Die Ökonomie von Gut und Böse - Tomas Sedlacek - E-Book + Hörbuch

Die Ökonomie von Gut und Böse E-Book und Hörbuch

Tomas Sedlacek

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Beschreibung

Die meisten unterschätzen, wie tief die Ökonomie in der Kultur verwurzelt ist. Nicht so Tomas Sedlacek. Er behauptet: "In der Ökonomie geht es um Gut und Böse. Es geht um Menschen, die Menschen Geschichten über andere Menschen erzählen. Selbst das ausgefeilteste mathematische Modell ist eine Parabel, eine Geschichte, mit der wir die Welt um uns herum zu begreifen versuchen." Sedlacek erschüttert unseren Begriff von Wirtschaft wie wenige vor ihm. Sein Buch ist ein faszinierender Gang durch die Welt der Ökonomie - vom Gilgamesch-Epos über das Alte Testament und Adam Smith bis zur Wall Street und zur Wirtschaftskrise. Und ganz nebenbei erfahren wir, warum die Sprache der Wirtschaft, die Mathematik, nicht wertfrei und kühl ist, sondern schön und sogar verführerisch …

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Tomáš Sedláček

DIE ÖKONOMIE VON GUT UND BÖSE

Aus dem Amerikanischen von Ingrid Proß-Gill

Titel der Originalausgabe:

Ekonomie dobra a zla. Po stopách lidského tázání od Gilgameše po finanční krizi.

Prag, 65.pole 2009

Titel der amerikanischen Ausgabe:

Economics of Good and Evil. The Quest for Economic Meaning from Gilgamesh to Wall Street.

New York, Oxford University Press 2011

Die Übersetzung folgt der amerikanischen Ausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdruckes und der Vervielfältigung des Buches oder von Teilen daraus, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsgestaltung – mit Ausnahme der in den §§ 53, 54 URG genannten Sonderfälle –, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© Tomáš Sedláček, 2009

© 65.pole, 2009

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© 2012 Carl Hanser Verlag München

Internet: http://www.hanser-literaturverlage.de

Lektorat: Martin Janik

Herstellung: Stefanie König

Umschlaggestaltung: Brecherspitz Kommunikation GmbH, München,

www.brecherspitz.com

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-446-43113-3

ISBN (Druck): 978-3-446-42823-2

Für meinen Sohn Chris, der mehr versteht, als ich je verstehen werde – wie ich vor langer Zeit vielleicht auch. Ich wünsche ihm, dass er eines Tages ein besseres Buch schreiben wird.

Erkenn Dich selbst, erforsch nicht Gottes Kraft! Der Mensch ist erstes Ziel der Wissenschaft. Er steht am Isthmus, ist ein Mittelding – an Größe grob, an Weisheit Däumeling. Für einen Skeptiker ist er zu klug, für einen Stoiker nicht stolz genug. Er hängt dazwischen, ist des Zweifels voll, ob er nun handeln oder nichts tun soll, ob er mehr Geist, mehr Leib, mehr Tier, mehr Gott. Im Denken irrt er, lebt nur für den Tod; bleibt ohne Wissen, bringt er auch ins Spiel Vernunft zu wenig oder gar zu viel. In ihm Gefühl und Geist als Chaos gärt, durch sich wird er getäuscht und aufgeklärt. Geschaffen für den Aufstieg und den Fall, Herr aller Dinge, Beute auch für all’. Der Wahrheitshüter, der dem Trug verfällt, der Stolz und Witz, das Rätsel dieser Welt!

Alexander Pope (Vom Menschen, 39)

Inhalt

Vorwort von Václav Havel

Einleitung

TEIL I ÖKONOMIE IN FRÜHEREN ZEITEN

1 Das Gilgamesch-Epos

2 Das Alte Testament: Weltlichkeit und Gutheit

3 Das antike Griechenland

4 Das Christentum: Spiritualität in der materiellen Welt

5 Descartes, der Mechaniker

6 Bernard Mandevilles Bienenstock des Lasters

7 Adam Smith, Schmied der Ökonomie

TEIL II BLASPHEMISCHE GEDANKEN

8 Die Gier nach immer mehr: Die Geschichte der Wünsche

9 Fortschritt, neuer Adam und Sabbatökonomie

10 Die Achse von Gut und Böse und die Bibeln der Ökonomie

11 Die Geschichte der unsichtbaren Hand des Marktes und des Homo oeconomicus

12 Die Geschichte der Animal Spirits: Der Traum schläft nie

13 Metamathematik

14 Wer kennt die Wahrheit? Wissenschaft, Mythen und Glaube

Schlusswort

ANHANG

Dank

Anmerkungen

Bibliografie

VORWORT

VON VÁCLAV HAVEL

Ich hatte die Gelegenheit, Tomáš Sedláčeks Buch zu lesen, bevor es 2009 in der Tschechischen Republik erschien. Es bot eine unkonventionelle Sicht einer wissenschaftlichen Disziplin, die der landläufigen Auffassung nach todlangweilig ist. Natürlich war ich gleich fasziniert und neugierig darauf, wie viel Interesse andere Leser ihm entgegenbringen würden. Zur Überraschung des Autors wie des Verlags erregte es in der Tschechischen Republik sofort so große Aufmerksamkeit, dass es bereits innerhalb weniger Wochen ein Bestseller wurde und sowohl die Fachleute als auch die breite Öffentlichkeit darüber sprachen. Sedláček war damals auch Mitglied des Nationalen Wirtschaftsrates, der sich bei seinem Verhalten und bei seinen Ansichten über die langfristigen Ziele erfreulich stark von dem streitsüchtigen politischen Umfeld abhob, das gewöhnlich nicht über die nächste Wahl hinausdenkt.

Statt selbstzufriedene, ichzentrierte Antworten zu geben, stellt der Autor bescheiden fundamentale Fragen: Was ist die Ökonomie? Welchen Zweck hat sie? Woher kommt diese »neue Religion«, wie sie manchmal genannt wird? Welche Möglichkeiten hat sie, welche Grenzen und Beschränkungen (sofern es überhaupt welche gibt)? Weshalb sind wir so stark von einem ständigen Wachstum des Wachstums und des Wachstums des Wachstums abhängig? Woher stammt die Idee des Fortschritts und wohin führt sie uns? Weshalb werden so viele ökonomische Debatten von Besessenheit und Fanatismus geprägt? Das sind alles Fragen, die nachdenkliche Menschen sich stellen müssen, doch die Antworten kommen nur selten von den Ökonomen.

Die Mehrheit unserer politischen Parteien handelt aus einem engen materialistischen Blickwinkel heraus. In ihren Programmen präsentieren sie zuerst die Ökonomie und das Finanzwesen; die Kultur finden wir irgendwo am Schluss, als Anhängsel, als Trankopfer für ein paar Verrückte. Ob sie nun rechts oder links stehen – die meisten von ihnen akzeptieren und verbreiten bewusst oder unbewusst die marxistische These von der ökonomischen Basis und dem spirituellen Oberbau.

Vielleicht hängt all das damit zusammen, dass die Ökonomie als wissenschaftliche Disziplin oft irrtümlicherweise als bloße Buchführung betrachtet wird. Aber was nützt die Buchführung, wenn sich doch vieles von dem, was unser Leben beeinflusst, schwer oder gar nicht berechnen lässt? Ich frage mich, was Ökonomen dieses Schlags tun würden, wenn man ihnen die Aufgabe übertragen würde, die Arbeit eines Sinfonieorchesters zu optimieren. Wahrscheinlich würden sie alle Pausen in Beethovens Konzerten streichen – sie sind ja schließlich zu nichts gut, sie halten nur den Lauf der Dinge auf, und die Mitglieder des Orchesters können doch nicht dafür bezahlt werden, dass sie nicht spielen …

Der Autor reißt durch seine Fragen Stereotype nieder. Er versucht, aus der engen Spezialisierung auszubrechen und die Grenzen zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen zu überspannen. Expeditionen über die Grenzen der Ökonomie hinaus, die Erforschung ihrer Verbindungen zur Geschichte, Philosophie, Psychologie und zu alten Mythen, sind nicht nur erfrischend, sondern auch notwendig, wenn wir die Welt des 21. Jahrhunderts verstehen wollen. Das Buch ist zudem gut lesbar, auch für Laien; die Ökonomie wird hier zum Weg zu großen Abenteuern. Wir finden zwar nicht immer eine exakte Antwort auf die Frage nach ihrem Zweck, aber zumindest weitere gute Gründe dafür, noch eingehender über die Welt und die Rolle des Menschen in ihr nachzudenken.

Während meiner Präsidentschaft gehörte Tomáš Sedláček zur Generation der jungen Kollegen, die eine neue Sichtweise der Probleme unserer heutigen Welt versprach, eine Sichtweise, die nicht durch die vier Jahrzehnte des totalitären kommunistischen Regimes belastet war. Ich habe das Gefühl, dass meine Erwartungen erfüllt wurden, und bin überzeugt, dass auch die deutschen Leser sein Buch ausgesprochen interessant finden werden.

EINLEITUNG

DIE GESCHICHTE DER ÖKONOMIE: VON DER DICHTKUNST ZUR WISSENSCHAFT

Die Wirklichkeit wird aus Geschichten gesponnen, nicht aus einem materiellen Stoff.

Zdeněk Neubauer

Kein Gedanke ist so alt oder absurd, daß er nicht unser Wissen verbessern könnte. Anything goes …

Paul Feyerabend

Der Mensch hat schon immer danach gestrebt, die Welt zu verstehen. Dabei halfen ihm Geschichten, die seiner Realität einen Sinn verliehen. Vom heutigen Standpunkt aus gesehen wirken solche Geschichten oft seltsam – unsere eigenen Geschichten werden den folgenden Generationen auch seltsam vorkommen. In ihnen verbirgt sich jedoch große Kraft.

Eine dieser Geschichten ist die der Ökonomie, die schon vor langer Zeit begann. Xenophon schrieb etwa 400 v. Chr., selbst wenn jemand über keinen Reichtum verfüge, gebe es etwas wie eine Wissenschaft der Ökonomie. [1] Einst war die Ökonomie also die Wissenschaft der Haushaltführung, [2] später dann eine Teilmenge der religiösen, theologischen, ethischen und philosophischen Disziplinen. Im Laufe der Zeit scheint sie sich allerdings zu etwas völlig anderem entwickelt zu haben. Manchmal könnten wir das Gefühl haben, dass die Ökonomie allmählich all ihre Schattierungen und Färbungen an eine technokratische Welt verloren hat, in der Schwarz und Weiß herrschen. Die Geschichte der Ökonomie ist aber sehr viel bunter.

So, wie wir sie heute kennen, ist die Ökonomie eine kulturelle Erscheinung, ein Produkt unserer Zivilisation – allerdings kein Produkt in dem Sinne, dass wir sie bewusst produziert oder erfunden hätten, wie einen Flugzeugmotor oder eine Uhr. Der Unterschied liegt darin, dass wir Flugzeugmotoren und Uhren verstehen, dass wir wissen, woher sie kommen. Wir können sie (beinahe) in ihre Einzelteile zerlegen und dann wieder zusammensetzen, wir wissen, wie sie loslaufen und wie sie stehen bleiben.Bei der Ökonomie ist das anders. Dort ist sehr, sehr vieles unbewusst entstanden, spontan, unkontrolliert, ungeplant, nicht unter dem Taktstock eines Dirigenten. Bevor sie ein eigenständiges Gebiet wurde, lebte die Ökonomie ganz zufrieden im Schoße der Philosophie (beispielsweise der Ethik); damals war sie himmelweit vom heutigen Konzept einer mathematisch-allokativen Wissenschaft entfernt, die auf die »weichen«, nicht exakten Wissenschaften mit einer Verachtung hinunterblickt, die auf positivistischer Arroganz beruht. Unsere tausendjährige »Bildung« steht jedoch auf einem tieferen, breiteren und oft auch festeren Fundament. Es lohnt sich, zu wissen, wie dieses Fundament aussieht.

Mythen, Geschichten und die stolze Wissenschaft

Es wäre töricht, anzunehmen, dass die ökonomischen Untersuchungen erst mit dem Zeitalter der Wissenschaft begannen. Zuerst erklärten Mythen und Religionen den Menschen die Welt, die im Grunde die gleichen Fragen stellten wie wir heute; inzwischen hat die Wissenschaft diese Rolle übernommen. Um diese Verbindung sehen zu können, müssen wir uns also mit den Mythen und der Philosophie lange zurückliegender Zeiten beschäftigen. Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben: um in alten Mythen nach ökonomischen Gedanken zu suchen und auch umgekehrt nach Mythen in der heutigen Ökonomie.

Als Geburtsstunde der modernen Ökonomie gilt die Veröffentlichung von Adam Smiths Wohlstand der Nationen im Jahre 1776. Unser postmodernes Zeitalter (das erheblich bescheidener zu sein scheint als sein Vorgänger, das Zeitalter der modernen Wissenschaft [3]) blickt aber weiter zurück und ist sich der Kraft der Geschichte (Pfadabhängigkeit), Mythologie, Religion und der Sagen und Märchen bewusst. »Die Trennung zwischen der Geschichte einer Wissenschaft, ihrer Philosophie und der Wissenschaft selber löst sich in nichts auf, desgleichen der Unterschied zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft.«1 Deshalb werden wir am frühesten Zeitpunkt beginnen, der angesichts des schriftlichen Erbes unserer Zivilisation möglich ist. Wir werden im Epos über den Sumererkönig Gilgamesch nach den ersten Spuren ökonomischer Untersuchungen forschen und uns damit befassen, wie die jüdischen, christlichen, klassischen und mittelalterlichen Denker ökonomische Fragen betrachteten, außerdem mit den Theorien, die die Grundlagen unserer heutigen Ökonomie gelegt haben.

Die Untersuchung der Geschichte eines bestimmten Gebiets ist nicht, wie allgemein angenommen, ein nutzloses Aufzeigen seiner Sackgassen oder eine Ansammlung seiner Trials and Errors (die erst wir richtiggestellt haben) – sie bietet uns vielmehr den tiefstmöglichen Einblick in das betreffende Gebiet. Außerhalb unserer Geschichte gibt es sonst nichts. Die Ideengeschichte hilft uns dabei, uns von der intellektuellen Gehirnwäsche unseres eigenen Zeitalters zu befreien, durch die geistige Mode des Tages zu blicken und ein paar Schritte zurückzutreten.

Wir befassen uns nicht nur mit alten Geschichten, damit die Historiker beschäftigt sind – wir wollen auch verstehen, wie unsere Vorfahren dachten. Diese Geschichten haben eine ganz eigene Kraft, selbst wenn neue Geschichten auftauchen und sie verdrängen oder ihnen widersprechen. Ein gutes Beispiel ist der berühmteste Disput der Historie, zwischen der Geschichte des Geozentrismus und der des Heliozentrismus. Wie jeder weiß, gewann bei diesem Kampf die heliozentrische Geschichte, doch wir sagen bis heute geozentrisch, dass die Sonne auf- und untergeht. Das tut sie aber keineswegs – wenn überhaupt, geht unsere Erde auf (über der Sonne), nicht die Sonne (über der Erde). Die Sonne dreht sich nicht um die Erde, sondern es ist umgekehrt – sagt man uns.

Die alten Geschichten, Bilder und Archetypen, die uns im ersten Teil des Buchs beschäftigen werden, begleiten uns zudem noch heute und haben unsere Weltsicht und unsere Wahrnehmung von uns selbst miterschaffen. C. G. Jung hat das so ausgedrückt: »Die wahre Geschichte des Geistes ist nicht in gelehrten Büchern aufbewahrt, sondern in dem lebenden seelischen Organismus jedes Einzelnen.«2

Der Wunsch, andere zu überzeugen

Die Ökonomen sollten an die Kraft der Geschichten glauben. Adam Smith tat das. In Theorie der ethischen Gefühle schreibt er: »Der Wunsch, daß man uns Glauben schenken möge, der Wunsch, andere Leute zu überzeugen, zu führen und zu leiten, scheint eine der stärksten von allen natürlichen Begierden zu sein.«3 Dieser Satz stammt von dem vermeintlichen Vater des Konzepts, dass das Eigeninteresse die stärkste natürliche Begierde ist! Zwei andere große Ökonomen, Robert J. Shiller und George A. Akerlof, bemerkten vor Kurzem: »Menschliches Denken spielt sich in Form von Geschichten ab … Menschliche Motivation wiederum basiert zum großen Teil auf der Erfahrung der eigenen Lebensgeschichte, einer Geschichte, die wir durchleben und die wir uns selbst erzählen. Sie ist es, die den Rahmen für das schafft, was uns antreibt. Das Leben wäre womöglich nichts weiter als ›eine Aneinanderreihung von Belanglosigkeiten‹, gäbe es da nicht diese Geschichten. Dasselbe gilt für die geistige Verfassung einer Nation, eines Unternehmens oder einer sonstigen Institution. Große Führungsfiguren sind zuallererst Erzähler von Geschichten.«4

Ursprünglich lautet das Zitat: »Das Leben ist keine Aneinanderreihung von Belanglosigkeiten. Es ist eine einzige, ständig wiederkehrende Belanglosigkeit.«5 Das ist gut ausgedrückt; unsere Mythen (unsere großen Geschichten und Erzählungen) sind »hier und jetzt Offenbarungen dessen, was immer und ewig besteht«6. Mit Sallusts Worten: Mythen sind das, »was nie geschah, aber immer ist«7. Unsere modernen, auf strikten Modellen basierenden ökonomischen Theorien sind nichts anderes als Nacherzählungen dieser Metageschichten in einer anderen (mathematischen?) Sprache. Daher müssen wir die Geschichte von Anfang an kennen – wer nur Ökonom ist, wird nämlich nie ein guter Ökonom sein. [4]

Wenn wir Ökonomen wirklich alles verstehen wollen, müssen wir uns aus unserem Gebiet herauswagen. Sollte es auch nur zum Teil stimmen, dass »das Heil jetzt in der Beendigung des materiellen Mangels liegt, dass die Menschheit in ein neues Zeitalter des wirtschaftlichen Überflusses geführt werden musste und dass daraus logisch folgte, dass die neuen Hohen Priester die Ökonomen sein mussten«8, müssen wir uns dieser entscheidenden Rolle bewusst sein und eine umfassendere gesellschaftliche Verantwortung übernehmen.

Die Ökonomie von Gut und Böse

Letztlich geht es bei der gesamten Ökonomie um das Gute und das Böse oder Schlechte – Menschen erzählen anderen Menschen Geschichten über Menschen. Selbst die ausgefeiltesten mathematischen Modelle sind in Wirklichkeit Geschichten, Gleichnisse, ein Bemühen, die Welt um uns herum (rational) zu begreifen. Ich möchte zeigen, dass es bei der über ökonomische Mechanismen erzählten Geschichte bis heute im Wesentlichen um ein »gutes Leben« geht und dass sie aus den Traditionen der alten Griechen und der Hebräer stammt. Dass die Mathematik, die Modelle, Gleichungen und Statistiken nur die Spitze des ökonomischen Eisbergs sind, der zum größten Teil aus allem anderen besteht. Und dass die Dispute in der Ökonomie eigentlich primär ein Kampf der Geschichten und der verschiedenen Metaerzählungen sind. Die Menschen haben von den Ökonomen schon immer vor allem wissen wollen, was gut und was böse oder schlecht ist, und das ist bis heute so geblieben.

Man bringt uns Ökonomen bei, keine normativen Urteile darüber abzugeben, was gut und was böse oder schlecht ist. Doch die Ökonomie ist, im Gegensatz zu dem, was in den Lehrbüchern steht, überwiegend ein normatives Gebiet. Sie beschreibt die Welt nicht nur, sondern befasst sich auch häufig damit, wie die Welt sein sollte (sie sollte effektiv sein, den Idealen eines perfekten Wettbewerbs und eines hohen BIP-Wachstums bei niedriger Inflation entsprechen, wir sollten uns bemühen, große Konkurrenzkämpfe zu vermeiden …). Zu diesem Zweck entwickeln wir Modelle, moderne Gleichnisse, doch diese (oft absichtlich) unrealistischen Modelle haben mit der realen Welt kaum etwas zu tun. Ein Beispiel aus dem Alltag: Wenn ein Ökonom im Fernsehen eine scheinbar harmlose Frage zum Inflationsgrad beantwortet, wird er umgehend mit einer weiteren Frage konfrontiert (häufig wird er sie sogar selbst stellen): Ist das Ausmaß der Inflation gut oder schlecht, sollte die Inflation höher oder niedriger sein? Selbst bei so technischen Fragen sprechen die Analysten sofort von »gut« und »schlecht« und geben normative Urteile ab: Sie sollte niedriger (oder höher) sein.

Trotzdem bemüht die Ökonomie sich geradezu panisch, Begriffe wie »gut« und »böse/schlecht« zu vermeiden. Das kann sie aber gar nicht. »Wenn die Ökonomie wirklich wertneutral wäre, würde man erwarten, dass ihre Vertreter ein vollständiges ökonomisches Denkgebäude errichtet hätten.«9 Das ist aber, wie wir gesehen haben, nicht der Fall. Meiner Ansicht nach ist das zwar gut, doch wir müssen zugeben, dass die Ökonomie letztlich eher eine normative Wissenschaft ist. Laut Milton Friedman (Essays in Positive Economics) sollte die Ökonomie eine positive Wissenschaft sein, sie sollte wertneutral sein und die Welt so beschreiben, wie sie ist, nicht so, wie sie sein sollte. Dass die Ökonomie »eine positive Wissenschaft sein sollte«, ist aber schon eine normative Aussage. Sie beschreibt die Welt ja nicht, wie sie ist, sondern so, wie sie sein sollte. Im wirklichen Leben ist die Ökonomie keine positive Wissenschaft. Wäre sie das, müssten wir uns nicht bemühen, sie dazu zu machen. »Natürlich verwenden die meisten Wissenschaftler und viele Philosophen die positivistischen Grundsätze einfach dazu, lästigen Grundlagenfragen – das heißt der Metaphysik – aus dem Wege zu gehen …«10 Wertfrei zu sein ist übrigens schon ein Wert an sich, zumindest für die Ökonomen sogar ein großer. Es ist paradox, dass ein Gebiet, das sich vorwiegend mit Werten beschäftigt, wertfrei sein will. Und dass ein Gebiet, das an die unsichtbare Hand des Marktes glaubt, frei von Geheimnissen sein will.

In diesem Buch geht es um folgende Fragen: Gibt es eine Ökonomie von Gut und Böse? Zahlt es sich aus, gut zu sein, oder liegt das Gute außerhalb von jedem ökonomischen Kalkül? Ist die Selbstsucht dem Menschen angeboren? Kann man sie rechtfertigen, wenn sie zu etwas führt, was gut für die Gesellschaft ist? Wenn die Ökonomie mehr als ein mechanisch-allokatives, ökonometrisches Modell ohne tiefere Bedeutung (oder Anwendung) sein soll, muss sie sich solche Fragen stellen.

Vor Wörtern wie »gut« und »böse« oder »schlecht« brauchen wir uns übrigens nicht zu fürchten. Dass wir sie benutzen, heißt keineswegs, dass wir moralisieren. Wir haben alle eine internalisierte Ethik, nach der wir uns bei unserem Verhalten richten. Und einen Glauben (auch der Atheismus ist eine Religion). Bei der Ökonomie ist es auch nicht anders. John Maynard Keynes schreibt: »Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen. … Aber früher oder später sind es Ideen, und nicht erworbene Rechte, von denen die Gefahr kommt, sei es zum Guten oder zum Bösen.«11

Der Gegenstand dieses Buchs: Die Metaökonomie

Dieses Buch besteht aus zwei Teilen: Im ersten suchen wir in Mythen, der Religion, Theologie, Philosophie und Wissenschaft nach der Ökonomie. Im zweiten beschäftigen wir uns dann mit den Mythen, der Religion, Theologie, Philosophie und Wissenschaft in der Ökonomie.

Ich werde in unserer ganzen Geschichte nach Antworten suchen, von den Anfängen unserer Kultur bis zur derzeitigen Postmoderne. Das Ziel besteht nicht darin, jeden einzelnen Augenblick zu analysieren, der zu einer Änderung der ökonomischen Wahrnehmung der Welt bei den späteren Generationen (und bei unserer heutigen Generation) geführt hat. Es geht vielmehr um die Brüche bei der Entwicklung, teils in bestimmten historischen Epochen (wie dem Zeitalter von Gilgamesch, der Hebräer, der Christen usw.), teils im Zusammenhang mit bedeutenden Personen, die die Entwicklung des ökonomischen Verständnisses der Menschheit beeinflusst haben (Descartes, Mandeville, Smith, Hume, Mill …). Kurz gesagt: Ich möchte die Geschichte der Ökonomie erzählen – anders ausgedrückt: die Entwicklung des ökonomischen Ethos. Wir werden Fragen stellen, die vor dem Beginn jedes ökonomischen Denkens kommen müssen – philosophisch und in gewissem Maße auch historisch. Dieses Gebiet liegt ganz an der Grenze der Ökonomie, oft sogar jenseits von ihr. Wir können es (unter Rückgriff auf die Protosoziologie) als Protoökonomie bezeichnen, vielleicht auch noch eher als Metaökonomie (unter Rückgriff auf die Metaphysik). In diesem Sinne gilt: »Die Beschäftigung mit der Wirtschaftswissenschaft ist zu eingeschränkt und zu lückenhaft, als daß sie zu gültigen Erkenntnissen führen könnte, es sei denn, sie würde durch eine Beschäftigung mit Meta-Wirtschaftswissenschaft ergänzt und vervollständigt.«12 Die wichtigeren Elemente einer Kultur oder eines Forschungsgebiets wie der Ökonomie liegen in den Grundannahmen, von denen die Anhänger aller verschiedenen Systeme einer Epoche unbewusst ausgehen. Diese Annahmen erscheinen den Leuten so offensichtlich, dass sie gar nicht wissen, was sie annehmen – sie sind nämlich, wie der Philosoph Alfred North Whitehead in Abenteuer der Ideen bemerkt, noch nie auf die Idee gekommen, die Dinge anders zu betrachten.

Was tun wir denn genau? Und weshalb? Dürfen wir (ethisch gesehen) alles machen, was wir (technisch) machen können? Und was ist der Zweck der Ökonomie? Wofür nehmen wir die ganze Anstrengung auf uns? Was glauben wir wirklich, und woher stammen unsere (oft unbewussten) Überzeugungen? Wenn die Wissenschaft, wie Polanyi sagt, »ein System von Glaubensanschauungen ist, an die wir gebunden sind«, wie sehen diese Glaubensanschauungen dann aus?13 Da die Ökonomie heute ein ganz wichtiges Gebiet bei der Erklärung und Veränderung der Welt ist, sind das alles Fragen, die wir stellen müssen.

Wir wollen uns der Metaökonomie auf etwas postmoderne Weise philosophisch, historisch, anthropologisch, kulturell und psychologisch nähern. Dieses Buch will zeigen, wie sich die Wahrnehmung der ökonomischen Dimension des Menschen entwickelt hat. Die Schlüsselkonzepte, mit denen die Ökonomie bewusst und unbewusst operiert, haben fast alle eine lange Geschichte; ihre Wurzeln erstrecken sich überwiegend über den Bereich der Ökonomie und oft sogar ganz über den der Wissenschaft hinaus. Wir wollen jetzt die Anfänge der ökonomischen Glaubensanschauungen untersuchen, die Entstehung dieser Ideen und ihren Einfluss auf die Ökonomie.

Auf die Buntheit der Ökonomie

Die Mainstream-Ökonomen haben zu viele Farben der Ökonomie aufgegeben und sind zu stark vom schwarz-weißen Kult des Homo oeconomicus besessen, der die Fragen von Gut und Böse außer Acht lässt. Wir haben uns selbst blind gemacht, blind für die wichtigsten Triebkräfte der menschlichen Handlungen.

Doch aus unseren Mythen und Religionen, von unseren Philosophen und Dichtern können wir ebenso viel Weisheit lernen wie aus exakten, strikten mathematischen Modellen für das ökonomische Verhalten. Die Ökonomie sollte daher nach ihren eigenen Werten suchen, sie entdecken und über sie sprechen, auch wenn man uns gelehrt hat, sie sei eine wertfreie Wissenschaft. Meiner Meinung nach stimmt das nicht – es gibt in der Ökonomie mehr Religion, mehr Mythen und Archetypen als Mathematik. Heutzutage legt die Ökonomie zu viel Gewicht auf die Methode statt auf die Substanz. Wir wollen zu zeigen versuchen, dass es für die Ökonomen und auch für ein größeres Publikum ganz wichtig ist, aus einem breiten Spektrum von Quellen zu lernen, wie dem Gilgamesch-Epos, dem Alten und dem Neuen Testament und Descartes. Wir können die Spuren unserer Denkweise besser verstehen, wenn wir uns ihre historischen Anfänge ansehen, als die Gedanken noch »nackter« waren – dort können wir die Ursprünge und Quellen vieler Ideen leichter erkennen. Nur so können wir herausfinden, was unsere wesentlichen (ökonomischen) Glaubensanschauungen sind – im komplizierten Gewebe der heutigen Gesellschaft, in der sie noch immer sehr stark sind, aber unbemerkt bleiben.

Um ein guter Ökonom zu sein, muss man entweder ein guter Mathematiker oder ein guter Philosoph oder beides sein. Wir haben zu viel Gewicht auf das Mathematische gelegt und unser Menschsein vernachlässigt. Das hat zu schiefen, künstlichen Modellen geführt, die uns oft kaum dabei helfen, die Realität zu verstehen.

Die Beschäftigung mit der Metaökonomie ist wichtig. Wir müssen über die Ökonomie hinausgehen und untersuchen, welche Glaubensanschauungen es »hinter den Kulissen« gibt; diese Ideen sind nämlich häufig zu den vorherrschenden, aber unausgesprochenen Annahmen in unseren Theorien geworden. In der Ökonomie wimmelt es von Tautologien, deren die Ökonomen sich größtenteils nicht bewusst sind. Die nicht historische Betrachtungsweise, die heute in der Ökonomie dominiert, greift zu kurz. Für das Verständnis des menschlichen Verhaltens ist es wichtig, sich mit der historischen Entwicklung der Ideen, die uns prägen, zu befassen.

Dieses Buch ist ein Beitrag zu der schon lange anhaltenden Auseinandersetzung zwischen der normativen und der positiven Ökonomie. Wissenschaftliche Modelle haben jetzt die Rolle übernommen, die in den alten Zeiten die normativen Mythen und Gleichnisse spielten. Dagegen ist gar nichts einzuwenden, doch wir sollten es offen zugeben.

Die Menschheit schlug sich schon lange vor Adam Smith mit ökonomischen Fragen und Problemen herum. Mit ihm hat die Suche nach Werten in der Ökonomie nicht erst begonnen, sondern ihren Höhepunkt erreicht. Der moderne Mainstream, der behauptet, er sei aus der klassischen Smith-Ökonomie hervorgegangen, hat die Ethik vernachlässigt. In den klassischen Debatten war die Frage von Gut und Böse das vorherrschende Thema, doch heute gilt es schon fast als ketzerisch, überhaupt darüber zu sprechen. Die populäre Auslegung von Adam Smith versteht ihn nicht richtig, sein Beitrag zur Ökonomie ist viel umfassender und geht weit über das Konzept der unsichtbaren Hand des Marktes und die Geburt des egoistischen, ichzentrierten Homo oeconomicus (Smith selbst hat diesen Begriff nie verwendet) hinaus; sein einflussreichster Beitrag zur Ökonomie war ethischer Natur. Seine anderen Gedanken – zur Spezialisierung und zum Prinzip der unsichtbaren Hand des Marktes – waren schon lange vor ihm klar zum Ausdruck gebracht worden. Es wird sich zeigen, dass das Prinzip der unsichtbaren Hand viel älter ist und lange vor Smith entwickelt wurde. Bereits im Gilgamesch-Epos, im hebräischen Denken und im Christentum finden sich Spuren davon; Aristophanes und Thomas von Aquin formulierten es explizit.

Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, unsere ökonomische Einstellung zu überdenken, denn heute ist den Leuten das angesichts der Schuldenkrise wichtig, und sie sind bereit, zuzuhören. Uns stehen ausgefeilte mathematische Modelle zur Verfügung, doch wir haben die ökonomischen Lektionen aus den einfachsten Geschichten aus dem Kindergottesdienst nicht gelernt, beispielsweise aus der Geschichte von Josef und dem Pharao. Wir müssen unser allein auf das Wachstum ausgerichtetes Denken aufgeben. Die Ökonomie kann eine wirklich faszinierende Wissenschaft sein und ein breites Publikum ansprechen!

In gewisser Weise ist dieses Buch eine Studie zur Evolution des Homo oeconomicus und, was noch wichtiger ist, zur Geschichte seiner Animal Spirits. Es geht um die Entwicklung der rationalen wie der emotionalen, irrationalen Seite des Menschen.

Die Grenzen der Neugier

Da die Ökonomie es sich herausgenommen hat, ihr Denksystem auf Bereiche anzuwenden, die traditionell zur Theologie, Soziologie und Politologie gehörten, sollten wir einmal gegen den Strom schwimmen und die Ökonomie vom Standpunkt der Theologie, Soziologie und Politologie aus betrachten. Wenn die moderne Ökonomie es wagt, die Funktionsweise von Kirchen zu erklären und wirtschaftliche Analysen der familiären Bindungen durchzuführen (die oft durchaus neue, interessante Erkenntnisse bringen), können wir doch umgekehrt die theoretische Ökonomie so erforschen wie religiöse Systeme und die zwischenmenschlichen Beziehungen. Mit anderen Worten: Weshalb sollten wir nicht versuchen, die Ökonomie einmal anthropologisch zu betrachten?

Dazu müssen wir uns zunächst von der Ökonomie entfernen. Wir müssen uns ganz an ihre Grenzen vorwagen – oder, noch besser, über sie hinaus. Wir müssen Ludwig Wittgensteins Metapher des Auges aufgreifen, das zwar seine Umgebung beobachtet, aber nie sich selbst, um Objekte zu untersuchen (Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 5.6ff.). Es ist immer notwendig, aus ihm herauszutreten, und wenn das nicht möglich ist, wenigstens einen Spiegel zu benutzen. In diesem Buch werden anthropologische, mythische, religiöse, philosophische, soziologische und psychologische Spiegel verwendet – alles, was uns ein Spiegelbild liefert.

Hier sind zumindest zwei Apologien angebracht. Zum einen erhalten wir oft ein bruchstückhaftes, disparates Bild, wenn wir in allem um uns herum unser eigenes Spiegelbild sehen. Dieses Buch will kein allumfassendes System präsentieren (so ein System gibt es nämlich gar nicht). Es wird sich nur mit dem Erbe unserer westlichen Kultur befassen, nicht mit dem Islam, dem Konfuzianismus, Buddhismus, Hinduismus und den zahlreichen anderen Religionen und Lehren (obwohl wir dort mit Sicherheit viele anregende Ideen finden könnten). Zudem wird nicht die gesamte sumerische Literatur unser Thema sein. In dem Buch geht es um das hebräische und christliche ökonomische Denken, aber nicht um die antike und mittelalterliche Theologie in ihrer Gesamtheit. Ziel ist es, die wesentlichen Einflüsse und die revolutionären Konzepte herauszugreifen, aus denen der ökonomische Modus Vivendi unserer heutigen Zeit erwachsen ist. Eine so breit gefächerte und in gewisser Weise unzusammenhängende Vorgehensweise lässt sich durch eine Idee rechtfertigen, die Paul Feyerabend schon vor langer Zeit aufbrachte: »Anything goes.« [5] Wir können nie vorhersagen, aus welcher Quelle die Wissenschaft Inspiration für ihre weitere Entwicklung ziehen wird.

Die zweite Apologie betrifft die eventuelle Vereinfachung oder Verzerrung jener Bereiche, die mir wichtig erscheinen, obwohl sie zu ganz anderen Gebieten gehören. Heute verstecken die Wissenschaftler sich gern hinter einer Wand aus Elfenbein, die hier aus der Mathematik besteht, dort aus dem Lateinischen oder Griechischen, aus der Geschichte, aus Axiomen und anderen geheiligten Ritualen, und schaffen sich so ein unverdientes Refugium vor Kritikern aus anderen Gebieten und vor der Öffentlichkeit. Die Wissenschaft muss jedoch offen sein – sonst wird sie, wie Feyerabend ganz richtig schreibt, eine elitäre Religion für die Eingeweihten, die ihre totalitaristischen Scheinwerfer auf die Öffentlichkeit richtet. Um es mit den Worten von Jaroslav Vanek, einem amerikanischen Ökonomen tschechischer Abstammung, zu sagen: »Unglücklicher- oder vielleicht glücklicherweise ist die Neugier des Forschers nicht auf sein Arbeitsgebiet begrenzt.«14 Wenn dieses Buch dank der Verschmelzung der Ökonomie mit anderen Gebieten zu neuen Erkenntnissen anregt, hat es seine Raison d’être erfüllt.

Nicht die ganze Geschichte des ökonomischen Denkens ist Gegenstand des Buchs. Das Ziel besteht vielmehr darin, bestimmte Kapitel dieser Geschichte durch eine umfassendere Betrachtung und Analyse derjenigen Einflüsse zu ergänzen, die der Aufmerksamkeit der Ökonomen und der breiteren Öffentlichkeit oft entgehen.

Dieser Text enthält eine Vielzahl von Zitaten. So können die Leser sich selbst ein Bild von der authentischen Form der nützlichen Ideen ferner Zeiten machen. Wenn die alten Texte lediglich indirekt wiedergegeben würden, würden ihre Autorität und der damalige Zeitgeist schlicht verpuffen – und das wäre ein großer Verlust. Die Anmerkungen bieten dem Leser die Möglichkeit, sich intensiver mit den angesprochenen Problemen zu beschäftigen.

Zum Inhalt: Sieben Epochen, sieben Themen

Dieses Buch gliedert sich in zwei Teile. Der erste folgt einem roten Faden durch die Geschichte; es geht dort um sieben Themen, die im zweiten Teil dann zusammengefasst werden. Der zweite Teil ist also thematisch aufgebaut, dort fahren wir die Ernte der historischen Themen ein und integrieren sie. In dieser Hinsicht ähnelt das Buch einer Matrix – man kann es historisch oder thematisch verfolgen, aber auch historisch und thematisch. Hier ein Überblick über die sieben Themen:

Die Gier nach immer mehr: Die Geschichte des Konsums und der Arbeit

Hier beginnen wir bei den ältesten Mythen, in denen die Arbeit als ursprüngliche Berufung des Menschen behandelt wird, als etwas, was Freude macht, später (aufgrund unserer Unersättlichkeit) jedoch zu einem Fluch wird. Gott oder die Götter verfluchen die Arbeit (Genesis, griechische Mythen) oder zumindest zu viel Arbeit (Gilgamesch). Wir werden die Geburt des Begehrens, der Ansprüche und der Nachfrage analysieren. Danach geht es zu dem Asketismus in verschiedenen Konzepten. Später herrschte die augustinische Verachtung für diese Welt vor; mit Thomas von Aquin schwang das Pendel dann in die Gegenrichtung, man ließ der materiellen Welt nun Aufmerksamkeit und Pflege zuteilwerden. Bis dahin hatte die Sorge für die Seele an erster Stelle gestanden, die Begierden und Bedürfnisse des Körpers und der Welt waren an den Rand gedrängt worden. Später schlug das Pendel erneut in die entgegengesetzte Richtung aus, zum individualistischen, utilitaristischen Konsum. Der Mensch wurde jedoch von den Anfängen an als von Natur aus unnatürliches Wesen betrachtet, das sich aus eigenen Gründen mit äußeren Besitztümern umgibt. Die materielle wie spirituelle Unersättlichkeit ist ein fundamentales Metacharakteristikum des Menschen – wir begegnen ihr bereits in den ältesten Mythen und Geschichten.

Der Fortschritt (Natürlichkeit und Zivilisation)

Heute sind wir von der Idee des Fortschritts berauscht, doch ganz am Anfang existierte sie gar nicht. Die Zeit war zyklisch, von der Menschheit wurde keine historische Bewegung erwartet. Das Ideal, dem wir uns heute verschrieben haben, geht auf die Hebräer mit ihrem linearen Zeitverständnis und die spätere Erweiterung durch die Christen zurück. Die klassischen Ökonomen säkularisierten den Fortschritt dann. Wie sind wir zum heutigen Fortschritt beim Fortschritt und zum Wachstum um des Wachstums willen gelangt?

Die Ökonomie von Gut und Böse

Hier geht es um einen ganz wichtigen Punkt: Zahlt gutes Verhalten sich (ökonomisch) aus? Am Anfang wird das Gilgamesch-Epos stehen, wo es keinen Zusammenhang zur Moralität von Gut und Böse zu geben scheint. Später, bei den Hebräern, galt die Ethik jedoch als Erklärungsfaktor der Geschichte. Die alten Stoiker erlaubten es nicht, den Ertrag des Guten zu berechnen, die Hedonisten hingegen waren überzeugt, dass alles, was vorteilhafte Ergebnisse brachte, grundsätzlich gut war. Das christliche Denken brach die klare Kausalität bei Gut und Böse durch die göttliche Gnade auf und verlegte den Lohn für Gutes und Böses in das Leben nach dem Tod. Dieses Thema erreichte mit Mandeville und Adam Smith seinen Höhepunkt, in dem heute berühmten Disput über die privaten Laster, die öffentliche Vorteile erzeugen. John Stuart Mill und Jeremy Bentham bauten ihren Utilitarismus später ebenfalls auf einem hedonistischen Prinzip auf. Die gesamte Geschichte der Ethik wurde von dem Bemühen bestimmt, eine Formel für die ethischen Verhaltensregeln zu finden. Ich werde die Tautologie von MaxU (der Maximierung des Nutzens) aufzeigen und über das Konzept von MaxG (der Maximierung des Guten) sprechen.

Die Geschichte der unsichtbaren Hand des Marktes und des Homo oeconomicus

Wie alt ist die Idee der unsichtbaren Hand des Marktes? Wie lange existierte dieses Konzept schon, als Adam Smith die Bühne betrat? Fast überall sind Vorläufer der unsichtbaren Hand des Marktes zu finden. Dass wir unseren natürlichen Egoismus nutzen können und dieses Schlechte für etwas gut ist, ist ein altes philosophisches und mythisches Konzept. Wir werden uns auch mit der Entwicklung des Ethos des Homo oeconomicus befassen, mit der Geburt des »wirtschaftlichen Menschen«.

Die Geschichte der Animal Spirits: Der Traum schläft nie

Hier werden wir die andere Seite des Menschen untersuchen – die unvorhersehbare, oft arationale und archetypische. Unsere Animal Spirits (als Gegenstück zur Rationalität) werden durch den Archetypus des Heros und unser Konzept vom Guten beeinflusst.

Metamathematik

Woher stammt das Konzept der Ökonomen, dass die Zahlen die Grundlage der Welt bilden? Wie und weshalb hat sich die Ökonomie zu einem mechanistisch-allokativen Gebiet entwickelt? Weshalb glauben wir, dass die Welt (selbst die Welt der sozialen Interaktionen) sich am besten durch die Mathematik beschreiben lässt? Bildet die Mathematik den Kern der Ökonomie oder nur die Spitze des Eisbergs der ökonomischen Untersuchungen?

Wer kennt die Wahrheit?

Woran glauben die Ökonomen? Wie sieht ihre Religion aus? Und was ist das Wesen der Wahrheit? Wir bemühen uns schon seit der Zeit Platons, die Wissenschaft von den Mythen zu befreien. Ist die Ökonomie ein normatives Gebiet oder eine positive Wissenschaft? Die Wahrheit war ursprünglich die Domäne der Gedichte und Geschichten, doch heute begreifen wir sie als etwas viel Wissenschaftlicheres, Mathematischeres. Wo können wir die Wahrheit bekommen? Wer ist in unserer Epoche »im Besitz« der Wahrheit?

Praktische Aspekte und Definitionen

Wenn es in diesem Buch um die Ökonomie geht, ist ihre Wahrnehmung im Mainstream gemeint, die vielleicht am besten durch Paul Samuelson repräsentiert wird. Unter dem Homo oeconomicus wollen wir das Grundkonzept der ökonomischen Anthropologie verstehen. Es ergibt sich aus der Vorstellung vom rationalen Individuum, das aus ganz egoistischen Motiven heraus danach strebt, seinen Nutzen zu maximieren. Die Frage, ob die Ökonomie überhaupt eine Wissenschaft ist, soll uns hier nicht beschäftigen. Obwohl ich sie hin und wieder als Sozialwissenschaft bezeichnen werde, meine ich damit oft nur das Gebiet der Ökonomie. Doch die »Ökonomie« umfasst mehr als nur die Produktion, die Zuteilung und den Konsum von Gütern und Dienstleistungen – sie erforscht die menschlichen Beziehungen, die sich manchmal in Zahlen ausdrücken lassen, sie befasst sich mit handelsfähigen Gütern, aber auch mit nicht handelsfähigen (Freundschaft, Freiheit, Effizienz, Wachstum).

Ich habe in meinem Leben drei wichtige Erfahrungen machen dürfen. Ich habe viele Jahre lang in der akademischen Welt gearbeitet, theoretische Ökonomie studiert, erforscht und gelehrt und mich mit metaökonomischen Problemen beschäftigt. Außerdem war ich lange wirtschaftspolitischer Berater unseres früheren tschechischen Staatspräsidenten Václav Havel, unseres Finanzministers und schließlich auch unseres Premierministers (im Hinblick auf die praktischen Anwendungen der Volkswirtschaftslehre). Zudem schreibe ich mit Vergnügen regelmäßig Kolumnen für unsere führende Wirtschaftstageszeitung, in denen ich praktische und philosophische Aspekte der Ökonomie für ein breites Publikum aufbereite. Das hat mich die Grenzen und Vorteile der verschiedenen Seiten der Ökonomie erkennen lassen. Diese drei Facetten (Was ist der Sinn der Ökonomie? Wie können wir sie praktisch nutzen? Wie können wir auf verständliche Weise Verbindungen zu anderen Gebieten herstellen?) haben mich schon immer beschäftigt. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis.

TEIL I ÖKONOMIE IN FRÜHEREN ZEITEN

1 DAS GILGAMESCH-EPOS

ÜBER EFFEKTIVITÄT, UNSTERBLICHKEIT UND DIE ÖKONOMIE DER FREUNDSCHAFT

O Gilgamesch, wohin (noch) willst du laufen? Das Leben, das du suchst, wirst nicht du finden! … Ergötze dich bei Tage und bei Nacht, Bereite täglich dir ein Freudenfest Mit Tanz und Spiel bei Tage und bei Nacht!

Gilgamesch-Epos

Das Gilgamesch-Epos ist über 4000 Jahre alt [6] und das älteste erhaltene literarische Werk der Menschheit. Die frühesten schriftlichen Zeugnisse kommen aus Mesopotamien, ebenso wie die ältesten menschlichen Relikte. Das gilt nicht nur für unsere Zivilisation, sondern für die gesamte Menschheit. [7] Das Epos war Inspiration für zahlreiche Geschichten, die ihm folgten und die Mythologie bis zum heutigen Tag in mehr oder weniger stark geänderter Form beherrschen, ob es nun um das Flutmotiv oder um das Streben nach Unsterblichkeit geht. Doch schon in diesem ältesten Werk, das die Menschheit kennt, spielen Fragen eine wichtige Rolle, die wir heute als ökonomisch betrachten. Wenn wir uns die Geschichte des wirtschaftlichen Denkens ansehen wollen, müssen wir beim Gilgamesch-Epos anfangen – es ist der Punkt, an dem alles begann.

Aus der Periode vor dem Gilgamesch-Epos gibt es nur wenige archäologische Funde; von den schriftlichen Zeugnissen, die sich überwiegend mit der Wirtschaft, der Diplomatie, dem Krieg, der Magie und der Religion befassten, sind nur Fragmente erhalten geblieben.1 Der Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson weist (etwas zynisch) darauf hin, dass sie »belegen, dass die Menschen nicht als Geschichtsschreiber, Dichter oder Philosophen begannen, ihre Tätigkeiten festzuhalten, sondern als Geschäftsleute«.2 Das Gilgamesch-Epos ist jedoch ein Beweis für das Gegenteil – auch wenn es bei den ersten schriftlichen Tonfragmenten (wie Aufzeichnungen und Buchführung) um Geschäfte und Kriege ging, geht es bei der ersten schriftlich festgehaltenen Geschichte vor allem um eine große Freundschaft und um Abenteuer. Überraschenderweise ist dort weder von Geld noch von Kriegen die Rede; nirgendwo im ganzen Epos wird irgendetwas ge- oder verkauft. [8] Kein Volk unterwirft ein anderes, es wird nicht einmal die Androhung von Gewalt erwähnt. Das Epos erzählt eine Geschichte von der Natur und der Zivilisation, von Heldentum, Auflehnung und dem Kampf gegen die Götter und das Böse, von Weisheit, Unsterblichkeit und auch Vergeblichkeit.

Obwohl das Gilgamesch-Epos von so großer Bedeutung ist, scheint es der Aufmerksamkeit der Ökonomen völlig entgangen zu sein. Es gibt keine Wirtschaftsliteratur zu ihm. Dabei stoßen wir dort auf die allererste ökonomische Betrachtung unserer Zivilisation, auf den Beginn so bekannter Konzepte wie der Markt mit seiner unsichtbaren Hand, das Problem der Nutzung des Reichtums der Natur und die Bemühungen, die Effektivität zu maximieren. Im Hinblick auf die Rolle der Gefühle, den Begriff »Fortschritt« und den Naturzustand oder das Thema der umfassenden Arbeitsteilung im Zusammenhang mit der Entstehung der ersten Städte zeichnet sich hier ein Dilemma ab. Dies ist der erste Versuch, das Gilgamesch-Epos von einem ökonomischen Standpunkt aus zu verstehen.

Zunächst möchte ich das Geschehen im Gilgamesch-Epos kurz zusammenfassen (ich werde es dann noch ausführlicher besprechen). Gilgamesch, Herrscher über die Stadt Uruk, ist ein übermenschlicher Halbgott: »Zwei Drittel an ihm sind Gott, doch sein (drittes) Drittel, das ist Mensch.«3 Das Epos beginnt mit der Beschreibung einer vollkommenen, beeindruckenden und unsterblichen Mauer um die Stadt, die Gilgamesch gerade erbaut. Um ihn für die unbarmherzige Behandlung seiner Arbeiter und Untertanen zu bestrafen, rufen die Götter den Wilden Enkidu dazu auf, ihn aufzuhalten. Die beiden werden jedoch Freunde, ein unbesiegbares Paar, und vollbringen gemeinsam Heldentaten. Später stirbt Enkidu, und Gilgamesch macht sich auf die Suche nach Unsterblichkeit. Er überwindet zahlreiche Hindernisse und entgeht vielen Fallen, doch die Unsterblichkeit entzieht sich ihm, wenn auch nur um Haaresbreite. Am Ende kehrt die Geschichte dorthin zurück, wo das Epos begonnen hat – zu dem Loblied auf die Stadtmauer von Uruk.

Unproduktive Liebe

Gilgameschs Vorhaben, eine Mauer wie keine andere zu bauen, ist der zentrale Aspekt der ganzen Geschichte. Gilgamesch versucht, die Leistung und Effektivität seiner Untertanen um jeden Preis zu steigern, er verbietet ihnen sogar den Kontakt zu ihren Frauen und Kindern. Daher beklagen sie sich bei den Göttern:

Nicht läßt zum Vater Gilgamesch den Sohn, rast ohne Maß bei Tage und bei Nacht! … Nicht läßt zum Liebsten Gilgamesch das Mädchen, Des Helden Tochter und des Edlen Wahl!4

Das steht in direktem Zusammenhang mit der Entstehung der Stadt als einem Ort, der das Land in der Umgebung überwacht und lenkt. »Die dörflichen Nachbarn hielt man sich jetzt fern. Sie waren nicht mehr vertraut und gleichgestellt, sondern wurden zu Untertanen, deren Leben von militärischen und zivilen Amtsträgern überwacht und gelenkt wurde; alle diese Gouverneure, Wesire, Steuereinnehmer und Soldaten waren dem König unmittelbar Rechenschaft schuldig.«5

Ein so fernes und doch so nahes Prinzip … Noch heute leben wir in Gilgameschs Vision, dass die menschlichen Beziehungen – und damit auch die Menschheit selbst – einen Störfaktor bei der Arbeit und der Effizienz bilden, dass die Leute bessere Leistungen erbringen würden, wenn sie ihre Zeit und Energie nicht auf nicht produktive Dinge »verschwenden« würden. Noch heute betrachten wir die Domäne des Menschseins (menschliche Beziehungen, Liebe, Freundschaft, Schönheit, Kunst usw.) oft als unproduktiv, vielleicht mit Ausnahme der Reproduktion (Fortpflanzung), die allein (buchstäblich!) produktiv (reproduktiv) ist.

Das Bemühen, die Effektivität um jeden Preis zu maximieren, diese Stärkung des Ökonomischen auf Kosten des Menschlichen, reduziert die Menschen in der ganzen Breite ihres Menschseins zu einem bloßen Produktionsfaktor. Das schöne, aus dem Tschechischen stammende Wort »Roboter« [9] bringt das wunderbar zum Ausdruck: Es geht auf das alte tschechische und slawische Wort »robota« zurück, das »Arbeit« bedeutet. Jemand, der darauf reduziert wird, dass er nur ein Arbeiter ist, ist ein Roboter. Das Epos wäre Karl Marx sehr gut zupassgekommen, er hätte es leicht als prähistorisches Beispiel für die Ausbeutung und die Entfremdung des Einzelnen von seiner Familie und sich selbst benutzen können.

Über zu Robotern reduzierte Menschen zu herrschen ist schon seit ewigen Zeiten der Traum aller Tyrannen. Alle despotischen Herrscher sehen in den familiären Beziehungen und den Freundschaften eine Beeinträchtigung der Effektivität. Das Bemühen, die Personen auf Produktions- und Konsumfaktoren zu reduzieren, lässt sich auch bei gesellschaftlichen Utopien (besser gesagt: Dystopien) beobachten. Die Wirtschaft an sich braucht nämlich nichts weiter als menschliche Roboter; das hat sich schön – wenn auch schmerzhaft – beim Modell des Homo oeconomicus gezeigt, der ein reiner Produktions- und Konsumfaktor ist. [10] Einige Beispiele für Utopien oder Dystopien dieser Art: Platon erlaubt in seiner Vision vom idealen Staat nicht, dass die Familien der Wächter ihre Kinder selbst aufziehen – sie müssen sie gleich nach der Geburt einer dafür bestimmten Institution übergeben. Das ähnelt den Dystopien in Aldous Huxleys Schöne neue Welt und George Orwells 1984. In beiden Romanen sind die menschlichen Beziehungen und Gefühle (überhaupt alle Formen des Persönlichkeitsausdrucks) verboten und werden streng bestraft. Liebe ist »unnötig« und unproduktiv, Freundschaft ebenfalls; beide können für totalitäre Systeme gefährlich sein (in 1984 sieht man das sehr gut). Freundschaft ist unnötig, weil der Einzelne und die Gesellschaft ohne sie leben können.6 C. S. Lewis schreibt: »Freundschaft ist unnötig, wie die Philosophie, wie die Kunst … Sie besitzt keinen Wert für den Lebenskampf; aber sie gehört zu jenen Dingen, die das Leben lebenswert machen.«

Die heutige Mainstream-Ökonomie kommt diesem Konzept größtenteils recht nahe. Modelle der neoklassischen Ökonomie begreifen die Arbeit als Input für eine Produktionsfunktion. Ökonomien dieser Art wissen jedoch nicht, wie sie das Menschsein (und damit die Menschen!) integrieren sollen – menschliche Roboter würden aber wunderbar in ihr System passen. Joseph Stiglitz schreibt:

Zu den großen »Tricks« (manche sagen: »Erkenntnissen«) der neoklassischen Ökonomie gehört, dass die Arbeit behandelt wird, als wäre sie lediglich ein weiterer Produktionsfaktor. Der Output wird als Funktion des Inputs geschrieben – Stahl, Maschinen und Arbeit. Die Mathematik behandelt die Arbeit wie alle anderen Güter und verführt uns dazu, sie so zu betrachten wie Stahl oder Kunststoffe. Die Arbeit unterscheidet sich jedoch von allen anderen Gütern. Beim Stahl spielt das Arbeitsumfeld keine Rolle – das Wohl des Stahls interessiert uns nicht.7

Lasst uns die Zedern fällen!

Es gibt jedoch etwas, was oft mit Freundschaft verwechselt wird und was die Gesellschaft und die Wirtschaft dringend brauchen. Schon die frühesten Kulturen waren sich bewusst, wie wichtig Kooperation bei der Arbeit ist – heute bezeichnen wir das als Kollegialität, Gemeinschaftsgeist oder, um einen entheiligten Begriff zu benutzen, Kameradschaft. Diese »schwächeren Beziehungen« sind für die Gesellschaft und die Unternehmen nützlich, weil die Arbeit viel schneller und effektiver erledigt werden kann, wenn die Leute auf der menschlichen Ebene gut miteinander auskommen. Teamarbeit verspricht bessere Leistungen; mit dem Aufbau von Teams beauftragt man Firmen, die sich darauf spezialisiert haben. [11]

Wahre Freundschaft, eines der zentralen Themen im Gilgamesch-Epos, ist jedoch aus einem ganz anderen Stoff als Teamarbeit. Freundschaft ist, wie C. S. Lewis ganz richtig schreibt, völlig unwirtschaftlich, unbiologisch, für die Zivilisation unnötig und eine Beziehung, die nicht erforderlich ist (im Gegensatz zu sexuellen Beziehungen und der Mutterliebe, die von einem rein reproduktiven Standpunkt aus gesehen notwendig sind).8 Doch sie ist die Beziehung, in der – oft als Nebenprodukt, als äußerer Aspekt – häufig Ideen erschaffen und Taten vollbracht werden, die das Gesicht der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit völlig verändern können.9 Freundschaft kann ein tief verwurzeltes System überwinden, wo der Einzelne das nicht wagt, weil ihm der Mut dazu fehlt.

Anfangs hält Gilgamesch Freundschaft für unnötig und unproduktiv. Doch dann erlebt er sie mit Enkidu und entdeckt, dass sie unerwartete Dinge bringt. Das ist ein wunderbares Beispiel für die Kraft der Freundschaft, die Systeme von Grund auf verändern (oder niederreißen) und Menschen verwandeln kann. Enkidu, den die Götter Gilgamesch eigentlich als Strafe geschickt haben, wird schließlich sein treuer Freund. Die beiden ziehen dann gemeinsam gegen die Götter. Allein hätte Gilgamesch nie und nimmer den Mut dazu aufgebracht – und Enkidu auch nicht. Ihre Freundschaft hilft ihnen, in Situationen zu bestehen, in denen auf sich gestellt keiner von ihnen Erfolg gehabt hätte. In mythischen Dramen gibt es oft ein starkes Band der Freundschaft. Die Theologen Balabán und Tydlitátová beschreiben das so: »Freunde haben vor dem Kampf Angst und spornen sich gegenseitig an, sie suchen Trost in ihren Träumen und sind angesichts der Unwiderruflichkeit des Todes betroffen.«10

Durch die Bande der Freundschaft und des gemeinsamen Vorhabens gefesselt, vergisst Gilgamesch, dass er ja eigentlich eine schützende Mauer errichten will (damit gibt er sein bis dahin größtes Ziel auf). Er verlässt die Stadt, die Sicherheit ihrer Mauern, seine Zivilisation, das ihm bekannte Terrain (das er selbst erbaut hat). Er geht in die Wildnis des Waldes und will dort die richtige Weltordnung wiederherstellen – er will Chuwawa töten, das personifizierte Böse.

 [Im Wald haust] der gewaltige Chuwawa,  [Laß uns gemeinsam, du und ich, ihn] töten  [Und aus dem Lande alles Böse] tilgen! … Und sterb’ ich, schuf ich doch mir einen Namen: »Gefalln ist Gilgamesch«, so sagt man dann, »Im Kampfe mit dem schrecklichen Chuwawa«!11

Wir wollen uns einen Augenblick mit der Abholzung der Zedern beschäftigen. Holz war im alten Mesopotamien ein gefragtes und wertvolles Gut. Es war allerdings sehr gefährlich, sich dieses Holz zu verschaffen, das konnte nur den Mutigsten gelingen. Die mit solchen Vorhaben verbundene Gefahr wird im Epos durch die Anwesenheit von Chuwawa im Wald symbolisiert. »Chuwawa war der Wächter des Zedernwaldes, von Enlil hingesetzt, um eventuelle Holzdiebe abzuschrecken.«12 Gilgameschs Mut wird durch seine Absicht betont, den Zedernwald abzuholzen (und dadurch großen Reichtum zu erlangen, was das Recht des Helden ist).

Zudem galt die Zeder als heiliger Baum, Zedernwälder waren die heilige Stätte des Gottes Schamasch. Dank ihrer Freundschaft beschließen Gilgamesch und Enkidu dann, den Göttern zu trotzen und die heiligen Bäume in bloßes (Bau-)Material zu verwandeln. Sie wollen es zu einem Teil des Stadtkonzepts machen, des Baumaterials der Zivilisation, und das »versklaven«, was ursprünglich ein Element der wilden Natur war. Das ist ein wundervolles Protobeispiel für die Verschiebung der Grenzen zwischen dem Heiligen und dem Profanen (Weltlichen) – und in gewissem Maße auch eine frühe Illustration der Idee, dass die Natur existiert, um den Städten und Menschen Rohstoffe und Produktionsmittel zu liefern. [12] »Die Abholzung von Zedern galt gewöhnlich als ›kultureller Erfolg‹, da es in Uruk kein Bauholz gab. Gilgamesch soll dieses wertvolle Material für seine Stadt so beschafft haben. Das kann man auch als Vorzeichen für unsere ›kulturellen Erfolge‹ betrachten, bei denen lebendige Dinge, nicht nur Bäume, zu Rohstoffen, Versorgungsmaterial, Gütern gemacht werden. … Die Verwandlung eines kosmischen Baums in Baumaterial ist ein Beispiel, das Gilgamesch uns gibt, und wir eifern ihm fieberhaft nach.«13

Hier werden wir Zeugen einer wichtigen geschichtlichen Veränderung: Die Menschen fühlen sich in einer unnatürlichen Umgebung, in der Stadt, natürlicher. Für die Menschen im Zweistromland war die Stadt das Habitat, für die Hebräer hingegen (wie wir später sehen werden) noch immer die Natur, da sie ursprünglich eher Nomaden waren. Es begann mit den Babyloniern: Die ländliche Natur verkam zum Lieferanten von Rohstoffen und Ressourcen (und der Mensch wurde zur Quelle der Human Resources). Die Natur ist nicht mehr der Garten, in dem der Mensch erschaffen und in den er gesetzt wurde, um den er sich kümmern und in dem er wohnen sollte, sondern nur noch ein Reservoir natürlicher Ressourcen.

Laut dem Teil des Epos, in dem der Zug von Gilgamesch und Enkidu gegen Chuwawa beschrieben wird, hat Gilgameschs Ruhm noch einen anderen Grund: Legenden zufolge war er der Entdecker mehrerer Oasen, die den Händlern das Reisen im alten Mesopotamien erleichterten. »Die Entdeckung verschiedener Quellen oder Oasen, die einen Weg durch die Wüste vom mittleren Euphrat zum Libanon öffnete, muss das Reisen über lange Strecken im oberen Mesopotamien revolutioniert haben. Wenn Gilgamesch traditionell der Erste war, der diese Strecke auf seinem Weg zum Zedernwald bewältigte, war es logisch, ihm den Ruhm für die Entdeckung der Überlebenstechniken zuzuschreiben, die das Reisen in der Wüste möglich machten.«14 Gilgamesch wurde nicht nur aufgrund seiner Stärke ein Held, sondern auch dank seiner Entdeckungen und Taten, die zu einem großen Teil von wirtschaftlicher Bedeutung waren – er gewann durch die Abholzung des Zedernwaldes direkt Baumaterial, er hinderte Enkidu daran, die Wirtschaft von Uruk zu vernichten, und entdeckte bei seinen Streifzügen neue Routen durch die Wüste.

Zwischen Tier und Roboter: Der Mensch

Die Unterwerfung der wilden Natur war eine Heldentat, an die Gilgamesch sich nur aufgrund seiner Freundschaft zu Enkidu wagte. Letztendlich förderten die beiden durch ihre Auflehnung gegen die Götter aber paradoxerweise deren ursprünglichen Plan. Wegen seiner Freundschaft mit dem wilden Enkidu gibt Gilgamesch den Bau der Mauer auf. Zugleich bestätigt er, unabsichtlich und durch seine eigene Erfahrung, seine Theorie – dass die zwischenmenschlichen Beziehungen dem Bau seiner berühmten Mauer tatsächlich im Wege stehen. Er lässt sie dann unvollendet und zieht mit seinem Freund aus der Stadt hinaus. Unsterblichkeit sucht er nun nicht mehr im Bau seiner Mauer, sondern in seinen Heldentaten mit seinem lebenslangen Freund.

Ihre Freundschaft verändert beide Männer. Gilgamesch, bis dahin ein kalter, verhasster Tyrann, der die Menschen auf Roboter reduziert, wird zu einem Menschen mit Gefühlen. Er lässt seinen nüchternen Stolz hinter den Mauern von Uruk zurück und stürzt sich mit seinen Animal Spirits in Abenteuer in der Wildnis. [13] Obwohl Keynes darunter einen »plötzlichen Anstoß zur Tätigkeit« verstand, dachte er dabei nicht notwendigerweise an unsere Animalität; wir sollten in diesem Zusammenhang vielleicht einen Augenblick lang über die animalischen Teile unserer (eben nicht nur rational-ökonomischen) Persona nachdenken. Das animalische Wesen seines Freundes Enkidu wird auf Gilgamesch übertragen (sie ziehen aus der Stadt in die Natur hinaus, folgen dem Lockruf des ungewissen Abenteuers …).

Und wie sieht Enkidus Verwandlung aus? Während Gilgamesch ein Symbol für nahezu göttliche Vollkommenheit und die Zivilisation und ein eingefleischter Stadttyrann war, der statt seiner Untertanen lieber Maschinen sehen wollte, repräsentierte Enkidu ursprünglich etwas völlig Entgegengesetztes. Er war die Personifizierung des Animalischen, der Unberechenbarkeit, Unzähmbarkeit und Wildheit. Sein animalisches Wesen wird auch physisch verdeutlicht: »Dicht behaart ist er an seinem ganzen Leibe, versehen mit Locken wie eine Frau.«15 Im Fall von Enkidu symbolisiert die Freundschaft mit Gilgamesch den Höhepunkt des Prozesses der Menschwerdung. Beide Helden verändern sich – von entgegengesetzten Polen aus – und werden Menschen.

In diesem Zusammenhang könnte eine psychologische Dimension der Geschichte nützlich sein. »Enkidu … ist Gilgameschs Alter Ego, die dunkle, animalische Seite seiner Seele, die Ergänzung seines ruhelosen Herzens. Als Gilgamesch Enkidu findet, verändert er sich – aus dem verhassten Tyrannen wird der Beschützer seiner Stadt. … Beide Titanen werden durch die Erfahrung ihrer Freundschaft vermenschlicht, der Halbgott und das Halbtier werden wie wir.«16 In uns scheint es zwei Neigungen zu geben – eine ökonomische, rationale, die die Kontrolle haben, maximieren und Effizienz erreichen will, und eine wilde, tierartige, unberechenbare und unvernünftige. Mensch zu sein scheint irgendwo dazwischen zu liegen oder beides zu umfassen. Diesen Punkt werde ich im zweiten Teil wieder aufgreifen.

Bier trinken, wie es des Landes Brauch

Wie wurde Enkidu denn Teil der Zivilisation, wie wurde er ein Mensch? Am Beginn seiner Transformation vom Tier zu einer zivilisierten Person steht eine Falle, die Gilgamesch für ihn aufgestellt hat, in Person der Dirne Schamchat: »Wirke an ihm, an ihm, dem Ur-Menschen, mit den Künsten des Weibes!«17 Als Enkidu sich nach sechs Tagen und sieben Nächten Sex erhebt, ist nichts mehr wie vorher …

Als er sich an ihrer Lust gesättigt, wandte er sein Gesicht seiner Herde zu. Es sahen Enkidu und stürmten davon die Gazellen, die Herde der Steppe wich zurück vor seiner Gestalt. Beschmutzt hatte Enkidu seinen ganz reinen Körper, [14] still standen da seine Knie, die sonst gewohnt, mit der Herde zu laufen. Geschwächt war da Enkidu, sein Laufen war nicht mehr so wie zuvor. Doch (mit einem Male) besaß er Verstand, und tief war seine Einsicht.18

Enkidu verliert seine animalische Natur letztlich, denn: »Fremd wird ihm seine Herde (dann) sein, in deren Mitte er aufwuchs.«19 Er wird in die Stadt gebracht, wo man ihm Kleidung, Brot und Bier gibt:

Iß nun das Brot, O Enkidu, denn das gehört zum Leben, Trink auch vom Bier, wie es des Landes Brauch!20

Damit ist Enkidu zum Menschen geworden.21 Er ist nun Mitglied einer (spezialisierten) Gesellschaft, die ihm etwas bietet, was die Natur ihm in ihrem unkultivierten Zustand einfach nicht bieten konnte. Er hat sich von der Natur weg bewegt, hinter die Stadtmauern. So ist er zum Menschen geworden. Diese Veränderung ist unumkehrbar. Enkidu kann nicht in sein vorheriges Leben zurückkehren, denn »die Herde der Steppe wich zurück vor seiner Gestalt«.22 Die Natur nimmt niemanden zurück, der ihren Schoß verlassen hat. »Die Natur, aus der eine Person vor langer Zeit gekommen ist, bleibt draußen, außerhalb der Stadtmauern. Sie wird fremd und recht unfreundlich sein«, so der tschechische Philosoph Jan Sokol.23

In diesem Augenblick der Wiedergeburt aus dem tierischen in den menschlichen Zustand deutet das älteste erhaltene Epos der Welt etwas sehr Wichtiges an. Wir sehen hier, was die frühen Kulturen als Beginn der Zivilisation betrachteten. Hier wird der Unterschied zwischen Mensch und Tier oder, besser gesagt, dem Wilden, dargestellt. Das Epos beschreibt ganz ruhig die Geburt, das Erwachen, eines bewussten, zivilisierten Menschen. Wir werden Zeugen des Aufstiegs der Menschheit von den Tieren, wie bei der Erschaffung einer Skulptur aus Stein. Aus einem Zustand der individuellen Befriedigung seiner Bedürfnisse unter primärer, unvermittelter Benutzung der Natur ohne jedes Bemühen, sie zu verändern, gelangt Enkidu in die Stadt, den Prototyp der Zivilisation und des Lebens in einer künstlichen Umgebung außerhalb der Natur. »Er wird weiter in einer Stadt leben, in einer von Menschen erschaffenen Welt, er wird dort ein reiches, sicheres und bequemes Leben führen und sich von Brot und Bier ernähren – unnatürlicher Kost, die mühsam von Menschenhand zubereitet wurde.«24

Die gesamte Kulturgeschichte wurde von dem Bemühen bestimmt, so unabhängig wie möglich von den Launen der Natur zu werden. Je weiter entwickelt eine Zivilisation ist, desto stärker wird der Einzelne vor der Natur und ihrem Einfluss geschützt, desto besser weiß er, wie er um sich herum eine konstante oder kontrollierbare Umgebung schaffen kann, die ihm zusagt. Unser Speiseplan hängt nicht mehr von der Ernte, dem Vorhandensein von Wild oder der Jahreszeit ab; wir können in unseren Häusern und Wohnungen immer die gleiche Temperatur aufrechterhalten, auch wenn draußen klirrende Kälte oder brütende Hitze herrscht.

Im Gilgamesch-Epos können wir auch die ersten Bemühungen verfolgen, die gewünschte Konstanz beim Lebensumfeld zu erreichen – am besten am Beispiel des Baus einer Mauer um Uruk, die es der Stadt ermöglichen wird, eine Wiege der Zivilisation zu werden. Dieses Bemühen um Konstanz zeigt sich auch bei der menschlichen Tätigkeit, der menschlichen Arbeit. Wenn die Menschen sich auf eine Sache spezialisieren, erzielen sie bessere Ergebnisse, und wenn sie sich bei ihren übrigen Bedürfnissen auf die Arbeit anderer stützen können, wird die Gesellschaft reich werden. Es ist lange her, dass jeder Einzelne seine Kleidung und seine Schuhe selbst anfertigen, jagen, Land bebauen oder seine eigene Nahrung herstellen musste, dass er eine Trinkwasserquelle finden und eine Unterkunft errichten musste. Diese Rollen hat inzwischen die Institution der Marktspezialisierung (die begreiflicherweise schon lange funktionierte, bevor Adam Smith sie als eine der Hauptquellen für den Wohlstand der Nationen bezeichnete) übernommen. [15] Daher spezialisiert sich jeder auf das, was am wertvollsten für die Gesellschaft ist, und überlässt die Erfüllung der großen Mehrzahl seiner sonstigen Bedürfnisse anderen.

Das Epos fängt einen der größten Sprünge bei der Entwicklung der Arbeitsteilung ein. Uruk gehört zu den ältesten Städten überhaupt und reflektiert in dem Epos einen historischen Schritt bei der Spezialisierung zu einer neuen städtischen Gesellschaft. Dank der schützenden Mauer können die Bewohner der Stadt sich anderen Dingen widmen als der Sorge um ihre Sicherheit und sich noch weiter spezialisieren. Eine von einer Mauer umgebene Stadt bringt zudem eine bemerkenswerte Beständigkeit. In der Stadt gewinnt das menschliche Leben eine neue Dimension; plötzlich erscheint es natürlicher, sich mit Dingen zu befassen, die über die Lebensspanne des Einzelnen hinausgehen. »Die Stadtmauer symbolisiert und begründet die Beständigkeit der Stadt als Institution, die für immer bestehen bleiben und ihren Bewohnern die Gewissheit von uneingeschränkter Sicherheit geben wird. Sie ermöglicht es ihnen, mit Investitionen zu beginnen, deren Reichweite nicht an den Grenzen des Lebens des Einzelnen endet. Der Wohlstand und die Reichtümer Uruks beruhen auf der Sicherheit, die seine Mauern bieten. Die Leute aus dem Umland können darüber nur staunen und sie vielleicht sogar beneiden.«25

In wirtschaftlicher Hinsicht bringt die Erschaffung einer befestigten Stadt wichtige Veränderungen mit sich. Abgesehen von der stärkeren Spezialisierung haben die Bewohner auch »die Möglichkeit zu Handwerk und Handel, bei denen man durch eine einzige Handbewegung reich – aber natürlich auch arm – werden kann. Sie eröffnete denen, die kein Land besaßen – den jüngeren Söhnen, den Ausgestoßenen, Spekulanten und Abenteurern aus der ganzen Welt –, die Möglichkeit, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.«26

Doch alles hat seinen Preis, auch der Wohlstand, den die Spezialisierung uns bringt. Der Preis, den wir dafür zahlen, dass wir nicht mehr von den Launen der Natur abhängig sind, ist die Abhängigkeit von unseren Gesellschaften und Zivilisationen. Je fortgeschrittener eine Gesellschaft insgesamt ist, desto weniger sind ihre Mitglieder in der Lage, allein, als Einzelne, ohne die Gesellschaft, zu überleben. Je spezialisierter eine Gesellschaft ist, desto größer ist die Zahl derjenigen, von denen wir abhängig sind. [16] Und zwar so sehr, dass es existenzielle Bedeutung gewinnt.

Enkidu gelang es, unabhängig von anderen und ohne jede Hilfe, frei, in der Natur zu überleben:

Nicht sind ihm die Menschen und (nicht) das Kulturland bekannt. … frißt mit Gazellen er Gras. Mit Herdentieren drängt er sich an der Wasserstelle, mit wilden Tieren labt er sich am Wasser.27

Enkidu ist wie ein Tier. Er gehört zu keinem Volk und keinem Land. Er kann sich alle seine Bedürfnisse selbst erfüllen, er ist ohne Zivilisation, unzivilisiert. Auch hier erkennen wir das Quidproquo-Prinzip: Enkidu ist (wie viele Tiere auch) autark, und im Gegenzug (oder gerade deshalb) sind seine Bedürfnisse minimal. Die Tiere haben im Vergleich zu uns Menschen geringe Bedürfnisse. Andererseits sind wir nicht einmal mithilfe des Reichtums und der Technologie des 21. Jahrhunderts in der Lage, uns unsere Bedürfnisse zu erfüllen. Man kann sagen, dass Enkidu in seinem Naturzustand zufrieden war, weil alle seine Bedürfnisse erfüllt wurden. Bei den Menschen scheint es hingegen so zu sein, dass die Zahl ihrer Bedürfnisse (einschließlich der unerfüllten) umso größer ist, je mehr sie besitzen, je weiter entwickelt und reicher sie sind. Wenn jemand etwas kauft, sollte ihn das theoretisch von einem seiner Bedürfnisse befreien – und die Summe der Dinge, die er braucht, sollte sich um eines verringern. Die Wirklichkeit sieht jedoch so aus, dass die Summe der Dinge, die wir haben wollen, mit der wachsenden Summe der Dinge, die wir haben, zunimmt. Ich möchte hier den Ökonomen George Stigler zitieren, der sich dieser menschlichen Unersättlichkeit bewusst war: »Was das mit Verstand begabte Individuum vor allem will, ist nicht die Befriedigung der Bedürfnisse, die es hatte, sondern mehr und bessere Bedürfnisse.«28