Rotkäppchens Traum - Max Bentow - E-Book
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Rotkäppchens Traum E-Book

Max Bentow

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Beschreibung

Als Annie Friedmann wieder zu Bewusstsein gelangt, ist sie zutiefst verstört. Warum liegt sie in einem Wald, unter Laub verborgen? Wie ist sie hierher gekommen, und warum klebt Blut an ihrem roten Mantel? Ihre Erinnerung ist wie ausgelöscht, sie weiß nur, dass sie namenlose Angst hat. Alles wird immer rätselhafter, als sie herausfindet, dass sie sich in einem kleinen Ort in der Nähe von Ulm befindet – eine Gegend, die ihr gänzlich unbekannt ist. Und warum behauptet ein ihr fremder Mann, eine Liebesbeziehung mit ihr zu haben? Annie macht sich auf die verzweifelte Suche nach der Wahrheit. Und was sie entdeckt, droht ihr ganzes Leben zu zertrümmern ...

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Buch

Als Annie Friedmann wieder zu Bewusstsein gelangt, ist sie zutiefst verstört. Warum liegt sie in einem Wald, unter Laub verborgen? Wie ist sie hierhergekommen, und warum klebt Blut an ihrem roten Mantel? Ihre Erinnerung ist wie ausgelöscht, sie weiß nur, dass sie namenlose Angst hat. Alles wird immer rätselhafter, als sie herausfindet, dass sie sich in einem kleinen Ort in der Nähe von Ulm befindet – eine Gegend, die ihr gänzlich unbekannt ist. Und warum behauptet ein ihr fremder Mann, eine Liebesbeziehung mit ihr zu haben? Annie macht sich auf die verzweifelte Suche nach der Wahrheit. Und was sie entdeckt, droht ihr ganzes Leben zu zertrümmern …

Weitere Informationen zu Max Bentow und zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

MAX BENTOW

ROTKÄPPCHENS TRAUM

THRILLER

Originalausgabe

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © der Originalausgabe 2019

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: arcangel / Jennifer Gavend

CN · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-21977-2V002

www.goldmann-verlag.de

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Für Christina

Es war einmal eine kleine, süße Dirne, die hatte jedermann lieb, der sie nur ansah.

BRÜDERGRIMM, »ROTKÄPPCHEN«

ERSTER TEIL

Ihr Name ist Annie, und ich bin verrückt nach ihr. Das war, seit ich denken kann, und wird immer so sein. Sie ahnt es nicht, doch ich bin in ihrer Nähe, am Morgen und am Abend, nachts hüte ich ihren Schlaf. Ich bin der Mondschein auf ihrem Kissen, der Windhauch, der sie streift. Bereits als Kind habe ich sie beobachtet, und von Jahr zu Jahr hat sich mein Blick geschärft. Ich war bei ihrer Einschulung zugegen. Rot war die Farbe ihrer Schultüte, und rosa leuchteten ihre Socken. Kein Detail ist mir entgangen, keine Falte ihres Rocks, nicht einmal der Kaugummi, den sie nach Betreten des Klassenzimmers unter das Pult geklebt hat. Niemandem außer mir ist das aufgefallen.

Ich war die Person, die sich am Rand herumdrückte, während sie im Mittelpunkt stand. Ich kenne das Aufsatzheft mit ihrem Namen vorne drin. Darin erzählt sie von ihrem schönsten Ferienerlebnis, wie sie auf der Skireise im Sessellift festsaß, allein in fünfzig Metern Höhe, um sie herum nichts als Berge und Schnee. Sie hatte keine Angst, dafür hat sie lauthals gelacht.

Ich wollte ihr beistehen, sie retten, doch andere waren wie immer schneller. Annie, auf der Bergspitze von ihren Bewunderern empfangen, umringt und beklatscht. Nie muss sie sich einsam fühlen, stets ist sie von einer Schar Verehrer umgeben.

Annie hat die Wahl. Sie ist Glück und Schönheit in Person, ihr Name steht für Glanz und Lächeln, und ich habe sie jederzeit begleitet, doch niemals fiel ihr Augenmerk auf mich. Ihre Blicke haben mich höchstens gestreift, und selbst wenn ich ihr direkt gegenüberstand, konnte ich nicht sicher sein, ob sie mich wirklich sah.

Dabei weiß ich von jeder Schürfwunde an ihrem Knie, wenn sie als kleines Mädchen hingefallen ist, jedem Kratzer an ihrer Wade, wenn sie im Gestrüpp Verstecken gespielt hat.

Ich habe beobachtet, wie sie zum ersten Mal einen Jungen küsste, und kenne Datum und Uhrzeit, da sie ihre Unschuld verlor. Mir ist bekannt, welches Kleid sie zum Abiturball trug und wie aufgeregt sie war, als sie sich an der Hochschule für ihr Lieblingsfach einschrieb.

Ich kenne die Melodie, die sie summt, wenn sie unter der Dusche steht, und weiß, zu welchen Liedern im Radio sie beim Autofahren mitsingt. Ich habe Einblick in ihre Handtasche und manchmal auch in ihre Träume, denn sie führt Buch darüber. Sie schreibt gern mit Bleistift und kaut gedankenverloren an den Stummeln. Ich weiß von ihrer Schusseligkeit, was Hausschlüssel anbelangt, ihrer notorischen Unpünktlichkeit, und ich bin über ihre Schwäche für saure Drops informiert.

Ich sehe ihr zu, aus der Nähe und aus der Ferne, doch sie bemerkt mich nicht. Leise sage ich ihren Namen beim Aufwachen und brülle ihn nachts im dunklen Wald.

Zwei Silben, ein Aufseufzen: An-nie, Licht in meinem Leben, Hitze meiner Träume.

Annie, meine Seele, meine Lust.

EINS

Das Geräusch kommt näher, es ist hinter ihr her. Sie rennt, Tannennadeln bohren sich in ihre nackten Fußsohlen. Der Weg ist rutschig, kalte Erde, moosbeflecktes Gestein. Sie gerät ins Straucheln. Es ist laut, es will in sie hineinfahren, es möchte sie zerteilen. Sie stürzt, rappelt sich auf. Sie darf sich nicht umsehen. Schon hat sie das Gleichgewicht wiedererlangt, sie muss schneller laufen.

Finster ragen Baumstämme vor ihr auf. Ihr Atem ist ein Hecheln, die Angst das Ticken an ihren Schläfen, wo das Blut durch ihre Adern jagt. Über ihr faucht der Wind durchs Dach des Mischwalds. Streifen fahlen Mondlichts durchstoßen die Wipfel und gleiten zuckend vor ihr über das Laub.

Es ist ein Kreischen, das sie verfolgt, so gellend, beißend und schrill. Es ist dicht hinter ihr. Immer wieder jault es auf, der Lärm sticht drohend in sie hinein. Wenn sie aufgibt, wird es sie zerreißen. Sie denkt an die dunkle Fontäne, die sie bespritzt hat, und wischt sich im vollen Lauf das Blut aus den Augen. Knochensplitter kleben an ihren Wangen. Entsetzt rast sie weiter.

Sie verlässt den Weg, hastet durchs Unterholz. Ihr Kopf droht zu bersten. Schneller, durchfährt es sie, schneller. Und wieder brüllt es in ihrem Rücken auf, ein heller Ton, durchdringend, scharf, etwas, das sie zerstückeln will. Sie kann nichts tun außer rennen, ihr bleibt nur die Flucht.

Abermals fährt sie sich mit der Hand durchs Gesicht. Sie spürt das Blut feuchtwarm in ihren Haaren. Sie ist besudelt, in Panik, ihr Atem ein Stakkato.

Das Geräusch ist nun so nah, dass sie meint, ihr Ende sei gekommen. Ein Jaulen, Jammern, plötzlich scheint es aus allen Richtungen zu ihr zu dringen. Umzingelt ist sie, dreht sich im Kreis. Sie taumelt, wirft den Kopf in den Nacken, über ihr wanken die Wipfel der Bäume. Sie erkennt den hellweißen vollen Mond, dann besinnt sie sich und rast weiter. Schlägt Haken, beschleunigt, bündelt ihre Kräfte und rennt, rennt.

Kriiihiiiiiii, kreischt es hinter ihr, und sie umkurvt die Bäume, prallt mit der Schulter gegen einen Stamm, es haut sie um. Sie findet sich auf allen vieren wieder. Sie hechelt, richtet sich auf. Sie läuft, im wuchernden Gestrüpp wird sie von Dornen zerkratzt. Glitschiges Laub, Wasserpfützen, die an ihren Beinen hochspritzen. Sie ist kaum bekleidet. Über ihrer Unterwäsche trägt sie bloß einen Regenmantel mit Kapuze. Halb nackt stürmt sie durch den Wald.

Kriiihiiiiiiii, tönt es hinter ihr, im Takt ihrer Angst. Äste fliegen an ihr vorbei, Zweige peitschen ihr ins Gesicht. Kriiihiiii, ich krieg dich, ich krieg dich. Es ist ihr dicht auf den Fersen.

Das Unterholz lichtet sich, das Gelände wird abschüssig, ihre Füße schmerzen. Sie wirft sich auf den Boden und lässt sich den Hang hinunterrollen, so ist sie schneller.

Doch dann blickt sie in die Tiefe. Sie ist in der Falle. Vor ihr tut sich der Abgrund auf. Sie stoppt ab, erhebt sich. Sie ist an einer Felskante. Es geht steil abwärts. Unten im Tal funkeln ein paar Lichter durch die Nacht. Das Kreischen nähert sich, und sie ist kurz davor zu springen. Einfach fallen lassen, und dann ist es aus.

Ihr Überlebenswille ist stärker. Gehetzt sieht sie sich um, entdeckt einen schmalen Pfad, der sich an der Felskante entlangschlängelt, und sie rennt weiter, immer am Rand des Abgrunds. Sie darf nicht hinuntersehen, richtet den Blick auf den Bergrücken. Schmerzen hämmern in ihrer Brust, ihr ist, als würde ihre Lunge platzen. Schneller, sie muss schneller sein, aber sie darf nicht stürzen. Eine falsche Bewegung, und sie rutscht über das schroffe Gestein hinaus. Ihr schwindelt, wenn sie nur daran denkt. Sie schätzt die Höhe auf drei-, vierhundert Meter. Links von ihr gespenstisch im Mondschein die Krüppelkiefern am Hang, rechts die schwarze Tiefe, vor ihr durchziehen Felsspalten den Pfad, über die sie hinwegspringen muss. Hinter ihr brüllt das Geräusch.

Der Weg führt sie um einen weiteren Felsen herum, für einen Moment scheint sie außer Sicht zu sein. Der Kiefernhain wird von Buchen abgelöst, ein Laubteppich tut sich neben ihr auf. Und dann entdeckt sie ein Plateau, einige Meter über ihr, wie eine Terrasse, die aus der Anhöhe ragt. Sie verlässt den Pfad und kraxelt hinauf.

Sie rutscht ab, nimmt die Hände zu Hilfe, sie hangelt sich hinauf. Kaum ist sie oben, wirft sie sich flach auf den Boden. Sie wühlt im Laub und gräbt in der Erde. Sie bedeckt sich mit Ästen und Blättern, dann hält sie still.

Wieder jault das Geräusch auf, drohend, einige Meter unter ihr. Sie versucht, ihren Atem zu beruhigen, das ängstliche Zittern in ihrem Körper zu unterdrücken. Sie spürt ihren pochenden Herzschlag, das Blut rauscht in ihren Ohren, und das kreischende Wimmern kommt näher und näher.

Kriiiihiiiiiiii, giert es. Sie darf sich nicht rühren, sonst dringt es in sie ein. Es will sie vernichten, es macht sie zu Brei. Sie ringt nach Luft, kauert sich zusammen, beißt sich auf die Zunge, sie hat einen kupfrigen Geschmack in ihrem Mund.

Es riecht modrig nach Wurzeln und Gewürm. Es ist kalt und feucht um sie herum, und sie kämpft gegen das Zittern an. Sie stellt sich tot. Der Singsang naht, gnadenlos durchstößt der schrille Ton die Stille des Walds.

Kriihiii, kriiihiiiiiiii, ich krieg dich, ich krieg dich, es ist jetzt so nah, dass sie meint, gleich werde es sie durchbohren.

Sie erwartet den Schmerz, das Aufplatzen ihrer Haut und eine Explosion in Rot.

Lautlos liegt sie da, unter Erdklumpen und Laub, still harrt sie aus, verborgen wie in einem Grab.

ZWEI

Sie erwacht aus einem kurzen Schlaf. Wo ist sie? Sie hebt den Kopf, verwelkte Blätter gleiten von ihr herab. Nebel wabert aus dem Tal herauf, das Morgenlicht wirft lange Schatten. Sie hat die Arme um ihren Körper geschlungen, die rote Kapuze ihres Mantels ist tief in ihr Gesicht gezogen. Ihre Glieder sind klamm. Sie bewegt die Zehen, bis allmählich ein Gefühl in sie zurückkehrt. Ihr ist so kalt, dass ihre Zähne aufeinanderschlagen.

Sie ist einen halben Meter tief eingegraben, nun arbeitet sie sich langsam aus der Senke hervor. Plötzlich macht sie eine Bewegung aus, ganz in der Nähe. Sie zuckt zusammen. Instinktiv hält sie den Atem an.

Sie wendet den Kopf und erschrickt. Etwas starrt sie an. Gelbe Augen, direkt vor ihr. Sie zieht den Regenmantel noch enger um sich.

Es ist ein Tier. Atemwolken stieben aus seinen Nüstern. Ein großes Tier, das sie für einen Wolf hält. Silberne Streifen im dunkelgrauen Fell, dampfend seine schwarze Schnauze. Die Nackenhaare aufgestellt, die Ohren gespitzt. Langbeinig, der Schwanz halb erhoben. So steht er da und stiert sie an.

Sie überlegt, was sie tun soll. Innehalten oder aufspringen und wegrennen?

Gibt es Wölfe in dieser Gegend? Wie ist sie hierhergeraten?

Schützend hält sie sich die Hände vors Gesicht. Ihr Blick fällt auf die blutigen Schlieren auf ihren Ärmeln. Das Tier knurrt, offenbar hat es das Blut gewittert.

Sie winkelt ihre Beine an, das Laub raschelt, und wieder knurrt das Tier, diesmal lauter.

Sie ist jetzt in der Hocke, fluchtbereit. Sie schaut sich um, misst in Gedanken die Entfernung zum nächsten Baum, schätzt ab, wo sie hinaufklettern und sich vor dem Wolf in Sicherheit bringen kann.

Aber ist es wirklich ein Wolf? Sind diese Tiere nicht eher selten in ihrer Heimat? Wo um alles in der Welt befindet sie sich?

Wieder fällt ihr Blick auf das Blut an ihrem roten Mantel. Das Tier duckt sich. Sie fürchtet, dass es sie jeden Moment anfallen wird.

Da hört sie Schritte. Von oben. Abermals wendet sie den Kopf. Eine Gestalt nähert sich hangabwärts. Sie muss hier weg. Vorsichtig erhebt sie sich. Das Tier ist bereit zum Sprung.

»Ruhig, ganz ruhig«, murmelt sie, mehr um sich selbst Mut zu machen. Abwechselnd blickt sie zu der Gestalt, die auf sie zusteuert, und zu dem großen Tier, das ihr den Fluchtweg versperrt. Sie hat keine andere Wahl, als in gebeugter Haltung auszuharren.

Nun schleicht sich das Tier heran. Es stößt ein Bellen aus.

Die Gestalt ruft etwas von oben. Das Tier hält den Kopf gesenkt und fletscht die Zähne.

»Artur, aus!«, ruft die Stimme von oben.

Kein Wolf, denkt sie, bloß ein großer Hund.

Ängstlich schaut sie sich nach der Person um. Es ist eine ältere Frau, ihr Haar ist angegraut, ihre Schritte sind energisch. Sie trägt eine dunkle Outdoorjacke, Jeans und braune Stiefel.

»Der tut nichts«, sagt die Frau. Noch wenige Meter, dann ist sie bei ihm und packt ihn am Nackenfell. Er trägt kein Halsband.

»Ich dachte, es ist ein Wolf.«

Die Frau lächelt. »Das tun viele. Artur ist ein Tamaskan Husky, dem Wolf sehr ähnlich.«

Sie ist um die sechzig, macht einen resoluten Eindruck. Ein freundliches Gesicht, die Wangen gerötet. Sie mustert sie und runzelt die Stirn. »Brauchen Sie Hilfe?«

Sie antwortet nicht.

»Sie haben Blut unter den Augen. Gütiger Himmel, was ist passiert? Sind Sie gestürzt?«

»Ich weiß es nicht.«

Eine Weile schauen sie sich schweigend an. Dann reicht ihr die Frau die Hand. »Ich bin Margot.«

Sie überlegt ein paar Sekunden. Schließlich sagt sie leise, ohne den Händedruck zu erwidern: »Annie.«

»Gut, Annie. Ich denke, Sie brauchen einen Arzt.«

»Nein!«, entfährt es ihr.

»Sind Sie sicher?«

»Kein Arzt, bitte.«

»Wo haben Sie denn Ihre Schuhe?«

Sie zuckt mit den Schultern.

»Sind Sie überfallen worden?«

Annie versucht, sich zu erinnern, doch da ist bloß Leere in ihrem Kopf. Sie spannt sämtliche Muskeln an, damit ihr wärmer wird.

»Sie wirken völlig unterkühlt. Haben Sie die Nacht im Freien verbracht? So dünn bekleidet?«

Die Frau schaut auf ihre nackten Beine. Annie ist es peinlich. Sie denkt angestrengt nach, doch es hilft nichts. Sie weiß nicht, was ihr zugestoßen ist.

Statt einer Antwort zieht sie die Kapuze noch tiefer in die Stirn.

»Kommen Sie«, sagt die Frau. Sie lässt den Hund los und deutet auf die Anhöhe. »Mein Wagen steht dort oben. Ich kann Sie ein Stück mitnehmen.«

Annie zögert. Darf sie ihr trauen? Schließlich greift die Frau, die sich Margot nennt, nach ihrem Arm, doch Annie zuckt zurück. Der Tamaskan Husky beäugt wachsam jede ihrer Bewegungen.

»Keine Angst, ich will Ihnen doch nur helfen. Na los, kommen Sie.«

Die Frau geht voran, der Hund trottet neben ihr her. Annie gibt sich einen Ruck. Gemeinsam steigen sie den Hang hinauf.

»Vielleicht sollten wir lieber die Polizei rufen.«

»Keine Polizei, bitte!«

Ein irritierter Blick. »Schon gut. Ich bringe Sie nach Hause, wenn Sie möchten.«

Erst jetzt merkt Annie, wie geschwächt sie ist. Ihre Schritte sind langsam, und alsbald ist sie außer Atem. Margot nimmt sie am Arm, und diesmal lässt sie es geschehen.

Nach einer Weile gelangen sie auf einen Forstweg. Wenige hundert Meter weiter erreichen sie den Wagen, der am Rand geparkt ist. Margot öffnet die Türen, und Annie sinkt erschöpft auf den Beifahrersitz. Der Hund springt auf die Rückbank. Die ältere Frau steigt ein und startet den Motor. Während der Fahrt dreht sie das Gebläse der Heizung auf, und Annie spürt, wie sich allmählich etwas Wärme in ihrem Körper ausbreitet. Sie atmet tief durch.

»Ich führe Artur jeden Morgen in dieser Gegend aus. Gut, dass er Sie entdeckt hat. Sie wären noch erfroren.«

Annie versucht, den Waldweg wiederzuerkennen, doch es gelingt ihr nicht.

»Wo wohnen Sie?«, fragt Margot, doch Annie weiß keine Antwort.

Der Weg beschreibt eine Kurve, danach verlassen sie den Wald und passieren ein brachliegendes Feld.

Angestrengt schaut sie aus dem Fenster. Sie will sich orientieren, aber vergebens.

»Schätzchen, wenn ich Sie nach Hause bringen soll, muss ich die Adresse wissen.«

Ein Gefühl der Beklemmung kriecht ihr die Kehle hoch. Sie schließt für einige Zeit die Augen. »Es … tut mir leid … es fällt mir sicher gleich ein.«

»Sie Ärmste, was hat man nur mit Ihnen angestellt?«

»Ich weiß es nicht.«

Der Hund hechelt in ihrem Nacken, sein heißer Atem ist ihr unangenehm.

»Wie seltsam. Stehen Sie vielleicht unter Schock?«

»Schon möglich, ich …«

»Ich könnte Sie zu meinem Hausarzt fahren.«

»Bitte, nein!«

Sie schweigen.

Kurze Zeit später erreichen sie eine asphaltierte Straße, in der Ferne erkennt Annie eine Häusersiedlung und eine Kirche mit einem Zwiebelturm. Die Morgensonne taucht die Landschaft in ein goldenes Licht. Herbst, denkt sie, nach der Laubfärbung der Bäume zu urteilen. Doch sie hat keine Ahnung, wo sie sind.

Ihre Stimme ist brüchig. »Ich kann mich an nichts erinnern. Ich weiß gar nichts mehr.«

Sie nähern sich dem Dorf.

»Wie heißt der Ort da vorn?«

»Seissen. Kommt Ihnen das vertraut vor?«

Annie antwortet nicht.

»Sie haben eine furchtbare Nacht hinter sich, nicht wahr? Ich an Ihrer Stelle würde die Polizei einschalten.«

»Nein!« Sie sagt es so heftig, dass die Frau kurz nach Luft schnappt.

»Entschuldigung, aber das ist … keine gute Idee.«

»Also schön. Sie können sich bei mir einen Moment aufwärmen, wenn Sie möchten. Ich denke, Sie brauchen ganz dringend einen Tee und eine heiße Dusche.«

»Ja. Das wäre sehr lieb von Ihnen.« Sie kämpft gegen die Tränen an.

Margot schaut zu ihr. »Das wird schon wieder. Wenn Sie sich erst einmal ein bisschen ausgeruht haben, wird Ihre Erinnerung bestimmt zurückkehren. Und danach sehen wir weiter. In Ordnung?«

»Ja, danke.«

Sie passieren das Ortseingangsschild. Verwundert liest Annie die Aufschrift: Seissen. Alb-Donau-Kreis.

Der Name sagt ihr nichts. Alles ist ihr fremd.

Was ist passiert?

»Annie«, sagt sie leise, wie um sich selbst zu beruhigen, »ich heiße Annie Friedmann. Ich bin dreißig Jahre alt.«

Die Frau am Steuer wirft ihr einen verstörten Blick zu, dann biegt sie in die Einfahrt vor einem zweistöckigen Haus und hält an.

Purpurfarbene Teppichböden, geraffte Gardinen, Plüschkissen und Nippesfiguren. Margot ist recht altmodisch eingerichtet. Alles ist ordentlich und sauber, durch das Haus schwebt ein Geruch von Putzmitteln und das synthetische Aroma eines Lavendelsprays.

Sie verschwindet kurz im Obergeschoss, um Annie ein paar warme Sachen herauszusuchen, kommt wenig später die Treppe herunter und reicht ihr einen grünen Pullover mit Zopfmuster und eine ausgewaschene Freizeithose in Himmelblau.

»Die können Sie mir später wiedergeben«, sagt sie freundlich zu Annie.

»Das ist so großzügig von Ihnen.«

»Nicht der Rede wert.« Sie weist auf eine Tür im Flur hinter der Treppe. »Dort hinten ist das Bad für Gäste. Handtücher finden Sie im Regal. Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen. Ich mache uns derweil ein Frühstück.«

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.«

»Nicht dafür, Schätzchen. Ich bin gern behilflich.«

Das Bad ist klein, aber gut beheizt. Annie entkleidet sich, steigt in die Duschkabine und lässt das heiße Wasser auf sich herabströmen.

Es ist wohltuend. Dennoch kann sie ein Zittern nicht unterdrücken. Sie fühlt sich nicht sicher. Sie hat Angst, aber sie weiß nicht, wovor. Wieder und wieder versucht sie sich zu erinnern. Sie ermahnt sich, es in kleinen Schritten zu probieren. Fragt sich, wie sie in den Wald gekommen, ob sie vor jemandem weggelaufen ist.

Doch sie findet keine Antworten.

Woher kommt sie? Aus welcher Stadt? Wie lange hält sie sich schon in dieser Gegend auf?

Nichts. Sie weiß nur ihren Namen, alles andere ist weg.

Sie schrubbt sich die Blutspuren von der Haut und wäscht sich die Haare. Dabei geraten ihr ein paar kleine Splitter in die Finger. Sie starrt sie entsetzt an. Sie sind beinahe weiß. Annie muss an zerteilte menschliche Knochen denken und stößt einen erstickten Schrei aus. Fahrig spült sie sich die Hände ab, und die Splitter verschwinden im Ausguss.

Lange Zeit steht sie unter dem heißen Wasserstrahl.

Schließlich trocknet sie sich ab. Sie betrachtet sich im Spiegel und untersucht sich nach Anzeichen von Verletzungen. Doch bis auf die Tatsache, dass sie blass und mitgenommen aussieht, scheint sie unversehrt zu sein. Sie nimmt einen Föhn zur Hand und trocknet sich damit ihr langes brünettes Haar. Danach zieht sie ihre gebrauchte Unterwäsche an und schlüpft in den Pullover und die Baumwollhose. Margots Sachen sind ihr mindestens zwei Nummern zu groß, aber sie halten warm.

Sie nimmt den roten Regenmantel, reibt mit etwas Wasser notdürftig die Blutflecken ab, legt ihn sich über den Arm und verlässt das Badezimmer.

Margot sitzt in der Küche am Tisch, der für zwei Personen gedeckt ist. Der Tamaskan Husky hat sich auf einer Wolldecke am Boden eingerollt und beobachtet sie.

»Ihren Mantel können Sie im Flur lassen.«

Annie nickt Margot zu und geht zu den Garderobenhaken an der Eingangstür. Sie hängt den Regenmantel über einen Bügel.

Für einen Moment ist ihr, als würde seine auffällig rote Farbe eine verborgene Erinnerung in ihr wachrufen. Sogleich beschleunigt sich ihr Herzschlag, sie zuckt zusammen, und nur Sekunden später ist der flüchtige Gedankenimpuls für sie nicht mehr greifbar. Wie ein Bild, das kurzzeitig aufflackert und sich wieder auflöst.

Was ist geschehen? Was flößt ihr diese Angst ein?

Zurück in der Küche, setzt sie sich zu der Frau, die ihr lächelnd einen Tee einschenkt. Sie bedankt sich und trinkt in kleinen Schlucken.

»Sie sind so nett zu mir. Das hab ich nicht verdient.«

»Aber nicht doch. Ich freue mich, wenn ich Gäste habe. Seit dem Tod meines Mannes ist es viel zu ruhig in diesem Haus.«

Annie nimmt sich ein Brötchen, bestreicht es mit Butter und Marmelade und isst. Danach trinkt sie eine zweite Tasse Tee. Allmählich wird ihr ein wenig wohler.

»Annie, antworten Sie ehrlich auf meine Frage: Haben Sie vor Kurzem Drogen genommen?«

»Nein, ganz gewiss nicht.«

»Nicht einmal zu viel Alkohol getrunken?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Denken Sie noch mal genau nach. Wie ist Ihre Adresse?«

Annie schaut sie nur an.

»Sie sind doch aus dieser Gegend, oder nicht?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube eher nicht.«

Margot holt tief Luft. »Aber wie sind Sie hierhergekommen?«

»Keine Ahnung. Ich hab ja nicht einmal eine Handtasche dabei. Kein Handy, keinen Ausweis, keine Schlüssel, kein Geld. Ich hab rein gar nichts.«

»Sie müssen ärztlich untersucht werden.«

Ihr Nacken verkrampft sich. »Nein. Das macht mir Angst.«

»Das ist nur verständlich. Aber Sie müssen sich diesem Gefühl stellen. Sie dürfen das, was Ihnen widerfahren ist, nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ich vermute mal, dass Sie überfallen wurden. Vielleicht hat man Sie … am Kopf verletzt. Woher kam denn das Blut, Schätzchen? Man hat Ihnen bestimmt etwas angetan.«

Oder ich war das. Ich habe jemandem etwas angetan.

Der jähe Gedanke erschreckt sie. Sie spürt die prüfenden Blicke der älteren Dame und schlägt die Augen nieder.

Plötzlich steht Margot auf. »Nehmen Sie sich noch ein Brötchen, stärken Sie sich. Ich muss mal eben telefonieren.«

Sie geht ins angrenzende Wohnzimmer. Nach einer Weile hört Annie, wie sie gedämpft ins Telefon spricht. Offenbar schildert sie jemandem ihren Fall. Mehrfach schnappt Annie das Wort Polizei auf. Schließlich vernimmt sie deutlich, wie die Frau sagt: »Der Hund hat Blut gewittert … Ja, sie war damit befleckt … Sie war völlig verfroren … Kann sich gerade mal an ihren Namen erinnern, an mehr aber auch nicht … Was soll ich denn jetzt mit ihr machen? … Nein, ich sagte doch, sie will nicht zur Polizei …«

Abrupt erhebt sich Annie und verlässt die Küche. Im Flur schnappt sie sich den roten Regenmantel und zieht ihn über. Sie schlüpft in die Stiefel von Margot. Auf der Kommode steht die Handtasche der alten Frau. Annie öffnet sie und nimmt das Portemonnaie heraus.

Es tut ihr leid, sie hat schreckliche Gewissensbisse, doch nach einigem Zögern steckt sie einige Geldscheine ein, legt das Portemonnaie zurück und schleicht sich aus dem Haus.

Sie eilt durch die Wohnsiedlung, biegt rasch um eine Straßenecke. Sie entdeckt einen Feldweg. Hier läuft sie weiter, geduckt, verängstigt, bis sie nach einer Weile eine Landstraße erreicht. Sie weiß nicht, in welche Richtung sie gehen soll.

Schließlich wendet sie sich nach links und steuert auf den Waldrand zu.

DREI

Unterwegs sucht sie nach Anhaltspunkten. Sie fragt sich, ob sie irgendetwas in der Gegend wiedererkennt. Doch je länger sie läuft, desto mehr gelangt sie zu der Überzeugung, dass sie wohl eine weite Reise hierher unternommen hat. Oder dazu gezwungen wurde.

Sie kommt nicht von hier. Sie ist eine Fremde.

Der lange Fußmarsch erschöpft sie. Offenbar ist es bereits Mittag, die kalte Herbstsonne steht hoch am Himmel. Wenn Autos an ihr vorbeifahren, ist sie geneigt, den Daumen auszustrecken, um zu signalisieren, dass sie mitgenommen werden möchte. Doch es erscheint ihr zu gefährlich, also trottet sie weiter.

Sie hofft, eine Stadt zu erreichen, in der sie sich nach einem Bahnhof durchfragen kann, aber vermutlich hat sie die falsche Richtung gewählt. Zunächst führt die Straße immer tiefer in den Wald hinein, danach durchkreuzt sie Wacholderheiden, bis sie am Rand von Wiesen und Feldern entlangführt. Die Landschaft ist hügelig, was den Weg erschwert. Annie hat den Eindruck, dass sie sich von den besiedelten Gebieten eher entfernt hat. Gelegentlich kommt sie an Wegweisern vorbei, doch die Namen der angezeigten Ortschaften klingen ländlich und abgelegen.

In einem Dorf bleibt sie vor einem Fachwerkhaus stehen. Eine junge Frau hält sich im Vorgarten auf, ein kleines Mädchen sitzt auf einer Schaukel und schaut Annie ernst an. Die Frau gibt der Schaukel dann und wann einen Schubs. Schließlich blickt auch sie zu Annie.

»Ich hab mich verlaufen«, ruft Annie ihr zu. »Und mein Handy ist weg. Dürfte ich vielleicht bei Ihnen telefonieren?«

»Wen wollen Sie denn anrufen?«

»Ich brauche ein Taxi. Ich will zum Bahnhof.«

»Ein Taxi?« Die Frau wiegt den Kopf. »Ist schwer zu kriegen in dieser Gegend.«

»Ist in der Nähe eine größere Ortschaft?«

»Wo wollen Sie denn hin?«

Annie hebt die Schultern. »Zu irgendeinem Bahnhof. Möglichst in einer großen Stadt, wo Fernzüge halten.« Sie merkt, wie verzweifelt sie klingt.

Die Frau sieht sie misstrauisch an. »Das wäre dann Ulm.«

»Ulm?«

Annie versucht, etwas mit diesem Namen zu verbinden. Eine Stadt in Süddeutschland. Kennt sie dort jemanden? War sie schon mal in Ulm? Sie weiß es nicht.

»Gut, dann dorthin. Könnten Sie mir helfen?«

»Ich schau mal, was ich für Sie tun kann.« Die Frau wendet sich an das Kind. »Warte hier auf Mutti, ich bin gleich zurück.«

Sie verschwindet kurz im Haus.

Kurz darauf kommt sie wieder. »Das Taxi ist in etwa fünfzehn Minuten hier.«

»Danke.« Annie atmet tief durch.

Die Frau mustert sie. Sie muss einen seltsamen Eindruck auf sie machen. Allein die Art, wie sie gekleidet ist, dürfte irritierend sein. Roter Regenmantel, altmodische Stoffhose in einem Himmelblau, das nicht sehr kleidsam ist, dazu ein viel zu weiter grüner Pullover mit Zopfmuster und die braunen Stiefel einer Seniorin. Ob sie wohl für eine Landstreicherin gehalten wird? Allerdings lassen sich Obdachlose keine Taxis rufen.

»Woher kommen Sie?«, fragt die Frau, während sie der Schaukel einen weiteren Schubs gibt.

Annie macht eine vage Handbewegung zur Straße hin.

Nun wird die Frau noch misstrauischer, ihr Gesicht verfinstert sich. Sie lässt Annie nicht mehr aus dem Blick, bis das Taxi endlich vor dem Haus hält.

Annie bedankt sich ein zweites Mal bei der jungen Mutter, dann steigt sie ein und nimmt auf dem Rücksitz Platz.

»Wie viel kostet eine Fahrt nach Ulm?«, fragt sie den Fahrer.

Er nennt ihr den Preis.

»In Ordnung. Zum Bahnhof bitte.«

Sie fahren los. Annie schaut aus dem Fenster und sucht nach weiteren Anhaltspunkten. Doch nichts da draußen löst auch nur den Ansatz einer Erinnerung aus. Alles ist ihr so fremd, dass sie zuweilen abdriftet. Dann ist ihr, als würde sie eine andere brünette Frau in einem roten Regenmantel dabei beobachten, wie sie sich durch eine Gegend fahren lässt, mit der sie nichts verbindet.

Sie brauchen ungefähr eine halbe Stunde bis in die Ulmer Innenstadt. Annie zahlt, steigt aus und betritt das Bahnhofsgebäude. Das geschäftige Treiben, die vielen Menschen, der Lärm und die Hektik bedrängen sie. Sie setzt ihre Kapuze auf, so fühlt sie sich ein wenig geschützter. Sie schaut auf die große Anzeigetafel und hofft, dass einer der vielen Städtenamen ein Gefühl der Vertrautheit in ihr hervorruft. Beinahe im Minutentakt wechseln die Buchstaben und Ziffern, und weitere Zeiten und Ortschaften erscheinen auf derTafel.

Ein ICE, angekündigt in fünfunddreißig Minuten auf Gleis 1, weckt ihre Aufmerksamkeit. Lange Zeit lässt sie den angegebenen Zielort auf sich wirken.

Noch ist sie sich nicht ganz sicher. Doch schließlich geht sie zum Fahrkartenschalter und kauft sich ein Ticket.

Danach wartet sie an Gleis 1.

Erst als der Zug einfährt, sie einsteigt und einen Platz findet, erst als der ICE den Bahnhof verlässt und einige Zeit später in hoher Geschwindigkeit über das Land fährt, kann sie sich leicht entspannen.

»Mein Name ist Annie Friedmann«, murmelt sie vor sich hin. »Ich bin dreißig Jahre alt. Ich glaube, ich komme aus Berlin.«

VIER

Am frühen Abend schaltet Ben nochmals seinen Computer ein, um die Fotos von Annie zu betrachten. Er weiß, er verbringt zu viele Stunden damit, der Vergangenheit nachzuhängen. Annie ist fort, damit muss er sich abfinden. Ihr hinreißendes Lächeln ist nicht mehr für ihn bestimmt, der Blick in ihre grünblauen Augen auf den Aufnahmen bereitet ihm Qualen.

Aber der Schmerz ist süß, und darum schaut er sich die Fotos immer wieder an. Er ist verrückt nach ihren Grübchen, dem Schwung ihrer Lippen. Es betört ihn, wie eine Strähne ihres brünetten Haars dicht unter ihrem linken Auge in ihr Gesicht fällt. Sein Blick gleitet über ihren Hals, hinunter zu ihrem Dekolleté in einem dieser bezaubernden Kleider, in denen sie ihn überrascht hat, wenn sie in seine Wohnung kam. Er verspürt Wut und Traurigkeit darüber, wie alles geendet hat.

Die Erinnerungen an ihre kurze gemeinsame Zeit sind wie ein Dolchstoß, den er sich selbst versetzt. Wieder und wieder peinigt ihn der Gedanke, er habe sein Glück selbst vermasselt, weil er zu zweifeln begann und unangenehme Fragen stellte.

Wenn ein durchschnittlicher Mann wie er auf eine außergewöhnliche Frau wie Annie trifft, sollte er den Mund halten. Sich still an seiner unverhofften Eroberung erfreuen und sich ganz der Täuschung hingeben, alles sei in bester Ordnung.

Er hätte ihr nicht folgen dürfen an jenem verhängnisvollen Montag vor zwei Wochen. Das war der Anfang vom Ende ihrer kurzen und heftigen Liebschaft.

Er klickt das nächste Foto an. Hierauf schaut sie ernster und noch verführerischer. Sie ist ganz in Schwarz gekleidet, nur der Anhänger ihrer Halskette leuchtet rot auf. Es ist ein Rubin. Angeblich hat sie ihn auf dem Trödel erstanden, doch Ben kann das kaum glauben, dafür wirkt er zu kostbar. Er liebt dieses Schmuckstück an ihr. Sie trug es in ihrer ersten gemeinsamen Nacht. Plötzlich sieht er sie vor sich, unbekleidet, nur mit dem Rubin auf ihrer nackten Haut, und sie flüstert seinen Namen.

Er denkt an die kleine Tätowierung auf ihrem rechten Schulterblatt. Das Motiv eines Wolfs.

Rasch klickt er weiter.

Es sind Fotos von einer Datingwebsite. Ihr Profil ist längst gelöscht, doch die Bilder hat Ben kopiert und in einem besonderen Ordner abgelegt, damit er sie immerzu betrachten kann. Noch heute ist es ihm schleierhaft, wie eine so attraktive und kluge Frau wie Annie auf die Idee kommt, sich online auf die Suche nach einer Beziehung zu machen. Die Männer müssten ihr doch ohnehin in Scharen zulaufen. Wozu also der Umweg über das Internet? Ist Annie vielleicht gar nicht so selbstsicher, wie es scheint? Zweifelt sie insgeheim an sich selbst?

Was er an jenem Montag über sie herausgefunden hat, bestärkt ihn in seinem Verdacht, dass nicht alles in ihrem Leben so großartig sein kann, wie sie es andere gern glauben lässt.

»Wer bist du wirklich, Annie Friedmann?«, fragt er leise, als er das nächste Foto anschaut. Hierauf ist sie jünger, ungefähr Anfang zwanzig, sie schmiegt sich an den Hals eines Pferds. Es ist ein Araber-Haflinger, fuchsfarben, mit heller Mähne. Schon als Jugendliche war sie gern auf Reiterhöfen, das hat sie ihm erzählt. Ihr Traum ist es, einmal ein eigenes Pferd zu besitzen.

»So eins wie das auf dem Foto«, sagte sie zu ihm. »Das ist übrigens Sultan. Ich liebe dieses Pferd. Ich würde es so gern mein Eigen nennen.«

»Wo ist das Bild aufgenommen worden?«, fragte er sie.

»Ach, das spielt keine Rolle.«

Insgesamt war er drei Monate mit Annie zusammen. Aber bereits nach ein paar Wochen hat er überlegt, wie es wäre, ihr den Traum zu erfüllen. Sie womöglich an ihrem Geburtstag mit einem Pferd zu überraschen. Er hat sich sogar schon erkundigt, wo es in Berlin die Möglichkeit gibt, Pferdeboxen zu mieten.

»Du bist ein Vollidiot, Ben Kramer«, beschimpft er sich selbst.

Ein weiteres Foto zeigt sie mit hochgesteckter Frisur. Sie trägt eine weiße Bluse zu einem dunklen Bleistiftrock. Ihr Lächeln ist verschmitzt, als wolle sie dem Betrachter sagen: »Ich tu nur so seriös, aber das Berufsleben verlangt es nun mal.« Ben muss sich eingestehen, dass er sie in dieser eher biederen Aufmachung besonders sexy findet. Wie oft hat er sich vorgestellt, dass sie in dem Outfit vor die Schüler ihrer Klasse tritt. Annie erzählte ihm, sie sei Kunstlehrerin an einem Gymnasium. Ihr zweites Fach sei Deutsch.

»Als Schüler hätte ich mich sofort in dich verliebt«, gab er ihr gegenüber zu, worauf sie herzhaft lachte.

Einmal sagte sie zu ihm: »Weißt du, ich arbeite gern mit Kindern und Jugendlichen zusammen. Aber mir ist es auch wichtig, im Lehrbetrieb meine eigene Kunst nicht zu vernachlässigen.«

Er hörte ihr gerne zu, wenn sie über ihre künstlerische Arbeit sprach. Annies Lieblingsmaterial ist Holz. Sie schnitzt kleine Figuren. Eine davon steht auf seinem Schreibtisch, sie hat sie ihm geschenkt. Es ist ein Wolf, ungefähr zehn Zentimeter groß. In ihrer Wohnung befinden sich mehrere Holzobjekte dieser Art, Wölfe sind ihr bevorzugtes Motiv.

»Das sind ungemein kluge Tiere«, sagte sie. »Sie sind sehr sozial. Sie kümmern sich liebevoll um ihren Nachwuchs, um Alte und Verletzte, und sie sind unglaublich verspielt. Im Spiel können sie alles um sich herum vergessen. Ich glaube, in meinem zweiten Leben wäre ich gerne eine Wölfin.«

Und wieder muss er an ihr Wolfstattoo denken, das er sehr aufregend findet.

Ein Zimmer in ihrer kleinen Wohnung im Bezirk Prenzlauer Berg, die nicht weit von seiner entfernt liegt, hat sie zu einer Art Bildhauerwerkstatt umfunktioniert. Das andere Zimmer ist ihr Wohn- und Schlafzimmer. Es ist sehr gemütlich eingerichtet, mit vielen Bildern an den Wänden, selbst genähten Vorhängen, einer ausladenden Kommode vom Trödel, die sie eigenhändig abgeschliffen und mehrfarbig verziert hat, einem großen Bett, das überhäuft ist mit unzähligen Kissen. Vorm Fenster stehen zwei zerschlissene Ledersessel, an einer Wand ist eine lange Stange befestigt, an der Annie ihre Jacken und Kleider aufhängt. In der Küche hat sie ein Sofa stehen, das flankiert ist von mehreren Bücherstapeln und den Manga-Heften, die sie so sehr liebt. Davor befindet sich ein großer Holztisch, an dem sie nicht nur isst, sondern auch Klassenarbeiten korrigiert. Zumindest sagte sie ihm das. Töpfe und Pfannen hängen an einem Metallgestell über dem Herd, das ihr gleichzeitig als Bord für ihre zahlreichen Küchenkräuter dient.

Schon bei seinem ersten Besuch war Ben von dem kreativen Durcheinander in ihrer Wohnung fasziniert. Annie zeigte ihm die kleinen Schnitzarbeiten in ihrem Atelierzimmer. Außer den Wölfen sind das allerlei verrückte menschenähnliche Wesen, kurzbeinig, mit übergroßen Ohren und Nasen, bunt angemalt, die sie Kobolde nennt. Sie sprach so übersprudelnd von ihrer Kunst und dem Bemühen, die Begeisterung für ihr Fach auch ihren Schülern am Gymnasium zu vermitteln, dass Ben seinen eigenen Beruf mal wieder für eher gewöhnlich und langweilig hielt.

Er ist als Steuerberater tätig, selbstständig in einem eigenen Büro ohne Mitarbeiter. Er kann nun mal gut mit Zahlen jonglieren, Bilanzen, Steuererklärungen und Abschreibungstricks sind sein Metier. Aber wenn er ehrlich ist, sieht er in seinem Beruf nur die Möglichkeit, gutes Geld zu verdienen, eine Erfüllung ist er nicht. Er hat ein paar Künstler, Schriftsteller und Filmemacher als Mandanten. Kreative Menschen hat er schon immer bewundert. Seine Mutter war früher Schauspielerin am Theater. Er hat schon als Jugendlicher gerne ihre Vorstellungen besucht. Eigentlich hatte er auch als junger Mann damit geliebäugelt, sich an einer Schauspielschule zu bewerben. Letztlich aber brachte er nicht den Mut dafür auf. Stattdessen erlernte er den Beruf seines Vaters, der erschien ihm weitaus sicherer. Nicht einmal sein Schritt in die Selbstständigkeit erforderte viel Wagemut. Sein Vater starb, und er übernahm sein Büro und sämtliche Mandanten von ihm.

Ein Mausklick, und das nächste Bild von Annie erscheint auf dem Computer. Warum hat sie sich ausgerechnet mit ihm verabredet? Auf ihr Datingprofil hin müssen sich doch unzählige Männer gemeldet haben. Sind es die Gegensätze, die sich anziehen? Er bewundert ihre Verspieltheit und Kreativität, sie die Verlässlichkeit und Sicherheit, die er ausstrahlt? Anfangs hat er noch gedacht, dass sie es wenigstens nicht auf sein Geld abgesehen haben kann, schließlich verdienen Gymnasiallehrerinnen nicht schlecht, doch dann kam der verhängnisvolle Montag, und Annies finanzielle Lage erschien in einem anderen Licht.

Warum hat sie ihn angelogen?, fragt er sich, während er ihr Foto auf dem Monitor studiert. Welche Geheimnisse verbergen sich noch hinter ihrer hübschen Fassade?

Stumm lächelt sie ihn an. Er bewundert ihr langes kirschholzfarbenes Haar. Den Glanz ihrer Augen. Ihre umwerfende Figur. Ob sie das mintgrüne Kleid, das sie auf diesem Bild trägt, auch selbst genäht hat? Auf der alten Singer-Maschine, die sie gebraucht im Internet erstanden hat? Sie steht bei ihr in der Küche auf dem Boden, zwischen den Stapeln von Büchern.

Wo ist Annie jetzt? Warum reagiert sie nicht auf seine Anrufe? Er war vor ihrer Wohnungstür, hat die Nachbarn nach ihr befragt. Sie sagten ihm, sie hätten sie längere Zeit nicht gesehen.

Ob ihr möglicherweise etwas zugestoßen ist?

Ihr Streit tut ihm leid, und er wünscht sich nichts sehnlicher, als dass sie zu ihm zurückkehrt.

Er denkt an ihr erstes Date in dem kleinen italienischen Restaurant, bei Kerzenlicht und einer guten Flasche Wein. Sie kam nur zehn Minuten zu spät. Ihr Lächeln zog ihn sofort in den Bann. Seine Nervosität war wie weggezaubert, kaum hatte sie sich gesetzt und das Gespräch mit ihm begonnen. Er fühlte sich auf Anhieb wohl in ihrer Nähe. Sie lachten viel an diesem Abend. Er mochte die Art, wie sie sich das Haar hinter die Ohren strich. Er beobachtete ihre schönen Hände mit den langen Fingern, wenn sie mit dem Weinglas spielte. Allerdings musste er sich schon damals ständig fragen, warum sie ausgerechnet ihn ausgewählt hatte. Er war erstaunt, als sie ihm sagte, sie würde ihn gern wieder treffen.

Er hält sich nicht für besonders attraktiv. Für einen Mittdreißiger ist sein Haar schon ziemlich schütter. Sein Gesicht hält er für eher durchschnittlich. Und dann ist da noch sein fataler Hang zum Bauchansatz, den er verbissen jeden Tag nach der Arbeit im Fitnessstudio zu bekämpfen versucht.

»Du bist ein sehr aufmerksamer Zuhörer«, hat sie einmal zu ihm gesagt. »Und du riechst so gut. Außerdem mag ich deine Augen. Du bist aufrichtig, Ben. Ich glaube, dir kann man vertrauen.«

»Kann man dir vertrauen, Annie?«, fragt er in die Stille seiner Wohnung hinein.

Er schließt den Ordner mit den Fotos und fährt den Computer herunter. Er geht ins Schlafzimmer und lässt sich aufs Bett sinken. Er nimmt das Kopfkissen zur Hand, auf dem sie immer gelegen hat, und schnuppert daran. Verzweifelt versucht er, einen Resthauch ihres Dufts in sich aufzunehmen. Seit ihrem Streit, seitdem sie türenschlagend aus seiner Wohnung gestürmt ist, hat er das Bettzeug nicht mehr gewaschen.

Was ist er nur für ein Idiot gewesen. Warum musste er ihr hinterherspionieren an jenem verhängnisvollen Montagmorgen vor zwei Wochen? Eine Lüge ist oftmals bequemer als die Wahrheit.

Es geschah nach einem zauberhaften Wochenende. Am Samstag waren sie in einer Kunstausstellung, abends in einer Bar. Am Sonntag besuchten sie den Trödelmarkt im Mauerpark, und er kaufte für sie eine Stehlampe im Art-déco-Stil, die ihr offensichtlich gefiel, da sie immer wieder zu dem Stand zurückging, an dem sie angeboten wurde. Sie freute sich unbändig über seine Aufmerksamkeit und sagte begeistert, sie wolle sich die Lampe in ihr Atelier stellen. Sie aßen in einem feinen Restaurant zu Mittag, und den Rest des Tages verbrachten sie in seinem Schlafzimmer. Abends schauten sie sich einen Film auf DVD an, und dann gingen sie zu Bett und schliefen aneinandergeschmiegt ein.

Am Montag musste Annie früh raus. Er aber hatte unverhofft einen freien Vormittag. Zwei Mandanten hatten ihre Gesprächstermine abgesagt, und Ben beschloss, erst am Mittag ins Büro zu fahren. Annie hatte seine Wohnung längst verlassen, während er noch herumtrödelte, bis er schließlich aufbrach, um noch ein paar Einkäufe zu erledigen.

Er saß in seinem Wagen, wartete an der Kreuzung Wörther Straße und Schönhauser Allee, um sich in den Verkehr einzufädeln, als er sie sah. Sie ging in leicht gebückter Haltung den Gehweg entlang, hatte den Kragen ihrer Jacke hochgeschlagen. Zunächst dachte er an eine Verwechslung, aber nein, das war Annie. Er wollte schon auf die Hupe drücken, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte, finster, abweisend, so kannte er sie gar nicht.

Entgegen seiner Absicht fuhr er geradeaus weiter, überquerte die Tramschienen, bog nach links und scherte in eine Parklücke ein. Er stieg aus und folgte ihr auf der anderen Straßenseite zu Fuß.

Wie seltsam, dass sie ausgerechnet um diese Zeit draußen unterwegs war. Montags hatte sie doch viele Unterrichtsstunden. Warum war sie nicht bei ihren Schülern?

Sie ging zur Tramhaltestelle. Er folgte ihr in einigem Abstand. Sie stieg in die Straßenbahn, und er sprang in den angrenzenden Wagen, kurz bevor die Türen zuschlugen. Er versteckte sich in einem Pulk von stehenden Fahrgästen und behielt sie im Auge. Am Alexanderplatz stieg sie aus und lief hinunter zur U-Bahn-Station. Sie nahm die U8 Richtung Wittenau. Am Bahnhof Osloer Straße stieg sie aus.

Was hatte sie in diesem Viertel zu suchen? Er mochte diese Gegend im Wedding nicht, sie war laut, hektisch und ziemlich heruntergekommen. Auf der Straße krümmte Annie die Schultern ein. Sie schien es sehr eilig zu haben. Manchmal ruckte sie eigenartig mit dem Kopf, als habe sie einen nervösen Tick oder werde von äußerst düsteren Gedanken geplagt. Sie wirkte auf ihn wie eine Fremde. Das war nicht seine Annie.

Plötzlich steuerte sie auf ein Schnellrestaurant zu. Sie ging hinein. Er blieb vor der Frontscheibe stehen und beobachtete, wie sie in der Küche verschwand. Kurz darauf kam sie zurück, bekleidet mit einem schlecht sitzenden T-Shirt, einer ausgebeulten Polyesterhose und einer erbärmlichen Schirmmütze, und bediente die Kaffeemaschine hinter dem Tresen.

Ben wartete nicht länger, sondern fuhr zurück. Er suchte das Gymnasium auf, in dem sie angeblich unterrichtete. Im Sekretariat erkundigte er sich nach der Kunst- und Deutschlehrerin Annie Friedmann.

Am frühen Abend kam sie heim. Sie trafen sich immer öfter in seiner Wohnung in der Nähe vom Kollwitzplatz, vier Zimmer auf hundertdreißig Quadratmetern, sehr viel mehr Platz als bei ihr. Ihm wäre es nur recht gewesen, wenn sie bald hier eingezogen wäre. Ihre Zahnbürsten standen nebeneinander im Becher, Sachen von ihr hingen in seinem Schrank.

An jenem Montagabend küsste sie ihn wie gewöhnlich zur Begrüßung, doch er rührte sich kaum.

»Was ist los mit dir, Ben?«

»Ich war heute in deiner Schule.« Er schluckte. »Man kennt dort keine Annie Friedmann.«

Sie zog die Luft ein und erbleichte. »Du spionierst mir nach?«

»Es war ein Zufall. Ich stand vor diesem Schnellrestaurant im Wedding.«

»Du bist mir gefolgt.«

»Ja. Du siehst komisch aus mit der Schiebermütze und den Fettspritzern auf dem T-Shirt. Warum zum Teufel hast du mich angelogen?«

Es sollte nicht so heftig klingen. Noch heute bedauert er den aggressiven Tonfall in seiner Stimme.

Sie kniff die Augen zusammen. »Ruf mich nie wieder an«, stieß sie hervor.

Schon war sie zur Tür hinaus.

Die Art-déco-Lampe vom Trödel steht noch bei ihm im Flur. Sie hat sie nicht abgeholt. Auch ihre Zahnbürste befindet sich noch in seinem Badezimmer, und ihre Wäsche liegt in seinem Schrank. Anfangs erfüllte ihn das mit Hoffnung. Jeden Abend wartete er auf ihre Rückkehr, doch vergebens.

Warum geht sie nicht ans Telefon? Wieso ruft sie ihn nicht zurück? Ist sie noch immer wütend auf ihn?

Oder ist ihr tatsächlich etwas zugestoßen?

Zigmal hat er ihr auf die Mailbox gesprochen und beteuert, wie leid es ihm tut. Auch jetzt greift er zum Handy und wählt ihre Nummer, um es ein weiteres Mal zu versuchen.

Sofort schaltet sich ihre automatische Ansage ein: »Hallo, hier ist Annie. Hinterlasst mir eine Nachricht nach dem Pieps.«

Sie klingt fröhlich und unbeschwert. So wie sie war, bis zu dem Moment, da er sie als Lügnerin entlarvte.

Ben steckt das Handy ein, nimmt seine Jacke und verlässt die Wohnung. Er muss raus, irgendwo etwas trinken. Er weiß, er verbringt zu viel Zeit mit Erinnerungen. Doch wie soll er Annie jemals vergessen?