Revolution oder Evolution - Tomas Sedlacek - E-Book

Revolution oder Evolution E-Book

Tomas Sedlacek

3,9

Beschreibung

Soziale Ungerechtigkeit, Naturzerstörung sowie die Schulden- und Finanzkrise lassen zweifeln, ob die Marktwirtschaft die richtige Lösung für die Probleme unserer Zeit ist. Der Bestsellerautor Tomas Sedlacek ("Die Ökonomie von Gut und Böse") bricht dennoch eine Lanze für den Kapitalismus: Er ist das beste Wirtschaftssystem, das wir kennen. Aber er muss von Grund auf reformiert werden. David Graeber ("Schulden: Die ersten 5000 Jahre") hält dagegen: Der Kapitalismus ist nicht mehr reformierbar, er gehört abgeschafft. Unsere Wirtschaft braucht ein anderes, gerechteres System. Die Stars der Kapitalismuskritik treffen aufeinander – und beziehen pointiert Stellung.

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Tomáš Sedláček | David Graeber

Revolution oder Evolution

Das Ende des Kapitalismus?

Gespräch mit Roman Chlupatý

Aus dem Englischen von Hans Freundl

Titel der Originalausgabe:

Tomáš Sedláček & David Graeber

(R)EVOLUČNÍ EKONOMIE

O SYSTÉMU A LIDECH

Rozhovor s Romanem Chlupatým

Prag, 65.pole 2013

Die vorliegende Übersetzung beruht auf der Niederschrift des auf Englisch geführten Gesprächs.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdruckes und der Vervielfältigung des Buches oder von Teilen daraus, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsgestaltung – mit Ausnahme der in den §§ 53, 54 URG genannten Sonderfälle –, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© Roman Chlupatý, Tomáš Sedláček, David Graeber, 2013

© 65. pole, 2013

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© 2015 Carl Hanser Verlag München

Internet: http://www.hanser-literaturverlage.de

Lektorat: Martin Janik

Herstellung: Andrea Reffke

Fotos im Innenteil: © 65.pole, Prag

Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Datenkonvertierung E-Book: Kösel Media, Krugzell

ISBN 978-3-446-44304-4

E-Book-ISBN 978-3-446-44320-4

Inhalt

Prolog

Das Regime verändern, das Regime stürzen

Der Markt vor der Wand, der Markt hinter der Wand

Systemkrise: Die Scheidung von Körper und Seele

Du bist Schuld, und zu Schuld kehrst du zurück

Über die (Un)natürlichkeit des Systems

Occupy: Ein Schritt nach vorn oder zur Seite?

Chaos und homo oeconomicus

Prolog

Am 17. September 2011 versammelte sich im Zucotti-Park in New York eine bunt gemischte Gruppe von Menschen. Sie alle verband die Unzufriedenheit mit Big Business und der großen Politik. Ein Gefühl, das vorher schon viele andere Menschen in anderen Teilen der Welt zum Ausdruck gebracht hatten als Reaktion auf jene Entwicklung, die seit 2007 schlicht als »die Krise« bezeichnet wurde. Doch der Protest in unmittelbarer Nähe der Wall Street hatte eine symbolische Bedeutung. Es war die Geburt der Occupy-Bewegung, die der zersplitterten Enttäuschung und der Wut ein Gesicht und in gewisser Weise auch eine Richtung gab. Einen Monat später bekundeten Anhänger aus 82 Ländern ihre Unterstützung für den globalen »Day of Action«, den die Occupy-Bewegung ausgerufen hatte. Laut dem britischen Guardian war die Occupy-Bewegung bereits ein Jahr später in mehr als 70 Ländern auf allen bewohnten Kontinenten aktiv.

Im Sommer 2013, zwei Jahre nach der Gründung von Occupy, hatte es den Anschein, als seien eine amerikanische Internetseite und ein Twitter-Account das einzige, was von dieser Bewegung noch geblieben war. Viele der Enttäuschten hatten sich nicht auf den Straßen zu halten vermocht, die Polizei hatte die harten Kerne in New York, London und Hongkong aufgelöst. Die Öffentlichkeit, deren Unterstützung den Demonstranten anfänglich Schutz geboten hatte, protestierte kaum vernehmlich. Ermüdung machte sich breit, die Menschen waren der Krise und allem, was damit zusammenhing, überdrüssig geworden. Das hatte auch damit zu tun, dass Occupy für die Systemkrise und die Alltagsprobleme, mit denen viele Menschen konfrontiert waren, keine einfache Lösung hatte anbieten können. Zudem begann sich die Wirtschaft mittlerweile wieder zu erholen.

Die Ruhe, die sich in der ersten Hälfte des Jahres 2013 im Westen ausbreitete, musste jedoch nicht bedeuten, dass die schwierigen Zeiten vorüber waren, wie viele Wissende behaupteten. Der scheinbar freie Fall wurde aufgehalten durch eine enorme Menge an Liquidität, die die wichtigsten Zentralbanken der Welt in das System pumpten. Sobald sie jedoch ihre Geldhähne zudrehen, werden die Probleme wie ein Bumerang zurückkehren (und wenn Sie dieses Buch lesen, wird es vielleicht schon so weit sein). Während dem Westen eine Atempause verschafft wurde, begannen sich in den Ländern des Ostens und des Südens die Spannungen zu verschärfen. Die Volkswirtschaften Brasiliens und der Türkei stehen unter Druck, die Menschen protestieren gegen die wirtschaftlichen und sozialen Ungerechtigkeiten, die sich in ihren Städten herausgebildet haben. Nicht nur dies gab den »Wall-Street-Besetzern« neuen Auftrieb.

Die Krise, die in den USA ihren Anfang nahm und Europa mit nach unten riss, hat eine globale Kettenreaktion ausgelöst. Und wie mir in vielen globalen, regionalen und lokalen Finanzzentren immer wieder versichert wurde, wird sie erst abflauen, wenn wir eine echte Systemkorrektur erlebt haben. Die Chefin der Börse in Bratislava, Mária Hurajová, mit der ich im Juni 2012 gesprochen habe, hat diese Erwartung stellvertretend für all die Stimmen aus dem Finanzsektor anschaulich zusammengefasst:

Ich glaube, dass die gegenwärtige Situation – Unsicherheit und alles, was damit zusammenhängt – zum Normalzustand werden wird. Wir werden nicht länger in einer Welt leben, in der alles klar und eindeutig ist. Wir werden uns mit der Lösung von Problemen beschäftigen müssen. Das bedeutet nicht, dass wir sie nicht lösen werden, doch unterdessen werden wieder neue Probleme auftauchen. Wie wenn ein Kartenhaus zusammenzufallen beginnt. Wir können es an einer Stelle abstützen, aber dann stürzt es an einer anderen ein. Es hat seine grundlegende Stabilität eingebüßt. Dieser Zustand wird fortdauern, bis sich irgend etwas vollkommen Neues herausbildet.

Daher fordern – oder erwarten – nicht nur die Anhänger der Occupy-Bewegung einen Wandel. Und dieser Wandel, hier sind sich Stimmen von beiden Seiten der Barrikade einig, muss sich auf die Grundlagen der bestehenden Ordnung erstrecken. Anscheinend sehen dies auch die Vertreter der gewöhnlich schweigenden Mehrheit ähnlich. So ergab beispielsweise eine Erhebung des Think Tanks German Marshall Fund of the United States im Jahr 2012, dass 76 Prozent der Befragten in Europa unzufrieden waren mit dem gegenwärtigen Zustand des Kapitalismus. In Amerika waren es 64 Prozent. Befragt wurden keine Radikalen auf den Straßen oder andere traditionell oppositionelle Gruppen. Die Stichprobe bestand aus durchschnittlichen Haushalten. Die meisten von ihnen wären vermutlich nicht bereit dazu gewesen, im Zuccotti-Park oder auf irgendeiner Straße zu übernachten. Doch sie brachten deutlich ihre Unzufriedenheit, ihren Wunsch nach Veränderung zum Ausdruck.

Dies war der Beginn der Infragestellung eines Systems, das seit dem Fall des Eisernen Vorhangs als das letzte Kapitel in der Geschichte der Menschheit gepriesen wurde. Das häufig zitierte Wort von Francis Fukuyama, dass die ideengeschichtliche Entwicklung der Menschheit ihr letztes Stadium erreicht habe und dass die gesamte Welt die liberale westliche Demokratie und den Kapitalismus als die perfekteste Form der gesellschaftlichen Organisation anerkennen werde, hat einiges von seinem Glanz verloren. Gewiss, kein System ist ohne Mängel. Und jenes, das gegenwärtig auf der Welt vorherrscht, ist das beste, das wir haben. Andererseits stimmt es auch, dass es zumindest kurzsichtig wäre, eine Diskussion darüber zu ersticken, was auf dieses System folgen könnte. Diese Erkenntnis lässt sich aus einer Untersuchung ableiten, die von Psychologen der Harvard und der Virginia University durchgeführt wurde, derzufolge die Menschen natürlicherweise die Vollkommenheit eines Systems überschätzen und aufgrund ihres Glaubens an die Leistungsfähigkeit der bestehenden Ordnung ein Gefühl von Sicherheit entwickeln. Doch das ist eine trügerische Hoffnung und erwächst aus falschen Vorstellungen, wie die Schlussfolgerung der Untersuchung aus dem Jahre 2012 lautet, die das »Ende der Geschichte« als eine Illusion bezeichnet.

Daher ist es zweifellos sinnvoll, die Debatte über die Zukunft fortzuführen, eine Debatte, die Occupy in den vergangenen Jahren maßgeblich beeinflusst hat. Es erscheint auch sinnvoll, darüber nachzudenken, was man tun soll, bevor die Zukunft – wie immer sie beschaffen sein mag – sich einstellt. Das ist die Prämisse des vorliegenden Buches. Es ist im weitesten Sinn eine Fortsetzung meines Buches Dusk Falls on Homo Economicus. Dort stehen die Zweifel im Vordergrund und es geht um mögliche Wege, die heutigen Volkswirtschaften zu erneuern und zu reformieren. Hier nun werfen wir einen kritischen Blick auf das System insgesamt; die moderne Wirtschaftswissenschaft und die Volkswirtschaft bilden einen bedeutenden Teilbereich dieses Systems. Neben Tomáš Sedláček haben wir David Graeber eingeladen, sich an dieser Diskussion zu beteiligen.

Graeber ist ein Anarchist und politischer Aktivist, der auch an der Entstehung von Occupy Wall Street mitwirkte. Er lehrte an der Yale University und am Goldsmiths College der University of London und ist seit 2013 Professor an der London School of Economics. In diesem Buch vertritt er die Stimmen jener, die nach einem Systemwechsel rufen. Seiner Ansicht nach hat sich der Kapitalismus erschöpft und es ist daher höchste Zeit, mit einem Nachfolgesystem zu experimentieren. Er fordert keine revolutionäre Veränderung, doch angesichts der Auswirkungen der Krise auf die Bevölkerung in vielen Ländern will er sie auch nicht ausschließen. Auch Tomáš Sedláček unterzieht das gegenwärtige politisch-ökonomische System aus seiner reformkapitalistischen Perspektive heftiger Kritik und ist sich mit Graeber in vielen Punkten einig, doch er kommt zu ganz anderen Schlussfolgerungen. Er glaubt, dass wir den Kapitalismus im Grundsatz erhalten und ihm helfen müssen, sich zu erholen. Und zwar deshalb, weil sein Ende – oder sein Todeskampf – ein gefährliches Chaos hervorrufen würde.

Die Absicht, das Schlimmste zu verhindern, das die gegenwärtige – oder die nächste – Krise nach sich ziehen könnte, eint Graeber und Sedláček. Sie zeigen, wie wir über die Unzulänglichkeiten des vorherrschenden Systems diskutieren können, auch wenn man sich instinktiv dagegen sträubt: Wir müssen mit Neugier an das Spiel herangehen, in dem mitzuspielen wir gezwungen sind. Wir müssen das Spinnennetz geschriebener und ungeschriebener Regeln durchdringen, die uns zu einem homo oeconomics und einem homo politicus machen, das heißt zu einem Individuum, das fähig ist, Teil einer Gruppe zu sein, von etwas, das uns erfüllt und zugleich einschränkt. Solange die positive Seite dominiert (oder die Überzeugung, dass sie dominiert), sind die Menschen bereit, sich zu beugen, wenn das System dies von ihnen verlangt. Doch wenn die Überzeugung die Oberhand gewinnt, dass das System mehr nimmt, als es gibt, beginnt es zu zerbröckeln. Und es ist wichtig, auf eine solche Entwicklung vorbereitet zu sein.

Roman Chlupatý 25. Juli 2013

Das Regime verändern, das Regime stürzen

Roman Chlupatý (RC) In der gegenwärtigen Krise sehen wir in vielen Ländern unzufriedene Angehörige der Mittelschicht auf den Straßen; das ist eine soziale Schicht, die sich gewöhnlich sehr ruhig, wenn nicht sogar unterwürfig verhält und die nur selten rebelliert. Ist das ein Zeichen, dass die Situation ernst ist? Dass ein größerer Aufruhr bevorsteht?

David Graeber (DG) Nun, die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß. Ich glaube, was wir in der jüngsten Zeit mit der Occupy-Bewegung gesehen haben, vor allem in ihren Anfängen, ist eine Art Wendepunkt in der US-amerikanischen Geschichte. Die US-Regierungen haben in der Vergangenheit soziale Bewegungen immer wieder militärisch unterdrückt, allerdings weniger jene Bewegungen, an denen weiße Angehörige der Mittelschicht beteiligt waren. Und die Vorstellung, dass die Regierung Sicherheitskräfte, die in der Terrorbekämpfung ausgebildet sind, einsetzen könnte, um gegen ganz normale weiße Mittelschichtangehörige vorzugehen, die sich auf friedliche, gewaltfreie Weise versammeln und damit ein verfassungsmäßig garantiertes Recht in Anspruch nehmen, ist wirklich bestürzend. Ich denke, das ist eine bemerkenswerte Wendung in der amerikanischen Geschichte und wird von künftigen Historikern auch so bewertet werden. Was dies im Hinblick auf die langfristige Funktionsfähigkeit bestehender Vereinbarungen und Abläufe bedeutet, bleibt abzuwarten, doch die wenigen Leute, mit denen ich gesprochen habe und deren Geschäft darin besteht, sich um die langfristige Funktionsfähigkeit des Systems zu kümmern, sind sehr besorgt.

Tomáš Sedláček (TS) Ich glaube, dass man die Dinge in Bewegung setzen muss. Und sie werden ja auch in Bewegung gesetzt – durch Occupy, durch die grüne Bewegung und durch die Bewegung für fairen Handel. Es ist allerdings fraglich, ob das genügt. Das Problem des demokratischen Kapitalismus besteht darin, dass er Kritik braucht, dass er von ihr lebt. Wenn er nicht der Kritik ausgesetzt ist, zerfällt er. Und daher lautet die Frage, die sich jede soziale oder auf das System bezogene Kritik stellen muss: »Zerstöre ich das System? Oder stütze ich es?«

RC Sie betrachten beide die gegenwärtigen Zustände als unhaltbar. Sie vertreten die Ansicht, dass sich das System in seiner gegenwärtigen Form überlebt hat, Sie vergleichen es mit einem Zombie. Ist es möglich, das Schlechte – das Zombiehafte – aus dem System zu entfernen und das System als ganzes zu erhalten oder müssen wir es zerstören und etwas Neues aufbauen?

TS Sie fragen mit anderen Worten, ob wir dem Zombie wieder eine Seele einhauchen können, was meine Position wäre, während Sie, David – aber ich möchte Ihnen nichts in den Mund legen – den Zombie töten wollen.

DG Ja, in aller Kürze, unser Ziel besteht darin, eine Alternative zu schaffen, die aufzeigt, wie man die Dinge organisieren kann. Das wird unserer Meinung nach zum Zusammenbruch des gegenwärtigen Regimes beitragen.

TS Ich denke in diesem Zusammenhang an Thomas von Aquin, der sagte, um gut zu sein, muss man das Wollen und das Wissen haben, Gutes zu tun. Wenn ich also Gutes herbeiführen will, muss ich sozusagen wissen, was gut ist und wie ich es hervorbringen kann. Das ist keine einfache Sache. Auch Paulus spricht darüber: »Denn ich tue nicht, was ich will, Gutes, sondern was ich nicht will, Böses, das führe ich aus.« Das Bestreben ist richtig, aber die technische Umsetzung, die rationale Struktur gewissermaßen, ist schlecht. Auch in den Sozialenzykliken wird über sündhafte Strukturen gesprochen. Alle wollen »besonders nett zueinander sein«, aber am Ende sorgen die Strukturen dafür, dass sich dieses Ziel ins Gegenteil verkehrt, in eine kollektive Sünde.

DG