eine gebildete, beliebte, lebenslustige und schöne junge Frau von 19 Jahren – in einem öffentlichen Park in der Nähe des Memphis-Marinestützpunkts, nordöstlich von Millington in Tennessee. Corporal Collins – etwa 1,75 Meter groß und 60 Kilo schwer – hatte gegen 22 Uhr die Kaserne verlassen, um joggen zu gehen, und war nie zurückgekehrt. Nachdem sie beim Morgenappell vermisst worden war, wurde ihre nackte und misshandelte Leiche im Park entdeckt. Als Todesursachen wurden Erwürgen mit bloßen Händen, ein Schlag auf den Kopf mit einem stumpfen Gegenstand und schwere innere Blutungen festgestellt. Letztere waren durch einen zugespitzten Ast verursacht worden, den ihr jemand so tief in die Vagina gestoßen hatte, dass Unterleibsorgane, Leber, Zwerchfell und der rechte Lungenflügel durchbohrt wurden. Am nächsten Tag hätte Suzanne Collins einen viermonatigen Pilotenlehrgang abgeschlossen und wäre ihrem Ziel einen Schritt näher gewesen – nämlich einer der ersten weiblichen Piloten bei den Marines zu werden.

Es ist immer erschütternd und belastend, das Verbrechen in Gedanken noch einmal durchzuspielen, doch wenn ich die Tat mit den Augen des Täters sehen wollte, blieb mir nichts anderes übrig. Ich war bereits in die Rolle des Opfers geschlüpft, was mich viel Überwindung gekostet hatte. Aber es war nun einmal mein Job, ein Vorgehen, das ich selbst entwickelt hatte. Ich war der erste Beamte, der sich in der »Abteilung für Verhaltensforschung« der FBI-Akademie in Quantico, Virginia, ausschließlich mit der Erstellung von Täterprofilen beschäftigte.

Meine Abteilung, die »Investigative Support Unit«, hatte die Aufgabe, laufende Ermittlungen zu unterstützen. Sie wurde für gewöhnlich hinzugezogen, um ein Verhaltensprofil zu erstellen und eine Fahndungsstrategie zu entwickeln, mit deren Hilfe die Polizei die Identität eines unbekannten Täters ermitteln konnte. Seitdem ich in Quantico tätig war, hatte ich bereits mehr als 1100 derartige Fälle bearbeitet. Diesmal hatte die Polizei jedoch schon einen Verdächtigen festgenommen, als sie sich an uns wandte. Der Mann hieß Sedley Alley – ein bärtiger 29-jähriger Weißer aus Ashland in Kentucky, etwa 1,90 Meter groß und 100 Kilo schwer. Er war Arbeiter bei einer Firma für Klimaanlagen und lebte als Familienangehöriger seiner Frau Lynne, Soldatin bei der Navy, auf dem Stützpunkt. Er hatte gleich am nächsten Morgen gestanden. Allerdings unterschied sich seine Version der Ereignisse ein wenig von meiner.

Beamte der Marine-Militärpolizei hatten ihn festgenommen, da zwei Jogger und der Wachmann am Tor sein Auto beschrieben hatten. Alley hatte ausgesagt, er sei deprimiert gewesen, nachdem seine Frau Lynne zu einer Tupperware-Party gegangen sei. Er habe zu Hause drei Sechserpacks Bier und eine Flasche Wein geleert und sei dann in seinem alten, klapprigen grünen Mercury-Kombi zum Lebensmittelladen neben dem Navy-Supermarkt gefahren, um Nachschub zu besorgen.

Danach sei er ziellos herumgefahren und habe sich immer mehr betrunken. Dann habe er eine attraktive weiße Frau in einem Marine-T-Shirt und Shorts über die Straße joggen sehen. Er sagte, er sei ausgestiegen, ein Stück mitgejoggt und habe mit ihr geplaudert, bis ihm nach ein paar Minuten wegen des Alkohols und der Zigaretten die Puste ausgegangen sei. Eigentlich habe er mit ihr über seine Probleme sprechen wollen. Doch da er den Eindruck gehabt habe, dass sich eine wildfremde Frau nicht dafür interessieren würde, habe er sich verabschiedet und sei wieder ins Auto gestiegen.

In seinem alkoholisierten Zustand konnte er die Spur nicht mehr halten und fuhr Zickzack. Er wusste, dass er nicht mehr hinters Steuer gehörte. Auf einmal hörte er ein dumpfes Geräusch und spürte einen Ruck – und ihm wurde klar, dass er sie angefahren hatte.

Er lud sie ins Auto und bot ihr an, sie ins Krankenhaus zu bringen. Aber sie wehrte sich und drohte, ihn wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss anzuzeigen. Also verließ er den Stützpunkt und fuhr zum Edmund Orgill Park, wo er anhielt. Er hoffte, sie beruhigen und ihr die Anzeige ausreden zu können.

Doch im Park hörte sie nicht auf, ihn zu beschimpfen, und sagte, dass er ordentlich in der Tinte stecke. Er schrie sie an, sie solle den Mund halten, und als sie die Tür öffnen wollte, packte er sie am Hemd, stieg aus und zog sie aus dem Wagen. Sie kreischte immer weiter, sie würde ihn verhaften lassen, und dann versuchte sie wegzulaufen. Deshalb setzte er sich rittlings auf sie, um sie an der Flucht zu hindern. Er wollte doch nur mit ihr reden.

Sie wehrte sich immer noch – Alley nannte es »zappeln«. Und da brannte ihm »kurz die Sicherung durch«. Er schlug sie mit der flachen Hand ein paarmal ins Gesicht.

Er hatte Angst, denn er wusste, dass er Ärger bekommen würde, wenn sie ihn anzeigte. Also stand er auf und ließ sie los. Während er noch überlegte, was er jetzt tun sollte, ging er zurück zum Mercury, um den Schraubenzieher mit dem gelben Griff zu holen, den er zum Kurzschließen des Autos brauchte. Als er zurückkam, hörte er in der Dunkelheit rasche Schritte. In seiner Panik riss er den Arm hoch und wirbelte herum – zufällig war es die Hand, in der er den Schraubenzieher hielt. Wie sich herausstellte, hatte der Schlag das Mädchen getroffen. Offenbar war der Schraubenzieher in ihre Schläfe eingedrungen, denn sie sank zu Boden.

Er war ratlos. Sollte er einfach davonlaufen, sich vielleicht nach Kentucky absetzen? Er hatte keine Ahnung. So beschloss er, den Tod des Mädchens als Überfall und Vergewaltigung zu tarnen. Natürlich hatte er keinen Sex mit ihr gehabt, ihre Verletzungen und ihr Tod waren ja Folge eines schrecklichen Unfalls gewesen. Was also sollte er tun, damit es wie ein Sexualverbrechen aussah?

Zuerst zog er sie aus und schleppte sie dann an den Beinen vom Auto weg zum Seeufer, wo er sie unter einen Baum legte. Er wusste keinen Ausweg mehr und zermarterte sich verzweifelt das Hirn nach einer Lösung. Als er die Hand ausstreckte, berührte er einen Ast, den er, ohne nachzudenken, abbrach. Danach rollte er die Frau auf den Bauch und stieß mit dem Ast in sie hinein, nur einmal, um den Anschein zu erwecken, dass sie von einem Triebtäter überfallen worden sei. Er rannte zurück zum Auto, gab Gas und verließ den Park am entgegengesetzten Ende.

Henry »Hank« Williams, stellvertretender Bezirksstaatsanwalt in Shelby County, Tennessee, versuchte, der Wahrheit auf den Grund zu kommen. Der ehemalige FBI-Agent Williams galt als Profi in seinem Geschäft, ein charismatischer Mann Anfang 40 mit markanten Zügen, einem freundlichen, einfühlsamen Blick und früh ergrautem Haar. Noch nie hatte er ein derart abscheuliches Verbrechen gesehen.

»Schon beim ersten Blick in die Akte war mir klar, dass ich in diesem Fall auf Todesstrafe plädieren würde«, sagte Williams.

»Ich hatte nicht vor, eine Vorabvereinbarung mit der Verteidigung zu treffen.«

Allerdings wusste er genau, wie schwierig es werden würde, den Geschworenen das Motiv für diesen Mord zu vermitteln. Welcher geistig gesunde Mensch konnte eine derartige Grausamkeit begehen?

Die Verteidigung versuchte, sich diese Überlegung zunutze zu machen. Zum einen berief sie sich auf Alleys Aussage, es habe sich um einen »Unfalltod« gehandelt, und brachte das Schlagwort »geistige Unzurechnungsfähigkeit« ins Spiel. Offenbar vertraten die Psychiater, die Alley im Auftrag der Verteidigung untersucht hatten, die Theorie, dass der Angeklagte unter einer multiplen Persönlichkeitsspaltung litt. Er habe es lediglich versäumt, den verhörenden Beamten der Militärpolizei gleich am ersten Tag mitzuteilen, dass er in Suzanne Collins’ Todesnacht in drei Persönlichkeiten gespalten gewesen sei. Billie, eine Frau, und den Tod, der auf einem Pferd neben dem Auto hergeritten sei, in dem Sedley und Billie fuhren.

Williams setzte sich mit Special Agent Harold Hayes in Verbindung, der im Büro des FBI in Memphis die Erstellung von Täterprofilen koordinierte. Dieser beschrieb Williams die Grundelemente eines Lustmords und verwies auf einen Artikel mit dem Titel »Der Lustmörder«, den mein Kollege Roy Hazelwood und ich vor fünf Jahren für das FBI Law Enforcement Bulletin geschrieben hatten. Auch wenn der Begriff »Lust« im Zusammenhang mit solchen Verbrechen ein wenig unglücklich gewählt war, fasste der Artikel unsere Untersuchungsergebnisse zum Thema Serienmörder zusammen. Wir erläuterten darin, was wir über diese verabscheuungswürdigen, sexuell motivierten Verbrechen herausgefunden hatten, bei denen es dem Täter darum geht, Einfluss, Macht und Druck auf das Opfer auszuüben. Der Mord an Suzanne Collins schien ein klassischer Lustmord zu sein – eine geplante, mit Vorbedacht durchgeführte Tat, begangen von einem geistig gesunden Menschen. Alleys einzige Persönlichkeitsstörung bestand darin, dass er den Unterschied zwischen Gut und Böse zwar kannte, sich aber von derartigen moralischen Haarspaltereien nicht beirren ließ.

Williams bat mich, an dem Fall mitzuarbeiten und ihn bei der Entwicklung einer Strategie für die Anklage zu beraten. Ich sollte mir etwas einfallen lassen, um eine Jury, bestehend aus zwölf unbescholtenen Männern und Frauen, zu überzeugen, die vermutlich kaum jemals mit dem nackten Grauen in Kontakt gekommen waren. Meine Version der Ereignisse sollte für die Geschworenen realistischer klingen als die des Angeklagten.

Zuerst musste ich den Mitarbeitern der Staatsanwaltschaft ein paar Einblicke in die Erkenntnisse vermitteln, die meine Truppe und ich in den vielen Jahren der Verbrechensbekämpfung mithilfe der Verhaltensforschung gewonnen hatten. Doch auch der hohe Preis, den wir dafür bezahlt hatten, durfte nicht unerwähnt bleiben.

Sie mussten mich auf meine Reise in die Finsternis begleiten.

KAPITEL EINS

Reise in die Finsternis

Anfang Dezember 1983, ich war 38 Jahre alt, brach ich in einem Hotelzimmer in Seattle zusammen. Ich arbeitete damals gerade an der Green-River-Mordserie. Die beiden Beamten, die ich aus Quantico mitgebracht hatte, mussten die Tür eintreten, um mich zu retten. Fünf Tage lang lag ich auf der Intensivstation des Swedish Hospital im Koma und schwebte zwischen Leben und Tod. Ich litt an einer viralen Hirnhautentzündung, ausgelöst durch akute Überlastung. Immerhin war ich gleichzeitig für 150 Fälle zuständig, die ohne meine Hilfe nicht aufgeklärt werden konnten.

Ich überlebte wie durch ein Wunder, was ich der erstklassigen medizinischen Versorgung, der Liebe meiner Familie und der Unterstützung meiner Kollegen zu verdanken hatte. Nach fast einem Monat kehrte ich im Rollstuhl nach Hause zurück und konnte meine Arbeit erst im Mai wieder aufnehmen. Während dieser Zeit befürchtete ich, wegen der neurologischen Folgeschäden der Krankheit die Anforderungskriterien für den Umgang mit der Schusswaffe nicht mehr erfüllen zu können. Denn das hätte meine Laufbahn als Agent beim FBI vorzeitig beendet. Bis heute ist die Beweglichkeit meiner linken Körperhälfte leicht eingeschränkt.

Leider ist ein solcher Zusammenbruch in meinem Beruf keine Seltenheit. Die meisten meiner Kollegen, die mit der Erstellung von Täterprofilen und mit der Analyse von Ermittlungsstrategien bei der Investigative Support Unit beschäftigt waren, wurden früher oder später Opfer schwerer, durch Stressfaktoren ausgelöster Krankheiten und waren dadurch über längere Zeit arbeitsunfähig. Die Symptome sind mannigfaltig: neurologische Störungen wie in meinem Fall, Schmerzen in der Brust, Herzflimmern, Magen- und Darmbeschwerden, Angstzustände und Depressionen. Doch dass die Verfolgung von Straftätern kein Zuckerschlecken ist, ist eine allgemein bekannte Tatsache. Während meines Genesungsurlaubs hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Dabei beschäftigte mich vor allem die Frage, warum gerade in unserem Tätigkeitsbereich diese besondere Form von Stress auftritt. Wir stehen unter einem anderen, wenn nicht sogar größeren Druck als andere FBI-Agenten, Detectives oder gewöhnliche Polizisten – obwohl diese Kollegen wesentlich öfter um ihr Leben bangen müssen.

Ein Teil der Antwort liegt vermutlich in der Art unserer Arbeit. In einer Behörde, die sich bekanntermaßen nur für nackte Tatsachen interessiert, sind wir wahrscheinlich die Einzigen, die ständig nach ihrer Meinung gefragt werden. Allerdings mussten wir darauf warten, bis J. Edgar Hoover gestorben war, denn erst dann nahm man die Erstellung von Täterprofilen allmählich als Methode der Verbrechensbekämpfung ernst. Noch viele Jahre nach der Gründung der Abteilung zur Erforschung der Täterpersönlichkeit in Quantico betrachteten einige FBI-Kollegen und auch so mancher Außenstehende unsere Arbeit als Hexerei oder schwarze Magie, praktiziert von einem Grüppchen lichtscheuer Schamanen in einem tiefen, finsteren Kellerloch.

Aber man darf nicht vergessen, dass auf der Grundlage unserer Empfehlungen Entscheidungen über Leben und Tod getroffen werden, obwohl wir nicht einmal mit harten Fakten aufwarten können. Wir können uns nicht auf das berufen, was schwarz auf weiß geschrieben steht. Wenn ein Polizist sich irrt, bleibt der Fall vielleicht ungelöst, aber die Situation hat sich zumindest nicht verschlechtert. Wir hingegen werden häufig erst dann hinzugezogen, wenn alle mit ihrem Latein am Ende sind. Und wenn wir falschliegen, lenken wir die Ermittlungen vielleicht in eine Sackgasse. Deshalb tun wir auch unser Bestes, um uns abzusichern. Doch unsere Arbeitsgrundlage ist das menschliche Verhalten, und dieses ist – wie Psychiater uns so gern bestätigen – eben keine exakte Wissenschaft.

Strafverfolgungsorgane und Polizeibehörden in den gesamten Vereinigten Staaten und aus allen Teilen der Welt wenden sich an uns, weil wir die Erfahrung haben, die ihnen fehlt. Vergleichbar mit einem Facharzt, dem schon mehr Fälle einer seltenen Krankheit begegnet sind als einem Allgemeinmediziner, haben wir den Vorteil, auf nationale und internationale Fallbeispiele zurückgreifen zu können. So erkennen wir Abweichungen und Nuancen, die einem vor Ort tätigen Ermittler möglicherweise entgehen, denn dieser verfügt nur über Informationen aus seinem eigenen Zuständigkeitsbereich.

Wir arbeiten nach dem Grundsatz, dass sich vom Verhalten auf die Persönlichkeit schließen lässt. Die Erstellung eines Täterprofils verläuft meist in sieben Schritten:

Auswertung der Straftat als solcher.

Umfassende Auswertung der Besonderheiten des Tatorts beziehungsweise der Tatorte.

Umfassende Analyse des oder der Opfer.

Auswertung der vorläufigen Polizeiberichte.

Auswertung des gerichtsmedizinischen Autopsieberichts.

Entwicklung eines Täterprofils unter Berücksichtigung der besonderen Merkmale des Täters.

Vorschläge zur Durchführung der Ermittlung, basierend auf dem Aufbau des Täterprofils.

Wie Punkt 7 vermuten lässt, steht die Erstellung eines Täterprofils häufig erst am Anfang unserer Arbeit. Als Nächstes sind Gespräche mit den Ermittlern vor Ort zu führen und proaktive Strategien zu empfehlen, die den Gesuchten in Zugzwang bringen – man muss ihn dazu provozieren, einen Fehler zu begehen. Obwohl wir bei derartigen Fällen lieber im Hintergrund bleiben und uns nicht unmittelbar an der Fahndung beteiligen, kann es durchaus vorkommen, dass wir direkt in die Ermittlungen eingebunden werden. Manchmal muss man beispielsweise Kontakt zur Familie eines ermordeten Kindes aufnehmen oder den Familienmitgliedern Tipps zum Umgang mit den peinigenden Telefonanrufen des Mörders geben, in denen er beschreibt, wie er sein Opfer umgebracht hat. Zuweilen ist es sogar nötig, ein Geschwister des Opfers als Köder einzusetzen, um den Mörder an einen bestimmten Ort zu locken.

Diesen Vorschlag machte ich nach der Ermordung der 17-jährigen Shari Faye Smith in Columbia, South Carolina, denn der Mörder hatte ein starkes Interesse an Sharis hübscher Schwester Dawn bekundet. Bis wir den Täter endlich dingfest gemacht hatten, verursachten mir meine Ratschläge an das Büro des Sheriffs und an Sharis Familie eine Menge Magenschmerzen. Denn ich wusste, dass den Smiths möglicherweise eine weitere schreckliche Tragödie bevorstand, wenn ich mich geirrt hatte.

Knapp sechs Wochen nachdem der Täter Dawn angerufen und ihr ausführlich den Weg zu einem Feld im benachbarten Saluda County beschrieben hatte, wo Shari Fayes Leiche lag, wurde Corporal Suzanne Collins in einem öffentlichen Park in Tennessee ermordet.

Hat man einen Täter hinter Schloss und Riegel gebracht, steht sofort der nächste parat.

Und wie mein Kollege Jim Wright sagt, bekommen wir nur die schlimmsten Auswüchse zu sehen. Jeden Tag leben wir mit der Gewissheit, dass Menschen zu Bösem fähig sind.

»Was Menschen einander antun können, spottet jeder Beschreibung«, meint Jim. »Was sie Babys antun und Kindern, die noch nicht einmal ein Jahr alt sind. Sie weiden Frauen aus, erniedrigen sie zu Objekten. Es ist unmöglich, unsere Arbeit zu tun oder als Beamter in einem Fall von Gewaltverbrechen zu ermitteln, ohne sich persönlich betroffen zu fühlen. Oft bekommen wir Anrufe von Überlebenden oder den Angehörigen eines Opfers. Manchmal rufen sogar die Serienmörder und Vergewaltiger selbst an. Also müssen wir uns mit der zwischenmenschlichen Seite dieser Verbrechen befassen. Wir engagieren uns mit Leib und Seele, und es geht uns nahe. Ich glaube, jeder in unserer Abteilung hat seine besonderen Fälle, die ihn einfach nicht loslassen.« Ich weiß, was Jim damit meint. Bei mir ist es unter anderem der Green-River-Fall, der nie aufgeklärt wurde – und auch der Mord an Suzanne Collins, der mich bis heute verfolgt.

Während meines Genesungsurlaubs besuchte ich den Militärfriedhof in Quantico. Lange betrachtete ich die Stelle, an der ich begraben worden wäre, hätte ich jene erste Woche nicht überlebt. Außerdem dachte ich viel darüber nach, was mich wohl noch erwartete, wenn ich bis zur Pensionierung durchhielt. Beruflich gesehen hielt ich mich für ebenso fähig wie meine Kollegen, doch mir wurde klar, dass ich mich zu einem Fachidioten entwickelt hatte. Alles – meine Frau, meine Kinder, meine Eltern, meine Freunde, mein Haus und mein Stadtviertel – rangierten für mich weit hinter meinem Job. Mit mir war es so weit gekommen, dass ich, wenn meine Frau oder meine Kinder sich verletzten oder ein Problem hatten, ihr Leiden mit dem der Mordopfer in meinen Fällen verglich, sodass es mir auf einmal belanglos erschien. Zuweilen analysierte ich ihre Platzwunden und Schrammen nur im Hinblick auf die vorhandenen Blutspuren – als ob ich mich an einem Tatort befände. Meine ständige Anspannung bekämpfte ich, indem ich trank und wie ein Besessener Sport trieb. Loslassen konnte ich nur, wenn ich völlig erschöpft war.

Als ich über den Militärfriedhof schlenderte, beschloss ich, dass ich einen Weg finden musste, zur Ruhe zu kommen. Ich musste die Liebe und Unterstützung wieder schätzen lernen, die mir Pam und Erika und Lauren, meine Töchter (unser Sohn Jed sollte erst einige Jahre später geboren werden), schenkten, auf Gott vertrauen und mir die Zeit gönnen, auch die anderen Seiten des Lebens zu entdecken. Mir war klar, dass ich sonst vor die Hunde gehen würde. Und als ich 1990 vom Leiter der Täterprofil-Einheit zum Chef der Abteilung befördert wurde, bemühte ich mich, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das die innere Stabilität und die emotionale Ausgeglichenheit meiner Mitarbeiter nicht gefährdete. Schließlich hatte ich am eigenen Leib erfahren, wozu es führen kann, wenn man durch Überarbeitung Raubbau an der eigenen Gesundheit betreibt.

In unserem Beruf ist es unabdingbar, sich nicht nur in die Rolle des bekannten oder unbekannten Täters, sondern auch in die des Opfers zur Tatzeit zu versetzen. Nur wenn man weiß, was zwischen Opfer und Täter vorgefallen ist, kann man den Ablauf eines Verbrechens verstehen. Zum Beispiel erfährt man, das Opfer sei ein sehr passiver Mensch gewesen. Warum hat der Täter die Frau dann so oft ins Gesicht geschlagen? Warum hat er sie derart gequält, obwohl uns die Persönlichkeitsanalyse sagt, dass sie ohnehin nachgegeben und die Forderungen des Täters erfüllt hätte? Das Wissen um die vermutliche Reaktion des Opfers verrät uns eine Menge über den Täter. In diesem Fall handelt es sich offenbar um einen Mann, der Spaß daran hat, seine Opfer zu peinigen. Die Vergewaltigung genügt ihm nicht. Er will die Frau außerdem bestrafen. Diesen Aspekt bezeichnen wir als die »Handschrift« des Verbrechers. Basierend auf dieser einen Erkenntnis sind wir in der Lage, den Großteil seiner übrigen Persönlichkeitsmerkmale zu ergänzen, und können voraussagen, wie er sich nach der Tat vermutlich verhalten wird.

Bei jedem Verbrechen, jedem Opfer sind wir wieder auf diese Informationen angewiesen, ganz gleich, wie unbeschreiblich belastend derartige Gedankenspiele auch sein mögen.

Polizisten und Ermittler befassen sich mit den Folgen von Gewalt, was an sich schon bedrückend genug ist. Doch nach einigen Jahren im Geschäft setzt ein gewisser Gewöhnungseffekt ein. Offen gesagt bereitet es den meisten Kollegen Unbehagen, dass selbst der Normalbürger Gewalt inzwischen als selbstverständlich betrachtet, weil sie allgegenwärtig ist.

Allerdings töten die Straftäter, mit denen wir uns beschäftigen, nicht zu einem bestimmten Zweck wie etwa jemand, der einen bewaffneten Raubüberfall verübt. Sie morden, vergewaltigen und foltern aus reinem Vergnügen. Es befriedigt sie und verleiht ihnen ein Gefühl von Macht und Kontrolle über eine konkrete Situation, denn gerade das fehlt in ihrem schäbigen, gescheiterten und feigen Leben. Einige von ihnen genießen dieses Gefühl so sehr, dass sie nichts anderes mehr tun, als es bei jeder Gelegenheit erneut wachzurufen. Lawrence Bittaker und Roy Norris aus Kalifornien, die junge Mädchen in ihrem eigens dafür ausgerüsteten Kleinbus namens »Murder Mac« sexuell misshandelten und töteten, nahmen ihre Verbrechen sogar auf Tonband auf, um die Szenen immer wieder durchleben zu können. Leonard Lake und sein Partner Charles Ng – ebenfalls in Kalifornien – produzierten Videos von den jungen Frauen, die sie entführt hatten. Die Filme zeigen, kommentiert von einer Stimme aus dem Off, wie die vorher gewaltsam entkleideten Opfer psychisch gefoltert werden.

Gerne würde ich jetzt sagen, dass es sich hierbei nur um Einzelfälle handelt, um ausgefallene sexuelle Perversionen, die zum Beispiel ausschließlich in einem Bundesstaat vorkommen. Aber meine Mitarbeiter und ich haben so etwas schon zu oft gesehen. Und auch noch mitzuhören, während sich eine reale Gewalttat ereignet, gehört zu den zermürbendsten Seiten unseres Berufs.

Da ich in meiner Abteilung für das Testen und die Einstellung neuer Mitarbeiter verantwortlich war, entwickelte ich im Laufe der Jahre ein Anforderungsprofil für potenzielle Bewerber.

Anfangs kam es mir vor allem auf eine solide akademische Ausbildung an, wobei ich hauptsächlich auf psychologische und systematische kriminologische Kenntnisse Wert legte. Mit der Zeit jedoch wurde mir klar, dass Abschlussnoten und theoretisches Wissen längst nicht so wichtig waren wie Erfahrung und gewisse Sekundärqualifikationen. Schließlich gibt es bei uns die Möglichkeit, Bildungslücken durch hervorragend konzipierte Lehrgänge an der University of Virginia und dem Armed Forces Institute of Pathology zu schließen.

Also machte ich mich auf die Suche nach kreativen Köpfen mit gesundem Menschenverstand. Im FBI und bei den Strafverfolgungsbehörden im Allgemeinen gibt es viele Aufgabenbereiche, in denen die Mentalität eines Technikers oder Buchhalters gefragt ist. Bei der Erstellung von Täterprofilen und bei der investigativen Analyse hingegen würde jemand mit einer solchen Denkweise vermutlich auf einige Schwierigkeiten stoßen.

Anders als in Romanen wie Das Schweigen der Lämmer dargestellt, holen wir uns unsere Bewerber für die Investigative Support Unit nicht direkt von der Universität beziehungsweise Polizeihochschule. Seit der Veröffentlichung unseres ersten Buchs Die Seeledes Mörders haben mir viele junge Männer und Frauen geschrieben, die beim FBI in der Verhaltensforschung arbeiten und sich dem Team zur Erstellung von Täterprofilen in Quantico anschließen wollten. Aber so einfach funktioniert das nicht. Zuerst muss das FBI einen einstellen. Dann beweist man seine Fähigkeiten als erstklassiger und einfallsreicher Ermittler, und danach werben wir den Betreffenden für Quantico an. Und wenn man bereit ist, sich einer zweijährigen gründlichen Spezialausbildung zu unterziehen, kann man schließlich in unsere Abteilung eintreten.

Ein guter Profiler muss beim Ermitteln vor allem Fantasie und Kreativität an den Tag legen. Er muss willens sein, Risiken einzugehen, sich in ein Team einzufügen und mit seinen Kollegen und der Polizei zu kooperieren. Am liebsten sind uns Bewerber, die Führungsqualitäten zeigen, die nicht die Meinung der anderen abwarten, bevor sie sich äußern, die in einer Gruppensituation überzeugend wirken und denen es mit diplomatischem Geschick gelingt, eine aus dem Ruder laufende Fahndung wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. Deshalb müssen sie in der Lage sein, sowohl selbstständig als auch in der Gruppe zu arbeiten.

Wenn wir uns für einen Bewerber (männlich oder weiblich) entschieden haben, wird er, vergleichbar einem jungen Anwalt in einer Kanzlei, der einem älteren Kollegen zugeteilt wird, einem erfahrenen Mitarbeiter der Abteilung an die Seite gestellt. Falls der Neuling den Ermittlungsalltag auf der Straße nicht kennt, schicken wir ihn als Assistenten eines fähigen Detectives zur Mordkommission nach New York. Liegt das Defizit im Bereich Pathologie, ziehen wir einen anerkannten Experten wie Dr. James Luke hinzu, der sich als ehemaliger Gerichtsmediziner in Washington einen Namen gemacht hat. Außerdem sind die meisten unserer Leute vor ihrer Versetzung nach Quantico als Koordinatoren für das Profiling vor Ort tätig gewesen und haben dort Kontakte zum Polizeipräsidium und zum Büro des Sheriffs geknüpft.

Die wichtigste Eigenschaft eines guten Profilers ist Urteilsvermögen, das auf Instinkt, nicht nur auf der Analyse von Fakten und Zahlen beruht. Es lässt sich nur schwer definieren, doch es gilt der Satz, den ein bekannter Richter einmal zum Thema Pornografie geäußert hat: »Man erkennt sie, wenn man sie sieht.«

Larry Ankrom und ich sagten 1993 in San Diego im Prozess gegen Cleophus Prince aus. Er wurde beschuldigt, im Laufe von neun Monaten sechs junge Frauen ermordet zu haben. Die Einzelheiten dieses Falles werden im nächsten Kapitel ausgeführt. Während der Vorverhandlung, in der über die Zulässigkeit unserer Zeugenaussage – es ging darum, ob man aus eindeutigen Merkmalen auf einen Zusammenhang zwischen den Morden schließen dürfe – entschieden wurde, stellte mir einer der Verteidiger eine Frage. Er wollte wissen, ob es eine objektive Nummernskala gebe, anhand derer ich auf diese eindeutigen Merkmale schlösse. Mit anderen Worten: Konnte ich jedem meiner Ergebnisse einen Zahlenwert zuordnen? Natürlich lautet die Antwort Nein. In unseren Bewertungen spielen unzählige Faktoren eine Rolle, und letztlich kommt es eher auf das Urteilsvermögen des einzelnen analysierenden Beamten an als auf eine objektive Skala oder einen Test.

Ein weiteres Beispiel: Nach der Tragödie in der Siedlung der Davidianer-Sekte in Waco, Texas, hob das große Jammern und Wehklagen an. Die Bundesstrafverfolgungsbehörden übten sich in Selbstkritik und überlegten, was man hätte besser oder anders machen sollen. Nach einer solchen Sitzung im Justizministerium in Washington bat mich Janet Reno, die damalige Justizministerin, eine Liste möglicher Szenarien zusammenzustellen und jedes im Hinblick auf ihre prozentualen Erfolgsaussichten zu bewerten.

Ms Reno ist eine hochintelligente Frau mit großem Einfühlungsvermögen. Trotzdem musste ich schmunzeln angesichts ihrer Bemühungen, sich gegen eine unvorhersehbare Katastrophe abzusichern, um nicht spontan darauf reagieren zu müssen. Also antwortete ich, obwohl man das als Arbeitsverweigerung hätte auslegen können, dass mir bei diesem Gedanken nicht ganz wohl sei.

»Wenn ich Ihnen jetzt sage, dass eine bestimmte Taktik in 85 Prozent der Fälle zum Erfolg führt, während eine andere nur in 25 oder 30 Prozent der Fälle klappt«, erklärte ich, »werden Sie enorm unter Druck stehen, sich für die Alternative mit den höchsten Erfolgsaussichten zu entscheiden. Allerdings könnte ich oder ein anderer Beamter zu dem Schluss kommen, dass die Möglichkeit mit der geringeren prozentualen Wahrscheinlichkeit vielversprechender ist, und zwar nicht aufgrund belegbarer Statistiken, sondern rein intuitiv. Wenn Sie sich nur an Zahlen orientieren wollen, überlassen Sie die Entscheidungen am besten einer Maschine.«

Auch das ist eine Frage, mit der wir uns immer wieder herumschlagen mussten: Könnte unseren Job nicht eine Maschine erledigen? Die These lautete, dass man eigentlich ein Programm entwickeln können müsste, das genauso denkt wie ich als Profiler, wenn man nur über genügend Fälle, ausreichend Erfahrung und einen Computerexperten verfügt. Natürlich hatte man das versucht, aber damals war ein Computer nicht in der Lage dazu. Es hängt einfach zu viel von unabhängigen Entscheidungen, von einem durch Ausbildung und Erfahrung geschulten Instinkt und von den unzähligen Nuancen des menschlichen Charakters ab. Selbstverständlich nutzten wir Datenbanken zur Quantifizierung und effizienten Speicherung von Material. Ansonsten aber war es wie bei einem Arzt, der eine Diagnose stellt: Die Möglichkeiten objektiver Tests waren begrenzt. Und da Maschinen damit damals noch überfordert waren, brauchten wir Menschen, die Objektivität und Intuition gegeneinander abwägen konnten.

Wir können zwar Techniken und Kenntnisse vermitteln, das Talent aber muss jeder selbst mitbringen. Das ist vergleichbar mit einem begabten Profisportler – man hat es, oder man hat es nicht. Wie in der Schauspielkunst, der Schriftstellerei, der Musik oder beim Baseball kann man jemanden nur die Grundlagen lehren, Hinweise geben und dazu beitragen, dass derjenige seine Fähigkeiten entdeckt. Doch wer nicht von Geburt an das hat, was mein Freund, der Romanautor Charles McGarry, den »Profiblick« nennt, wird nicht lange in der Topmannschaft durchhalten und nie Karriere als Baseballstar machen.

Hat man diesen »Profiblick« und ist man dazu noch ein anständiger, geistig gesunder Mensch – wie wir hoffentlich alle –, erträgt man die tägliche Konfrontation mit dem Grauen, mit Serienvergewaltigern und Lustmördern nur, wenn man seinen Job als wirklichen Auftrag sieht. Man fängt an, sich mit den Opfern von Gewaltverbrechen und deren Familien zu identifizieren. Auch ich habe diese Entwicklung durchgemacht und mein Buch aus dieser Perspektive geschrieben. Wie gerne würde ich an Wiedergutmachung glauben, und ich hoffe, dass eine Resozialisierung in manchen Fällen möglich ist. Doch nach 25 Jahren als Special Agent des FBI und einer fast genauso langen Zeit, die ich mit der Erstellung von Persönlichkeitsprofilen und der Auswertung von Straftaten verbracht habe, fällt mir das schwer. Angesichts der Statistiken und Daten lasse ich nicht zu, dass mein Wunschdenken mir den Blick auf die Wirklichkeit verstellt. Damit will ich sagen, dass ich nicht so sehr daran interessiert bin, einem verurteilten Sexualverbrecher eine zweite Chance zu geben – mir ist es viel wichtiger, dass ein unschuldiges potenzielles Opfer eine erste Chance erhält.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Um das zu erreichen, brauchen wir keinen totalitären Polizeistaat. Wir müssen weder die Verfassung ändern noch die bürgerlichen Freiheiten abschaffen. Aufgrund meiner Erfahrung weiß ich genau, dass die Macht der Polizei zum Missbrauch einlädt und dass Beamte zuweilen ihre Befugnisse überschreiten. Allerdings bin ich fest davon überzeugt, dass wir einfach nur die Gesetze anzuwenden brauchen, die wir bereits haben. Außerdem sollte man im Umgang mit den Themen Strafmaß, Strafvollzug und Bewährung mehr gesunden Menschenverstand walten und sich von der Realität anstatt von Gefühlen leiten lassen. In unserer modernen Gesellschaft ist vor allem wieder das Bewusstsein gefragt, dass der Einzelne für sein Handeln verantwortlich ist. Zurzeit habe ich den Eindruck, als ob heutzutage niemand mehr für irgendetwas verantwortlich wäre. In der Lebensgeschichte jedes Menschen gibt es Faktoren, mit denen sich sein Verhalten entschuldigen lässt. Doch es hat nun einmal seinen Preis, auf der Welt zu sein, und ganz gleich, was uns in der Vergangenheit widerfahren sein mag – ein Teil dieses Preises ist eben, dass wir dafür geradestehen müssen, was wir hier und jetzt tun.

Ich will noch einmal hervorheben, was Ihnen fast jeder bestätigen wird, der bei einer Strafverfolgungsbehörde tätig ist: Wenn Sie von uns erwarten, dass wir soziale Probleme lösen, werden Sie eine herbe Enttäuschung erleben. Bis diese Probleme bei uns auf dem Schreibtisch landen, ist das Kind nämlich schon in den Brunnen gefallen. In meinen Vorträgen habe ich oft betont, dass mehr Serienmörder »gemacht« als geboren werden. Mit der nötigen Aufmerksamkeit und den entsprechenden Maßnahmen könnte man einer Menge dieser Männer helfen oder sie wenigstens hinter Schloss und Riegel bringen, bevor es zu spät ist. Schließlich habe ich mich einen Großteil meines Berufslebens mit den Folgen solcher Versäumnisse befasst.

Woher beziehen wir unsere Erkenntnisse? Wie kommen wir auf den Gedanken, wir könnten das Handeln eines Mörders nachvollziehen und deshalb voraussagen, wie er sich verhalten wird, ohne ihn zu kennen?

Wir glauben deshalb zu wissen, was in den Köpfen von Mördern, Vergewaltigern, Brandstiftern oder Bombenlegern vorgeht, weil wir als Erste Verbindung zu den Experten haben – den Tätern selbst. Damals in Quantico (und auch heute noch) wurde auf der Grundlage einer Studie gearbeitet, die Special Agent Robert Ressler und ich Ende der Siebzigerjahre begonnen hatten. Wir gingen in die Gefängnisse und sprachen lange und ausführlich mit verschiedenen Häftlingen, die uns als repräsentativer Querschnitt für die dort einsitzenden Serienmörder, Vergewaltiger und Gewaltverbrecher erschienen. Die Studie wurde noch viele Jahre lang fortgesetzt und ist in gewissem Sinne bis heute nicht abgeschlossen. Mithilfe von Professor Ann Burgess von der University of Pennsylvania wurden die Resultate zusammengefasst und schließlich unter dem Titel Sexual Homicide: Patterns and Motives veröffentlicht.

Um mit diesen Menschen ein sinnvolles Gespräch zu führen und von ihnen zu erfahren, was man erfahren will, bedarf es einer eingehenden Vorbereitung. Man muss zunächst die gesamte Akte lesen und sich gründlich über den Fall informieren. Dann muss man sich mit seinem Gegenüber auseinandersetzen und sich auf sein Niveau begeben. Wenn man nicht weiß, was derjenige verbrochen hat, wie er vorgegangen und an sein Opfer herangekommen ist und wie er es gequält und umgebracht hat, wird er einen belügen, um die eigene Haut zu retten. Man darf nicht vergessen, dass die meisten Serientäter geübt darin sind, ihren Mitmenschen etwas vorzumachen. Wenn man nicht bereit ist, sich auf sie einzulassen und die Dinge von ihrer Warte aus zu betrachten, werden sie kein Vertrauen haben und schweigen. Diese beiden Faktoren – das Sich-darauf-Einlassen und das Sich-hinein-Versetzen – tragen dazu bei, dass unsere Arbeit sehr belastend ist.

Aus Richard Speck, der in einem Haus im Süden von Chicago acht Schwesternschülerinnen abgeschlachtet hatte, bekam ich anfangs nichts heraus, als ich ihn im Gefängnis in Joliet, Illinois, interviewte. Erst als ich meine distanzierte Haltung aufgab und ihn beschimpfte, weil er »uns Männer um acht scharfe Weiber gebracht« hätte, begann er zu reden.

Er schüttelte lächelnd den Kopf und meinte zu uns: »Ihr Typen habt sie doch nicht mehr alle. Sieht aus, als wäre der Unterschied zwischen uns gar nicht so groß.«

Da ich mit den Opfern und ihren Familien fühle, widerstrebt es mir sehr, in so eine Rolle zu schlüpfen. Aber es ist nötig, und nachdem ich Speck auf diese Weise für mich gewonnen hatte, gelang es mir, seine Machofassade zu durchbrechen. Ich konnte nachvollziehen, was in ihm ablief und warum ein simpler Einbruch in jener Nacht im Jahr 1966 zu Vergewaltigung und Massenmord eskaliert war.

In Attica sprach ich mit David Berkowitz, dem »Son of Sam«, der in New York sechs junge Männer und Frauen in Autos ermordet und seit dem Juli 1976 ein Jahr lang Angst und Schrecken verbreitet hatte. Er beharrte auf der in sämtlichen Medien veröffentlichten Version, der uralte Hund seines Nachbarn habe ihn dazu gebracht, die Verbrechen zu begehen. Da ich genug über die Einzelheiten des Falls und seine Methode wusste, war ich überzeugt, dass die Morde keinesfalls Folge eines Gewirrs von Wahnvorstellungen sein konnten. Diese Gewissheit beruhte nicht auf Einbildung, sondern auf den Ergebnissen der Analysen früherer Interviews.

Sobald Berkowitz also mit seinem Märchen vom Hund anfing, entgegnete ich: »Hey, David, verschonen Sie mich mit diesem Mist. Der Hund hatte nichts damit zu tun.«

Er lachte und räumte sofort ein, dass ich recht hatte. Nun war der Weg frei, um zum Kern seiner Methode vorzudringen, die mich am meisten interessierte. Und wir erfuhren eine Menge. Berkowitz, der seine Verbrecherlaufbahn als Brandstifter begonnen hatte, erzählte uns, dass er jede Nacht auf die Jagd nach Opfern ging, die seinen Vorstellungen entsprachen. Wenn er erfolglos blieb, zog es ihn an die Tatorte seiner früheren Verbrechen, wo er masturbierte. Dort genoss er noch einmal die Freude und Befriedigung, die Macht über das Leben und Sterben eines anderen Menschen – wie Bittaker und Norris mit ihren Tonbändern und Lake und Ng mit ihren Videos.

Ed Kemper ist ein Riese von über zwei Metern und wahrscheinlich der intelligenteste Mörder, dem ich je begegnet bin. Zum Glück für mich und den Rest der Menschheit fand diese Begegnung im abgesicherten Besucherraum der California State Medical Facility in Vacaville statt, wo Kemper eine mehrfache lebenslängliche Freiheitsstrafe verbüßte. Als Teenager hatte er wegen des Doppelmords an seinen Großeltern auf ihrer Farm im Norden von Kalifornien einige Zeit in einer psychiatrischen Anstalt verbracht. Später, Anfang der Siebzigerjahre, terrorisierte er das Viertel rund um die University of California in Santa Cruz und enthauptete und verstümmelte mindestens sechs Studentinnen. Dann beschloss er, Clarnell, seine Mutter, zu ermorden, der seine Aggressionen eigentlich galten.

Ich erlebte Kemper als klug, einfühlsam und intuitiv begabt. Im Gegensatz zu den meisten Mördern kennt er sich selbst gut genug, um zu wissen, dass er besser nicht auf freien Fuß gesetzt werden sollte. Ihm verdanken wir eine Menge wichtiger Einblicke in die Denkweise eines intelligenten Mörders. Mit einer Einsicht, die bei Gewaltverbrechern selten anzutreffen ist, erklärte er mir, er habe die Frauen nach der Ermordung nicht aus sexueller Lust verstümmelt, sondern um die Identifizierung zu erschweren und die Polizei so lange wie möglich im Dunkeln tappen zu lassen.

Von weiteren »Experten« erhielten wir zusätzliche Informationen und Einblicke, die sich bei der Entwicklung von Strategien zur Ergreifung eines unbekannten Täters als enorm hilfreich erwiesen. Beispielsweise entpuppte sich das alte Klischee, dass Mörder immer zum Tatort zurückkehren, in vielen Fällen als zutreffend – allerdings nicht unbedingt aus den von uns vermuteten Motiven. Es ist richtig, dass manche Mörder unter gewissen Umständen Reue empfinden und sich zum Tatort oder zum Grab ihres Opfers schleichen, weil sie um Verzeihung bitten wollen. Falls wir von dieser Sorte Täter ausgehen, kann uns diese Erkenntnis weiterhelfen. Einige Mörder kommen jedoch aus anderen Gründen wieder – nicht weil ihnen ihr Verbrechen leidtut, sondern weil sie sich darüber freuen. Auch dieses Wissen erleichtert uns die Festnahme. Andere Täter mischen sich direkt in die Ermittlungen ein, um immer auf dem Laufenden zu bleiben. Sie beschwatzen Polizisten oder melden sich als Zeugen. Als ich 1981 an der Mordserie an schwarzen Jugendlichen in Atlanta arbeitete, deuteten alle Anzeichen für mich darauf hin, dass sich der unbekannte Täter an die Polizei wenden und seine Hilfe anbieten würde. Wayne Williams wurde verhaftet, nachdem er sein letztes Opfer (wie erwartet) in den Chattahoochee River geworfen hatte. Wie wir später erfuhren, hatte sich der Polizeifan den Ermittlern als Tatortfotograf angedient.

Wieder andere Häftlinge berichteten, sie hätten – meist in Begleitung einer Frau – einen Ausflug in die Gegend gemacht, wo das Verbrechen stattgefunden hatte. Unter einem Vorwand hatten sie ihre Begleiterin dann eine Weile allein gelassen, um den Tatort noch einmal aufzusuchen. Ein Mörder erzählte uns, er sei mit einer Frau, zu der er eine lose Liebesbeziehung unterhielt, zum Zelten gefahren. Dort habe er die Ausrede gebraucht, er müsse mal, sei aber in den Wald zu der Stelle gegangen, wo er die Ermordeten abgelegt hatte.

Die Interviews im Gefängnis halfen uns, die vielfältigen Motive und Verhaltensweisen von Serienmördern und Vergewaltigern besser zu verstehen. Doch wir entdeckten auch einige erstaunliche Gemeinsamkeiten. Die meisten Täter waren Scheidungskinder, in dysfunktionalen Familienverhältnissen aufgewachsen und häufig misshandelt worden – körperlich, sexuell, psychisch oder in allen drei Formen. Wir stellten fest, dass sich bei vielen schon im frühen Kindesalter eine Entwicklung abgezeichnet hatte, die wir als »mörderisches Dreieck« oder »mörderische Triade« bezeichnen. Zu den Symptomen gehören Bettnässen bis ins Schulalter, Brandstiftung und das Quälen von Tieren und anderen Kindern. Oft traten mindestens zwei, wenn nicht gar alle drei dieser Symptome auf. Das erste Kapitalverbrechen erfolgt für gewöhnlich mit Anfang bis Mitte 20. Der junge Mann hat ein geringes Selbstwertgefühl und macht den Rest der Welt für seine Lage verantwortlich. Er hat bereits einiges auf dem Kerbholz, auch wenn er nicht dabei erwischt worden ist – vielleicht einen Einbruch, einen Hausfriedensbruch, eine versuchte oder vollendete Vergewaltigung. Möglicherweise ist auch eine unehrenhafte Entlassung aus der Armee dabei, da dieser Persönlichkeitstyp meist überhaupt nicht mit Autorität, gleich welcher Art, zurechtkommt. Ein solcher Mensch fühlt sich sein Leben lang als Opfer: Er wird von anderen beeinflusst, unterdrückt und kontrolliert. Doch eine Situation gibt es in der Fantasie dieses gescheiterten, unfähigen Niemands, in der er endlich einmal die Macht hat: Er kann das Schicksal seines Opfers bestimmen und entscheiden, ob es lebt oder stirbt und unter welchen Umständen es zu Tode kommt. Alles liegt in seiner Hand; er bestimmt die Regeln.

Diese biografischen Gemeinsamkeiten zu kennen ist sehr wichtig, will man die Motive eines Serienmörders nachvollziehen. Wir verbrachten im Gefängnis von San Quentin viele Stunden mit Charles Manson, der 1969 in Los Angeles Sharon Tate und ihre Freunde und am folgenden Tag Leno und Rosemary LaBianca durch seine »Jünger« hatte niedermetzeln lassen. Nach unserem Gespräch kamen wir zu dem Schluss, dass nicht, wie allgemein angenommen, ein grauenvoller, archaischer Blutrausch der Grund für diese Tat gewesen war. Manson, geboren als unehelicher Sohn einer 16-jährigen Prostituierten, war bei einer fanatisch religiös eingestellten Tante und einem sadistischen Onkel aufgewachsen. Von seinem zehnten Lebensjahr an hatte er sich auf der Straße herumgetrieben und saß später etliche Gefängnisstrafen ab. Wie jeder Mensch sehnte sich Manson nach Ruhm, Reichtum und Anerkennung, und er träumte davon, ein Rockstar zu werden. Da sich dazu keine Gelegenheit bot, ernannte er sich selbst zum Guru und richtete sich auf ein kostenloses Leben im Kreise seiner leicht zu beeindruckenden Anhänger ein, die ihn mit Essen, Unterkunft und Drogen versorgten. In seiner »Familie« aus gescheiterten Existenzen und Aussteigern hatte er die Möglichkeit, Einfluss, Macht und Kontrolle auszuüben. Damit niemand aus der Reihe tanzte oder das Interesse verlor, predigte Manson die Apokalypse, eine Entscheidungsschlacht zwischen den Klassen und Rassen – symbolisiert im Beatles-Song »Helter Skelter« –, aus der nur er allein siegreich hervorgehen würde.

Bis zum 9. August 1969 lief alles prächtig für Charlie. Dann aber brach Charles »Tex« Watson, ein Jünger Mansons und möglicher »Thronfolger«, in das Haus des Regisseurs Roman Polanski in Beverly Hills ein. Dessen Frau, die Schauspielerin Sharon Tate, war im achten Monat schwanger. Nach dem brutalen Mord an fünf Menschen (Polanski war an jenem Abend nicht zu Hause) wurde Manson klar, dass er seine Macht zurückgewinnen musste. Er musste vorspiegeln, dass er selbst diese Morde als »Startschuss« zum großen »Helter Skelter« geplant hatte, und seiner »Familie« einen weiteren Mord befehlen. Ansonsten hätte seine Glaubwürdigkeit gelitten, und er hätte die Führungsrolle an Watson verloren. Und dann wäre es mit dem sorglosen Leben vorbei gewesen. In Mansons Fall ging es also nicht um die Lust am Einfluss, an Unterdrückung und Kontrolle, sondern um die Angst vor Machtverlust.

Dieses Wissen ändert natürlich nichts daran, dass Manson ein Ungeheuer ist – nur eben eine andere Art von Ungeheuer, als wir anfangs dachten. Wenn wir diesen Unterschied verstehen, können wir uns ein Bild von Mansons Tat machen und – was ebenso wichtig ist – begreifen, welche Macht er über andere ausübte. Nach dem Gespräch mit Manson wurde uns einiges über den Charakter von Sekten und Geheimbünden wie die von Reverend Jim Jones, David Koreshs Davidianer in Waco, die Weaver-Family in Ruby Ridge, die Freemen in Montana und die gesamte Bürgerwehrbewegung in den USA klar.

Während unserer Interviews und Recherchen gewannen wir eine Reihe von Erkenntnissen, die unsere Möglichkeiten, Verbrechen zu analysieren und das Verhalten der Täter vorauszusagen, entscheidend verbesserten. Normalerweise legen Ermittler großen Wert auf die Vorgehensweise des Täters, also wie er sein Verbrechen verübt, ob er ein Messer oder eine Schusswaffe benutzt oder auf welchem Weg er das Opfer in seine Gewalt bringt.

Theodore »Ted« Bundy wurde 1989 in der Strafanstalt in Stark im Staat Florida auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet. Bundy war ein gut aussehender, kluger und charmanter Mann, bei seinen Mitmenschen beliebt und der Inbegriff einer »guten Partie« – ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, dass man Serienmördern ihre Veranlagung oft nicht ansieht. Die meisten wirken eher unauffällig. Er war allerdings einer der berüchtigtsten Serienmörder in der Geschichte der USA, der junge Frauen von Seattle bis Tallahassee vergewaltigte. Sein Trick bestand darin, mithilfe eines abnehmbaren Gipsverbandes und einer Schlinge einen gebrochenen Arm vorzutäuschen. Er bat sein potenzielles Opfer, ihm beim Tragen eines schweren Gegenstands zu helfen, und wenn die Frau dadurch abgelenkt war, schlug er sie nieder. Der Autor Thomas Harris lässt seine Romanfigur Buffalo Bill in Das Schweigen der Lämmer nach diesem Modell vorgehen.

Daneben gingen noch weitere Merkmale von Serientätern in die Darstellung dieser Romanfigur ein. Wir machten Harris mit den Taten von Mördern bekannt, als er vor den Arbeiten an dem Roman Roter Drache Quantico besuchte. Buffalo Bill hält seine Opfer in einer Grube gefangen, die er in seinem Keller ausgehoben hat. Im wirklichen Leben war das die Spezialität von Gary Heidnick, der in Philadelphia Frauen entführte. Buffalo Bills grausige Eigenheit, sich aus der Haut der Frauen eine weibliche Hülle zu schneidern, hatte der Autor von Ed Gein übernommen, der in den Fünfzigerjahren in dem kleinen Dorf Plainfield in Wisconsin wütete. Allerdings hatte Robert Bloch dieses Motiv bereits in seinem bekannten Roman Psycho verwendet, der von Alfred Hitchcock verfilmt wurde.

Eine wichtige Anmerkung: Es ist ein Modus Operandi (MO), eine Vorgehensweise, sich den Arm einzugipsen, um Frauen zu entführen – Frauen umzubringen und sie zu häuten ist kein Modus Operandi. Für diesen Bestandteil des Verbrechens habe ich den Begriff »Handschrift« geprägt, denn er stellt sozusagen eine persönliche Note des einzelnen Täters dar. Als Vorgehensweise (MO) bezeichnet man das, was der Mörder tut, um sein Verbrechen ausführen zu können; die Handschrift ist in gewisser Weise der Grund, warum er es tut – nämlich das, was ihn emotional befriedigt. Manchmal sind die Grenzen zwischen Vorgehensweise und Handschrift fließend, das hängt vom Motiv ab. Von Buffalo Bills drei Tatmerkmalen fällt der Gebrauch des Gipsarms eindeutig in die Kategorie Vorgehensweise, das Häuten ist Handschrift, die Grube könnte je nach Situation beides sein. Wenn er seine Opfer in die Grube sperrt, um sie dort festzuhalten und an der Flucht zu hindern, würde ich das Vorgehensweise nennen. Wenn es ihm Befriedigung verschafft, die Frauen dort unten zu demütigen und sie um ihr Leben betteln zu sehen, handelt es sich um die Handschrift.

Ich habe über Jahre hinweg festgestellt, dass die Handschrift viel mehr über das Verhalten eines Serientäters verrät als die Vorgehensweise. Das liegt daran, dass die Handschrift immer gleich bleibt, während sich die Vorgehensweise ändert. Sie entwickelt sich im Laufe einer Verbrecherkarriere, da der Täter aus seinen Erfahrungen lernt. Wenn ihm eine bessere Methode einfällt, ein Opfer in seine Gewalt zu bringen oder eine Leiche abzutransportieren und zu beseitigen, wird er sie anwenden. Doch sein emotionales Motiv, das ihn veranlasst, das Verbrechen überhaupt zu begehen, ist festgelegt.

Natürlich spielt bei einem gewöhnlichen Verbrechen wie etwa bei einem Bankraub nur die Vorgehensweise eine Rolle.