Tödliche Freundschaft - Florian Schwinn - E-Book

Tödliche Freundschaft E-Book

Florian Schwinn

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  • Herausgeber: Westend
  • Kategorie: Lebensstil
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Ein Buch für Tierliebhaber und Fleischesser Ohne die Tiere - keine modernen Menschen! Denn der Homo sapiens hätte sich niemals zur weltbeherrschenden Gattung entwickelt, wenn unsere Vorfahren nicht eine besonders eiweißreiche Nahrung für sich entdeckt hätten: das Fleisch. Wer das begreift, muss die Tiere anders behandeln - achtsam und mit Respekt. Aber wer das begreift, kann die Menschheit auch nicht zu Veganern machen. Denn eine flächendckende vegane Ernährung wäre weder gesund noch naturnah. Sie wäre auf Kunstdünger und Chemie angewiesen. Florian Schwinn zeichnet die Kulturgeschichte der untrennbaren Beziehung des Menschen und seiner Nutztieren nach, liefert ein leidenschaftliches Plädoyer für die Rechte der Tiere und begründet, warum die globale Umstellung auf vegane Ernährung ein Irrweg wäre. Denn vegan bedeutet Tiertod, Hungersnot und Agrarchemie.

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Seitenzahl: 509

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Ebook Edition

Florian Schwinn

Tödliche Freundschaft

Was wir den Tieren schuldig sind und warum wir ohne sie nicht leben können

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-645-3

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2017

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Inhalt
Prolog Das Tier und seine Menschen
1 Der große Wuff
Erste Begegnungen
Wer mit dem Wolf tanzte
Die Menschwerdung des Affen
Zusammen wachsen
Verehrter Hund
Versehrter Hund
Hauswolf wird Nutztier
Rasse, Zucht, Unordnung
Gelangweilte Gebrauchshunde
2 Schwein gehabt
Echte Sauerei
Hybrides Leben
Die Industrialisierung des Schweins
Die Erfindung des Schweinekobens
Schweinekultur
Erschreckende Nähe
Sautod
3 Nur Muht
Das Tier an sich
Der Ur
Der heilige Stier
Profane Rinder
Gute Kühe
Die Turbokuh
Das Menetekel
Glückliche Kühe
4 Puttputt kaputt
Bruder Hahn
Schwester Henne
Input – Puttputt – Output
Gallus
Doppelnutz
Epilog Der Mensch für seine Tiere
Am Ende
Ein Anfang
Ohne Ismus
Jetzt
Dank
Anmerkungen
Literatur

Siehe auch: www.toedlichefreundschaft.de

PrologDas Tier und seine Menschen

Der Mensch ist nichts ohne seine Tiere. Wenn wir keine Nutztiere hätten, würden wir wohl heute noch in kleinen Gruppen durch die Steppen und Wälder ziehen. Die Tiere sind unser Schlüssel zur Zivilisation, unser Eingang in die Kulturentwicklung, unsere Partner bei der größten Revolution der bisherigen Menschheitsgeschichte – der Revolution des Neolithikums, der Jungsteinzeit, in der wir von Jägern und Sammlern zu sesshaften Bauern wurden.

Was wären wir ohne den Hund? Wäre es uns überhaupt möglich gewesen, ohne den Helfer bei der Jagd genügend Nahrung herbeizuschaffen für wachsende Menschengruppen mit wachsenden Gehirnen? Zwanzig Prozent der Energie, die wir heutigen Menschen verbrauchen, benötigt das Gehirn, obwohl es bei Erwachsenen nur zwei Prozent der Körpermasse ausmacht. Kleinkinder brauchen sogar bis zur Hälfte der Energie für das Gehirn. Schon früh in der Evolution des Menschen war es einer Mutter allein nicht mehr möglich, die für die Energiezufuhr ihres Neugeborenen nötige Menge an Nahrungsmitteln zu beschaffen. Ein afrikanisches Sprichwort sagt: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen.

Das ist eine sehr alte Erfahrung der Menschen. Sie mussten sich zusammenschließen, um ihre Kinder großzuziehen. Sie brauchten Hilfe. Und sie mussten lernen, sich neu zu organisieren, sozial und solidarisch. Sie mussten lernen, dass die Gemeinschaft mehr ist als die Summe ihrer Teile. Und der perfekte Lehrmeister dafür war der Wolf. Und der perfekte Helfer war der zahm gewordene Wolf. Sowohl bei der Jagd als auch viel später in unserer Entwicklungsgeschichte – bei der Bewachung der zahmen Schafe, der Ziegen und Schweine. Und was kam dann erst mit dem Rind in unsere Hand: ein Arbeiter, ein Transportmittel mit übermenschlicher Zugkraft, ein Verwerter von Futtermitteln, die für Menschen ungenießbar sind. Mehr noch: Das Rind lieferte mit der Milch gleich noch ein zusätzliches, vielfältiges Nahrungsmittel, lieferte Dung als Brennstoff und als Dünger sowie am Ende seines Lebens auch Fleisch, das nicht mehr gejagt werden musste, und Leder, Kleidung und Horn.

Mit der Zeit, die nicht mehr nur fürs Sammeln und Jagen genutzt werden musste, hatten unsere Vorfahren dann auch die Muße für die Entwicklung von Kult und Kultur, für die Kunst.

Die Tiere allerdings haben die Nähe zum Menschen teuer bezahlt. Auch unsere ersten und treuesten Helfer, die Hunde. Sie wurden geschlagen, gequält, gegessen, als Versuchstiere misshandelt, in den Krieg geschickt, krank gefüttert, krank gezüchtet und als Waffe oder als Schoßtier gebraucht und missbraucht. Sie sind Opfer unserer selbstsüchtigen, machiavellischen Intelligenz. Wie überhaupt alle Tiere, die wir zu Haus- und Nutztieren gemacht haben, die sich dazu machen ließen, sich in unsere Obhut begaben und sich dabei veränderten, dabei verändert wurden.

Generell gilt wohl aus Sicht der Tiere: Wenn man die Menschen zu Freunden hat, muss man sich um seine natürlichen Feinde keine Sorgen mehr machen. Sie von den Nutztieren fern zu halten, liegt im Interesse der Menschen. Die Kehrseite des Lebens in menschlicher Obhut ist aber ebenso deutlich: Wenn man die Menschen zu Freunden hat, braucht man auch keine anderen Feinde mehr. Die Freundschaft endet zumeist frühzeitig mit dem Tod. Es sei denn, man hat es als Tier in menschlicher Obhut zu einer jüngeren Sonderform des Haustieres gebracht – man ist Heimtier geworden, eine Art Vergnügungstier, dessen Nutzen nur noch ein sozialer ist. Wobei auch in diesem Fall das Soziale nur für den Menschen gilt. Denn von artgerechter Haltung kann auch bei vielen Heimtieren nicht die Rede sein.

Immer schon bauten die Menschen ihre tierischen Begleiter in ihre Kulturentwicklung ein. Bis hin zur Verehrung. Vielleicht haben die Höhlenmalereien der Altsteinzeit kultische, religiöse Bedeutung. Dann wäre der Verehrung der Nutztiere die der Beutetiere vorausgegangen. Aus späteren Epochen ist der Kultstatus der Tiere belegt. Die alten Ägypter kannten den hundeköpfigen Gott Anubis und den heiligen Stier von Memphis. Die Kreter den stierköpfigen Minotaurus und den heiligen minoischen Stier. Der Sanskrit-Name für die Kuh im Indischen bedeutet »die Unantastbare«. Und der Name des ganzen Landes Italien geht wohl auf das Wort vituli für die Söhne des Stiergottes und damit auf den Stierkult der vorrömischen Italiker zurück.

Wie weit ist der Weg von den Stieren und Kühen und Kälbern der altsteinzeitlichen Maler der Höhlen von Chauvet und Lascaux zum heutigen Industrielandwirt? Wie viel Kultur ist auf diesem Weg mit und durch die Tiere entstanden und wie viel droht am Ende des Weges in sehr kurzer Zeit wieder vernichtet zu werden?

Die Industrialisierung der Landwirtschaft ist ein noch recht junges Phänomen. Die großen Umwälzungen in der gewerblichen Produktion und beim Abbau von Bodenschätzen, die im späten 18. Jahrhundert begannen und im 19. Jahrhundert zur sogenannten Industriellen Revolution wurden, ließen die Landwirtschaft lange Zeit außen vor. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg folgte der Strukturbruch: der Einzug der Industrialisierung in die Land- und Forstwirtschaft. Man kann diesen Umbruch an einer Maschine festmachen: am dieselgetriebenen Traktor, der ab Ende der 1950er Jahre mit einem Zapfwellenantrieb ausgestattet war, an dem wiederum viele andere neue Maschinen betrieben werden konnten. Und als dann auch noch fast gleichzeitig die Mähdrescher aufkamen, war es mit der Pferdewirtschaft bald vorbei. Die Industrialisierung der Landwirtschaft war blutig: Millionen von Pferden wurden geschlachtet.

Damit wurden die bislang dem Futteranbau für die Arbeitstiere vorbehaltenen Flächen frei. Darauf musste nun nicht mehr Energie für die Tierarbeit und den Transport angebaut werden. Darauf konnte Futter für Nutztiere wachsen, die Milch und Fleisch lieferten. Es begann die neue Zeit der Großställe, zunächst in der Schweine- und Geflügelhaltung. Und die Zeit der Zurichtung der Tiere auf die neuen Haltungsformen. Nicht die neue Industrie passte sich den Tieren an; die Tiere wurden der Industrie angepasst. Spezialisierte Betriebe verlangten spezialisierte Tiere. Legehennen für die Käfigbatterien. Schnell wachsende und weniger fette Schweine mit mehr Muskelfleisch. Der Deutschen Landrasse wurden ein paar Rippen mehr angezüchtet: macht je Rippenpaar zwei Koteletts mehr.

Es ist kaum fünfzig Jahre her, dass wir das Tier zum Produktionsmittel der Industrielandwirtschaft gemacht haben. Und der Prozess ist noch nicht beendet. Noch sind die alten Nutztierrassen nicht ausgestorben. Es gibt noch Schweine, die draußen gehalten werden können, es gibt noch Hühner, die Eier legen und Fleisch liefern, es gibt noch Rinder, die nicht nur Milch oder nur Fleisch bringen. Wir können noch umkehren, zurück zu unserem Kulturhelfer Nutztier. Und die Rück-Besinnung hat auch schon begonnen. Es gibt Initiativen, die die alten Landrassen der Nutztiere erhalten. Einige Bauern setzen wieder auf die alten Rassen oder kreuzen sie in ihre Bestände ein. Es gibt wieder Schweinehalter, die ihre Tiere rauslassen auf die Weide, sogar in den Wald. Es gibt Geflügelzüchter, die zurückwollen zum Zwei-Nutzen-Huhn.

Für immer mehr Menschen allerdings endet die Besinnung mit einer kompletten Abkehr von allen tierischen Produkten. Sie halten die Domestikation von Tieren für den Sündenfall. Sie wollen, dass wir uns wieder von den Tieren trennen, dass wir die Nutztiere aussterben lassen. Das wäre dann auch eine Abkehr von unserer eigenen Kulturgeschichte. Die aber sollte man wenigstens kennen, bevor man sich von ihr abwendet. Wir sollten wissen, was wir den Tieren verdanken, wenn wir ihre gemeinsame Geschichte mit uns beenden wollen.

Und wir sollten wissen, wo wir noch heute auf die Nutzung, auf die Hilfe von Tieren angewiesen sind. Ohne Schafe zum Beispiel keine Deichpflege – Land unter in Norddeutschland und den Niederlanden. Ohne Bienen als Nutztiere kaum mehr Obst, keine Mandeln, weniger Gemüse und viel weniger Sonnenblumen- und Rapsöl. Nur zum Beispiel. Und ohne Rinder und die kleineren Wiederkäuer keine Welternährung, denn fast zwei Drittel der weltweit landwirtschaftlich nutzbaren Fläche ist Weideland, und das meiste davon kann auch nicht in Ackerland umgewandelt werden.

Das heißt, um es klar und hart zu sagen: Vegan ist der Tod! Nicht, wenn einzelne Menschen vegan leben. Das können und sollen sie gerne tun. Das hilft zwar den Nutztieren nicht, ist aber eine achtbare Entscheidung. Jeder Mensch kann für sich so entscheiden, solange es nicht jeder tut. Falls aber die Überzeugung, dass vegane Ernährung besser sei, zum »Ismus« wird, zur moralischen Verpflichtung, zur neuen Religion, dann wird es tödlich. Der Verzicht auf die Tiere bedeutet Tod: den Tod der Nutztiere selbst und das Aussterben ihrer Arten. Denn ohne uns sind sie nicht überlebensfähig. Und es bedeutet den Tod vieler Millionen Menschen, die ohne Nutztiere nicht ernährt werden können. Und den Tod unserer bisherigen Kultur.

Wenn wir allerdings weiter so umgehen mit den Tieren, wie wir das in der Industrielandwirtschaft begonnen haben, dann beerdigen wir unsere Kultur ebenfalls. Wir verlieren den Kontakt zu unseren Kulturhelfern, wir entfernen sie aus unserem Blickfeld; wir stecken sie weg in Fabrikställe, reduzieren sie auf Produktionsmittel und Produkt. Wir züchten sie industriegerecht. Dafür sind Lebewesen auf Dauer nicht geeignet.

Besser für uns und die Tiere wäre es, wir würden zu einer neuen Haltung ihnen gegenüber finden. Was sie für uns getan haben, verlangt Respekt. Was das für unseren Umgang mit den Tieren bedeutet, darüber lässt sich besser reden, wenn wir uns klar darüber geworden sind, was wir den Tieren verdanken. Wenn wir uns unsere gemeinsame Kulturgeschichte mit den Tieren wieder in Erinnerung gerufen haben. Mit dieser Erinnerungsarbeit will dieses Buch beginnen.

1Der große Wuff

»Durch den Verstand des Hundes besteht die Welt.«Zend Avesta

Erste Begegnungen

Der Tag, als der Fuchs kam, brachte Schnee. Es war kalt am Polarkreis in Schweden, und es würde erst eine Weile schneien und dann noch kälter werden. Der Fuchs wusste das, und Olov wusste das. Und beide hatten Angst davor. Der Fuchs, weil er an einem Lauf verletzt war und es nun noch schwerer werden würde, etwas Essbares zu finden. An Jagen war gar nicht zu denken. Und Olov, weil das wohl doch ein Bandscheibenvorfall war, was ihn seit Wochen quälte. An Holzmachen war gar nicht zu denken. Und mit dem Schnee würde der Weg zum Arzt unüberwindlich weit werden.

Als er aus der Tür trat, sah Olov den Polarfuchs am Waldrand stehen. Die Nase hoch im Wind nahm der den Geruch des Menschen auf. Noch lag nicht genügend Schnee, um den weißen Fuchs unsichtbar werden zu lassen. Olov holte das Fernglas und schaute hinüber. Ein kleiner Polarfuchs im Winterfell, ein Weibchen oder ein junges Tier. Der Fuchs stand auf nur drei Beinen, den linken Vorderlauf schonte er. Als er sich umdrehte und in den Wald zurücklief, humpelte er stark. Olov wusste später nicht mehr, warum er es tat, aber als er den Lachs aus der Räucherkammer holte, schnitt er den Kopf und die Schwanzflosse ab und legte sie dorthin, wo der Fuchs im Wald verschwunden war. Er schnitt auch ein paar Zweige von der nächsten Fichte und legte sie über die Fischteile, damit die Vögel die Beute nicht gleich entdecken konnten. »Vielleicht«, sagte er später, »habe ich das getan, weil ich selbst krank war und auch mir das Laufen weh tat.«

Vielleicht tat der einsame Olov im schwedischen Winter genau das, was unsere Vorfahren vor vielen tausend Jahren mit den Wölfen gemacht hatten. Und vielleicht war damals, als der Mensch auf den Hund kam, genau das passiert, was Olov mit seinem Polarfuchs erlebte. Die beiden freundeten sich an. Immer näher kam der Fuchs in den nächsten Tagen und Wochen ans Haus. Olov stellte bald fest, dass sein Fuchs weiblich war – eine Fähe. Er legte ihr jetzt regelmäßig Futter aus und schaute zu, wie es ihr langsam besser ging. Sie humpelte weniger, auch ihr Fell sah jetzt dichter aus. Es schien ihm weißer zu sein als zuvor. Und auch Olovs Rücken ging es besser. So gut sogar, dass er an einem schneehellen Tag das Gewehr nahm und hinaus ging zum Moor. Das Büchsenlicht sollte reichen, trotz des dunkler werdenden Nordwinters. Tatsächlich hatte er Glück und schoss gleich zwei Schneehühner. Er ging hinaus auf die gefrorene Moorfläche, um die Beute zu holen. Und was sah er, als er sich mit den beiden Hühnern in der Hand wieder heimwärts wandte? Seine Polarfüchsin. Sie war offenbar seiner Spur gefolgt, stand nun kaum dreißig Meter entfernt in Olovs Fußstapfen und schaute ihn an. Als Olov den ersten Schritt nach Hause tat, wandte sich die Füchsin um und ging ihm voraus. Sie tat das ohne jede Eile, hielt aber den Abstand zwischen den beiden.

»Warum zähmst du mich nicht?« sagt der Fuchs zum Kleinen Prinzen, der aber eigentlich niemanden zähmen will, sondern auf der Suche nach Freunden ist. »Wenn du einen Freund suchst, brauchst du nur mich zu zähmen!« sagt der Fuchs.1

Ein paar Jahre später hat mir der schwedische Olov den Winter mit seiner Polarfüchsin erzählt. Inzwischen war er verheiratet und hatte einen kleinen Sohn, lebte in einem größeren Haus etwas nördlich des Polarkreises und hielt Rentiere, die seine Frau zähmte, damit sie den Touristen aus dem Süden das Gepäck trugen, wenn sie sich in kleinen Gruppen auf den Weg in den nahen Nationalpark machten. Die Familie hatte keinen Hund, ungewöhnlich so weit draußen in der Einsamkeit. Olovs Sohn spielte stattdessen mit einem jungen Polarfuchs. Dieser kleine Fuchs war ein Findelkind aus dem nahen Wald. Er wäre verhungert, wenn Olov nicht dem leisen Winseln nachgegangen wäre. Sie hatten ihn mit der Flasche großgezogen, obwohl er am Anfang nach jeder Hand schnappte, die ihn fütterte. Inzwischen war er zu einem stattlichen Halbstarken herangewachsen und warnte die Familie mit einem kurzen Bellen, wenn der Bär zum Waldrand kam und der Gang zur dort am Teich gelegenen Sauna vielleicht nicht so ratsam war.

»Ich habe gelernt, dass man sich mit Füchsen anfreunden kann«, sagte Olov. Seine Füchsin aus jenem Winter war am Schluss bis zur Haustür gekommen. Wenn er auf der Treppe saß und nach dem Nordlicht am Himmel schaute, legte sie sich manchmal neben ihn auf die Stufen. Manchmal nahm sie einen Bissen direkt aus seiner Hand an, und manchmal ließ sie sich sogar anfassen. Langsam und vorsichtig musste das sein; das war noch weit entfernt von einem Streicheln wie bei einem Hund. Und nun lag wieder ein Polarfuchs auf den Stufen in der Sonne. »Mach ihn nicht wild«, mahnte Olov seinen Sohn, der den jungen Fuchs mit einem Stöckchen zum Beißspiel aufforderte. »Aber Papa«, sagte der Sohn, »er ist doch wild.« Olov lachte und ergänzte seinen Merksatz: »Ich habe gelernt, dass man sich mit Füchsen anfreunden kann, auch wenn sie wilde Tiere bleiben.«

»Ich kann nicht mit dir spielen. Ich bin kein Haustier«, sagt der Fuchs zum Kleinen Prinzen, als sie sich zum ersten Mal treffen. »Was soll das heißen, ein Haustier?« fragt der Kleine Prinz, und der Fuchs fragt zurück: »Du bist wohl nicht von hier?«2

Auch unsere Vorfahren waren noch nicht »von hier«, als sie noch keine Haustiere hatten. Ohne die tierischen Begleiter und Helfer waren sie noch nicht die Menschen geworden, die die Erde urbar machen konnten, wie es die Bibel im hebräischen Original des Alten Testaments befiehlt.*

Der Hund ist unser ältestes Haustier. Wenn wir wissen, wie er zu uns kam, wie er zu unserem Gefährten wurde, dann wissen wir auch, wie die heutige menschliche Kultur begann, deren Entstehen ohne Tiere nicht denkbar ist. Weil der Hund unser erstes Haustier war und weil unsere Kultur auf dem Nutzen der Tiere gegründet ist, ist die Geschichte des Zusammenschlusses von Mensch und Hund eine Art Genesis der menschlichen Kultur.

»Durch den Verstand des Hundes besteht die Welt«, heißt es im Zend Avesta, der im 7. Jahrhundert vor Christus in Altpersisch geschriebenen heiligen Schrift der Parsen, der Anhänger des Zarathustra. Alfred Brehm beginnt mit diesem Zitat das Kapitel über den Haushund in Brehms Tierleben und fügt hinzu:

»Für die erste Bildungsstufe des Menschengeschlechts waren und sind noch heute diese Worte eine goldene Wahrheit. Der wilde, rohe, ungesittete Mensch ist undenkbar ohne den Hund, der gebildete, gesittete Bewohner des angebautesten Teils der Erde kaum minder. Mensch und Hund ergänzen sich hundert- und tausendfach; Mensch und Hund sind die treuesten aller Genossen. Kein einziges Tier der Erde ist der vollsten und ungeteiltesten Achtung, der Freundschaft und Liebe würdiger als der Hund. Er ist ein Teil des Menschen selbst, zu dessen Gedeihen, zu dessen Wohlfahrt unentbehrlich.«3

Konrad Lorenz, der Vater der vergleichenden Verhaltensforschung, hat in seinem Buch So kam der Mensch auf den Hund geschildert, wie das, was der schwedische Olov erlebte, zum ersten Mal passiert sein könnte, damals in Afrika oder im Zweistromland oder im heutigen Nahen Osten. Dort siedelt er die Geschichte an – vor vielen Jahrtausenden. Er lässt eine Gruppe von Menschen durch ein ihr unbekanntes Steppengebiet ziehen. Sie sind auf der Flucht, vertrieben von einer stärkeren Horde aus ihrem angestammten Gebiet. Und sie haben ihren erfahrensten Jäger im Kampf mit einem Säbelzahntiger verloren. Jetzt sind sie selbst die Gejagten, in einem Gebiet mit weit mehr großen Raubtieren als in ihrem vorherigen Lebensraum. Die Gruppe leidet unter Schlafmangel, denn die Nächte sind gefährlich in dieser Gegend. Es fehlen die Schakale, die in der alten Heimat jede der menschlichen Lagerstätten umkreisten. Sie waren lästig und wurden mit Steinwürfen auf Abstand gehalten, aber sie waren auch ein sicherer Warngürtel um das Lager. Sie verbellten jedes herannahende größere Raubtier.

»So ziehen sie dahin, müde und schweigsam. Die Nacht wird bald einfallen, aber die Horde hat noch immer keinen Platz gefunden, der für ein Lagerfeuer taugte, um endlich die karge Beute des Tages, ein Stück Wildschwein, den Rest vom Mahle eines Säbelzahntigers, zu braten.

Plötzlich, gleich verhoffenden Rehen, wenden alle die Köpfe gespannt in die nämliche Richtung: sie haben einen Laut gehört. Der konnte nur von einem wehrhaften Tier sein, denn die Gejagten haben gründlich gelernt, sich still zu verhalten. Und wieder dieser Laut. Ja, es ist ein Schakal, der da schreit. Seltsam bewegt steht die Horde und lauscht dem Gruß aus besseren und weniger gefährlichen Zeiten. Und dann tut der junge, hochstirnige Leiter der Horde etwas den anderen Unverständliches: er trennt ein Stück von der Beute ab und wirft es auf den Boden. Möglich, daß sich die anderen ärgern, sie leben schließlich nicht so im Überfluß, daß man den Braten in der Steppe verstreuen dürfte. Wahrscheinlich wußte der Junge selbst nicht, warum er es tat, er handelte offenbar gefühlsmäßig, vielleicht wünschte er, die Schakale näher bei sich zu haben. Jedenfalls legte er noch öfters ein Stückchen Wildschwein auf die Spur. Begreiflich, daß die anderen dies für einen üblen Scherz nahmen und der Hordenleiter sich nur mit Mühe des Grimms der Hungrigen erwehren konnte.

Schließlich saßen sie aber doch alle am Feuer, und mit der Sättigung überkam wieder der Friede die aufgebrachte Schar.

Mit einem Male hörte man das Heulen der Schakale. Sie haben die ausgelegten Stücke gefunden und nähern sich auf der Spur dem Lager. Da sieht einer fragend nach dem Hordenführer, steht dann auf und legt in einiger Entfernung Knochen nieder, dort, wohin gerade noch der Feuerschein reicht. Ein bedeutendes Ereignis: die erste Fütterung eines nützlichen Tieres durch den Menschen.

Heute darf die Horde ruhig schlafen, denn die Schakale umschleichen das Lager, sie sind verläßliche Wächter. Und als am anderen Morgen die Sonne aufgeht, ist die Menschenhorde gut ausgeruht und vergnügt. Von diesem Tage an wird kein Stein mehr nach einem Schakal geworfen …«4

So könnte es gewesen sein, schreibt der Verhaltensforscher Konrad Lorenz. Er war in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts noch davon ausgegangen, dass ein Teil unserer heutigen Haushunde von afrikanischen Schakalen oder noch eher von dem heute in Südeuropa und Asien verbreiteten Goldschakal abstammt. Er unterschied sogar nach ihrem Verhalten die wolfsblütigen Hunde von den Nachfahren der Schakale und erkannte in den Schädeln der bei Ausgrabungen steinzeitlicher Pfahlbautensiedlungen gefundenen prähistorischen Haushunde die Verwandtschaft: »Der Torfspitz, ein kleiner, spitzähnlicher Hund, dessen Schädel zuerst in den Resten von Pfahlbauten an der Ostsee gefunden wurde, zeigt zwar noch deutlich seine Abkunft vom Goldschakal, doch sind auch Merkmale echter Domestikation nicht zu übersehen.«5

Dank fortgeschrittener Genetik und DNA-Analyse wissen wir heute, dass der jahrhundertelang von den Menschen verfemte und verfolgte Wolf der Urvater aller unserer heutigen Hunde ist. Dennoch könnte es auch so gewesen sein, wie es Konrad Lorenz beschreibt. Vielleicht an verschiedenen Stellen des damaligen Lebensraums der Menschen und womöglich mit unterschiedlichen Vertretern der weltweit verbreiteten biologischen Familie der wilden Hunde.** Nur diese »Hunde« haben dann nicht überlebt. Es wäre nicht die einzige Entwicklung in der Evolution, die an mehreren Stellen ähnlich verlaufen ist, und auch nicht die einzige, die sich am Ende doch als Sackgasse erwies. Die neue Art, die so entstanden war, starb wieder aus.

Die Lorenz’schen Schakale jedenfalls folgen in seiner hypothetischen Geschichte seit ihren ersten positiven Erlebnissen der kleinen Menschengruppe durch die Savanne. Sie lernen schnell, dass diese seltsamen zweibeinigen Tiere ihnen immer wieder etwas abgeben – von Beutetieren, die sie niemals selbst erlegen könnten. Der Geruch der Menschen hat für sie eine neue Bedeutung bekommen, ebenso der Geruch von deren Beutetieren. Und so kommt es in Lorenz’ Erzählung – nicht sofort, sondern erst Generationen von Schakalen und auch Menschen später – zum zweiten bedeutenden Schritt auf dem Weg des wilden Hundes zum Gefährtentier des Menschen.

Eine andere Horde hatte Pech bei der Jagd und konnte ein Wildpferd mit einem Speerwurf nur verletzen. Nun folgen die Jäger dessen Spur und hoffen, dass die Wunde und der Blutverlust das Tier so weit entkräften wird, dass sie es stellen und töten können. Das verletzte Pferd spürt, dass die Verfolger näherkommen und greift zu einer List: Es legt einen Widergang ein. Das heißt, es geht auf der eigenen Spur ein gutes Stück zurück und springt dann an einer geeigneten Stelle zur Seite weg. Die Menschen lassen sich täuschen und folgen der ersten Spur. Hinter ihnen aber kommen in gehörigem Abstand die Schakale. Eigenständig würden die nie einem Wildpferd folgen, viel zu groß, zu wehrhaft, zu gefährlich – aber sie haben ja gelernt, dass diese Beute für ihre neuen Partner gerade recht ist. Und so hören die Menschen dann bald weit hinter sich das Geheul der Schakale, die das verletzte Pferd gestellt haben. Sie begreifen, was da vor sich geht und machen kehrt. Damit wäre, sagt Lorenz, zum ersten Mal die Reihenfolge hergestellt, in der bis heute gejagt wird: erst der Hund, dann der Jäger.

Und noch einen Vorteil der Jagd mit dem Hund nimmt Lorenz hier vorweg: Hunde können das Jagdwild stellen, das vor dem verfolgenden Menschen, der ausdauernder, aber langsamer ist als der Hund, immer weiter fliehen würde. »Der verfolgte Hirsch, Bär oder Eber, der zwar vor dem Menschen flieht, sich dem Hunde allein aber ohne weiteres zum Kampfe stellen würde, vergißt offenbar im Zorn über die Annäherung des frechen kleinen Feindes den viel gefährlicheren Verfolger.«6 Der dann herankommt und die Beute tötet. Und am Ende seinem neuen Jagdgenossen natürlich etwas abgibt von der Beute – und wenn es nur die Innereien des an Ort und Stelle ausgeweideten Wildes sind.

So könnte es gewesen und weitergegangen sein, bis zur Domestikation, der Isolierung des »Haustieres« von der ursprünglichen wilden Art – lange vor der Erfindung des Hauses: wenn eine frühe Menschengruppe die Schakale immer näher an sich gelassen und dauerhaft an sich gebunden hätte, wenn dann eine erste Generation Schakalwelpen gleich im Kontakt mit den Menschen aufgewachsen wäre, junge Menschen mit jungen Schakalen gespielt hätten, sich ein erster Schakal von den eigenen Artgenossen getrennt hätte, um bei den Menschen zu leben. Nur, falls es so war, sind aus diesen Schakalen eben nicht unsere heutigen Haushunde entstanden. Nicht aus den afrikanischen Schakalen, nicht aus den eurasischen Goldschakalen und auch nicht aus den amerikanischen Kojoten.

Unsere Hunde stammen vom größten und gefährlichsten Vertreter der Gattung Canis ab. Die Genetiker finden überall nur Wölfe als Vorfahren unserer Hunde. Und die ursprüngliche Herkunft dieser Wölfe können sie auch feststellen. Sie stammen wundersamerweise weder aus Afrika, wo die Menschen herkommen, noch aus Amerika, der ursprünglichen Heimat der Wölfe, sondern aus der zusammenhängenden Landmasse Eurasiens, aus Asien und Europa. Am nächsten verwandt sind unsere heutigen Haushunde mit den heute lebenden Wölfen im Westen Russlands und in Frankreich.

Auch die Hunde der nordamerikanischen Indianer, die diese schon lange hielten, bevor die Schiffe der Kolonisten aus dem Westen landeten, stammen von eurasischen Wölfen ab. Also müssen die Hunde vor 15 000 Jahren mit den ersten menschlichen Einwanderern über die während der Eiszeit existierende Landbrücke aus Sibirien nach Amerika gekommen sein. Wären sie den wandernden Menschen den ganzen weiten Weg als wilde oder halbwilde eurasische Wölfe gefolgt, um dann erst in Amerika vom Canis lupus, dem Wolf, zum Canis lupus familiaris, dem Haushund, zu werden? Eher unwahrscheinlich. Wölfe gab es auch in Amerika, ihre urzeitlichen Vorfahren stammen ja von dort. Zum Gefährtentier des Menschen wurden aber nur die eurasischen Verwandten. Die Begleiter der damals nach Alaska einwandernden Menschengruppen waren also wohl keine wilden Wölfe mehr, sondern schon eine neue, von den Stammeltern getrennte Unterart. Schon durch die Tundren der eiszeitlichen Mammutsteppe streiften die frühen Formen unserer heutigen Haushunde mit den früh­geschichtlichen Jägerhorden. Vielleicht zogen sie sogar schon für die Menschen oder trugen deren Lasten. Wie später die Hunde der Indianer deren Hab und Gut trugen oder an Stangenschlitten zogen, bevor die in Amerika ausgestorbenen Pferde wieder dorthin gebracht wurden. Und wie bis heute die Hunde im hohen Norden die Schlitten ziehen. Wenn das aber so war, dann muss der Mensch viel früher auf den Hund gekommen sein als lange angenommen.

Nur wie ging das vor sich, wie wurde ausgerechnet der Wolf zum Gefährten des Menschen? »Der Wolf, Canis lupus, ist das erfolgreichste fleischfressende Säugetier aller Zeiten«, stellt der Ethologe Wolfgang Schleidt fest, Lorenz’ ehemaliger Assistent und später Direktor des Konrad-Lorenz-Instituts für vergleichende Verhaltensforschung in Wien. Der Wolf durchwanderte und besiedelte die gesamte nördliche Hemisphäre oberhalb des 15. Breitengrades. 15 Grad nördliche Breite – das ist eine ziemlich südliche Linie etwa 1 600 Kilometer vom Äquator entfernt, die durch Guatemala geht, durch den Senegal, Eritrea und Jemen, durch Südindien und Thailand. »Seine Allgegenwart verdankt der Grauwolf offenbar seinem breiten Verhaltensspektrum und seiner Fähigkeit, sich in opportunistischer Weise an räumliche und zeitliche Gegebenheiten anzupassen. Am erfolgreichsten ist er, wenn er mittelgroße Huftiere im Rudel jagen kann, aber er kommt auch durch, wenn er seinen Gürtel enger schnallt und wie ein Fuchs Mäuse jagt und Beeren pflückt.«7

Warum aber sollte sich dieses erfolgreichste Raubtier der Erde ausgerechnet an den Menschen anpassen? Was hätte der Wolf davon, der sowohl in den besseren Zeiten, wenn es um das Erjagen von Fleisch, als auch in den schlechteren, wenn es um das Beerenpflücken geht, ein direkter Nahrungskonkurrent des Menschen ist. Und was hätte der Mensch von einem Wolf gehabt, der noch nicht zum Haushund geworden ist? Ein Jagdhund, ein Wachhund – das sind sinnige Begleiter; aber wozu wäre ein zahmer Wolf nütze?

Der leider sehr früh gestorbene deutsche Wolfsforscher Erik Zimen, der für das Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie im Nationalpark Bayerischer Wald ein eigenes Wolfsrudel hielt, hat sich in seinem Buch über den Haushund genau diese Frage gestellt:

»Alle Hunde, ob Schoß- oder Gebrauchshunde, haben ihre Funktion im Zusammenleben mit dem Menschen. Welchen ›Gebrauchswert‹ aber haben gezähmte Wölfe? Wenn ich an meine eigenen Wölfe denke, fällt es mir schwer zu glauben, sie hätten für irgendeine der oben genannten Aufgaben nützlich sein können. Mehrfach machte ich lange Wanderungen mit ihnen durch den Bayerischen Wald. Manchmal gelang es ihnen dabei, ein Reh, manchmal sogar im Tiefschnee ein Hirschkalb zu erlegen. Nur, ich hatte nichts davon. Ihnen die Beute streitig zu machen, wäre gefährlich gewesen. Allzu groß war ihre Futteraggressivität. Außerdem zogen sie ihre Beute meist in eine Dickung und fraßen sie schnell auf. Ich sah nur noch einige Haut- und Knochenreste; von einer gemeinsamen Jagd oder gar von einem Teilen der Beute also keine Spur. Gelingt aber meinen Hunden ein ähnlicher Jagderfolg, tragen sie mir die Beute, wenn sie es schaffen, sogar zu und legen sie vor meinen Füßen freudig schwanzwedelnd ab.«

Auch als Wachtiere taugen die Wölfe nicht oder nur sehr bedingt. Sie verbellen herannahende Fremde nicht, wie das Hunde tun. Gefahr teilen sie ihrem Rudel durch unruhiges Hin- und Herlaufen und höchstens durch ein leises »Wuffen« mit, wie Zimen das nennt. Und sie starren in die Richtung der Gefahr. Um das als Warnung zu deuten, müssten die Menschen, in deren Nähe die Wölfe leben, schon sehr genau und vor allem ständig die Wölfe beobachten. Ein schwieriges Unterfangen. Erwachsene Wölfe suchen, anders als die Wolfswelpen, keinen direkten Körperkontakt. Sie halten Abstand. Die Menschen hätten also ständig die entfernt lagernden Wölfe beobachten müssen, um sie als Warnsystem nutzen zu können. Eher unwahrscheinlich, dass sie auf diese Idee gekommen wären und dazu Zeit gefunden hätten. Außerdem verteidigen Wölfe ihr Territorium wohl gegen fremde Wölfe und andere Raubtiere, ergreifen aber vor fremden Menschen sofort die Flucht. Sie taugen also auch nicht als Helfer bei der Verteidigung.

»Nicht minder ungeeignet sind Wölfe, einen Schlitten zu ziehen. Meine Frau und ich haben das einmal versucht; nicht um meine Frau, wie einst die Chipwey-Indianerinnen***, zu entlasten, sondern um das noch immer gängige Bild schlittennachjagender Wölfe ein wenig auf den Kopf zu stellen. Es war sehr spannend. Nach vielem guten Zureden und auch einigen harten Zugriffen gelang es mir, den Wölfen die extra dafür hergestellten Ledergeschirre überzustreifen und sie in die Zugkette einzuspannen. Aber was dann folgte, war sicher nicht dazu geeignet, jemanden auf die Idee zu bringen, dies könnte eine vorteilhafte Form der Fortbewegung über Schnee und Eis sein. Meine Frau setzte sich in den Schlitten, und ich zog vorne am ersten Wolf. Und tatsächlich, wir bewegten uns alle vorwärts, bis auch ich mich in den Schlitten setzen wollte. Die Wölfe rannten mir sofort hinterher und der Kettensalat war perfekt. Also alle Wölfe – fünf waren es – wieder aus den Ketten befreien, Ketten richten, Wölfe wieder einspannen und erneut los …«8

Die beiden gaben ihre Einspannversuche auf, als die Wölfe nicht mehr nur mit Wirrnis reagierten, sondern zunehmend mit Aggression. »Mit Hilfe von Wölfen jedenfalls fand auch bei den Indianern Kanadas die Befreiung der Frau nicht statt«, bilanziert Zimen.

Wie also ist wohl aus dem großen, grauen Wolf der dem Menschen so überaus nützliche Haushund geworden? Zimen schien es am plausibelsten, dass nicht die Menschen die Jagdfähigkeiten des Wolfes nutzten, sondern der Wolf zunächst dem »überlegenen menschlichen Jäger« gefolgt ist. So wie in Lorenz’ Erzählung die Schakale als lästig, aber nützlich eingeordnet wurden, könnten auch die Wölfe nützliche Helfer der Menschen gewesen sein. Sie nutzten ihre Fähigkeit, »sich in opportunistischer Weise an räumliche und zeitliche Gegebenheiten anzupassen« – und hielten die Lager der jagenden Menschen frei von Abfällen. Auf diese Weise lebten Menschen und Wölfe in räumlicher Nähe.

So wird aber aus dem Wolf noch kein Hund. So hätten die beiden Tierarten Mensch und Wolf Jahrhunderte und Jahrtausende nebeneinander leben können – und haben das an vielen Stellen vielleicht auch getan –, ohne dass aus dem wilden Wolf ein »Hauswolf« entstanden wäre. Auch der Rotfuchs ist heute längst ein Kulturfolger geworden. Er lebt sehr gut in der Nähe oder direkt in den Siedlungsräumen der Menschen. Es gibt aber keinen »Hausfuchs«. Nun leben Füchse allerdings auch nicht in Rudeln zusammen, sondern in Familien. Da fehlt das natürliche Bedürfnis, sich einer Gruppe anzuschließen. Dieses Bedürfnis hat der Wolf zweifellos. »Wie kein anderes Wildtier leistet der Wolf durch seine Arteigenschaften der Domestikation gewissermaßen selbst Vorschub; sein angeborenes und erlerntes soziales Verhalten prädestiniert ihn geradezu zum Haustier«, schreibt Norbert Benecke in seiner Geschichte der Haustiere. »Der Wolf ist wie der altsteinzeitliche Mensch ›Großwildjäger‹, der dadurch, daß er vielen seiner Beutetiere in der Statur unterlegen ist, zur kollektiven Jagd gezwungen wird. Diese Jagdform förderte die Entstehung sozialer Strukturen, die Entwicklung von gegenseitiger Verständigung, Aufgabenteilung und sozialer Fürsorge.«9 Die Wölfe mussten sich zusammentun zum Jagen; und das mehr als die Menschen, die Waffen hatten und Fallen bauen konnten.

Für die Entwicklung vom Wolf zum Haushund brauchte es dennoch die Trennung einzelner Wölfe von ihren weiterhin wildlebenden Artgenossen. Erst Jahrtausende, nachdem die Menschen den Wolf zu ihrem Gefährtentier und damit zum Hund gemacht hatten, gingen sie dazu über, ihr bisheriges Jagdwild nicht mehr ausnahmslos zu töten. Sie fingen wilde Tiere ein und hielten sie in Gattern, machten sie zu Haus- und später zu Nutztieren. Das funktionierte sicher dann am besten, wenn sie bei der Jagd die Mutter eines Wildschafs, Wildrinds oder Wildschweins erlegt hatten und die verstörten Jungen einfingen und mitnahmen. So aber kann es beim Wolf nicht gewesen sein. Weil man Wölfe nicht wie Rinder oder Schafe einpferchen kann und weil es zu dem Zeitpunkt, als sich die Menschen mit den Wölfen verbanden, noch lange keine Pferche gab. Die Menschen mussten die Wölfe also anders, nämlich sozial, an sich binden, sagt Erik Zimen. Und das geht nur im Welpenalter.

»Ob eine frühkindliche Umprägung, eine Sozialisation der Wölfe auf den Menschen wirklich stattgefunden hat, läßt sich zwar nicht beweisen. Aus zwei Gründen erscheint sie jedoch zwingend. Von allen Haustieren hat der Hund eine Sonderstellung. Er ist der einzige, der seine soziale Beziehung hauptsächlich auf den Menschen konzentrierte. Voraussetzung jeder Domestikation ist zudem die genetische Isolation der Tiere im Hausstand von ihren wilden Artgenossen.«

Die Gelegenheit gab es, wenn Wölfe mit ihren Jungen in räumlicher Nähe zu Menschen lebten. Wolfswelpen sind verspielt und explorativ, sie erforschen neugierig ihre Umgebung. Außerdem sind sie – anders als erwachsene Wölfe – durchaus auf der Suche nach Körperkontakt, sie kuscheln gerne, sie sind flauschig. Und sie erfüllen das »Kindchenschema«**** voll und ganz: großer runder Kopf, hohe Stirn, kurze Nase, große Augen, kurze Beine. Das signalisiert auch beim Menschen Hilfsbedürftigkeit und löst Fürsorgeverhalten aus. Also könnten doch die Menschen vor Jahrzehntausenden den einen oder anderen Wolfswelpen zu sich genommen haben. Aber Welpen brauchen Milch. Und Milch stand den Menschen damals nicht zur Verfügung. Es gab noch lange keine melkbaren Haustiere. Aber auch dafür weiß Zimen einen Ausweg:

»Vielleicht fing es damit an, daß einer Frau ihr kleines Kind starb und sie aus unerfülltem Verlangen nach Fürsorge und Pflege einige kleine Wolfswelpen an die Brust nahm. Mit Milch und Wärme gut versorgt, wuchsen die Welpen munter und wohlgenährt auf und befriedigten bald nicht nur das Pflegebedürfnis ihrer Ziehmutter. Lustig und zu Streichen aufgelegt, machten sie den Kindern des Stammes Spaß und amüsierten die Nachbarsfrauen. Vielleicht legten diese ebenfalls einige Wolfswelpen an ihre Brust, und bald wurde eine kleine Tradition daraus.«10

So wird der Wolf aber immer noch kein Hauswolf, denn der eben noch zahme und verspielte Welpe und spätere Jungwolf wird mit dem Erwachsenwerden die direkte Nähe und den körperlichen Kontakt zu den Menschen meiden. Er wird seiner Wege gehen, zurück zu den anderen Wölfen, und mit diesen vielleicht weiter in der Nähe der Menschen leben, aber eben nicht als Hauswolf bei ihnen. Den in der Nähe, vielleicht in der Obhut der Menschen erwachsen gewordenen Wolf an der Rückkehr zu seinen Artgenossen zu hindern, wäre wahrscheinlich keine gute Idee. Erik Zimen beschreibt, wie genau diejenigen unter »seinen« Wölfen, die am zahmsten gewesen waren und als Welpen und Jugendliche am ehesten die Nähe auch ihnen fremder Menschen suchten, mit der Geschlechtsreife aggressiv wurden. Und das nicht langsam, sondern urplötzlich. Gerade die bis dahin gepflegte Nähe ließ sie jetzt jede Hemmung vergessen, während diejenigen im Rudel, die weniger zahm waren, viel scheuer und ängstlicher auf Abstand blieben.

Aber irgendwann hat ein erster Wolf wohl eine Ausnahme gemacht. Zimen hat auch das erlebt. Von den insgesamt 22 Wölfen, mit denen er gelebt hat und die er zu zähmen versuchte, sind acht tatsächlich einigermaßen zahm geworden. Aber nur einer schloss sich dem Forscher wirklich an, fast ein ganzes Wolfsleben lang. Mit Ausnahme von zwei Perioden in seinem Wolfsleben, in denen er der Alpha-Rüde des Rudels war. Erik Zimen hatte ihn Alexander getauft. Auch dieser Wolf ging seine eigenen Wege und verschwand immer wieder, fand sich aber meist nach kurzer Zeit wieder »zu Hause« ein.

»Unaggressiv, freundlich und verspielt, entsprach Alexander vielleicht den ersten Hauswölfen. Untereinander verpaart paßten sich solche Wölfe und ihre Nachkommen besser den veränderten Lebensbedingungen des Hausstandes an und unterschieden sich bald, vor allem im Verhalten, von ihren wilden Artgenossen. Doch erst später, vielleicht sogar nach jahrtausendelangem lockerem Zusammenleben von Wolf und Mensch, wurde die Trennung zwischen Wild- und Haustier endgültig vollzogen. Paarungen zwischen gezähmten und wilden Wölfen fanden immer seltener statt. So konnten sich in der kleinen Kolonie von Hauswölfen die Eigenschaften, die das Zusammenleben mit den Menschen besonders begünstigten – leichte Zähmbarkeit, geringe Aggressivität, geringe Selbständigkeit und geringe Größe sowie hohe Lernfähigkeit –, noch schneller durchsetzen; der Hund, unser erstes Haustier, war entstanden.«11

Bleibt aber immer noch die Frage: Welchen Nutzen hatten die ersten Hauswölfe für die Menschen? Mit ihnen jagen gehen konnten sie nicht. Lasten tragen oder ziehen lassen konnten sie die Hauswölfe nicht. Aufpasser waren sie nicht. Und verteidigen würden sie die Menschen auch nicht. Also wozu sollten die Menschen einen Hauswolf in ihrer Nähe dulden, der ja eigentlich auch noch ein Nahrungskonkurrent war?

Um das herauszufinden, hat sich Zimen das Zusammenleben der kenianischen Turkana mit ihren Hunden angesehen. Diese Hunde sind keine Jagdhunde und auch keine Hütehunde. Das Jagen und das Hüten der Rinder ist Männersache, die Schafe und Ziegen werden von den Kindern betreut. Wenn die Männer auf die Jagd gehen, bleiben die Hunde im Dorf. Sie sind also auf den ersten Blick genau das, was von den ersten Hauswölfen anzunehmen ist: nutzlos. Dennoch werden die Hunde von den Turkana immer gut versorgt. Sie leben mit ihnen zusammen und werden nicht aus dem Dorf vertrieben wie die »Pariahunde« in anderen Weltregionen, die weder gefüttert noch allzu nah geduldet werden.

Die Hunde der Turkana leben bei den Frauen und Kleinkindern im Dorf, das aus Hütten besteht, die aus Zweigen geflochten und mit Fellen belegt werden. Hüttenbau ist Frauenarbeit, Holzsammeln ist Frauenarbeit, Wasserholen ist Frauenarbeit und fast alles andere auch. Aber die Turkanafrauen tragen bei all diesen Arbeiten ihre Kleinkinder nur sehr selten auf dem Rücken mit sich herum, wie das bei vielen anderen noch relativ ursprünglich lebenden Stämmen in Afrika üblich ist. Die Säuglinge der Turkana bleiben stattdessen in den Hütten – bei den Hunden.

Die Hunde der Turkanafrauen sind ihre Babysitter. Sie entlasten die Frauen, geben ihnen etwas mehr Zeit, ihr gewaltiges Arbeits­pensum zu bewältigen. Jede Frau hat einen Hund – und der kümmert sich um ihr Kind. Auch, indem er dessen Kot frisst und das Baby danach sauber leckt. Der Hund ist der Babysitter und die Windel der Turkana. Das Kotfressen ist ein Verhalten, das auch Wölfe zeigen, so lange ihre Welpen noch gesäugt werden und sich noch nicht vom Bau entfernen, wenn sie mal müssen. Bei den Turkana dürfen das auch nur die Kleinkinder im Dorf machen; die Erwachsenen schlagen sich in die Büsche. Und nur den Kot der Kleinkinder fressen auch die Hunde. Immer der Hund, der das Kind betreut, der zum Hausstand der Mutter gehört, kümmert sich auch um die Notdurft der Kleinen und um deren Sauberkeit. Auch das Dorf bleibt sauber auf diese Weise. Außerdem haben die Turkanafrauen gelernt, das Verhalten der Hunde zu »lesen«. Wenn die Hunde unruhig werden, aufgeregt hin und her laufen, immer wieder aus dem Dorf hinaus und zurück, dann wissen sie: Da kommen Fremde. Wobei die Hunde nur als Warnsystem taugen, nicht zur Verteidigung. Sind die Fremden erst einmal im Dorf, dann sind die Hunde die ersten, die weglaufen. Ganz so, wie es Erik Zimen von seinen Wölfen beschreibt. Wobei das Warnverhalten der Turkana-Hunde deutlich mehr Bewegung zeigt als das von Wölfen. Es ist daher für Menschen besser erkennbar. Aber die noch sehr ursprünglichen Turkana-Hunde verbellen die Gefahr nicht, wie wir das von unseren Hofhunden gewohnt sind. Man muss sie schon im Blick haben, um ihre Unruhe zu bemerken. Die allerdings ist deutlich: viel Unruhe, viel Bewegung.

Hunde zeigen sowieso viel mehr große Bewegung und machen mehr Geräusch als Wölfe. Die Wölfe verstehen sich mit kleinen differenzierten Gesten, die Menschen gemeinhin nicht erkennen oder nicht deuten können. Die Hauswölfe mussten auf dem Weg zum Hund im Ausdruck wohl zwangsläufig deutlicher und damit auch undifferenzierter werden, um sich den neuen Lebensgefährten verständlich zu machen. Das Verständigungssystem, das daraus entstanden ist, bedarf noch einer genaueren Betrachtung. Um die Funktion der Turkana-Hunde zu verstehen, reicht die einfache Feststellung: Sie sind jedenfalls nützlich.

Der zahm gewordene Hauswolf, der sich dem Menschen angeschlossen hat, könnte – auch ohne dass er schon Jagd- oder Wachhund geworden wäre – eine hilfreiche Funktion für die frühen Menschen gehabt haben. Und also hätte es Sinn gehabt für sie, die ersten Hauswölfe an sich zu binden. So könnte es also gewesen sein. So könnten die Menschenfrauen den Wolf zum Hund gemacht haben.

Was aber, wenn alles doch anders war – und nicht die Wölfe den Menschen gefolgt sind, sondern umgekehrt die Menschen den Wölfen? Ja, richtig gelesen: Die Menschen folgten den Wölfen! Und sie lernten dabei von ihnen. Es spricht vieles dafür, dass das Lorenz’sche Szenario nur unserem Wunschdenken entspricht, weil wir uns gerne selbst als die Krone der Schöpfung sehen und als solche natürlich alles aus uns selbst heraus entwickelt haben müssen. Weil ja nichts und niemand uns das Wasser reichen kann. Ein solches Selbstbild lässt natürlich nur zu, dass der Wolf dem überlegenen Menschen folgte und damit in die Domestikationsfalle tappte. Es bricht uns aber kein Stein aus der Schöpfungskrone, wenn wir mal annehmen, dass schon unsere Vorfahren und deren Verwandte lernfähig waren. Und also auch lernten, was andere besser konnten – nämlich das koordinierte Jagen in großen Gruppen.

Versuchen wir mal dieses Szenario.

Wer mit dem Wolf tanzte

Von der Anhöhe aus sehen die Rentiere in der weiten Senke nicht wie eine zusammengehörende Herde aus. Sie stehen und liegen in Gruppen von zehn, zwanzig Tieren beisammen. Manche haben die Köpfe in die blühenden Kräuter gesenkt, manche liegen im Windschatten der niedrigen Büsche, gemächlich wiederkäuend. Nur wenige der Hirsche haben die Köpfe erhoben und die Nüstern im Wind. Riechen werden sie aber weder die kleine Gruppe Menschen, die sich auf der Anhöhe hinter das Gestrüpp kauert, noch das Rudel Wölfe, das gerade um den Hügel herumläuft. Beide haben sich auf der dem Wind abgewandten Seite der Senke genähert.

Weit auseinandergezogen schnüren die Wölfe jetzt in gemächlichem Trab auf die Rentiere zu. Als der erste Wolf ins Blickfeld der Hirsche kommt, hält er kurz inne und schaut – nicht zu der Renherde, sondern den Hügel hinauf zu den Menschen. Die Jäger wissen voneinander. Dann setzt der Wolf seinen Weg fort, nach links, am Rand der Senke entlang in einem weiten Bogen um die Rentiere herum. Einer der Hirsche hat beim Erscheinen des Wolfes geschnaubt, viele haben daraufhin die Köpfe gehoben. Jetzt verfolgen viele Hirschaugen den Weg des Wolfes. Die Rentiere, die ihm am nächsten sind, setzen sich langsam in Bewegung – in Richtung des Zentrums der Senke und ins Zentrum der noch immer weit verstreuten Herde. Kurz nach dem ersten Wolf erscheint hinter dem Hügel ein zweiter und in regelmäßigem Abstand ein dritter und vierter. Alle bleiben sie auf der Spur des ersten. Die Rentiere sind nicht beunruhigt.

Nun kommt die Leitwölfin des Rudels um den Hügel herum, stoppt kurz, überblickt die Szenerie – und wendet sich nach rechts. Sie trabt unter der Anhöhe entlang, nicht ohne einen Blick zu der Menschengruppe hinaufzuwerfen: Ich weiß, dass ihr da seid. Einen Augenblick später folgt ein nächster Wolf, dann ein dritter und vierter. Sie umgehen die Rentiere ebenfalls in weitem Bogen. Die Hirsche bewegen sich jetzt langsam von den Rändern in die Mitte der Senke und werden nun als kompaktere Herde kenntlich.

Dann endlich ziehen die Wölfe ihren Ring um die Herde enger, und plötzlich drehen sie sich zu den Rentieren hin und kommen auf sie zu. Die äußeren Rentiere laufen um die Herde herum, die beginnt zu kreisen, dann setzt sich das Ganze in Bewegung – auf den Hügel zu, hinter dem jetzt der Rest des Wolfsrudels auftaucht. Die Jagd ist eröffnet.

Die Rentiere brechen nach links aus, werden schneller. Eine Staubwolke steht über der Tundra. Eine trächtige Hirschkuh, die auf einem Hinterlauf lahmt, kann das Tempo nicht halten. Sie bricht aus der Herde aus und stellt sich dem sie direkt verfolgenden Wolf, dreht sich um die eigene Achse und senkt das Geweih. Der Wolf nimmt den Kampf nicht an, weicht dem Geweih aus, springt vorüber. Die Hirschkuh hat dennoch einen tödlichen Fehler gemacht: Sie hat die Menschen mit den langen Speeren übersehen, die hinter ihrem Rücken den Hügel herunterspringen und schon in Wurfweite sind. Das Rentier sieht zum ersten Mal in seinem Leben einen Speer durch die Luft sirren. Dieser seltsame Stock ist das letzte, was es hört und sieht.

Auch die Wölfe sind erfolgreich an diesem Tag. Einen Kilometer weiter bricht ein weiteres Tier aus der Herde aus. Ein alter Hirsch kommt nicht mehr mit und empfängt die Wölfe mit dem Geweih. Dieses Mal weichen sie nicht aus. Drei Wölfe knurren den Hirsch von vorne an und versuchen, den heftigen Stößen seines Geweihs aus dem Weg zu gehen, zwei weitere kommen von der Seite und reißen ihn schließlich zu Boden.

Auch so könnte es gewesen sein. Die Wölfe und die Menschen bildeten eine Jagdgemeinschaft, allerdings in einem ganz anderen Sinn als heute. Nicht die Wölfe folgten den Menschen, um etwas von ihnen abzubekommen, wie die wesentlich kleineren Lorenz’schen Schakale oder wie Zimens frühe Hauswölfe. Sondern die Menschen folgten den Wölfen und profitierten von deren Art zu jagen. Und das alles nicht in Vorderasien oder Afrika, sondern in der Tundra und der Taiga Eurasiens – viele Jahrtausende vor der bislang vermuteten Zeit der »Domestizierung« des Hundes.

Tatsächlich haben sich die Mütter und Väter unserer heutigen Haushunde viel früher von den Wölfen getrennt als lange angenommen. Und womöglich noch viel früher, als von den meisten Wissenschaftlern inzwischen akzeptiert wird. Eine genetische Berechnung aus der Sequenzierung der DNA verschiedener heutiger Hunde aus den verschiedensten Weltgegenden – veröffentlicht von Carles Vilá und Robert Wayne im Jahr 1997 – ergab einen atemberaubenden Zeitraum: Danach haben sich die Haushunde vor rund 135 000 Jahren genetisch von den Wölfen getrennt.12 In einer etwas späteren Studie verglichen andere Genetiker die DNA von Hunden, Wölfen und Schakalen und kamen zu einem ähnlichen Ergebnis. Auch danach müsste die Trennung der Vorfahren unserer Haushunde von den Wölfen vor über 100 000 Jahren stattgefunden haben.13 Nach diesen Datierungen war der Hund schon zehntausende von Jahren Canis lupus familiaris, als die ersten Menschen von Sibirien nach Alaska aufbrachen und damit Amerika von Menschen besiedelt wurde. Nach diesen Berechnungen können die Hunde aber auch nicht im Zusammenleben mit dem modernen Menschen entstanden sein, denn den modernen Menschen, Homo sapiens, gab es damals noch nicht in Eurasien. Dann wären die Menschen, die jene Jagdgemeinschaft mit den Wölfen gebildet hatten und die dabei mitwirkten, dass sich die Vorfahren unserer heutigen Haushunde vom Wolf trennten, nicht unsere Vorfahren gewesen. Denn in den Tundren Eurasiens lebten damals viele Jahrtausende lang nur Menschen einer Art, die es heute nicht mehr gibt: die Neandertaler, Homo neanderthalensis.

Die Neandertaler aber galten bis vor kurzem noch als eher plumpe und tumbe Vertreter der Gattung Homo, der fast niemand zutrauen wollte, die große Leistung der »Domestikation« des Wolfes vollbracht zu haben. Schon deshalb konnte der Hund nicht so alt sein, wenn er denn tatsächlich aus Eurasien stammt, was ja recht zweifelsfrei nachgewiesen ist. Der zum Wissenschaftler gewordene Homo sapiens tut sich schon immer schwer, andere Lebewesen für annähernd so intelligent zu halten, wie er es selbst ist. Und es muss ja schließlich einen Grund dafür geben, dass wir als einzige Menschenart übriggeblieben sind und der Neandertaler ausgestorben ist. An fehlender Gehirnmasse kann es jedenfalls nicht gelegen haben, denn die war beim Homo neanderthalensis sogar etwas größer als beim Homo sapiens.

Eine der gängigsten Annahmen für das Verschwinden des Neandertalers ist die Verdrängungstheorie. Der von Süden nach Europa und Asien einwandernde Homo sapiens soll als erfolgreichere, anpassungsfähigere und intelligentere Art den Neandertaler verdrängt haben. Zuerst kam Homo sapiens aus Afrika allerdings in die Levante am östlichen Mittelmeer. Dort lebte er bis zu 60 000 Jahre neben den Neandertalern, ohne Anzeichen für Verdrängung. Ungefähr 10 000 Jahre nach dem Auftauchen des modernen Menschen in Europa starb der Neandertaler dann aus. Und das offenbar friedlich. Kämpfe zwischen den Menschenarten sind nicht bekannt, aber sehr wohl Kontakte, wie einige Neandertaler-Gene zeigen, die viele Menschen bis heute in sich tragen. Die Kinder der Neandertaler sind beim Homo sapiens geblieben, sonst hätten die Neandertaler-Gene nicht bis heute überlebt. Dann könnten auch die Hunde der Neandertaler bei unseren Vorfahren weitergelebt haben. Was aber, wie gesagt, nicht in das Bild des modernen Menschen passt, der seine Errungenschaften allein aus sich heraus entwickelt. Also muss die Entwicklungsgeschichte des Hundes jünger sein, und die Berechnungen der Genetiker werden verworfen, weil sie rein mathematischer Natur seien.

Noch in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde der Bonner Zoologe Günter Nobis von seinen Kollegen heftig attackiert, als er Tierknochen aus einem 14 000 Jahre alten Doppelgrab dem Haushund zuordnete. Das Grab von Oberkassel – heute ein Stadtteil von Bonn – war schon 1914 gefunden worden. Die Knochen hatten also über siebzig Jahre im Museum gelegen. In so langer Zeit kann viel passieren, sagten die Kollegen. Inzwischen ist aber die DNA auch dieses Tieres entschlüsselt und das Alter bestätigt, ebenso wie die von Nobis vorgenommene Taxonomie, die biologische Einordnung: Es handelt sich bei dem Tier um einen Haushund. Auch schon vor über vierzig Jahren war in einer Höhle im russischen Teil des Altai-Gebirges ein fossiler Schädel gefunden worden, der Merkmale des Haushundes zeigt. Die Biologen sprechen vom verkürzten Fazialschädel, also einer kürzeren Schnauze als bei Wölfen. Außerdem sind die Reißzähne deutlich kleiner. Mit der Radiokohlenstoffmethode wurde der Fund aus der Razboinichya-Höhle auf ein Alter von 33 000 Jahren datiert. Bei der Analyse der DNA dieses Schädels im Jahr 2013 stellte sich dann heraus, dass das Tier schon damals deutlich mehr mit den heutigen Haushunden als mit den Wölfen verwandt war. Auch das war also schon ein Hund. Und in der Goyet-Höhle in einem Seitental an der belgischen Maas wurde der Schädel eines Hundes gefunden, der 31 700 Jahre vor unserer Zeit lebte.

Wenn nun der Homo sapiens aber erst vor rund 40 000 Jahren langsam und in kleinen Gruppen aus Afrika und dem Vorderen Orient nach Europa und Asien eingewandert ist, dann blieb ihm nicht viel Zeit, um den Wolf zu domestizieren. Das Altai-Gebirge an der Grenze des heutigen Russlands mit Kasachstan und der Mongolei, der Fundort des 33 000 Jahre alten Hundes, liegt schließlich nicht gleich um die Ecke. Vom Bosporus bis an die Maas ist es auch eine gute Strecke. Und die deutlichen Hundekennzeichen der gefundenen Schädel brauchten viele Tiergenerationen, um sich zu bilden. Die einwandernden Gruppen des Homo sapiens waren auch keine Reisende mit einem fernen Ziel, das sie rasch zu erreichen trachteten. Sie zogen vielmehr als Nomaden langsam von einem Jagd- und Sammelrevier zum nächsten, vielleicht Herden von Beutetieren folgend oder diese suchend, in schlechten Zeiten auch mal den Pfaden der großen Raubtiere nach, um sich von deren Beuteresten zu ernähren. Dabei sind die Einwanderer auch auf Gruppen einheimischer Menschen getroffen, auf Neandertaler. Und die hatten damals vielleicht schon Hunde bei sich.

Neandertaler waren erfahrene Großwildjäger, erlegten Mammuts, Wollnashörner, Höhlenbären, Bisons, Wildpferde und Rentiere. Und das systematisch in Jagdgesellschaften, an geeigneten Orten über Jahrtausende hinweg immer wieder. In den Küstenregionen der Iberischen Halbinsel belegen Funde, dass die Neandertaler auch fischten und Muscheln sammelten. Sie hatten seetüchtige Fahrzeuge, jagten auch Robben und Delfine und besiedelten Inseln wie etwa Kreta. Die Neandertaler brieten das erjagte Fleisch und kochten die gesammelten Pflanzen. Schon ihre Vorfahren – die Homo heidelbergensis – beherrschten das Feuermachen. Ihre frühesten bekannten Feuerstellen in Europa sind 400 000 Jahre alt. Die ältesten Speere der Welt, gefunden bei Schöningen in Niedersachsen, stammen aus der gleichen Zeit. Die späteren Neandertaler wanderten regelmäßig weite Strecken zu Steinbrüchen, um sich mit Material für ihre Werkzeuge und mit Feuerstein zu versorgen. Sie fertigten Speerspitzen mit rasiermesserscharfen Klingen, produzierten Leder, Kleidung und Schmuckstücke und errichteten sich Unterkünfte aus Tierknochen, Mammutstoßzähnen und Fellen. In einer Höhle in Südfrankreich bauten sie mit Stalagmiten eine Kultstätte. Die Neandertaler als Architekten, vor rund 176 000 Jahren – sie waren alles andere als kulturlose Barbaren. Sie bestatteten ihre Toten, sie extrahierten Farben. »Farbpigmente wie roter Ocker oder schwarzes Manganoxyd lassen Rückschlüsse auf ein mögliches rituelles oder künstlerisches Verhalten zu«, schreibt der Paläoanthropologe Friedemann Schrenk. »Wie und warum der Neandertaler den Malkasten der Natur benutzte, ist unklar: zum Bemalen des Körpers oder zum Einfärben von Kleidung? Eine andere Möglichkeit der Nutzung von Naturfarben kann die Imprägnierung von Häuten gewesen sein, was dann allerdings auf eine recht hoch entwickelte technische Fertigkeit der Neandertaler schließen ließe.«14

Dennoch wurden die Neandertaler jahrzehntelang als tumbe Vormenschen dargestellt, die nicht einmal richtig aufrecht gehen konnten. Und bis heute traut man ihnen nicht die Kulturleistung der »Domestikation« eines Wildtieres zu. Der Pathologe und entschiedene Evolutionsgegner Rudolf Virchow, ein angesehener Politiker im jungen deutschen Kaiserreich, deklarierte noch 1872 die bei Mettmann im Neanderthal gefundenen menschlichen Überreste als die eines missgestalteten kranken Kosaken aus den Befreiungskriegen gegen Napoleon. Das war dreizehn Jahre nach der Veröffentlichung von Charles Darwins Buch Über die Entstehung der Arten und ein Jahr, nachdem er die Evolutionslehre dezidiert auf Die Abstammung des Menschen angewendet hatte. Nach strenger Auslegung der christlichen Schöpfungslehre durfte es aber einfach keine Frühmenschen geben. Schon gar nicht als unsere Vorfahren oder deren Verwandte. Wie der angebliche Kosak in das Sediment der Kalksteingrotte im Neanderthal gekommen sein sollte, konnte Rudolf Virchow nicht erklären. Aber seine Behauptung, dass es sich bei dem Fund nicht um einen 42 000 Jahre alten Frühmenschen handelt, blieb in Deutschland vorherrschende Meinung bis ins 20. Jahrhundert. Dabei hatte der irische Geologe William King das Fossil aus dem Tal der Düssel schon 1864 als Homo neanderthalensis beschrieben.

Wohl war mit diesem Verwandten aber auch den Wissenschaftlern außerhalb Deutschlands nicht, und als die ersten modernen Cro-Magnon-Menschen nach Ausgrabungen im Jahr 1868 nach ihrem Fundort in der Dordogne benannt worden waren, wurde der Neandertaler als eine Art Untermensch von der Erblinie des edlen Homo sapiens getrennt. Bis heute hielt sich »der Mythos vom schlurfenden, muskelbepackten Urmenschen mit wenig Grips«, wie Friedemann Schrenk das Bild vom Neandertaler in der Öffentlichkeit und gerne auch noch in den Medien und in Romanen beschreibt. Dass es falsch ist, haben die Paläoanthropologen hinreichend nachgewiesen. Inzwischen ist klar, dass Neandertaler auch den Nahen Osten besiedelten. In Eurasien ging ihr Siedlungsgebiet im Westen von der Iberischen Halbinsel bis Norddeutschland, im Osten bis nach Südsibirien in den russischen Teil des Altai-Gebirges. Genau dort wurde auch der bislang älteste Hundeschädel gefunden.

Warum sollen es also nicht die Neandertaler gewesen sein, die sich mit den Wölfen zusammenschlossen? Sie waren jedenfalls zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Und dem Homo sapiens blieben dann immer noch gut zehntausend Jahre, um sich das neue Zusammenleben mit einem Tier abzuschauen und anzueignen und um den Hund von den Neandertalern zu übernehmen.

Eine Koinzidenz der Einwanderung des Homo sapiens nach Eurasien und der »Domestikation« des Wolfes gibt es im Übrigen nur, wenn wir die erwähnte Berechnung aus der Sequenzierung der DNA verschiedener heutiger Hunde außer Acht lassen und uns nur auf die Datierung der ältesten bislang gefundenen Hundeknochen stützen. Es gibt andere Datierungen auch für die Einwanderung des Homo sapiens nach Norden, die von 45 000 Jahren vor unserer Zeit für die Besiedelung Westeuropas durch den modernen Menschen ausgehen und von 55 000 Jahren für die Ankunft unserer Vorfahren in Südostasien. Dann hätte der Homo sapiens mehr Zeit gehabt, sich mit den eurasischen Wölfen zu beschäftigen. Sobald aber noch ein älterer Vorfahr des heutigen Haushundes gefunden wird und am Ende die Berechnung der Genetiker um Carles Vilá und Robert Wayne bestätigt, die das Alter des Hundes mit 135 000 Jahren angeben, ist die Vorstellung hinfällig, unsere eigenen Vorfahren wären diejenigen gewesen, die die ersten Wölfe an sich banden. Dann war es eben nicht der von Konrad Lorenz imaginierte »junge, hochstirnige Leiter der Horde« Menschen, der zum ersten Mal einen Caniden fütterte und damit den ersten Schritt zur Entwicklung des ersten Haustieres des Menschen tat, sondern ein eher flachstirniger Mensch mit länglichem Kopf, großen Augen und großem Hinterhaupt.

Wolfgang Schleidt und Michael Shalter stellen in ihrr Abhandluneg über die Koevolution von Mensch und Hund fest:

»Nun sind wir mit einem erstaunlichen zeitlichen und räumlichen Zusammentreffen der Entstehung von Menschheit und ›Hundheit‹ konfrontiert. Es wird unvermeidlich sein, alte wie gegenwärtige Vorstellungen der Domestikation zu überdenken. Selbst der Begriff ›Domestikation‹ hat einen seltsamen Klang, denn das Zusammentreffen von Wölfen und modernem Menschen fand, wie schon erwähnt, lange vor jener Zeit statt, seit der man von menschlichen Behausungen im Sinne eines ›Domus‹ sprechen kann. Caniden nutzten Schlafhöhlen schon viel früher. Daher sollten wir vielleicht besser von ›Kubilation‹***** anstatt von Domestikation sprechen, wie schon früher vorgeschlagen, und uns dabei Gedanken darüber machen, wer wohl wen kubiliert hat.«15

Worauf Schleidt und Shalter hinauswollen, ist eine gänzlich andere Sichtweise der gemeinsamen Geschichte von Mensch und Hund. Und diese ganz andere Sichtweise, die sich in der jüngeren Forschungsarbeit zur größeren Wahrscheinlichkeit ausgewachsen hat, stützt auch Konrad Lorenz, der Vater der vergleichenden Verhaltensforschung. Er schrieb schon 1950 »aus vollster Überzeugung«, wie er extra betonte: »Dasjenige unter allen nicht-menschlichen Lebewesen, dessen Seelenleben in Hinsicht auf soziales Verhalten, auf Feinheit der Empfindungen und auf die Fähigkeit zu wahrer Freundschaft dem des Menschen am nächsten kommt, also das im menschlichen Sinne edelste aller Tiere, ist eine vollwertige Hündin.«16

Lorenz hatte die Beobachtung gemacht, dass uns der Haushund im sozialen Verhalten bis hin zur Fähigkeit, Freundschaften auch mit nicht familiär verwandten Individuen zu schließen, näher ist als irgendein anderes Tier. Das meint, auch näher als unsere nächsten Verwandten, die anderen großen Menschenaffen, allen voran die Schimpansen, mit denen wir uns 98,63 Prozent des Genoms teilen. Lorenz bat seinerzeit Jane Goodall, die lange mit Schimpansen zusammengelebt hat, um eine Stellungnahme zu seiner Beobachtung der seltsamen Verhaltensverwandtschaft von Mensch und Hund. Und die britische Primatenforscherin, der wir einen Großteil unseres Wissens über unsere nächsten Verwandten verdanken, die aber auch das Verhalten des Afrikanischen Wildhundes erforschte, schrieb ihm:

»Hunde wurden seit langem domestiziert. Sie stammen von Wölfen ab und sind Rudeltiere. Sie überleben dank ihrer Fähigkeit zur Zusammenarbeit. Sie jagen gemeinsam, schlafen gemeinsam im selben Bau und ziehen ihre Jungen gemeinsam auf. Dieses altbewährte Sozialsystem hat die Domestikation des Hundes erleichtert. Schimpansen sind dagegen Individualisten. In freier Natur sind sie ungestüm und aufbrausend. Sie sind stets auf den eigenen Vorteil bedacht. Sie sind eben keine Rudeltiere. Beobachten Sie Wölfe in einem Rudel, wie sie sich gegenseitig beschnüffeln, zur Begrüßung wedeln, sich ablecken und ihre Jungen beschützen, dann sehen Sie alle Charakteristika, die wir an Hunden so lieben, auch ihre Treue.

Beobachten Sie wilde Schimpansen, dann sehen Sie die Liebe zwischen Mutter und Nachkommen und die Bande zwischen Geschwistern. Andere Beziehungen sind mehr opportunistisch. Selbst zwischen Familienmitgliedern entstehen oft Streitereien, die sogar zu Kämpfen führen können. Selbst nach Jahrhunderten züchterischer Auswahl würde es wohl schwierig, wenn nicht unmöglich sein, einen Schimpansen zu züchten, der mit Menschen zusammenleben und auch nur annähernd solch ein gutes Verhältnis haben könnte wie unsere Hunde. Das hat nichts mit Intelligenz zu tun, sondern mit dem Bedürfnis zu helfen, zu folgen und Anerkennung zu finden.«17

So weit, so klar. Wie kommt es aber, dass wir Menschen, die nächsten Verwandten der Schimpansen, uns – zumindest meistens, wenn wir gerade keine unserer kleinen oder größeren Kriege führen – eher verhalten wie Wölfe oder Hunde? Und selbst, wenn wir in Auseinandersetzungen stecken, führen wir diese meist nicht nur mit unseren Verwandten als Verbündeten, sondern haben Vertraute und Freunde an der Seite. Wo haben wir das her?

Schon der österreichische Verhaltensforscher Eberhard Trumler, der Nestor der Kynologie, also der Hundekunde, hat in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts festgestellt: