Rettet den Boden! - Florian Schwinn - E-Book

Rettet den Boden! E-Book

Florian Schwinn

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Beschreibung

Die Böden unter unseren Füßen sind unsere Lebensgrundlage. Wir leben auf und von ihnen. Ein Millimeter fruchtbarer Boden kann dreihundert Jahre zum Aufbau benötigen. Waren die Landwirte vor der Industrialisierung noch darauf angewiesen, Humus aufzubauen, um die Böden lebendig zu erhalten, nutzt die moderne Landwirtschaftsindustrie den Boden nur noch als bloßes Substrat, in das die Überproduktion von Exkrementen der industriellen Fleischfabrikation als Dünger eingebracht wird. Die Gesundheit der Böden und der Menschen, die seine Früchte täglich essen, ist dabei vollkommen aus dem Blick geraten. Florian Schwinn fordert dringend, eine Humuswende zur Rettung der Böden einzuleiten. Denn wenn die Böden erst einmal abgetötet sind, brauchen wir nicht mehr umzudenken – dann verliert auch die biologische Landwirtschaft der Zukunft den Boden unter den Füßen.

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Seitenzahl: 329

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Ebook Edition

Florian Schwinn

Rettet den Boden!

Warum wir um das Leben unter unseren Füßen kämpfen müssen

mit Zeichnungen von Katharina Schmidt

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-733-7

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2019

Umschlaggestaltung: Buchgut Berlin

Illustrationen: Katharina Schmidt, kwittiseeds

Redaktion: Viviane Richarz

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Titel
Warnung
Prolog Alles Gewürm
1 Drunter und drüber
Gärtners Spurensuche
Die Spur der Würmer
Der Storch des Bodens
Gang nach drüben
Insel Denken
Darauf stehen wir
Schichtarbeiter
Moder und Mull
Verlustrechnung
Schwemmland
Mein Acker
Kommt fett
Land unter
Der Feldzug
Fliegende Erde
Aus dem Staub
Bodenlos
Kassensturz
2 Reparaturbetrieb
Ewigkeitskosten
Wiederbelebt
Tabula rasa
Luftlandetiere
Wartejahre
Unten ohne
Hochhausgemüse
Tod auf dem Acker
Erster Anlauf
Zweiter Anlauf
Sisyphos
Selbst ist der Wurm
Wurmolution
Bisexologie
Wissen schafft
Ostboden
Tiefes Leben
3
Ausverkauf
Wachstum und Wahn
Der totale Stall
Suizid
Ackergold
Geldland
Megaland
Bauernland
Zugangzuland
Land Grabbing
4 Humuswende
Bodendefensive
Acker-Adipositas
Ackern als Leidenschaft
Bauers Tierleben
Bodenfütterung
Biolebenstest
Humusoffensive
Anfüttern
Die Druntersaat
Der Wurmwettkampf
Das Einhecken
Ökologisierung
Moor Leben
Epilog Lebensboden
Literatur
Anmerkungen
Dank

Siehe auch: www.rettetdenboden.de

Warnung

Wenn du hier weiterliest, dann begibst du dich in die Unterwelt. Aber keine Angst, du musst den Todesfluss Styx nicht überqueren. Es geht nicht um die Hölle, den Hades, die Unterwelt von Orpheus und Eurydike, sondern nur um die reale Unterwelt unter unseren Füßen. Und die ist das Gegenteil des Todes, sie ist der Quell des Lebens.

Es hat in den letzten Jahren einen wahren Hype um Waldbücher gegeben. Die Menschen wollten offenbar unbedingt die Bäume verstehen. Eine sehr deutsche Form der Hinwendung zur Natur. Dieses Interesse würde ich gerne auch dem Boden angedeihen lassen. Ohne ihn könnten übrigens auch die Wälder nicht sein. Sie wurzeln in ihm und leben von und mit ihm. So wie sich viele Menschen in letzter Zeit mit den Wäldern beschäftigt haben, würde ich gerne viele Menschen anregen, sich mit dem Leben unter unseren Füßen zu beschäftigen. Einfach weil das noch wichtiger ist als die Sache mit dem Wald. Aber Achtung: Die Welt ist da unten leider nicht so einfach gestrickt, wie man oberirdisch denken könnte. Sie ist deutlich vielfältiger und überraschender. Und sie ist gleichzeitig fragil, vergänglich, zerbrechlich und stark, widerstandsfähig und regenerationsfähig. Wir alle können nur überleben, wenn sie funktioniert und weiterlebt. Genau das ist aber nicht gesichert, weil wir dabei sind, den Boden zu zerstören – und damit unsere Lebensgrundlage.

Es ist also keine freudige Botschaft, die ich zu verkünden habe, aber eine nötige. Wer dennoch den Blick unter seine Füße wagt – so viel sei versprochen –, der gewinnt einen Einblick in eine Welt, die es in dieser Vielfalt bei uns oberirdischen Lebewesen nicht gibt.

PrologAlles Gewürm

»Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht!«

Das war schon das ganze Setting! Die Genesis sagt alles über unsere Lebensgrundlagen: Erde, Wasser, Licht. Und auch, welches Leben zuerst im Blick ist:

»Gott sprach: Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut, das Samen bringe, und fruchtbare Bäume, die ein jeder nach seiner Art Früchte tragen, in denen ihr Same ist auf der Erde. Und es geschah so.«

Die Erde lasse das aufgehen? Und wer ist das, diese Erde? Wie lässt sie aufgehen, woraus sprießt es hervor, wohin fällt der Same? Auch dafür wird gesorgt. Am sechsten Tag der Schöpfung kommen die Landtiere – und mit ihnen »alles Gewürm des Erdbodens nach seiner Art. Und Gott sah, dass es gut war.«1

Nur die Menschen, die später hinzukamen, hörten dann irgendwann auf zu sehen, was gut war. Sie hörten fast gänzlich auf zu sehen, was in der Erde geschieht. Ihr Blick endete an ihren Fußsohlen. Was darunter geschah, interessierte nur noch wenige. Die meisten hatten bald vergessen, worin Gras und Kraut und die Früchte tragenden Bäume wurzeln und wovon die Pflanzen eigentlich leben, von denen wiederum sie leben. Denn sie hatten Mittel gefunden, mit denen sie Leben schaffen konnten auch ohne fruchtbaren Boden und mit denen sie beseitigen konnten, was sie störte, auf dem Boden und endlich auch in ihm. Wobei sie auch töteten, wovon sie gar nicht wussten, da sie Leben zerstörten, bevor sie es überhaupt wahrgenommen hatten. Und all den Arten von Gewürm des Erdbodens ging es schlechter und schlechter. Das allerdings geschah erst, nachdem die Menschen schon ein paar Millionen Jahre auf und von der fruchtbaren Erde gelebt hatten, und immerhin gut 15000 Jahre nachdem sie sesshaft geworden waren und als Bauern begonnen hatten, die Erde zu bearbeiten.

Viele Tausend Jahre lang wussten die Bauern, dass sie ohne das Leben im Erdboden verloren waren. Auch wenn sie von dem Bodenleben selbst im Einzelnen noch gar nichts wussten, so doch von der natürlichen Fruchtbarkeit des Bodens. Sie waren angewiesen darauf, dass die Wälder und Wiesen, die sie nutzten, und die Äcker, die sie umgebrochen hatten und auf denen sie säten und ernteten, mehr Leben hervorbrachten, als die Böden brauchten, um sich selbst am Leben zu erhalten. Die Menschen und ihre Tiere lebten von diesem Überfluss. Sie lernten aber auch, dass der endlich ist, dass der Erdboden bald nichts mehr abgeben konnte, wenn sie ihm nichts zurückgaben von den Nährstoffen, die sie ihm nahmen. Sie wussten um ihre Abhängigkeit von der Fruchtbarkeit der Erde, die sie bebauten. Und wenn ein paar fette Jahre sie vergesslich gemacht hatten und hoffärtig, wenn sie ihre Böden vernachlässigten oder sie allzu sehr auszehrten, wenn sie ihnen keine Erholung mehr gönnten, dann erinnerte sie alsbald der Hunger daran. Wo die Menschen auf die Fruchtbarkeit ihrer Böden für längere Zeit nicht achteten, wo sie mehr nahmen, als die Böden an Leben erneuern konnten, da mussten sie irgendwann gehen. Die Geschichte der Umweltflüchtlinge ist so alt wie der Raubbau an den natürlichen Ressourcen.

In den entwickelten Ländern der Erde, die zuletzt auch ihre Landwirtschaft industrialisiert haben, ist die eigenständige Fruchtbarkeit der Böden heute kein Problem mehr. Zumindest scheint es so. Denn ein großer Teil der Böden wird inzwischen so bewirtschaftet, als gäbe es gar kein Leben im Boden, als sei die Erde nur das Substrat, in dem die Pflanzen sich festhalten.

Tatsächlich haben wir längst bewiesen, dass es auch ohne lebendige Erde geht, ja überhaupt ohne Erde. Wir können Pflanzen auch in Kügelchen aus Ton oder auf Steinwolle wurzeln lassen und künstlich bewässern und ernähren. Letztlich geht es sogar ohne Wurzeln: mit pflanzlichen Einzellern in Bioreaktoren. Nur ist das mit hohem technischem Aufwand bei der Gewinnung der Nährstoffe und der Produktion der Biomasse verbunden. Und mehr als das ist das Ergebnis dann auch nicht: Biomasse. Immerhin gut genug, um damit Biogasanlagen oder Biospritraffinerien zu füttern. Für unsere Nahrungsmittel sind wir aber noch auf die fruchtbaren Böden dieser Erde angewiesen, zumindest wenn es nicht um die Ernährung einzelner Menschen geht, die vielleicht mit Bioreaktoren an Bord zum Mars fliegen sollen, sondern um die Ernährung der ganzen wachsenden, bodenverhafteten Menschheit.

Unser derzeitiger Umgang mit dem fruchtbaren Boden der Erde ist aber ein Vernichtungsfeldzug. Wir betonieren, asphaltieren ihn zu, baggern ihn weg, planieren und versiegeln. Täglich gehen auch in Deutschland noch immer sechzig Hektar Land verloren. Um es anschaulich zu machen, der gängige Vergleich: Das sind knapp 150 Fußballfelder. Eigentlich wollte die Bundesregierung den Flächenfraß bis 2020 auf täglich dreißig Hektar begrenzen, was dann immer noch 74 Fußballfelder wären, die täglich draufgehen. Es bleiben aber mehr, denn diese selbstgesetzte Vorgabe ist eines der vielen nicht erreichten Umweltziele. Das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung geht davon aus, dass der Landverlust durch bauliche Versiegelung bis 2030 nur auf 45 Hektar pro Tag zurückgeht. Aber selbst wenn das ursprüngliche Ziel bis dahin erreicht würde, wären das immer noch dreißig Hektar zu viel. Denn, wenn uns schon die Welt groß genug erscheint, um sie immer weiter auszubeuten, das kleine Deutschland dürfte für jeden so überschaubar sein, dass leicht zu erkennen ist, dass die Ressource Land endlich ist und wir es uns nicht leisten können, jeden Tag dreißig Hektar zu verlieren.

Aber selbst da, wo kein Quadratmeter Fläche überbaut wird, geht Boden verloren. Denn die sogenannte moderne Landwirtschaft ist in ihrer industrialisierten Form an dem Vernichtungsfeldzug gegen das Leben beteiligt; auch sie sorgt dafür, die fragile Schicht fruchtbaren Bodens abzutöten und abzutragen, von der die Pflanzen und alle Landtiere leben – und also auch wir.

Noch nie in der Geschichte der Menschheit sind wir derart flächendeckend weltweit gegen unsere eigenen Lebensgrundlagen – im Wortsinn – »zu Felde« gezogen. Tatsächlich ziehen wir uns selbst den Boden unter den Füßen weg. Auch das wieder wörtlich gemeint, denn unsere Form der Bodenbearbeitung tötet nicht nur das Leben im Boden, sondern sorgt auch für Erosion durch Wind und Wasser. Wie das endet, kann man sich in der Sahelzone anschauen, wo der Raubbau an den Böden zu dauerhafter Verwüstung geführt hat. Man muss dafür aber nicht nach Afrika fahren. Im Süden Spaniens lassen sich malerisch verfallene Fincas besichtigen, ehemals profitable Bauernhöfe, die jahrhundertelang die Menschen ernährten. Jetzt stehen sie in einer von tiefen Erosionsgräben durchzogenen, stetig wachsenden Wüste. Und auch die von Touristen gern besuchten Karstlandschaften des Balkans und Süditaliens sind Zeugen vergangenen Raubbaus. Der Wald, der dort einstmals wuchs, ist nie wiedergekommen.

Wenn die flache Schicht fruchtbaren Bodens erst einmal fort ist, gelingt es uns kaum mehr, das Land wieder urbar zu machen. Die natürlichen Prozesse der Bodenbildung laufen in zeitlichen Dimensionen ab, mit denen wir Menschen nichts zu tun haben. Die Spanne eines einzigen Menschenlebens allerdings reicht uns, um die Fruchtbarkeit ganzer Landstriche auf Dauer zu vernichten. Denn die oberste Schicht der Erde, auf der und von der wir leben, hat zwar Millionen Jahre des Aufbaus gebraucht, ist aber doch nur eine Winzigkeit, die schnell wieder verloren sein kann.

Vergleicht man den Aufbau unseres Planeten mit dem eines Apfels – eine früher in der Schule gern gezeigte Vorstellung –, dann ist das Fleisch des Apfels der flüssige Kern der Erde, und die Apfelschale stellt die feste steinerne Erdkruste dar. Abgesehen davon, dass auch dieser Vergleich mal wieder hinkt, weil die Apfelschale im Verhältnis viel zu dick ist – wäre in diesem Bild der Staub auf der Apfelschale jene äußerste Erdschicht, die alles Landleben auf dem Erdball möglich macht. Wobei dieses »Häutchen« auf dem Erdball »eine im Vergleich gar nicht darstellbar dünne Staubschicht« wäre, wie schon 1922 Raoul Heinrich Francé feststellte, der Vater der modernen Bodenforschung.2 Vielleicht hilft uns der hinkende Vergleich dennoch, endlich wieder zu bemerken, dass der feste Boden, auf dem wir zu stehen glauben, nichts ist als ein Stäubchen und dass unser Leben und das Überleben der ganzen Menschheit mit diesem Stäubchen hinweggefegt werden kann.

Was mit hinweggefegt wird, wenn der Boden im Sturmwind davonfliegt, was mit untergeht, wenn der Boden im Sturzregen abgeschwemmt wird, was unter Beton und Asphalt stirbt, das ist der vielfältigste Lebensraum der Erde. Nirgendwo ist das Leben so dicht gepackt wie in der obersten fruchtbaren Erdschicht. In einem einzigen Kubikmeter gesunden Oberbodens leben mehr Organismen, als es Menschen auf der Erde gibt. Wenn auf einer gut eingewachsenen, intakten Weide zwanzig Rinder grasen, die zehn bis fünfzehn Tonnen Lebendgewicht auf die Grasnarbe bringen, dann sorgen in und unter der grünen Pflanzendecke gut 250 Tonnen Bodenorganismen dafür, dass die Pflanzen und damit auch die Rinder da oben satt werden. All diese Asseln, Fadenwürmer, Springschwänze, Doppel- und Hundertfüßer, Algen, Pilze, Milben, Regenwürmer und Mikroorganismen arbeiten unermüdlich daran, in und auf diesem Boden Leben zu ermöglichen. Allerdings ist diese stark belebte und fruchtbare Schicht des Bodens an vielen Stellen weniger als einen halben Meter dick und entsprechend schnell zerstört. An anderen Stellen existiert sie fast gar nicht oder nur in Nischen.

In immer mehr Gebieten der Erde wird den kleinen und kleinsten Helferlein zudem das Überleben im Boden immer schwerer gemacht, weil wir Menschen wirtschaften, als wüssten wir gar nichts von ihnen. Wir ignorieren sie und ihre Funktion, ihre »Dienstleistung«* für uns.

Das fällt uns leicht, weil die meisten von uns inzwischen verlernt haben, auch nur zu sehen, ob es dem Leben im Boden gut geht. Wir erkennen den Unterschied gar nicht mehr zwischen einer Grünfläche, die hauptsächlich Entsorgungsplatz für Gülle ist, und einer intakten Weide. Ebenso wenig den zwischen einem totgefahrenen, totgespritzten und erodierten Acker, der nurmehr als Substrat genutzt wird, und einem lebendigen, aus sich selbst heraus fruchtbaren Ackerboden. Bestenfalls sehen wir noch den Unterschied zwischen einem wöchentlich gemähten Gartenrasen und der vom Gärtner bewusst gesäten Wildwiese. Wobei wir die artenarm gekürzte Halmsteppe schön finden und das wilde Durcheinander der Wiese nur dulden, weil uns immer wieder gesagt wurde, dass das so gut sei und so sein solle.

Dabei könnten wir noch viel mehr der »Dienstleistungen« des Bodenlebens für uns in Anspruch nehmen als nur die Funktion, die fruchtbare Erde bereitzustellen, die wir seit dem Bioland-Vordenker Hans Peter Rusch »Mutterboden«3 nennen. Sie speichert Wasser, verhindert Überflutungen, sie filtert es zu sauberem Grundwasser. Sie versorgt die Pflanzen. Sie klimatisiert das Land.

Wir könnten die Bodenorganismen sogar nutzen, um unseren größten Umweltfrevel zu reparieren: den Klimawandel. Bei ihrer vielfältigen Zersetzungsarbeit, der Umwandlung von Streu und Dung, von totem pflanzlichen und tierischen Material in organische Nährstoffe, entsteht Humus: organisches Material im Boden. Die Basis der aktuellen und zukünftigen Nährstoffe der Pflanzen und des Wasserreservoirs im Oberboden. Bei der Humusbildung lagern die Bodentiere und -pflanzen, die Pilze und Mikroorganismen auch Kohlenstoff im Boden ein; bei ungestört wachsenden Böden wie unter Wäldern und Weiden wird der Kohlenstoff dauerhaft im Boden gespeichert. Auch in intaktem Ackerboden wird Humus gebildet, wenn er nicht ständig gepflügt wird und nicht wochen- und monatelang ohne Pflanzendecke vor sich hin dämmert. Würden wir nun auf allen landwirtschaftlich genutzten Böden dieser Erde in jedem Jahr auch nur vier Promille mehr Humus wachsen lassen, dann wäre der gesamte jährliche Kohlendioxid-Ausstoß der Menschheit im Boden gespeichert. Bei der Klimakonferenz in Paris4, bei der sich die Staaten endlich auf ein Klimaabkommen einigen konnten, hat Gastgeber Frankreich genau das vorgeschlagen: eine weltweite Vier-Promille-Initiative.

Das wäre einer der guten Gründe für die unbedingt nötige Humuswende: Die Landwirtschaft könnte vom Klimazerstörer zum Klimaretter werden. Welch grandioser Imagewandel! Der andere wichtige Antrieb für den radikalen Wandel muss aber das schlichte Überleben der Menschen sein – oder sagen wir ruhig: der Menschheit. Denn es geht ums Ganze, es geht darum, uns die wenigen fruchtbaren Böden dieser Erde so zu erhalten, dass wir von ihnen leben können. Und wenn wir es ganz toll treiben wollen, dann könnten wir sogar Leben zurückbringen in manche Böden und etwas von dem reparieren, was wir schon zerstört haben oder gerade noch zerstören. Auch das ist möglich. Wenn die Humuswende kommt.

1Drunter und drüber

»Man kann wohl bezweifeln, ob es noch viele andere Thiere gibt, welche eine so bedeutende Rolle in der Geschichte der Erde gespielt haben.« **

Charles Darwin

Gärtners Spurensuche

Der morgendliche Blick ist ein prüfender. Was ist in der Nacht geschehen, was in den frühesten Stunden? Der Gärtner schaut, ob alles in Ordnung ist in seinem kleinen Reich. Das ist der Fall, wenn nichts die Ordnung stört, die er dem Garten gegeben hat. Wobei diese Ordnung nie vollkommen ist, obwohl das Streben des Gärtners stets das nach Vollkommenheit ist. Was daran liegt, dass die Menschheit aus einem Garten stammt, wie der Dichter und Gartenphilosoph Rudolf Borchardt feststellt – aus dem Garten Eden nämlich, der in vielen Religionen als unser Ursprung gilt.

»Mit der Kündigung des Gartengastrechts und dem Auszuge in die aus Acker und Kindbetten bestehende Welt beginnt das normale Dasein seine unabsehbare Kette von weiteren Vertreibungen aus immer wieder neuen Gärten, denen, im trotzigen Rhythmus des Menschenherzens, der Entschluß entspricht, in jedem Augenblick des Verschnaufens von Acker und Kindbett das Paradies, und sei es am Fenster des sechsten Stocks im Hinterhause, für die nächste Vertreibung wieder aufzubauen und den Engel mit dem feurigen Schwert zu provozieren.«1

Daher mag er kommen, der ewige Wunsch nach dem Garten, dessen Vollkommenheit nichts stört. Aber natürlich gibt es fast immer etwas Störendes zu entdecken. Nicht ganz so schlimm, wenn dies eigener Nachlässigkeit geschuldet ist oder wenn sich einzelne Pflanzen nicht so entwickeln wie gedacht. Da muss nachgeholfen, ausgebessert, neugestaltet werden. Aber eine aus­gemachte Unverschämtheit, wenn fremde Hand eingegriffen hat: die grabende Hand des Maulwurfs zum Beispiel. In meinem Garten! Asymmetrisch aufgeworfene Haufen frischer Erde, das Untere zuoberst gewendet, der Rasen versehrt, die blühenden Primeln im Beet zugeschüttet, die geraden Reihen der gestern ausgesetzten Möhren und Radieschen durcheinandergeworfen.

Dieser schwärzeste aller schwarzen Gesellen hat kräftige Harken an seinen kurzen Armen, Grabgabeln mit starken Zinken, die ihn durch den Boden laufen lassen, wie sich andere Tiere nur überirdisch bewegen können. Einmal besaß einer dieser Kerle die Frechheit, direkt neben meinen Füßen einen neuen Haufen aufzuwerfen. Ein schneller entschlossener Spatenstich beförderte den Maulwurf nach oben. Und ich hob eben die Schippe, um sein zerstörerisches Leben zu beenden, als ich bemerkte, wie schön sein samtiges Fell war. Und als ich mich gerade wunderte, wie es wohl sein könne, dass dieses Fell so sauber bleiben konnte, ohne jede Anhaftung auch nur eines Krümelchens Erde – da war er auch schon wieder fort. Er war ein kurzes Stück über den Rasen gelaufen und hatte dann mit dem Graben begonnen. Fasziniert sah ich zu, wie er dadurch nichts an Geschwindigkeit in der Fortbewegung verlor. Er lief einfach schräg nach unten davon, hinterließ noch einen aufgeworfenen Riss im Gras und einen Meter weiter dann den nächsten kleinen Haufen. Das war’s.

Seit diesem Erlebnis jage ich keine Maulwürfe mehr. Das überlasse ich anderen, die dafür ungleich besser geeignet sind als der Mensch mit all seinen klobigen Gerätschaften und chemischen Keulen. In meinem Garten besorgt das eine Familie von zierlichen Mauswieseln. Die Jäger des Jägers graben die Gänge von Wühlmäusen und Maulwürfen auf und durchstreifen sie. Schon weil sie sich lieber an Wühlmäuse halten, rotten sie die Maulwürfe natürlich nicht aus, weshalb es immer noch Maulwurfhaufen im Garten gibt. Die aber weniger stören, seit ich mich damit angefreundet habe, die Aktivitäten des Maulwurfs als ein gutes Zeichen zu sehen. Die Haufen zeigen nämlich an, dass es in meinem Gartenboden ausreichend Nahrung gibt für den Maulwurf. Der Boden lebt. Der Boden nährt – eben auch den Maulwurf.

Ein Blick über die Hecke zeigt den Unterschied. Dort beginnt in einigem Abstand das Ackerland, dieses Jahr mit Raps bestanden. Der Acker wird von den Maulwürfen fast gänzlich verschont. Bestenfalls am Rand, zur benachbarten Wiese oder zu meinem Garten hin, gibt es mal einen Haufen. Der zeigt, dass sich einer der emsigen Graber dorthin verirrt hat, dann aber auch schnell wieder kehrtgemacht haben dürfte, weil es in diesem Ackerboden offenbar nichts zu holen gibt. Jedenfalls deutlich weniger als in der Wiese oder in meinem Garten, weil sich zuvor schon zahlreiche Insekten und Regenwürmer gegen den Ackerboden als Lebensraum entschieden haben.

Ist das wirklich so, ist mein Gartenboden das bessere, weil lebendigere Biotop, oder ist der Wunsch hier Vater des Gedankens? Machen wir einen Kontrollgang mit offenen Augen und einem kleinen Spaten in der Hand.

Die Spur der Würmer

Es hat ein wenig geregnet in der Nacht. Auch deshalb die frischen Maulwurfshügel. Der feuchte Boden und die feuchte Streu, die Pflanzenreste auf dem Boden und der vom Gärtner ausgebrachte Mulch, erlauben es den Regenwürmern, ihre Aktivitäten nach oben zu verlegen. Also kommt auch der Jäger weiter nach oben. Daher die Maulwurfshügel. Aber die Würmer sind offensichtlich weit zahlreicher als die Jahresration eines Würmerfressers. Überall haben auch sie ihre Spuren hinterlassen. Schon nach dem ersten Schritt vor die Haustür sind sie zu erkennen. In den Ritzen zwischen den Steinen des Gehwegs frische kleine Häufchen aus feinster Erde, wurmförmig aufgetürmt – wie das Tier, so sein Kot. Daneben stecken zusammengerollte Blätter in der Erde, aufrecht und ziemlich fest verankert. Ich muss schon kräftig ziehen, um sie wieder hervorzuholen und den Teil zu begutachten, der in der Wurmröhre stak. Der ist, wie vermutet, schon deutlich angefressen, manches Blatt besteht im eben noch unteren Teil nurmehr aus seinem Skelett. Oder es ist gleich gar kein Blatt mehr am tief in der Röhre steckenden Stiel.

Das ist auffällig: Die Würmer scheinen die Form der Blätter zu kennen, die sie nach unten ziehen, jedenfalls gehen sie unterschiedlich mit ihnen um. Die lanzettförmigen Blätter der Silberweide stecken immer mit der Spitze zuerst in den Röhren, der kurze harte Blattstiel ragt heraus. Die rundlichen Blätter der Erlen werden dagegen mit den langen Stielen voran nach unten gezogen, so als wisse der Wurm, dass sich das Blatt dieses Baumes zu seiner Basis hin verjüngt und deshalb so besser zusammenrollen kann, wenn es in die Röhre gezogen wird. Die kompliziert aufgebauten Blätter der Esche, die aus zehn paarig nebeneinanderstehenden Einzelblättern und einem elften als Abschluss an der Spitze bestehen, werden zerlegt nach unten befördert. Jedes einzelne Teilblatt mit dem kurzen Stiel voran und am Schluss der Mittelstiel des Ganzen, wobei dessen holzige dicke Basis bis in den Winter aus den Wurmröhren ragt. Diesem für Regenwürmer offenbar unverdaulichen Teil müssen sich andere widmen. Jetzt im Frühjahr sind kaum noch Herbstblätter übrig, jetzt ziehen die Regenwürmer die noch reichlich herumliegenden länglichen Eschensamen in ihre Röhren, immer mit der Spitze voran.

Woher nehmen die Regenwürmer die Kraft, große Blätter mit deren massiven Stielen in ihre engen Röhren zu holen und dabei die Blätter auch noch einzurollen, bis sie Passform haben? Der Regenwurmprofessor Nico Eisenhauer vom iDiv in Leipzig2 sagt, die Würmer machen das mit Hilfe ihrer Borsten am hinteren Körperteil. Mit denen verkeilen sie sich in ihrer Röhre und ziehen dann mit Kontraktionen ihres langen Körpers die Nahrung in die Tiefe. Er sagt, dass sie manches Mal bei der Feldforschung Mühe haben, die Regenwürmer aus ihren Gängen zu holen, um sie zu bestimmen, weil die sich dermaßen festkrallen in der Erde. Die Forscher machen es dann wie die Amsel in meinem Garten: Sie ziehen ausdauernd am Wurm, ohne ihn zu zerreißen, lassen auch mal ein wenig nach, um dann wieder fester zu ziehen; bis der Wurm müde wird und schließlich loslassen muss.

Und woher wissen die Regenwürmer, wo vorne und hinten ist bei einem Blatt, welches Blattende zuerst in die Röhre gezogen werden muss und wie sich ein Blatt am besten zusammenrollen lässt? Das hat schon den wahrscheinlich für alle Zeiten berühmtesten Regenwurmforscher fasziniert: Charles Darwin.

»Wenn Würmer, entweder ehe sie einen Gegenstand nach den Öffnungen ihrer Röhren hinziehen oder nachdem sie denselben dorthin gezogen haben, zu beurtheilen im Stande sind, auf welche Weise sie ihn am besten hineinziehen können, so müssen sie irgend eine Vorstellung von seiner allgemeinen Gestalt erlangen. Dies erlangen sie wahrscheinlich dadurch, dasz sie ihn an vielen Stellen mit dem vorderen Ende ihres Körpers, welches als ein Tastorgan dient, berühren. Wir müssen uns hier daran erinnern, wie vollkommen der Gefühlssinn bei einem Menschen wird, der blind und taub geboren ist, wie es ja Würmer sind. Wenn die Würmer das Vermögen haben, irgend eine, wenn auch noch so rohe Vorstellung von der Gestalt eines Gegenstandes und ihrer Höhlen zu erlangen, wie es der Fall zu sein scheint, so verdienen sie intelligent genannt zu werden; denn sie handeln dann in nahezu derselben Art und Weise, wie ein Mensch unter ähnlichen Umständen handeln würde.«3

Weiter auf dem Pfad der Würmer durch den Garten. Da gibt es viele kleine Kothäufchen auf dem Rasen, der durch beabsichtigt nachlässige Pflege eher eine kurz gehaltene Wiese mit vielfältigen Pflanzengemeinschaften geworden ist. Da gibt es in den Beeten unter den Stauden und Sträuchern ausgemachte Fressplätze, wo sich doch noch etwas Herbstlaub und Mulch aus dem vergangenen Jahr befinden und die Würmer in der Nacht wohl Ausflüge gemacht haben. Ich sehe ihre Spuren im Feuchten und ihre Hinterlassenschaften. Auch hier kleine Häufchen von Wurmkot, die nichts anderes sind als junger Boden. Denn das ist es, was die Würmer in den Garten scheißen: sehr feinkörnige Erde. Sie produzieren sie regelrecht. Im Schutz der Nacht kommen sie nach oben und sammeln ein, was sie nach unten ziehen können, um es dort anrotten zu lassen. Auch Regenwürmer haben Helfer: Mikroorganismen, die ihre Nahrung zubereiten, so wie wir aus Weißkohl Sauerkraut machen.

Die Eingänge ihrer Wohnhöhlen zu finden, ist allerdings nicht so einfach. Überall Wurmspuren, aber kein Hinweis auf ihren Verbleib. Wenn nicht gerade ein halb eingezogenes Blatt im Abgang steckt, werden die Gänge von den Würmern immer sorgfältig mit ihrem Kot verschlossen, der ja eben auch nur Erde ist. Keine Chance, sie selbst zu finden. Wahrscheinlich sind sie längst in tieferen Gefilden und kommen erst wieder hervor, wenn es dunkel geworden ist und die Vögel schlafen.

Unter einem Trittstein ringeln dann aber gleich drei: Ein großer Tauwurm, der Inbegriff des Regenwurms, der hier eigentlich nichts zu suchen hat; der gehört in die Erde. Und zwei kleinere Braune Laubfresser, oder sind es doch Rote Laubfresser? Jetzt fehlt der Regenwurmprofessor. Er könnte sicher auch etwas zu den Asseln und dem schwarzrötlichen Tausendfüßer sagen, die sich rasch verkriechen.

Am Rand eines Beetes mit reichlich Wurmaktivitäten stecke ich den Spaten in den Boden und drehe eine Schippe Erde hervor. Es ist eigentlich vorwiegend lehmiger Boden gewesen, als ich vor Jahren den Garten übernommen habe. Jetzt hat seine Farbe vom Grau des Kleis schon langsam in humoses Schwarz gewechselt. Der Boden ist gut durchwurzelt und klebt auch nicht mehr am Spaten, wie früher. Dafür gibt es jetzt gleich mehrere Würmer in den zwei Händen Erde, die ich hochgeholt habe. Dazu wieder ein paar Asseln und diesmal einen schwarz glänzenden Doppelfüßer, also auch einen Vertreter der Tausendfüßer. Je zwei Beinpaare an den vielen, deutlich abgesetzten Segmenten des langen Tieres.*** Und ganz sicher sind da noch Hunderte, und wenn wir die Kleinsten dazu nehmen, viele Tausend andere Bodenlebewesen, die ich mit bloßem Auge nicht sehen kann.

Das auffälligste und sicher auch bekannteste Lebewesen des Bodens in unseren gemäßigten Breiten ist und bleibt aber der Regenwurm. Jedes Kind kennt ihn, und jeder Bauer weiß oder sollte wissen: viele Regenwürmer – guter Boden. Wobei dieses Wissen meist ungenutzt bleibt, weil kaum einer sich darum kümmert, was wohl der Regenwurm braucht, um in seinem Boden zu überleben oder gar gut leben zu können. Und mit ihnen die Millionen anderer Helfer, die den Boden fruchtbar machen. Der Appell, den Raoul Heinrich Francé 1922 an die Landwirte richtete, gilt heute noch:

»Jeder Landmann muß es wissen, und wenn auch nur in der Form, daß in seiner geliebten Heimatscholle der Boden nicht leblos und tot ist, sondern durchzogen von gar nicht aussprechbaren Mengen kleinster Würmchen und Tierchen, die darin Gänge wühlen, Erde fressen, verdauen und auf das allerfeinste zerkleinert und gekrümelt von sich geben. Und so wie die große Zahl der einzelnen Tropfen den Regen ausmacht und mit ihm die köstliche Befruchtung der Erde und den Reichtum der Ernte, so ist es auch hier die Zahl, die die winzige Wirkung der einzelnen gewaltig und völkerbedeutend sein läßt.«4

Vielleicht ist das Wissen bei manchem der von Francé angesprochenen »Landmänner« auch schon untergepflügt oder war nie weitergewachsen als bis zu jenem Merksatz von den vielen Regenwürmern. Sonst würden sich mehr Ackerbauern bemühen, es den Regenwürmern so gut gehen zu lassen, dass sie nicht nur bleiben, sondern sich auch vermehren. Mehr Regenwürmer bedeuten dann nämlich nicht nur den besseren Boden, sie produzieren ihn auch. Sie sind beides: Sie verbessern den Boden durch ihre unermüdliche Fress- und Zersetzungsarbeit, und sie zeigen durch ihr häufiges Vorkommen an, dass der Boden lebendig und gesund ist. Sie sind eine Zeigerart. So nennen die Ökologen Tiere oder Pflanzen, die als sogenannte Bioindikatoren dienen können, um die Qualität eines Lebensraums zu bewerten.

Naturschützer nehmen gerne charismatische Tierarten, die Menschen schön oder wenigstens interessant finden, um für den Schutz von deren Lebensräumen zu werben. Am besten funktionieren diese Zeigertiere des Naturschutzes, wenn ihr Lebensraum groß ist. Das bringt größere Schutzgebiete. Wer den amerikanischen Weißkopfadler, das Wappentier der USA, bewahren will, muss quasi die gesamten Rocky Mountains schützen. Es geht aber auch eine Nummer kleiner: Der Storch ist in Deutschland das Symboltier für den Schutz der Auen, Feuchtgebiete und vielfältigen Wiesen- und Weidelandschaften.

Der Storch des Bodens

Ist der Regenwurm auch so ein charismatisches Tier? Kann ein Wurm, so ein feuchtes Ringeltier, das überhaupt sein? Der Regenwurm – der Storch des Bodens? Das Tier ist vergleichsweise winzig, aber das Biotop, das für sein Überleben zu schützen wäre, ist dafür umso größer: Es ist fast weltumspannend. Und sein Schutz würde unser Überleben, das Überleben der Menschheit, nachhaltiger sichern, als jeder Nationalpark. Also machen wir den Regenwurm, diesen Tauwurm, der sich da gerade in einen seiner Gänge zurückzieht, der offenbar neben dem Trittstein im Beet endet, zur Zeigerart für die Rettung des Bodens. Der Storch des Bodens!

Wobei – erste Schwierigkeit – Regenwurm nicht gleich Regenwurm ist. Ein Weißstorch ist ein Weißstorch. Es gibt zwar auch Schwarzstörche, die aber sind Waldbewohner und so scheu, dass sie kaum jemand zu Gesicht bekommt und entsprechend wenige Menschen sie überhaupt kennen. Aber von den Lumbricidae, den Regenwürmern, gibt es allein in Deutschland rund fünfzig bekannte Arten, die sechs Gattungen zugeordnet werden. Genau genommen sind es 46 einheimische Arten und ein Einwanderer. Der rote Kompost- oder Mistwurm mit den gelben Streifen stammt ursprünglich aus dem Mittelmeerraum. Von den fast fünfzig Regenwurmarten sind allerdings nur neun im ganzen Land verbreitet. Unser größter, der Badische Riesenregenwurm, der gut sechzig Zentimeter lang werden kann, lebt nur unter den Wäldern rund um den Feldberg im Schwarzwald. Überhaupt leben im Süden viel mehr Regenwurmarten als im Norden. Eine Langzeitfolge der letzten Eiszeit, die weite Gebiete des Nordens mit kilometerdicken Eispanzern bedeckte, unter denen die Würmer nicht überlebt haben. Sie starben aus oder verzogen sich nach Süden. Wahrscheinlich kam das Eis aber schneller, als die Würmer kriechen konnten. Nach der Eiszeit konnten nur wenige Arten wieder in den Norden einwandern. Am häufigsten und fast überall zu finden sind der Kleine Wiesenwurm und der von uns immer als der eigentliche Regenwurm angesprochene Tauwurm, der bisweilen deshalb auch Gemeiner Regenwurm genannt wird. Dagegen gibt es auch sehr seltene Regenwurmarten, die sich auf der Roten Liste der in ihrem Bestand oder gar vom Aussterben bedrohten Tiere befinden.

Die drei Lebensarten der Regenwürmer: Der tiefgrabende anözische Tauwurm baut vertikale Röhren. Er holt sich die Streu von oben und zieht sie in seine Wohnröhre. Die endogäischen Arten fressen sich vertikal durch die oberen Bodenschichten. Die epigäischen Arten leben in der Streuschicht auf dem Boden. Hier hat sich einer von oben eingegraben und einen Knoten gebildet. So überdauern Regenwürmer schlechte Zeiten. Neben der Wohnröhre des Tauwurms ein Kokon in einem Hohlraum und ein gerade aus dem Kokon schlüpfender Jungwurm. Außerdem Wurzeln, die in verlassene Wohnröhren hineinwachsen und ganz oben die Kothäufchen der Würmer.

Und – zweite Schwierigkeit – der eine Regenwurm lebt auch nicht wie der andere. Auch das unterscheidet die kriechenden Ringelkerle vom fliegenden Adebar. Die Bodenzoologen kennen drei grundsätzlich unterschiedliche Lebensweisen der Regenwürmer. Es gibt epigäische Arten, also Arten, die auf der Erde leben, in der Streuschicht aus absterbenden Pflanzenteilen. Entsprechend heißen sie: Roter Laubfresser oderBrauner Laubfresser. Hierzu gehören auch der Kompostwurm und der Köcherwurm, der sich ein eigenes Zuhause baut. Es gibt endogäische Arten, die in der oberen Erdschicht leben und dort horizontale Gänge bauen. Sie kommen sehr selten an die Erdoberfläche und leben von abgestorbenen Wurzeln und anderem organischen Material, das andere Bodentiere oder der Regen nach unten geschafft haben. Um das für sie Verwertbare aus dem Boden zu filtern, müssen sie große Mengen Erde durch ihren Darm leiten. Sie sind regelrecht Erdfresser. Wobei das Bild nicht ganz trifft, denn eigentlich entsteht die fruchtbare Erde oft erst in ihrem Darm, in dem sich eben noch tote Gesteinskrümel, Sand und Ton mit organischem Material und Mikroorganismen verbinden. Und dann gibt es noch die anözischen5 Arten, die Tiefgräber. Sie sind die Wanderer zwischen den Bodenwelten. Sie fressen metertiefe Gänge vertikal nach unten, oft bis an den massiven Stein heran. In diesen Röhren schaffen sie organisches Material aus der Streuschicht von ganz oben in die Tiefe. Mit ihren Röhren erschaffen sie außerdem eine tiefführende Dränage der Böden, und in ihren Röhren dringen dann auch Pflanzenwurzeln weit in die tieferen Bodenschichten vor. Dort finden sie alles, was sie brauchen, denn die Regenwürmer kleiden ihre Gänge mit Schleim aus. Die von ihnen so produzierte Tapete gibt den Röhren Halt und bindet die für die Bewohner lebenswichtige Feuchtigkeit. Hat der Regenwurm die Röhre verlassen und ist nach nebenan umgezogen, findet die hineinwachsende Pflanzenwurzel dort Wasser und Nährstoffe; die feuchte Regenwurmtapete ist für sie reinster Dünger. Zu den Vertikalbohrern, die diese tiefen Röhren anlegen, gehört auch Lumbricus terrestris, der allbekannte Tauwurm.

Folgt die dritte Schwierigkeit beim Vergleich der Zeigerart Regenwurm mit der Zeigerart Storch. Der Regenwurm ist zwar nicht so charismatisch wie der Weißstorch, dafür aber ungleich wichtiger für das Bodenbiotop als der Storch für die Auen. Das hat schon Charles Darwin bemerkt:

»Es ist wohl wunderbar, wenn wir uns überlegen, dasz die ganze Masse des oberflächlichen Humus durch die Körper der Regenwürmer hindurchgegangen ist und alle paar Jahre wiederum durch sie hindurchgehen wird. Der Pflug ist einer der allerältesten und werthvollsten Erfindungen des Menschen; aber schon lange, ehe er existirte, wurde das Land durch Regenwürmer regelmäszig gepflügt und wird fortdauernd noch immer gepflügt.«6

Als Darwin im 19. Jahrhundert auf die »Bildung der Ackererde durch die Thätigkeit der Würmer«7 hinwies, erntete er zunächst Spott. Niemand wollte sich vorstellen, dass die winzigen Würmer dafür sorgen, dass der Boden fruchtbar bleibt und beständig neu aufgebaut wird – ja dass die Regenwürmer dafür sorgen, dass schwere Steine – und sogar ganze Monumente – langsam in den Boden einsinken. Charles Darwin hat das an einem großen Stein in seinem Garten beobachtet und gemessen – 2,2 Millimeter pro Jahr. Und er hat das an den umgestürzten Megalithen von Stonehenge nachgewiesen. Zu seinem 200. Geburtstag legte das Naturhistorische Museum in Wien einen Mühlstein vor das Gebäude. Seit 2009 kann man nun dort beobachten oder, vielleicht praktikabler, einmal im Jahr nachmessen, wie der Stein Millimeter für Millimeter im Rasen versinkt.

Nur Darwins Vergleich der aufbauenden Wurmarbeit mit dem vom Menschen erfundenen Pflug würden wir heute so nicht mehr ziehen. Denn der Pflug ist genau das Ackergerät, mit dem die Arbeit der Würmer und ihrer Gefährten im Boden zunichte gemacht wird, indem die oberste Erdschicht umgedreht und damit die ganze An-Ordnung, die die Bodenlebewesen aufgebaut haben, verkehrt wird.

Gang nach drüben

Wollen mal sehen, wie es um sie steht, um unsere Zeigerart Regenwurm, nebenan auf dem Acker, wo jedes Jahr mindestens einmal gepflügt und geeggt, mehrfach gedüngt und vielfach gespritzt wird. Ein Schritt über die scharfe und durchaus auch tiefe Kante, die der Pflug in die Landschaft gezogen hat – ein kleiner Schritt für mich und doch einer in eine andere Welt. Hier das Gebiet, in dem einzelne Pflanzen gesetzt und gepflegt werden, mit der Hand und kleinen technischen Geräten wie Schippe, Harke, Rasenmäher und Heckenschere. Dort das Terrain großtechnischer Agrarwirtschaft. Da fahren tonnenschwere Traktoren mit sechs- oder achtscharigen Pflügen oder auch mit fünfzehn Meter breit ausladenden Feldspritzen. Da fahren Erntemaschinen, die jeden Traktor übertrumpfen, wenn es um das Gewicht geht, mit dem sie den Boden zerquetschen. Die Maschinen fahren möglichst immer in denselben Spuren. Die Landwirte wissen ja, was die fünf Tonnen Traktor anrichten, trotz der extrabreiten Reifen, die das Gewicht verteilen sollen: In den Fahrspuren wächst nichts Verwertbares. Und sie sind auch kaum mehr zurückzuholen in die landwirtschaftliche Produktion. Wenn ein Acker anders aufgeteilt und bewirtschaftet wird und also anders befahren, sind die alten Spuren auch nach Jahren noch sichtbar – durch den Mangel an Fruchtbarkeit und Aufwuchs. Da helfen kein Tiefpflügen und kein Kunstdünger.

Der erste Eindruck nach dem Schritt hinüber auf den Acker: mehr Wasser. Der nächtliche Regen ist noch nicht versickert und zu einfacher Bodenfeuchte geworden, er steht in kleinen und größeren Pfützen unter und zwischen den Rapspflanzen. Die Fahrspuren der Traktoren stehen ganz unter Wasser. Aber da wächst ja ohnehin nichts, außer vielleicht die Pionierpflanze Kamille später im Jahr. Maulwurfhügel gibt es keine, und die frische Erde aus Wurmkot fehlt ebenfalls; keine wurmförmigen Häufchen unter den Kulturpflanzen. Und obwohl es einige abgestorbene und abgefallene Blätter auch hier gibt, keines davon ist in den Boden gezogen worden. Es dürfte auch viel zu wenig Streu sein, die den Boden eben nicht bedeckt, um eine größere Wurmpopulation zu ernähren. Wenn hier irgendwann einmal Regenwürmer waren, dann sind sie längst verhungert. Oder ist da doch etwas? An einem leidlich abgetrockneten Ort abseits der Fahrspuren nehme ich den Spaten: Der braucht einen kräftigen Fußdruck zur Unterstützung. Mit einem deutlichen Schmatzen des schweren Kleis drehe ich den Spaten mit der Erde heraus. Nichts – eine feste graue Masse klebt an der Schippe und dann auch an den Fingern. Oben ein paar wenige Wurzeln. Womit halten sich diese Pflanzen hier fest? Vielleicht haften sie einfach am Boden. Das Zeug hat ja auch die Konsistenz von Klebstoff und ist selbst nachher unter fließendem Wasser nur schwer abzuwaschen. Die Pflanzen müssen vielleicht auch nicht tiefer hinunter in den Boden, denn da sind offenbar nicht allzu viele Bodenlebewesen, die ihnen die Nährstoffe aufbereiten. Die vertikalen Gänge der tiefbohrenden Regenwürmer fehlen ebenfalls, da wird es auch schwer für die Pflanzen, überhaupt hinunter zu kommen. Alles Gute kommt hier aber ohnehin von oben: aus der Güllepumpe, dem Düngerstreuer, der Feldspritze oder gleich mit der Beize ans Saatkorn.

Was ist aber mit dem bäuerischen Wissen um die Zeigerart Regenwurm? Hatten wir nicht gelernt, dass ein guter Boden viele Regenwürmer beheimatet? Oder umgekehrt, dass viele Regenwürmer für die Qualität des Bodens sorgen. Die französische Bauernweisheit dazu sagt: »Dieu sait comment s’obtient la fertilité de la terre, il en a confié le secret aux vers de terre.«8 Gott weiß, wie man die Erde fruchtbar macht, er hat das Geheimnis den Regenwürmern anvertraut. Aber der moderne Landwirt scheint es nicht mehr zu wissen. Oder er kann sich gerade nicht um das von seinen Vorfahren überkommene Wissen kümmern, weil er sich ständig um die technischen und chemischen Neuerungen der Agrarindustrie kümmern muss.

Allein, auch hier, in diesem auf den ersten Blick so unbelebten Boden, wird es Leben geben. Die bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft zählt in ihrer Langzeituntersuchung regelmäßig auch in intensiv genutzten Ackerböden um die sechzig Regenwürmer pro Kubikmeter Boden. Also dürften auch in diesem Kleiacker Würmer sein. Um ihre Anzahl zu erhöhen, sodass sie für gute, durchlüftete, humushaltige Erde sorgen können, müsste man sie nur füttern. Aber was heißt schon »nur«? Von den wenigen Blättchen, die der Raps hier fallen lässt, wird kein Wurm satt. Also müsste man die gesamte Feldbewirtschaftung umstellen, für Streuauflage sorgen, mulchen, Zwischenfrüchte sähen. Ein Rattenschwanz an Folgen hätte das. Nur um ein paar Würmer zu ernähren? Kann sich der moderne Landwirt das leisten? Will er das? Ist dieser Acker der Ort für solche Gedanken? Offenbar nicht. Also fort aus dem Raps, über die Furche wieder zurück in den Garten.

Insel Denken

Der Gärtner in mir ist zufrieden. Quod errat demonstrandum: Ich kann das besser als der industrialisierte Landwirt nebenan. Mein Boden lebt! Ich habe in, zugegeben mühevoller, Kleinarbeit aus einem totgepflegten Rasengrundstück mit trittfestem Friedhofsgrün – Cotoneaster – und bienenfeindlichen Blühstecken – Forsythie – in wenigen Jahren eine lebendige Insel in der Agrarsteppe gemacht.

Aber bin ich eigentlich aufs Land gezogen, wenigstens zeitweise, um das zu beweisen? An einen solchen Entschluss kann ich mich jedenfalls nicht erinnern. Wem hilft das auch? Dem Landwirt von nebenan nicht und mir auch nicht, uns allen zusammen, der Menschheit, schon gar nicht.