Religion ohne Gott - Ronald Dworkin - E-Book

Religion ohne Gott E-Book

Ronald Dworkin

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Beschreibung

Das Zentrum wahrer Religiosität, so der bekennende Atheist Albert Einstein, sei die Ehrfurcht vor den Mysterien des Universums, »deren höchste Weisheit und strahlende Schönheit wir mit unseren matten Erkenntnisvermögen nur rudimentär begreifen können«. In diesem Sinne sei er, Einstein, ein tiefreligiöser Mensch. Aber was ist religiös an einer solchen Haltung, in der Gott offensichtlich keine Rolle spielt? Mit dieser Frage beschäftigte sich Ronald Dworkin in seinen Einstein-Vorlesungen, die er bis kurz vor seinem Tod zu diesem Buch ausgearbeitet hat. Religion, so seine Antwort, bezeichnet eine Sicht auf die Welt, die von einem tiefen Glauben an objektive Werte getragen wird – etwa daran, dass Geschöpfe eine Würde haben, dass ein Leben erfüllt oder verfehlt sein kann oder dass Schönheit, die uns den Atem raubt, sich nicht als pures Produkt unserer Sinnesorgane erklären lässt. Auch Theisten teilen diese Werte, meinen aber, sie seien gottgegeben. Für Dworkin verhält es sich genau umgekehrt: Die Idee eines Gottes rührt daher, dass es diese Werte wirklich gibt. Und an Gott (oder Götter) zu glauben ist eine Weise, dies auszudrücken, aber nicht die einzige. Von der Physik über die Politik bis hin zum Recht erkundet »Religion ohne Gott« den Perspektivwechsel, der mit einem solchen gottlosen Verständnis von Religion verbunden ist. Das Buch, das mit einer eindrucksvollen Reflexion über Tod und Unsterblichkeit schließt, ist das Vermächtnis eines bekennenden religiösen Atheisten. Es weitet den Blick für das, was wichtig ist.

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Das Zentrum wahrer Religiosität, so der bekennende Atheist Albert Einstein, bilde das »Wissen um die Existenz des für uns Undurchdringlichen, der Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit«. In diesem Sinne sei er, Einstein, ein tiefreligiöser Mensch. Aber was ist religiös an einer solchen Haltung, in der Gott offensichtlich keine Rolle spielt?

Mit dieser Frage beschäftigte sich Ronald Dworkin in seinen Einstein-Vorlesungen, die er bis kurz vor seinem Tod zu diesem Buch ausgearbeitet hat. Religion, so seine Antwort, bezeichnet eine Sicht auf die Welt, die von einem Glauben an objektive Werte getragen wird – etwa daran, dass Geschöpfe eine Würde haben, dass ein Leben erfüllt oder verfehlt sein kann oder dass Schönheit, die uns den Atem raubt, sich nicht als pures Produkt unserer Sinnesorgane erklären lässt. Auch Theisten teilen diese Werte, meinen aber, sie seien gottgegeben. Für Dworkin verhält es sich genau umgekehrt: Die Idee eines Gottes rührt daher, dass es diese Werte wirklich gibt. Und an Gott (oder Götter) zu glauben ist eine Weise, dies auszudrücken, aber nicht die einzige.

Von der Physik über die Politik bis hin zum Recht erkundet Religion ohne Gott den Perspektivenwechsel, der mit einem solchen gottlosen Verständnis von Religion verbunden ist. Das Buch, das mit einer eindrucksvollen Reflexion über Tod und Unsterblichkeit schließt, ist das Vermächtnis eines bekennenden religiösen Atheisten. Es weitet den Blick für das, was wichtig ist.

Ronald Dworkin (1931-2013) war Professor für Philosophie und Recht an der New York University sowie Professor für Recht am University College in London. Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bielefelder Wissenschaftspreis, dem Balzan-Preis und dem Holberg-Preis.

Im Suhrkamp Verlag sind zuletzt erschienen: Bürgerrechte ernstgenommen (1984); Was ist Gleichheit? (stw 1886) und Gerechtigkeit für Igel (2012).

Ronald Dworkin

Religion ohne Gott

Aus dem Amerikanischen von Eva Engels

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2014.

Titel der Originalausgabe:

Religion without God

Die Originalausgabe in englischer Sprache, die dieser Übersetzung zugrunde liegt, erschien erstmals 2013 bei Harvard University Press

Copyright © 2013 by Ronald Dworkin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2014

© 2013 by Ronald Dworkin

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Umschlagfoto: © 2013 silbersalz|dorrer

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-73732-3

www.suhrkamp.de

Für Tom – der mich in die Geheimnisse des säkularen Naturells eingeweiht hat.

Und für Reni – auf ewig.

7Inhalt

Editorische Notiz

1 Religiöser Atheismus?

Einleitung

Was ist der metaphysische Kern der Religion?

Wissenschaft und Werte im Rahmen der Religion

Rätselhaftigkeit und Verständlichkeit

Nichtpersonale Götter: Tillich, Spinoza und der Pantheismus

2 Das Universum

Die Physik und das Erhabene

Könnte Schönheit forschungsleitend sein?

Aber welche Art von Schönheit könnte das sein?

Symmetrie?

Ist das Universum einfach so, wie es ist?

Zwangsläufigkeit und das Universum

Die Schönheit der Zwangsläufigkeit

3 Religionsfreiheit

Die Frage der Verfassungen

Geht es bei der Religionsfreiheit ausschließlich um Gott?

Entgrenzte Freiheit?

Konflikte im Innern der Freiheit

8Gibt es wirklich ein Recht auf Religionsfreiheit?

Die neuen Religionskriege

4 Tod und Unsterblichkeit

Register

9Editorische Notiz

Dieses Buch basiert auf den Einstein Lectures, die Ronald Dworkin im Dezember 2011 an der Universität Bern gehalten hat. Er hatte vor, seine in den Vorlesungen angestellten Überlegungen in den nächsten paar Jahren noch erheblich zu erweitern, aber im Sommer 2012 erkrankte er, und es blieb ihm nur noch die Zeit, den ursprünglichen Text an einigen Stellen zu überarbeiten, bevor er im Februar 2013 starb. Der Verlag dankt insbesondere Hillary Nye, einer Doktorandin an der NYU School of Law, die bei der Vorbereitung des Textes zur Publikation wertvolle Hilfe geleistet hat. Die Arbeit von Professor Dworkin wurde von der Filomen D’Agostino and Max E. Greenberg Foundation der NYU School of Law unterstützt.

111 Religiöser Atheismus?

Einleitung

Religion ist etwas Tieferes als Gott – das ist das Thema dieses Buches. Religion ist eine sehr grundlegende, spezifische und umfassende Weltsicht, die besagt, dass ein inhärenter, objektiver Wert alles durchdringt, dass das Universum und seine Geschöpfe Ehrfurcht gebieten, dass das menschliche Leben einen Sinn und das Universum eine Ordnung hat. Der Glaube an einen Gott ist nur eine der möglichen Manifestationen oder Konsequenzen dieser tieferen Weltsicht. Im Lauf der Geschichte haben Götter natürlich einer ganzen Reihe von menschlichen Zwecken gedient: Sie versprachen ein Leben nach dem Tod, boten eine Erklärung für Stürme und Unwetter und standen uns zur Seite im Angesicht unserer Feinde. Doch zentral für ihre anhaltende Beliebtheit ist die ihnen unterstellte Fähigkeit gewesen, der Welt Wert und Sinn zu verleihen. Die Überzeugung, dass Werte auf einen Gott gründen, setzt jedoch voraus, wie ich hier zeigen will, sich zuvor auf die unabhängige Wirklichkeit von Werten festgelegt zu haben. Und diese Festlegung steht auch Nichtgläubigen frei. Das bedeutet, dass die Theisten mit manchen Atheisten in etwas übereinstimmen, das grundlegender ist als alles, was sie trennt, und vielleicht den Ausgangspunkt für eine bessere Verständigung zwischen ihnen bilden könnte.

Die uns allen geläufige harte Unterscheidung zwischen religiösen und nichtreligiösen Menschen ist zu grob. 12Viele Millionen Menschen, die sich als Atheisten verstehen, machen Erfahrungen und hängen Überzeugungen an, die denen, welche Gläubige als »religiös« bezeichnen, ähneln und ebenso tiefschürfend sind. Sie sagen, dass sie, obschon sie nicht an einen »personalen« Gott glauben, nichtsdestotrotz davon überzeugt sind, dass es im Universum eine »Macht« gibt, die »größer ist als wir«. Sie verspüren die unausweichliche Verantwortung, ihr Leben auf gute Weise zu führen und die Leben anderer Menschen entsprechend zu achten. Ein aus ihrer Sicht gelungenes Leben erfüllt diese Menschen mit Stolz, wohingegen manche von ihnen gelegentlich untröstlich sind, wenn sich ein Leben im Rückblick als ein vertanes herausstellt. Sie sind vom Grand Canyon nicht einfach nur beeindruckt, sondern halten ihn für ein atemberaubendes und fast schon unheimliches Wunder der Natur. Die neuesten Entdeckungen der Kosmologie stoßen nicht nur auf ihr Interesse, sondern schlagen sie in ihren Bann. All dies ist für sie mehr als eine unmittelbare und ansonsten nicht weiter erklärbare Reaktion ihrer Sinnesorgane. Sie verleihen der Überzeugung Ausdruck, dass die Kraft oder Macht und das Wunderbare, das sie wahrnehmen, ebenso wirklich sind wie Planeten oder Schmerzen, und dass moralische Wahrheiten und die Wunder der Natur nicht nur Achtung und Ehrfurcht in uns hervorrufen, sondern fordern.

Diese vielschichtige Grundhaltung wurde wiederholt in berühmten und sehr poetischen Beschreibungen artikuliert, zum Beispiel von Albert Einstein, der sich als zutiefst religiös beschrieb, obwohl er Atheist sei:

13Das Wissen um die Existenz des für uns Undurchdringlichen, der Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit, die unserer Vernunft nur in ihren primitivsten Formen zugänglich sind, dies Wissen und Fühlen macht wahre Religiosität aus; in diesem Sinn und nur in diesem gehöre ich zu den tief religiösen Menschen.[1]

Auch Percy Bysshe Shelley erklärte, er sei ein Atheist, der dennoch fühle, wie der »unsichtbaren Macht erhabener Schatten [unter uns] schwebt«.[2] Philosophen, Historiker und Religionssoziologen haben Theorien religiöser Erfahrung entwickelt, die Raum für einen religiösen Atheismus lassen. William James war der Ansicht, dass Religion zwei wesentliche Komponenten habe. Eine davon sei das tiefe Gefühl, es gebe »Dinge im Universum«, die »sozusagen den Schlußstein legen und das letzte Wort haben«.[3] Aus Sicht der Theisten füllt ein Gott diese Rolle aus, wohingegen ein Atheist denken kann, dass die Verantwortung, ein gutes Leben zu führen, das letzte Wort hat beziehungsweise den Schlussstein legt und dass diese Verantwortung in nichts verankert ist oder sein muss, das noch grundlegender wäre.

Gerichte müssen immer wieder entscheiden, was »Religion« im juristischen Kontext bedeuten soll. Als zum Beispiel der US-amerikanische Kongress Männern, deren Religion ihnen den Militärdienst verbietet, die Möglichkeit einräumte, diesen aus Gewissensgründen zu verweigern, 14musste der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten entscheiden, ob diese Begründung auch für einen Atheisten gelten soll, dessen moralische Überzeugungen ebenfalls nicht mit dem Militärdienst vereinbar sind. Er hat entschieden, dass sie gilt.[4] In einem anderen Fall, in dem es um das in der Verfassung garantierte Recht auf freie Religionsausübung ging, erklärte das Gericht im Rahmen des Urteils, in den Vereinigten Staaten würden zahlreiche Religionen gedeihen, die keinen Gott anerkennen, unter anderem eine vom Gericht als »säkularer Humanismus« bezeichnete Bewegung.[5] Außerdem verwenden wir das Wort »Religion« inzwischen oft in Kontexten, die nichts mit Göttern oder Mächten, die sich unserem Verständnis entziehen, zu tun haben, etwa wenn wir sagen, dass die Amerikaner aus ihrer Verfassung eine Religion machen oder dass für manche Menschen Baseball eine Religion ist. Das sind natürlich beides metaphorische Verwendungsweisen von »Religion«, aber sie scheinen weniger von einem Glauben an Gott zu zehren, als vielmehr von einer tiefen Hingabe allgemeinerer Natur.

»15Religiöser Atheismus« ist also kein Oxymoron, so überraschend das auch sein mag; die Religion ist nicht auf den Theismus beschränkt, nur weil wir das Wort üblicherweise so verwenden. Aber der Ausdruck könnte trotzdem Verwirrung stiften. Wäre es im Interesse der Verständlichkeit nicht schlicht besser, das Wort »Religion« für den Theismus zu reservieren und Menschen wie Einstein oder Shelley als »empfindsame« oder »spirituelle« Atheisten zu bezeichnen? Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass es letztlich zu größerer Klarheit führt, wenn wir das Hoheitsgebiet der Religion erweitern, weil dadurch hervortritt, wie bedeutsam die Gemeinsamkeiten sind. Richard Dawkins zufolge ist Einsteins Wortwahl tatsächlich »auf verhängnisvolle Weise missverständlich«,[6] da es im Sinne der Klarheit nötig sei, eine klare Trennlinie zu ziehen zwischen der Überzeugung, das Universum werde von fundamentalen physikalischen Gesetzen regiert, was Einstein wohl auch gemeint habe, und der Vorstellung, es werde von etwas »Übernatürlichem« gelenkt, die das Wort »Religion« Dawkins zufolge nahelegt.

Einstein meinte aber weit mehr, als dass das Universum durch die Gesetze der Physik geordnet ist; und in einer wichtigen Hinsicht kann man in der oben zitierten Passage durchaus ein Bekenntnis zu etwas Übernatürlichem sehen. Die ihm zufolge von uns nur als schwacher Abglanz erreichbare Schönheit und Erhabenheit sind nicht Teil der Natur, sondern etwas jenseits von ihr, das wir selbst dann nicht werden erfassen können, wenn wir noch die allerfundamentalsten Gesetze der Physik endlich verstanden haben. Einstein glaubte fest daran, dass das Universum von 16einem transzendenten und objektiven Wert durchdrungen ist, der weder ein Naturphänomen noch eine subjektive Reaktion auf ein Naturphänomen ist. Deshalb bestand er darauf, sich als religiös zu bezeichnen. Er hielt das für die treffendste Beschreibung dieses seines Glaubens.

Wir sollten daher Einstein seine Selbstbeschreibung zugestehen, den Gelehrten ihre weitgefassten Kategorien und den Richtern ihre Auslegungen. Mit Religion, so sollten wir sagen, ist nicht notwendig ein Glaube an einen Gott gemeint. Wenn es nun aber so ist, dass jemand religiös sein kann, ohne an einen Gott zu glauben, was heißt es dann, religiös zu sein? Was unterscheidet eine religiöse Einstellung zur Welt von einer nichtreligiösen? Das ist schwer zu beantworten, weil »Religion« ein interpretativer Begriff ist:[7] Diejenigen, die ihn verwenden, sind darüber uneins, was genau er bedeutet; indem sie ihn verwenden, legen sie sich darauf fest, was er bedeuten sollte. Gut möglich also, dass Einstein, als er sich als religiös bezeichnete, etwas anderes im Sinn hatte als William James, als dieser bestimmte Erfahrungen als religiös einstufte, oder als die Richter des Obersten Gerichtshofs, als sie befanden, dass auch atheistische Überzeugungen zu den religiösen zählen können. Im Lichte dessen sollten wir uns fragen, welches Verständnis von Religion für unsere Zwecke am aufschlussreichsten wäre und daher übernommen werden sollte.

Bevor wir uns sogleich an die Beantwortung dieser drängenden Frage machen, sollten wir einen Moment innehalten, um uns bewusst zu machen, vor welchem Hin17tergrund wir uns mit diesem Thema befassen. Religionskriege sind, wie Krebs, ein Fluch, der auf unserer Spezies lastet. Überall auf der Welt bringen Menschen andere Menschen um, weil sie deren Götter hassen. In weniger von Gewalt geprägten Gegenden wie den Vereinigten Staaten werden religiöse Auseinandersetzungen auf allen Ebenen der Politik ausgefochten, von den Präsidentschaftswahlen bis hinunter zu den lokalen Schulbehörden. Am leidenschaftlichsten bekämpfen sich dabei nicht die Anhänger verschiedener Konfessionen gottesfürchtiger Religionen, sondern strenggläubige Menschen und die von ihnen als unmoralische Heiden betrachteten Atheisten, denen sie ein tiefes Misstrauen entgegenbringen und deren wachsende Zahl sie als Gefahr für die moralische Gesundheit und Integrität der politischen Gemeinschaft ansehen.

Religiöse Eiferer haben in Amerika – zumindest aktuell – großen politischen Einfluss. Die sogenannte religiöse Rechte ist ein nach wie vor stark umworbener Wählerblock. Und dass die politische Macht der Religion eine, allerdings nicht vergleichbare, Gegenreaktion hervorrufen würde, war vorherzusehen. Der militante Atheismus ist zwar politisch machtlos, kommerziell aber enorm erfolgreich. Obwohl ein offen atheistischer Kandidat keine Chance hätte, in den Vereinigten Staaten in ein wichtiges Amt gewählt zu werden, verkaufte sich Richard Dawkins’ Buch Der Gotteswahn millionenfach, und in den Buchläden Amerikas türmen sich Dutzende anderer Werke, die Religion als Aberglaube verdammen. Noch vor wenigen Jahrzehnten waren Bücher, die Gott lächerlich machen oder seine Existenz für absurd erklären, eine Seltenheit. Mit Religion meinte man die Bibel, und niemand hielt es der 18Mühe wert, die zahllosen Unstimmigkeiten der biblischen Schöpfungsgeschichte herauszuarbeiten. Heute ist das anders. Manche Akademiker widmen ihr ganzes Forscherleben der Widerlegung von etwas, das einst unter ihren nun begeisterten Lesern als zu albern galt, um es überhaupt der Widerlegung wert zu sein.

Wenn es gelingen sollte, Religion und Gott auseinanderzudividieren – wenn wir zu fassen bekämen, worin die religiöse Sichtweise wirklich besteht und warum sie ein übernatürliches Wesen weder erforderlich macht noch voraussetzt –, könnten wir jenen Scharmützeln vielleicht wenigstens etwas von ihrer Hitzigkeit nehmen, indem wir zwischen wissenschaftlichen Fragen und Wertfragen unterscheiden. Bei den Religionskriegen, die heute ausgefochten werden, handelt es sich in Wirklichkeit um Kulturkriege. Es geht nicht nur um wissenschaftliche Positionen – darum, was die beste Erklärung für die Entwicklung unserer Spezies ist, zum Beispiel –, sondern grundlegender um den Sinn des menschlichen Lebens und darum, was es bedeutet, ein gutes Leben zu führen. Wir werden sehen, dass es aus Gründen der Logik erforderlich ist, die wissenschaftliche Komponente orthodoxer theistischer Religionen von ihrer Wertkomponente zu trennen. Wenn wir das mit all der gebotenen Sorgfalt tun, werden wir feststellen, dass sie vollkommen unabhängig voneinander sind: Der Bereich der Werte hängt nicht von der Existenz oder der Wirkungsgeschichte irgendeines Gottes ab – und kann auch gar nicht davon abhängen. Wenn wir das einsehen, graben wir den genannten Kriegen das Wasser ab, und zwar massiv und sowohl mit Blick auf ihr Ausmaß als auch mit Blick auf ihre Bedeutung. Sie wären schlicht keine Kulturkriege mehr. Natürlich ist das ein utopisches 19Ziel: Blutige wie unblutige Religionskriege zeugen von Hassgefühlen, die zu tief sitzen, um auf philosophische Argumente anzusprechen. Aber vielleicht kann ein bisschen Philosophie doch helfen.

Was ist der metaphysische Kern der Religion?

Was nun sollen wir als eine religiöse Haltung oder Einstellung gelten lassen? Ich werde versuchen, diesbezüglich einen recht abstrakten und daher ökumenischen Vorschlag zu entwickeln. Eine religiöse Haltung erkennt die vollständige und eigenständige Wirklichkeit von Wert(en) an. Darüber hinaus beinhaltet sie, die folgenden zwei grundlegenden Werturteile für objektiv wahr zu halten: Erstens, dass das menschliche Leben einen objektiven Sinn oder eine objektive Bedeutsamkeit hat. Jeder Einzelne von uns hat eine angeborene und unausweichliche Verantwortung, danach zu streben, sein Leben zu einem erfolgreichen zu machen, das heißt: ein gutes Leben zu führen, also anzuerkennen, dass man sich selbst gegenüber in ethischer Hinsicht und Anderen gegenüber in moralischer Hinsicht verpflichtet ist, und dies nicht nur, weil oder falls wir es zufällig für wichtig halten, sondern weil es an sich wichtig ist – ob wir so denken oder nicht. Dem zweiten Urteil zufolge ist das, was wir »Natur« nennen – das Universum als Ganzes und in all seinen Teilen –, nicht nur ein Tatsachenzusammenhang, sondern selbst erhaben: intrinsisch wertvoll und ein Wunder. Zusammengenommen verkünden diese zwei umfassenden Werturteile, dass inhärente Werte in beiden Dimensionen des menschlichen Lebens – der biologischen und der biografischen – zu finden sind. 20Wir sind Teil der Natur, weil wir körperliche Wesen mit einer begrenzten Lebensdauer sind: Unser physisches Leben findet in der Natur statt und zehrt von ihr. Weil wir uns aber als Gestalter unserer Leben begreifen und Entscheidungen treffen müssen, die in der Summe Auskunft darüber geben, was wir aus unserem Leben gemacht haben, stehen wir zugleich außerhalb der Natur.

Für viele Menschen beinhaltet Religion viel mehr als diese beiden Werte. Viele Theisten denken beispielsweise, dass bestimmte gottesdienstliche Pflichten hinzukommen. Ich werde aber die beiden genannten – den intrinsischen Sinn des Lebens und die intrinsische Schönheit der Natur – als paradigmatisch für eine im vollen Sinne religiöse Einstellung zum Leben betrachten. Dabei handelt es sich nicht um Überzeugungen, die man irgendwie abspalten könnte. Sie affizieren die gesamte Persönlichkeit eines Menschen, prägen unser Erleben und rufen Stolz, Reue und Begeisterung in uns hervor – und für diese Begeisterung spielt eine gewisse Rätselhaftigkeit eine wichtige Rolle. William James schrieb:

So wie die Liebe, wie die Wut, die Hoffnung, der Ehrgeiz, die Eifersucht, so wie jedes andere instinktive Verlangen und Bemühen, bringt auch [die Religion] einen Zauber ins Leben, der nicht rational oder logisch ableitbar ist.[8]

Dieser Zauber beruht auf der Erkenntnis, dass etwas, was ansonsten vergänglich und leblos erscheint, einen transzendenten Wert besitzt.

Aber wie können religiöse Atheisten wissen, was sie 21über die diversen Werte behaupten, denen sie anhängen? Wie können sie mit der Welt der Werte in Kontakt treten, um die eine oder andere vielleicht tollkühne Behauptung zu überprüfen, die ihnen am Herzen liegt? Während sich die Gläubigen auf die Autorität eines Gottes berufen können, scheinen die Atheisten ihre Überzeugungen schlicht aus der Luft zu greifen. Es ist nötig, dass wir uns nun etwas genauer mit der Metaphysik von Werten befassen.[9]

Zur religiösen Einstellung gehört es, den Naturalismus abzulehnen. Mit Naturalismus meine ich eine sehr verbreitete metaphysische Position, der zufolge nur das real ist, was von den Naturwissenschaften, die Psychologie eingeschlossen, untersucht werden kann. Das bedeutet: Nichts existiert, was nicht entweder Materie oder Geist ist; so etwas wie ein gutes Leben, Gerechtigkeit, Grausamkeit oder Schönheit hingegen gibt es genau genommen nicht wirklich. Richard Dawkins brachte es auf den naturalistischen Punkt, als er mit Blick auf den immer wieder mit Shakespeare beziehungsweise Hamlet vorgetragenen Einwand – »Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, Horatio, als Eure Schulweisheit sich träumt« – als wissenschaftlich angemessene Antwort vorschlug: »Ja, aber wir arbeiten daran.«[10]

Manche Naturalisten sind Nihilisten, die alle Werte für eine Illusion halten. Andere denken zwar, dass Werte in einem gewissen Sinne existieren, definieren sie aber auf eine Weise, die ihnen jede unabhängige Existenz abspricht, nämlich als vollkommen abhängig von mensch22lichen Gedanken oder Reaktionen. Ein bestimmtes Verhalten als gut oder richtig zu beschreiben, so behaupten sie beispielsweise, bedeute lediglich, dass mehr Menschen defacto ein angenehmeres Leben hätten, wenn sich alle entsprechend verhalten würden. Analog dazu würde die Aussage, dass dieses oder jenes Gemälde schön ist, einfach nur besagen, dass es Menschen im Allgemeinen Vergnügen bereitet, es anzuschauen.

Die religiöse Einstellung steht quer zu allen Spielarten des Naturalismus. Sie beharrt darauf, dass Werte wirklich und grundlegend sind, nicht bloß Manifestationen von etwas anderem. Sie sind so wirklich wie Bäume oder Schmerzen. Ebenfalls unvereinbar ist die religiöse Haltung zudem mit einer weiteren, wenn auch sehr anderen Position, die man Begründungsrealismus oder bedingten Realismus (grounded realism) nennen könnte. Diese unter Philosophen ebenfalls sehr verbreitete Sichtweise geht zwar davon aus, dass Werte real sind und unsere Werturteile objektiv wahr sein können, aber nur unter der – möglicherweise falschen–Voraussetzung, dass wir neben unserem eigenen Vertrauen in unsere Werturteile gute Gründe haben, zu glauben, dass wir Wahrheiten über Werte entdecken können.