Der Traummacher - Max Bentow - E-Book
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Der Traummacher E-Book

Max Bentow

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Beschreibung

Simona ist eine lebenslustige junge Frau und im Begriff, gemeinsam mit ihrer Freundin Alina eine Werbeagentur in Berlin aufzubauen – bis sie eines Nachts auf tragische Weise ihrem Herzleiden erliegt. Ihre Mutter ist fortan eine gebrochene Frau, die das Trauma nicht überwinden kann: Sie hört Simonas Stimme und wird von schrecklichen Fantasien verfolgt. Doch dann ereignet sich etwas Unfassbares – sie wird im Keller ihres Hauses auf bestialische Weise ermordet, ihr Körper ist mit Biss-Spuren übersät. Nils Trojan und sein Team, die sofort am Tatort eintreffen, sind noch nie mit einem solch schockierenden Anblick konfrontiert worden. Doch dies ist erst der Anfang, denn wenig später wird auch Alina in einer verlassenen Turnhalle am Rande Berlins tot aufgefunden, ihr Hals entstellt von denselben grausamen Malen. Nils Trojan ermittelt fieberhaft, und was er enthüllt, führt ihn an den schwärzesten Abgrund, in den er je geblickt hat ...

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Über das Buch

Simona ist eine lebenslustige junge Frau und im Begriff, gemeinsam mit ihrer Freundin Alina eine Werbeagentur in Berlin aufzubauen – bis sie eines Nachts auf tragische Weise ihrem Herzleiden erliegt. Ihre Mutter ist fortan eine gebrochene Frau, die das Trauma nicht überwinden kann: Sie hört Simonas Stimme und wird von schrecklichen Phantasien verfolgt. Doch dann ereignet sich etwas Unfassbares – sie wird im Keller ihres Hauses auf bestialische Weise ermordet, ihr Körper ist mit Biss-Spuren übersät. Nils Trojan und sein Team, die sofort am Tatort eintreffen, sind noch nie mit einem solch schockierenden Anblick konfrontiert worden. Doch dies ist erst der Anfang, denn wenig später wird auch Alina in einer verlassenen Turnhalle am Rande Berlins tot aufgefunden, ihr Hals entstellt von denselben grausamen Malen. Nils Trojan ermittelt fieberhaft, und was er enthüllt, führt ihn an den schwärzesten Abgrund, in den er je geblickt hat …

Über den Autor

MAX BENTOW wurde 1966 in Berlin geboren. Nach seinem Schauspielstudium war er an verschiedenen Bühnen als Schauspieler tätig. Für seine Arbeit als Dramatiker wurde er mit zahlreichen renommierten Preisen und Stipendien ausgezeichnet. Mit den fünf bisher erschienenen Kriminalromanen um den Berliner Kommissar Nils Trojan gelang Max Bentow ein großer Erfolg, alle Bücher standen auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.

Max Bentow

Der Traummacher

Psychothriller

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. 

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe August 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt

durch die Literarische Agentur Michael Gaeb

Covergestaltung: Uno Werbeagentur, München

Covermotiv: Arcangel / Paul Bucknall

ISBN 978-3-641-18237-3V003

www.goldmann-verlag.de

ERSTER TEIL

EINS

Oktober 2014

Willst du ein paar Fotos von mir schießen?«

Simona lachte ihn an. Sie war ihm auf einmal so nah, ihre helle Haut, der Wirbel ihrer Haare, ein Wunder in Kastanienrot, dicht und schön. Ihre Augen glänzten, beinahe fiebrig, so dass es ihm den Atem nahm.

Luis schluckte. »Ich hab meine Ausrüstung nicht dabei.«

Wieder lachte sie. »Dann lass sie uns holen.« Sie nahm seine Hand. »Los, wir gehen gemeinsam. Mach aufregende Aufnahmen von mir, ja?«

Es verwirrte ihn. Vor nicht weniger als einer Minute war er um die Ecke gebogen, allein, mit eingesunkenen Schultern wie immer nicht ahnend, was diese Nacht für ihn bereithalten sollte. Er hatte seinen düsteren Gedanken nachgehangen, auf dem Heimweg in die leere Wohnung, wo ihn niemand erwartete. Und dann war er buchstäblich mit dieser jungen Frau zusammengestoßen, die er nur entfernt kannte. Simonas Lächeln beglückte ihn, aber es jagte ihm zugleich Schauer der Un­ruhe über den Rücken, und eine Ahnung von Unheil erfasste ihn.

Sie zog ihn mit sich, ihre Schritte waren federnd. »Schnell, Luis, schnell, ich kann es kaum erwarten.« Röte auf ihren Wangen, der Schwung ihrer Lippen, wenn sie mit ihm sprach, und wie sie ihn von der Seite anblickte, als würden Funken aus ihrer Iris sprühen. Dabei hatte sie ihm ansonsten kaum Be­achtung geschenkt.

Schon hatten sie sein ebenerdiges Büro in der Pflügerstraße erreicht. Die Lichter der Laternen spiegelten sich in der Glasfront. LUISFERNER, ANALOGEFOTOGRAFIE, hieß es auf der schmucklosen Visitenkarte an der Tür. »Analog, wie altmodisch«, hatte er mal einen Passanten im Vorbeigehen zu seiner Begleiterin sagen hören. Er schloss auf und ließ Simona herein. Er schämte sich für die Unordnung. Hierher verirrte sich selten jemand außer ihm.

Simona aber warf sich bereits in Pose, in der Mitte des Raumes. Er wusste, sie meinte es nicht ernst. Sie mimte nur das Model für ihn, ihre Haltung war dramatisch, bewusst überzogen. Was trieb sie bloß an in dieser Nacht? Was hatte sie mit ihm vor? Abermals bemerkte er den fiebrigen Schimmer in ihren Augen.

Selbst wenn sie mit mir spielt, dachte er, ich muss diesen Moment festhalten, ihn einfrieren in meinem Gehirn. Simona gehörte ihm, ihm allein, jetzt.

Sie straffte ihre Schultern, knöpfte ihre taillierte Kunstleder­jacke auf und präsentierte ihm die Rundung ihrer Brüste unter dem knappen Shirt.

»Ist es so gut, Luis?«

Er schnappte sich seine Nikon und drückte ab.

Sie warf sich das Haar in den Nacken. Der Auslöser klickte.

»Ja, gut.«

Sie tänzelte auf ihn zu, ihre Umrisse verschwammen im Sucher, er stellte schärfer.

»Und so?«

Sie rotierte mit den Hüften, ihr kurzer Rock ein Fetzen. Er schoss. Biker Boots über ihren nackten Waden, er feuerte ab.

Du träumst, dachte er. Sie warf ihre Jacke ab, lüpfte das Shirt bis weit über den Bauchnabel.

Die feine Mechanik der Kamera gab Geräusche von sich, für ihn klangen sie wie Maschinengewehrsalven, doch seine Hand blieb ruhig.

»Gib mir Anweisungen«, sagte sie.

Er wusste nicht, wie.

»Wenn du überzeugend sein willst in deinem Job, darfst du nicht zimperlich sein. Also schrei mich an, Luis, gib es mir!«

So etwas konnte er nicht. Er neigte nicht dazu, laut zu werden. Dafür hatte er sie überdeutlich im Fokus, ihren Blick, den Mund, ihren zarten weißen Hals. Er glaubte, das Pulsen unter ihrer Haut, das Pochen in ihren Adern ablichten zu können, in dieser Nacht würde es ihm gelingen. All das wäre auf dem Film. Und in seinem Kopf. Für immer.

»Gefalle ich dir?«

Nun war sie unscharf. Sie trat dicht an die Linse. Noch näher, und das empfindliche Glas wurde von ihrem Atem beschlagen.

Er ließ die Kamera sinken. »Du bist schön.«

»Und gefällt dir das?«

Ihre Hand schmiegte sich in seinen Nacken. Die Hitze ihrer Berührung lähmte ihn. Noch bevor er etwas sagen konnte, war es vorbei. Wie nach einem Zeitsprung schlüpfte sie in ihre Jacke, einen Meter entfernt von ihm.

»He, Luis, ich hab eine bessere Idee.«

Sie lachte. Er hatte Mühe, ihr zu folgen. Sie war so sprunghaft. Er überlegte, in welcher Sekunde ihm die Gelegenheit entgangen war, sie zu küssen. Oder hatte sie es überhaupt nicht darauf angelegt? Stellte er sich dämlich an?

Sie war bereits an der Tür. »Komm schon! Lass die Kamera hier. Wir machen etwas noch viel Aufregenderes.«

Kaum waren sie zurück auf der Straße, winkte sie ein Taxi heran. Ein weiterer Zeitsprung, und sie presste ihre Schenkel gegen seine Knie, auf der Rückbank des Wagens.

»Halten Sie am S-Bahnhof Neukölln«, sagte sie zum Fahrer.

Was hatte sie vor? Wohnte sie in der Gegend? Er verachtete sich für seine Zaghaftigkeit. Warum konnte er nicht großspurig sein wie andere auch? Wieso waren ihm nicht die Gene eines Draufgängers vergönnt? Ihm wurde schmerzhaft bewusst, dass es keine zweite Chance gab, denn Frauen wie Simona lehnten sich normalerweise nicht an seine schmalen Schultern.

Sie blies ihm den Atem ins Gesicht, als sie ihm zuflüsterte: »Bist du okay?«

»Ja.«

Er durfte es nicht vermasseln. Bloß nicht wieder als Langweiler gelten, diese Schmach haftete ihm noch immer an.

»Deine Fotos sind gut«, sagte sie plötzlich ernsthaft. »Du hast Talent.«

Er runzelte die Stirn. »In der Agentur hörte sich das aber anders an.«

Es war ihr nicht unbedingt anzumerken, doch mit ihren gerade mal dreißig Jahren hatte Simona unlängst eine kleine Firma gegründet. Zusammen mit ihrer besten Freundin Alina, die im selben Haus wohnte wie Luis, daher kannte er die beiden flüchtig. Kron & Wiesner hieß die Werbeagentur, keine Angestellten, bloß ein geringes Startkapital. Und dennoch hatten sich die zwei innerhalb kürzester Zeit einen Ruf erarbeitet. Sie galten als jung und hip, ehrgeizig und schrill. Vor einigen Wochen hatte sich Luis ein Herz gefasst und sich mit seiner Mappe bei ihnen beworben. Während Alina seine Fotos als bieder und nichtssagend bezeichnete, hielt sich Simona mit ihrem Urteil zurück.

Nun aber sagte sie: »Doch, ehrlich, ich glaube an dich.«

Er war völlig verblüfft. Offenbar träumte er tatsächlich. Dabei fühlte sich die Wärme ihres Körpers neben ihm so erschreckend real an.

Ihr Lächeln war rätselhaft. »Kein Grund nervös zu sein, Luis. Die Nacht gehört uns.«

Das Taxi hielt.

»Bist du bereit?«

Er nickte, kramte das Geld aus der Hosentasche und bezahlte den Fahrer.

Lachend rannte sie mit Luis die Treppen zum Bahnhof hin­auf. Auf halbem Weg angekommen, packte sie ihn plötzlich am Arm und zerrte ihn in eine Nische. »Hier entlang«, wisperte sie.

Ehe er sichs versah, kletterte sie eine schmale Eisenleiter hinauf.

»Was …?«

»Keine Fragen, los!«

Er folgte ihr. Sie hangelte sich vor bis zu einem Mauervorsprung, und er tat es ihr gleich. Nachdem sie im Halbdunkeln ein Stück über ihn hinwegbalanciert waren, machte Simona einen Satz und kletterte vor seinen erstaunten Augen auf das Dach überm Bahnsteig. Von oben reichte sie ihm die Hand.

»Schnell!«

Sein Atem stockte. Im zweiten Versuch hatte er es geschafft. Nun standen sie beide oben. Sie grinste ihn an.

In diesem Moment fuhr unter ihnen ein Zug in den Bahnhof.

»Springen«, flüsterte sie.

»Wie?«

»Sobald die S-Bahn abfährt, springen wir auf einen der Waggons.«

»Nein!«

»Willst du nun was Aufregendes erleben oder nicht? Es ist ganz einfach. Du springst auf den Zug und legst dich flach hin. Wir surfen auf dem Dach der S-Bahn bis zur nächsten Station.«

»Bist du verrückt?«

»Es ist überhaupt nicht schwer.« Sie strich über seinen Arm. Ihr Lächeln war wie entrückt. »Wirklich, Luis, du schaffst es. Und du wirst es nicht bereuen.«

»Aber …«

»Kein Aber. Einfach springen. Ich sage dir, es ist der Wahnsinn. Wir surfen auf der Bahn durch die Stadt.«

Er wich vor ihr zurück.

Sein Blick glitt hinab auf den Bahnsteig, wo der Zug wartete. Und schon hörte er, wie die Türen zufielen.

»Los jetzt!«

»Ich kann nicht!«

Der Zug fuhr ab.

Sie war enttäuscht, das sah er ihr an. »Schade, Luis. Du bist also doch ein Langweiler.«

Er schwieg betreten.

In einer sacht kreisenden Bewegung malte ihr Finger seine Lippen nach. »Nehmen wir die nächste Bahn? Keine Ausflüchte?«

Er spürte, wie sein Herz höher schlug. »Hast du das schon öfter getan?«

»Früher, ja. Es ist unglaublich. Es pumpt dich voll mit Adrenalin.« Sie lächelte. »Leg dich flach auf den Bauch. Natürlich kannst du auch aufstehen, aber im Liegen ist es sicherer. Vor allem unter der Brücke.«

»Welche Brücke?«

»Unser Ritt auf dem Dach führt uns bis zur Hermannstraße, eine Station von hier. Auf dem Weg dorthin befindet sich eine Brücke. Unter der solltest du dich lieber ducken, ansonsten …« Sie machte eine Geste mit der Hand, die offenbar einen wegfliegenden Kopf darstellen sollte.

Luis begann zu zittern.

»Bleib ruhig.«

Sie verharrten. Unter ihm die Bahnsteigkante. Er hatte freie Sicht auf die Schienen, es ließ ihn schaudern. Eine merkwürdige Stille herrschte auf dem Bahnhof. Niemand schien sie zu bemerken, zwei Schatten vorm nächtlichen Himmel, unter der leuchtenden Mondsichel.

»Wir sind zu alt dafür«, murmelte er. »Das ist was für Teenager.«

»Nein, es ist für Helden, egal wie alt. Bist du dabei?«

Er schluckte.

»Luis«, flüsterte sie, »glaub mir, es ist das Aufregendste, was du jemals erlebt hast.«

Er schaute sich um. Der Horizont weit, die Lichter der Stadt verändert, schwefelgelb mit einem Stich ins Grellweiße wie unter einem Farbfilter.

Der nächste Zug fuhr ein, allerdings auf der Gegenseite. Sein Herz hämmerte. Der Zug fuhr ab, der Bahnsteig leerte sich. Einige Zeit später war es so weit. Ängstlich blickte er auf das Gehäuse der S-Bahn hinab, es leuchtete rot, warnend rot, etwa einen Meter unter ihm. Sich fallen zu lassen wäre ein Leichtes. Was danach folgen würde, erfüllte ihn mit Panik.

Der Höllenritt, der noch vor ihm lag.

Simona strahlte ihn an. »Ich bin stolz auf dich. Und vergiss nicht: Wir beide sind stark. Unendlich stark.«

Langsam setzte sich der Zug in Bewegung.

Sie griff nach seiner Hand und sprang mit ihm hinab.

Er strauchelte, verlor das Gleichgewicht. Simonas Hand entglitt ihm. Der Zug nahm Fahrt auf. Luis fiel auf die Seite, rutschte weg. Ein Signalmast flog ihm entgegen. Er warf sich herum, weg von dem tonnenschweren Ding, presste sein Körpergewicht nach unten. Verzweifelt streckte er die Arme aus, seine Hände suchten Halt auf dem Dach der Bahn.

Er konnte das Metall riechen. Er spürte die Vibrationen. Ihm war, als stieße die Geschwindigkeit direkt in seine Körpermitte hinein. Der Sog wurde stärker, kalt packte ihn der Fahrtwind an der Kopfhaut.

Wo ist Simona?, durchfuhr es ihn.

Da hörte er sie jubeln. »Wahnsinn! Luis!«

Er wagte es, den Kopf ein wenig anzuheben. Sie stand. In Fahrtrichtung, mit dem Rücken zu ihm. Leicht vorgebeugt, die Biker Boots auf das S-Bahn-Dach gestemmt, die Beine lang, der Rock ein flatterndes Etwas, zuweilen blitzte ihr Höschen auf. Ihre Haare wirbelten herum, wallend, ein loderndes Rot.

Seine Augen tränten. Er wusste nicht, ob vom Wind oder da er um ihrer beider Leben fürchtete. Er wollte ihr etwas zurufen. Doch der Lufthauch fuhr ihm in die Kehle und erstickte seine Stimme.

Ihm war innerlich heiß, während er am ganzen Körper zitterte. Die Stadt brauste an ihm vorbei, das Echo der ratternden Bahn brandete von den Häuserzeilen. Er war der Geschwindigkeit ausgeliefert, ihm blieb nichts anderes übrig, als wehrlos auszuharren.

Hinlegen, dachte er, Simona, bitte. Doch sie bot weiterhin den frontalen Strömungen die Stirn, die Knie gebeugt, die Hände nach vorn gestreckt. Sie war eine Galionsfigur auf der S41, und ihr wehendes Haar schien in Flammen zu stehen.

Da sah er die Brücke heransausen, Pfeiler, Beton, Asphalt, das Geländer, dahinter die Lichtspuren der Autoscheinwerfer, Dunst in den Leuchtkegeln der Straßenlaternen. Er sah den Himmel, schwankend, die Sichel des Mondes, schief.

Er schrie ihren Namen.

Auf einmal neigte sich Simona zur Seite. Zu spät, vorbei! Er sah sie bereits taumeln, abheben. Und weg, um schließlich irgendwo am Rand des Gleisbetts zu zerschellen. Doch dann erkannte er, dass sie noch stand.

Aber die Brücke! Sie jagte auf sie zu. Wieder schrie er. Simona wandte sich um und rollte in der Drehung ab, bis sie flach vor ihm landete, so dass sie Gesicht an Gesicht lagen.

Er keuchte. »Pass auf!«

Sie aber lachte nur, während sie unter die Brücke gerieten. Ein tosender Sog, krachende Schallwellen. Luis drohte abzudriften, klammerte sich fester, eine gewaltige Kraft zerrte an ihm, bis sie endlich am anderen Ende ausgespuckt wurden.

Doch die Fahrt ging gnadenlos weiter.

»Wie lange noch?«, japste er.

»Nicht mehr weit!«

Wie hielt sie das aus? Wie konnte sie lächeln dabei?

Simonas Haar berührte seine Wangen. Wogende Strähnen, die ihn besänftigen wollten, verwirbelt in diesem Windkanal. Ihr Gesicht schien zu glühen.

»Wir fliegen, Luis! Wir sind außerirdisch!«

Wenn wir diesen Trip überleben, dachte er, könnte er uns zusammenführen, für immer.

Während sie erneut Jubelschreie ausstieß, spürte er seine Kräfte schwinden. Nur nicht aufgeben, nicht kurz vorm Ziel. Endlich verlangsamte der Zug. Luis spähte zaghaft über Simonas Kopf hinweg auf den nahenden Bahnhof.

Schließlich tauchte das Dach neben ihnen auf. Der Zug hielt.

Simona war längst wieder auf den Beinen, während er langsam machen musste. Seine Glieder fühlten sich gummiweich an.

Sie nickte ihm auffordernd zu, duckte sich unter dem Dach hinweg und sprang auf den Bahnsteig. Luis folgte. Sie wurden von verblüfften Passanten beäugt, als er nach ihr unten auftraf. Er knickte um, ein stechender Schmerz fuhr in seinen Fußknöchel. Er rappelte sich hoch und hinkte Simona hinterher, die längst an der Treppe war.

Die Schmerzen in seinem Fuß niederkämpfend, stürmte er mit ihr die Stufen hinab und hinaus auf die Straße.

Ihre Rastlosigkeit erstaunte ihn, sie hatte wieder ein Taxi im Verkehr entdeckt und winkte es heran.

Er war noch immer zittrig, als er neben ihr auf der Rückbank saß. Sie nannte dem Fahrer eine Adresse, und sie fuhren los.

»Und?«, fragte sie ihn strahlend.

Es war ihm unmöglich zu antworten, denn er hatte seine Atmung noch nicht unter Kontrolle.

Sie rückte dicht an ihn heran. Die Hitze ihres Körpers, die rosige Haut, ihr funkelnder Blick. Sie war berauscht vom Adrenalin, er hingegen zutiefst verstört, aber vor allem dankbar, dass sie noch am Leben waren.

»Lust auf ein weiteres Spiel?«

»Noch eins?«, brachte er hervor.

Sie lachte. Ihre Lippen näherten sich ihm, voll und rund. Sie wisperte ihm ins Ohr: »He, Luis. Jetzt geht es doch erst richtig los.«

Die Welt schien zu kippen. Ihm war, als trieben seine Augen wie betäubte Fische in einem Aquarium. Für einen Moment musste er den Kopf an die Seitenscheibe lehnen. Simona streichelte aufmunternd seinen Arm.

Er überwand das Schwindelgefühl, bemüht, ihr Lächeln zu erwidern.

Das Taxi hielt. Sie befanden sich in der Nähe seines Viertels, er kannte die Straße.

Plötzlich blitzte ein Schlüssel in ihrer Hand auf.

»Komm in einer Stunde zu mir«, murmelte sie. »Vierter Stock links.« Sie deutete zu einem der Wohnhäuser. »Komm nicht früher und nicht später. Exakt in einer Stunde, das ist die Spielregel.«

Sie gab ihm den Schlüssel und hauchte ihm einen Kuss auf den Hals, so flüchtig, dass er es für eine Einbildung hielt.

Simona stieg aus und verschwand in dem Hauseingang.

Der Fahrer grinste ihn durch den Rückspiegel an. Luis war wie paralysiert. Schließlich zahlte er den angegebenen Betrag auf dem Taxameter und legte ein Trinkgeld obendrauf. Dann stieg auch er aus.

Der Wagen verschwand in der Nacht, und Luis blickte zu der Hausfassade hinauf.

Hinter dem Fenster im vierten Stockwerk wurde das Licht eingeschaltet. Gleich darauf wurden die Vorhänge zugezogen.

Er sah zur Uhr. Er hielt sich an Simonas Anweisung. Nach genau einer Stunde wandte er sich dem Eingang zu.

Seine Hand war erstaunlich ruhig, als er den Schlüssel ins Schloss steckte. Als er jedoch im halbdunklen Flur ihrer Wohnung stand, kniff er kurzzeitig die Augen zu und atmete mehrmals tief durch.

»Simona?«, fragte er leise.

Es kam keine Antwort.

Er sah sich um. Spärliches Licht drang aus einem der Räume, die Tür zum Nebenzimmer war verschlossen. Rechts befand sich die Küche, fahl schien das Mondlicht zum Fenster herein.

»Simona?«, fragte er wieder.

Er näherte sich der geöffneten Schlafzimmertür und trat ein. Sein Herz schlug höher, als er sie auf dem Bett liegen sah.

Sie trug nichts weiter als ein weißes, durchsichtiges Negligé.

Er verharrte. Danach tastete er sich weiter vor, Schritt für Schritt.

Sie will dich, dachte er. Also tu es. Etwas aber irritierte ihn. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Was war das nur? Warum kam er nicht in Stimmung?

Er ging noch einen Schritt näher heran. Und dann wusste er es. Es waren ihre Augen. Sie waren starr zur Decke gerichtet, unnatürlich weit aufgerissen. Und ihr Gesicht war aschfahl.

»Simona!«

Erschrocken ließ er sich auf dem Bettrand nieder. Ihre roten Haare waren auf dem Kissen ausgebreitet, lang und schön. Eine Strähne bedeckte ihre Schläfe.

Er wollte sie berühren. Da fuhr er zurück. Ihre Stirn war kochend heiß.

»Um Himmels willen, Simona, was ist mit dir?«

Er vernahm die Geräusche ihres Atems, schwer, stoßweise, unregelmäßig.

Plötzlich richtete sie sich auf. Im Versuch, ihn zu fixieren, traten ihre Augen noch weiter hervor.

»Luis!«

Er konnte nichts erwidern.

»Du musst mir helfen!«

Endlich hatte er seine Fassung wieder. »Was ist denn?«

Simona krümmte sich, verfiel in heftige Zuckungen. Hilflos glitt sein Blick über ihren halbnackten Körper.

»Bitte«, stammelte sie.

Sie sank zurück, von Krämpfen geschüttelt.

»Sag mir, was ich tun soll!«

Ihre Lippen bebten. Ihr entkamen bloß keuchende Laute. Das Negligé klebte an ihrer schweißnassen Haut.

Schließlich warf sie sich herum und zerrte an der Schub­lade ihres Nachttischs. Doch alsbald schien sie ihre Bewegungen nicht mehr unter Kontrolle zu haben, ihre Hand glitt aus und traf Luis im Gesicht. Ein spitzer Fingernagel zerkratzte ihm das Kinn.

Daraufhin übernahm er es, den Inhalt ihrer Schublade zu durchwühlen. »Brauchst du ein Medikament?«, fragte er ängstlich. »Ist es hier drin?«

Sie gab keine Antwort.

»Soll ich lieber den Notarzt rufen?«

Sie stöhnte laut auf und schüttelte energisch den Kopf. »Dort! Da drin!«

»Was denn?«

»Mach schon! Hilf mir.«

Hektisch durchsuchte er den Kram in ihrem Schubfach, bis er auf ein Kärtchen stieß.

Er nahm es heraus. Es war die Visitenkarte einer Arztpraxis:

Dr. Traut, Internist

IMNOTFALLZUBENACHRICHTIGEN hatte jemand handschriftlich in großen Lettern neben der aufgedruckten Adresse und einer Telefonnummer vermerkt. In gleicher Handschrift war eine weitere Nummer hinzugefügt worden, dazu das Wort PRIVAT.

»Ist es das, wonach du gesucht hast?«, fragte er.

Sie hyperventilierte, dabei antwortete sie mit einem schwachen Kopfnicken.

Luis griff nach seinem Handy. Rasch tippte er die Privatnummer ein, denn in der Praxis war bestimmt zu nächtlicher Stunde niemand zu erreichen.

Wieder und wieder ertönte das Freizeichen.

Endlich meldete sich eine verschlafene Stimme. »Ja?«

»Mein Name ist Luis Ferner. Es geht um Simona. ­Simona Wiesner … sie ist …«, er schaute zum Bett. Mein Gott, sie war so blass.

»Was ist passiert?«, fragte die Stimme ruhig.

»Sind Sie Dr. Traut?«

»Ja.«

»Es ist ein Notfall. Simona, sie … zuckt. Sie ist in einem merkwürdigen Zustand.«

»Wo sind Sie?«

»In ihrer Wohnung.«

»Geben Sie mir die Adresse.«

In seinem Kopf herrschte Leere. Den Straßennamen wusste er. Aber die Hausnummer? Er fragte Simona danach. Er musste ihr die Antwort von den Lippen ablesen.

»Nummer neun!«

»Ich komme vorbei«, sagte der Arzt.

Es klickte. Die Verbindung war unterbrochen.

Luis steckte das Handy ein und wartete ab. Er versuchte, beruhigend auf Simona einzureden, und tatsächlich ließen ihre Zuckungen ein wenig nach. Er hielt ihre fiebrig heiße Hand.

Es dauerte zu lange. Einmal erhob er sich und lief im Zimmer auf und ab.

Sie wimmerte, darum setzte er sich wieder zu ihr.

Luis erschien es wie eine Ewigkeit, bis endlich an der Tür geläutet wurde. Er stand auf, ging in den Flur und betätigte den Summer. Bald darauf vernahm er sich nähernde Schritte im Treppenhaus. Er öffnete. Ungeduldig empfing er den Arzt in der Wohnung.

»Dr. Traut?«

»Ja.«

Er war um die sechzig, schlohweißes Haar, großgewachsen. Er strahlte Ruhe aus, sein fester Händedruck tat ihm gut. Inständig hoffte Luis, dass er ein paar nützliche Mittel in seinem Koffer dabei hatte, Ampullen, Injektionen, die Simona wieder auf die Beine helfen würden.

»Wo ist die Patientin?«

Luis wies in die Richtung.

»Bleiben Sie hier, ich kümmere mich um sie.« Der Arzt ging ins Schlafzimmer und schloss hinter sich die Tür.

Luis nahm am Küchentisch Platz. In seinen Ohren rauschte das Blut. Einmal vernahm er Simonas Stöhnen. Dann wieder war es still.

Nichts geschah.

Reglos stierte er auf einen Punkt auf dem Linoleumboden. Die Minuten verstrichen.

Mit einem Mal stand Dr. Traut in der Küche, er hatte ihn gar nicht kommen hören. Der Arzt räusperte sich leise. Wortlos drückte er den Lichtschalter, und eine nackte Glühbirne leuchtete auf, die in ihrer Fassung von der Decke hing. Luis blinzelte. Das Schweigen verwirrte ihn. Er erhob sich.

»Was ist mit ihr?«

Er spürte die prüfenden Blicke auf sich.

»Sagen Sie schon, wie geht es ihr?«

»Ihr Anruf kam zu spät.«

»Wie meinen Sie das?«

Dr. Traut holte tief Luft. »Sie müssen jetzt sehr tapfer sein, junger Mann.«

Luis starrte ihn an.

»Simona Wiesner ist tot.«

Luis Ferner erstarrte. Sein Gesichtsfeld trübte sich ein. Schließlich ballte er die Hände zu Fäusten, und drei Atemzüge später sah er den Arzt weniger verschwommen vor sich.

»Wie ist das möglich?«

Dr. Trauts Stimme klang kühl: »Wussten Sie denn nichts von ihrem angeborenen Herzfehler?«

»Nein!«

»Ein Herzklappenfehler, auf Grund dessen Simona Wiesner schon länger bei mir in Behandlung war. Ich habe sie eindringlich gewarnt, sie sollte Aufregungen vermeiden.« Er trat einen Schritt auf ihn zu. »Was ist passiert heute Nacht?«

»Nichts, ich …« Er brach ab. Die Bilder der vergangenen Stunden stürmten auf ihn ein. Oder waren es Minuten gewesen? Alles war so rasend schnell gegangen. Die Fotos. Der Sprung. Simona auf dem Dach der S-Bahn. Ihr fliegendes Haar. Die Taxifahrt hierher.

»Sind Sie ihr Freund?«

»Ein Bekannter von ihr.«

»Entschuldigen Sie, aber ich muss Sie das fragen. Haben Sie mit ihr verkehrt?«

»Wie meinen Sie das?«

»Sexuell.«

Luis zuckte zusammen. Er dachte an ihr durchsichtiges Negligé. Wie sie sich vor ihm gewunden hatte, ihr halbnackter Körper. Ihr Stöhnen.

»Nein!«

»Tatsächlich nicht? Was haben Sie hier gemacht?«

»Wir haben …« Wo war der Schlüssel? Hatte er Simonas Wohnungsschlüssel eingesteckt? Niemand durfte erfahren, welches Spiel sie getrieben hatten, kurz vor ihrem Tod. Wie verdächtig das wirken würde, er kannte sie ja nicht einmal richtig.

Luis sagte: »Ich weiß es nicht.«

Dr. Traut schaute ihn zweifelnd an. »Sie wissen es nicht?«

Er rieb sich über die Schläfen. Es war wie in einem Alptraum. »Großer Gott, und sie ist wirklich tot?«

»Ja. Ich konnte nichts mehr für sie tun.«

»Darf ich sie noch einmal sehen?«

»Selbstverständlich.«

Luis drängte sich an ihm vorbei und eilte ins Schlafzimmer.

Es war ziemlich dunkel darin. Der Arzt hatte das Licht gelöscht.

Simona war bis zum Hals zugedeckt. Sie war kalkweiß und doch so wunderschön. Ihre Augen waren geschlossen. Luis sank vor ihr auf die Knie.

Kaum hörbar flüsterte er ihren Namen. Ihm war zum Weinen zumute, doch es wollten keine Tränen kommen.

Dr. Traut war ihm gefolgt, er sprach besänftigend auf ihn ein. »Ganz ruhig, junger Mann.«

Die Zimmerwände schienen sich vor ihm zu verschieben.

Luis erhob sich und starrte auf das Bett herab. Wer war ich für dich, Simona?, dachte er. Warum hast du gerade mich auserwählt?

»Man sollte jetzt den Bestatter anrufen«, murmelte Dr. Traut.

Luis streckte die Hand nach der Toten aus, aber er wagte es nicht, sie zu berühren.

Eine Woche später wurde sie beerdigt. Luis mischte sich unter die Trauergäste und hielt sich aber dennoch ein wenig abseits.

Alina Kron, die Partnerin aus Simonas Werbeagentur, trug ein schlichtes schwarzes Kleid. Sie verbarg ihre Augen hinter einer großen Sonnenbrille. Luis nickte ihr zu, sie hingegen beachtete ihn nicht.

Später wandte er sich Simonas Mutter zu, einer Frau in den späten Fünfzigern, wie er schätzte, doch noch immer attraktiv. Die Ähnlichkeit mit Simona war unverkennbar. Als er ihr sein Beileid bekunden wollte, bemerkte er die Irritation in ihrem Gesicht.

»Wer sind Sie?«

»Ein Freund der Verstorbenen.«

»Ich kenne Sie nicht.«

Betreten blickte Luis zu Boden.

Als alle anderen gegangen waren, warf er eine Rose auf ihren Sarg.

»Simona.«

Der Gedanke erschien ihm furchtbar, doch eine andere Erklärung hatte er nicht: Ich war dein Begleiter in den Tod.

ZWEI

Ein Jahr später. Oktober 2015

Franziska Wiesner hatte eine weitere schlaflose Nacht hinter sich. Seit einem Jahr kreisten ihre Gedanken unaufhörlich zu später Stunde, und sie kam selten zur Ruhe.

Gegen Morgen gab es für gewöhnlich eine Phase, in der die Grübeleien nachließen und sie kurz wegdämmerte, doch nicht einmal das war ihr diesmal vergönnt gewesen, und so wälzte sie sich völlig erschlagen aus dem Bett, duschte, zog sich an und nahm das Frühstück in der Küche ein.

Fortan beschäftigte sie sich mit der Frage, mit welchen Blumen sie das Grab ihrer Tochter schmücken sollte, immerhin jährte sich ihr Todestag morgen zum ersten Mal. Franziska Wiesner dachte an ein möglichst schlichtes, heiteres Gesteck. Etwas Freundliches, Farbenfrohes hätte Simona sicherlich gefallen.

Sie seufzte, vergrub das Gesicht in den Händen. Was für ein hoffnungsloses Ritual, die Blumen konnten noch so treffend gewählt sein, sie machten ihr Kind ja doch nicht wieder lebendig.

Franziska spülte das Frühstücksgeschirr und stellte es auf das Abtropfregal. Danach trat sie ans Fenster und schaute in den Garten ihres Hauses hinaus. Es versprach ein strahlender Oktobertag zu werden. Das Laub des Ahorns hatte sich goldgelb verfärbt, und das schräg einfallende Sonnenlicht war von schier bedrückender Schönheit.

Franziska gab sich einen Ruck. Schluss mit der Trübsal, dachte sie. Nur Beschäftigung half dagegen, das wusste sie aus bitterer Erfahrung. Bloß hatte sie heute leider keine Schicht im Krankenhaus, wo sie als Physiotherapeutin angestellt war, eine anstrengende körperliche Arbeit. Normalerweise wäre sie in ein paar Jahren im verdienten Ruhestand, aber oftmals dachte sie, es sei besser, noch einige Zeit dranzuhängen, um der drohenden Einsamkeit zu entgehen.

Ihr Mann hatte sie vor einigen Jahren wegen einer Jüngeren verlassen, immerhin war ihr das kleine Haus in Berlin-Zehlendorf geblieben. Sie hätte es sich niemals allein leisten können, doch Gregor, der es als Politiker zu einem gewissen Wohlstand gebracht hatte, erwies sich bei der Scheidung als ziemlich gönnerhaft, offenbar weil ihn sein schlechtes Gewissen plagte. Das war aber auch der einzig erfreuliche Aspekt ihrer unrühmlichen Trennung gewesen.

Franziska hätte sich selbst nicht unbedingt als putzsüchtig bezeichnet, doch seit Simonas Tod kompensierte sie die innere Leere, die sie an ihren freien Tagen empfand, mit intensiver Hausarbeit. Und so begann sie, in den Räumen staubzusaugen, wischte die Böden in Küche und Bad, schrubbte Wanne und Waschbecken. Danach sah sie zur Uhr. Es war noch nicht einmal Zeit fürs Mittagessen.

Sie polierte die Schrankwand und wischte Staub auf der Kommode. Darauf befand sich das gerahmte Foto ihrer Tochter, es war mit einem Trauerflor versehen. Simona lächelte auf dem Bild, ihr rotes Haar schimmerte in zauberhaftem Glanz.

»Ich will einfach nur leben, Mama«, hatte sie so oft zu ihr gesagt, »und das Leben feiern.«

Behutsam stellte Franziska den Bilderrahmen zurück. Das Herz ihrer Tochter, dachte sie wehmütig, so groß und doch so schwach. Was sie nicht früher alles unternommen hatte, um ihr zu helfen, zu etlichen Ärzten war sie mit ihr gerannt, doch keiner von ihnen hatte ein probates Mittel gegen ihre Krankheit gehabt. Eine Operation erschien zu riskant, also ließ man es bleiben. Bis sich Simona schließlich mit ihrem Schicksal abfand und nach außen hin ein scheinbar unbeschwertes Leben führte, erst als Kind, dann als Teenager und schließlich als junge Erwachsene.

Sie erinnerte sich noch in allen Einzelheiten an den Tag ihres Auszugs. Damals lebte Franziska noch mit Simonas Vater Gregor zusammen im Haus. Sie sah genau vor sich, wie Simona ihr damals zum Abschied um den Hals gefallen war: »Sei nicht traurig, Mutter, lass mich gehen«, hatte sie gesagt. »Denn nun fängt für mich das Leben erst richtig an.«

Sie hatte ihrer Tochter beigepflichtet. Natürlich musste eine Mutter ihre erwachsene Tochter ziehen lassen, auch wenn es schmerzlich war.

So innig wie an diesem Tag hatten sie sich nicht mehr umarmt.

Und nun blieb ihnen die Gelegenheit, es nachzuholen, für immer verwehrt.

Ein Geräusch riss Franziska Wiesner aus ihren Gedanken. Eine knarrende Diele im Flur. Sie fuhr herum. Aber da war niemand.

Sie atmete tief durch.

Sie ging dazu über, die Anrichte zu polieren. Das schien sie beim letzten Mal versäumt zu haben, denn es hatte sich eine dünne Staubschicht darauf gebildet.

Jäh erstarrte sie. Sie erkannte die Buchstaben, die jemand mit zittriger Hand in den Staub gemalt hatte:

GLAUBSTDUANDIERÜCKKEHRDERTOTEN ?

Abermals meinte sie, ein Geräusch in ihrem Rücken zu vernehmen. Sie drehte sich um. Da war nichts.

Die Einbildung musste ihr einen Streich gespielt haben. Aber die Lettern im Staub? Woher stammten sie?

Die Rückkehr der Toten, dachte sie.

Sie schnappte sich das Tuch, doch ihre Hand verharrte in der Bewegung.

Sie brachte es einfach nicht fertig, den Schriftzug wegzuwischen.

Abends saß sie vorm Fernseher und zappte sich durch die Kanäle. Sie hoffte auf leichte Unterhaltung, vielleicht eine Liebesgeschichte, die sie von ihrer Schwermut ablenken würde. Sie wünschte sich Aufnahmen von lieblichen Landschaften, vielleicht etwas Historisches, Kutschfahrten, Frauen in wallenden Kleidern, Männer mit stolzen Hüten. Aber nichts dergleichen fand sie, dafür nur dümmliche Quizsendungen, nichts­sagende Dokumentationen, erschreckende Nachrichten aus aller Welt und einen Actionfilm, der sie nicht interessierte.

Franziska drückte ungeduldig auf die Knöpfe der Fernbedienung, als sie abrupt innehielt.

Sie stellte den Ton ab. Instinktiv spürte sie, dass jemand im Haus war. Ihr Puls beschleunigte sich.

Sie reckte den Kopf und lauschte.

Draußen im Flur klickte es verdächtig. Auf dem Dielen­boden.

Ihr brach der Schweiß aus. Wieder das Klicken, Kratzen.

Es half nichts, sie musste nachsehen. Langsam erhob sie sich aus ihrem Fernsehsessel.

Schon war alles still.

»Hallo?«, fragte sie ängstlich.

Totenstille. Bloß meine Nerven, dachte sie, sie gaukeln mir etwas vor. Den ganzen Tag über war sie so merkwürdig nervös gewesen.

Sie fasste sich ein Herz und ging in den Flur.

Mit einem Mal weiteten sich ihre Augen. Sie presste die Hand gegen ihren Mund.

Entsetzt wich sie zurück und stieß einen erstickten Schrei aus.

Auf dem Boden hockte ein großes schwarzes Tier und starrte sie an.

Es war ein Pitbull. Auch wenn sie wenig über Hunderassen wusste, diese Sorte Kampfhund erkannte sie sofort: gedrungener Kopf. Breites Maul. Tiefschwarzes Fell. Ein weißer Fleck auf der Brust.

Sie wich weiter zurück. Das Tier sprang auf die Läufe und folgte ihr.

»Weg«, stammelte sie, »weg!«

Hatte sie etwa vergessen, die Haustür abzuschließen, als sie vom Einkaufen zurückgekommen war? Nein, nicht möglich, sie schloss doch stets zweimal von innen ab, das hatte sie sich zur Gewohnheit gemacht.

Der Hund knurrte leise.

Franziska taumelte, stolperte, fing sich wieder. Sie hatte mal in einer Zeitschrift gelesen, dass man Hunden niemals seine Angst zeigen sollte. Also versuchte sie, sich zu beherrschen. Langsam rückwärtsgehend, sich dabei an der Wand entlang tastend, näherte sie sich Schritt für Schritt der Küche.

Dem Pitbull sträubte sich das Fell. Er war in Angriffshaltung.

Franziska suchte in ihrem Rücken nach der Klinke.

»Ruhig«, murmelte sie, »ganz ruhig. Guter Hund.«

Sie erfasste die Klinke, drückte sie, schob die Küchentür auf und glitt hinein. Rasch warf sie sie hinter sich zu.

Da hörte sie, wie sich der Pitbull von außen dagegen warf, krachend, immer und immer wieder. Sie vernahm das Kratzen seiner Krallen auf dem Holz.

Was konnte sie nur tun?

Sie überlegte, ob sie in den Garten hinausklettern sollte, um Hilfe zu rufen. In diesem Moment erkannte sie, dass das Fenster nur angelehnt war. Der Riegel schloss zuweilen nicht richtig, sie hätte deswegen schon längst einen Handwerker anrufen sollen.

Großer Gott, hatte sich dieses Höllentier etwa auf diese Weise zu ihr hereingestohlen? Mit einem Sprung, lautlos durchs Fenster?

Erneutes Kratzen an der Tür, ein leises Jaulen. Danach Stille. Wo war der Pitbull jetzt?

Irgendwo im Haus, durchfuhr es sie. Er lauert dir auf.

Plötzlich kam ihr eine Idee. Sie öffnete den Kühlschrank. Mittags hatte sie sich Gulasch mit Nudeln gekocht. Seit Simonas Tod aß sie nicht mehr viel, und einiges davon war übriggeblieben.

Sie nahm die Schüssel mit den Resten heraus und löste die Zellophanhülle vom Rand. Nach kurzem Zögern griff sie mit bloßer Hand hinein und nahm sich einen Fleischbrocken. Sie öffnete die Küchentür einen winzigen Spalt, warf das Fleisch hinaus und schloss sie wieder. Klickend näherten sich draußen die Krallen. Sie hörte es schmatzen.

Nach einer Weile wagte sie es erneut, dem Hund etwas durch den Türspalt zuzuwerfen.

Es zeigte Wirkung, mit jedem weiteren Stück Gulasch machte sie sich das Tier gefügiger. Es schien völlig ausgehungert zu sein. Gierig schlang es seine Beute hinunter wie sie, halb verborgen hinter der Tür, beobachten konnte.

Schließlich traute sie sich aus der Küche hinaus. Vorsichtig, die Augen des Pitbulls stets im Blick. Sie warf das Fleisch in immer höheren Bögen von sich, lockte das Tier so zurück in den Flur und hin zur Eingangstür. Die Soßenreste hinterließen hässliche Spuren auf dem Boden, dabei hatte sie doch heute so gründlich saubergemacht.

Fieberhaft dachte sie nach. Wie sollte sie jetzt an dem Hund vorbeikommen und die Haustür öffnen? Außerdem war die Schüssel so gut wie leer.

Zwei letzte Fleischbrocken noch.

Der Hund sabberte. Blickte abwartend zu ihr hoch, die Ohren aufgestellt.

Sie schleuderte eines der Stücke in die entgegengesetzte Richtung, das Tier schnappte danach. Derweil drehte sie den steckenden Hausschlüssel im Schloss herum, riss die Eingangstür auf und feuerte den letzten Brocken in die Dunkelheit hinaus.

Der Pitbull jagte an ihr vorbei ins Freie. Sie warf die Tür zu.

Geschafft. Zittrig lehnte sie sich an die Wand und verschnaufte, während der Pitbull draußen zornig kläffte.

Eigentlich wollte sich Franziska sofort daranmachen, die Schweinerei auf dem Boden aufzuwischen, doch ihr fehlte die Kraft dazu.

Auf den Schrecken brauchte sie erst einmal einen Cognac. Sie ging ins Wohnzimmer und war schon an der Anrichte, in der sie die Flasche aufbewahrte, als sie erneut zusammenfuhr.

Sie vernahm eine heisere Stimme in ihrem Rücken: »Mutter. Hast du den Hund weggeschickt?«

Ihr stockte der Atem. Ihr Brustkorb verkrampfte sich. Sie rang nach Luft.

»Warum hast du das getan? Das ist mein Hund, Mutter.«

Sie wirbelte herum.

Neben dem Sessel stand eine Gestalt, bleich, abgemagert, hohle Wangen, das rote Haar hing in Strähnen an ihr herab.

Franziska spürte eine Ohnmacht nahen. Das Wesen dort vor dem blau flackernden Fernsehbildschirm hatte Ähnlichkeit mit ihrer Tochter.

»Simona«, stieß sie hervor.

DREI

Nils Trojan hatte sich ein paar zusätzliche Urlaubstage von seinem Chef erbeten. Eine Woche im Herbst, in der er eigentlich verreisen wollte. Im Internet hatte er sich sachkundig gemacht, verträumt Bilder von Traumstränden angeschaut und all die Urlaubsorte herausgesucht, an denen es zu dieser Jahreszeit noch warm war. Vor seinem inneren Auge hatte er sich in einem Liegestuhl gesehen, ein gut gefülltes Cocktailglas in der Hand. In Gedanken war er schon vorm Frühstück etliche Bahnen durch den Pool geschwommen, um nachmittags in die Meeresbrandung einzutauchen. Er hatte sich auf dem Rücken liegend von den Wellen treiben lassen und unzählige Sonnenbäder an einem weißen Sandstrand genommen.

Last-Minute-Angebote, Hotel-Schnäppchen, Werbebanner mit der Aufschrift »Schnell zugreifen!«, seine Recherchen waren umfassend gewesen. Der erste Urlaubstag rückte immer näher, doch er konnte sich einfach nicht entscheiden, wohin die Reise gehen sollte.

Schließlich hatte er es aufgegeben. Zusammen mit Jana Michels wäre ihm jedes Ziel recht gewesen, aber allein? Dann lieber daheimbleiben, in Kreuzberg, und sich hier ein paar schöne Tage machen.

Und nun war es so weit. Er öffnete die Tür zu seinem kleinen, gerade mal eineinhalb Meter breiten Balkon und atmete tief durch. Dann schnappte er sich einen Besen aus der Küche und kehrte das Laub zusammen, das der Wind von den Linden über die gemauerte Brüstung geweht hatte. Dabei fielen ihm ein paar schadhafte Stellen am Putz auf, und bevor er des­wegen die Hausverwaltung kontaktierte, rührte er sogleich selbst die Spachtelmasse an, um die Schäden auszubessern.

Während er emsig mit dem Haftputz hantierte, stellte er fest, dass es ihm letztlich um Beschäftigung und Ablenkung ging. Gedanken und Fragen kreisten in seinem Kopf. Sollte er etwa schon zum Workaholic mutiert sein und es ohne Arbeit nicht mehr aushalten?

Gegen Mittag ging er hinunter in den Keller und trug die Gartenliege herauf. Typisch, sprach er in Gedanken zu sich selbst, da hast du nun so ein praktisches Liegemöbel und stellst es nicht einmal im Sommer auf. Erst im Oktober, bei zehn Grad Außentemperatur, fällt es dir wieder ein. Dabei hatte er auf seinem Balkon im vierten Stockwerk nichts weiter über sich als den freien Himmel.

Beim Aufklappen der Liege stellte Trojan fest, dass die Scharniere eingerostet waren. Es brauchte etwas Geschick und ein paar Tropfen Schmieröl, bis er bereit für seine herbstliche Sonnensiesta war. Er zog sich eine warme Jacke über den Pullover, hüllte sich in zwei Baumwolldecken und konnte sich endlich auf der Liege ausstrecken.

Eine Zeit lang verlor er sich im Anblick des Stadthimmels, dem weiten Blau, den gemächlich dahinziehenden Schleierwolken, und einmal konnte er sich sogar an einem Schwarm Wildgänse erfreuen, der hoch oben in Formation über ihn hinwegflog. Für einen Moment begriff er, was es bedeutete, Muße zu haben und in den Tag hineinzuleben.

Alsbald aber hatte ihn die Unruhe wieder gepackt, die seit dem Erwachen an seinem ersten freien Tag unterschwellig in ihm lauerte.

Trojan stand auf, ging hinein ins Warme, schloss die Balkontür, warf die Decken ab und zog sich die Jacke aus. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, nahm sich ein Blatt Papier und schrieb.

Was mich beunruhigt und davon abhält, meinen Urlaub zu genießen: Sorgen. Ängste.

Er dachte nach. Wovor hatte er Angst? Und er schrieb:

Erstens. Ich habe Angst, meine Beziehung zu Jana könnte zerbrechen. Sie hat um eine Auszeit gebeten. Ich würde sie gern anrufen.

In Klammern fügte er hinzu:

(Mein Stolz hindert mich daran.)

Trojan stieß einen Seufzer aus. Unablässig dachte er an Jana Michels, seine ehemalige Psychotherapeutin, in die er sich unsterblich verliebt hatte. Sie waren tatsächlich ein Paar geworden, und seitdem hatten sie eine wunderschöne Zeit miteinander verbracht.

Bis zum letzten Sommer, als der Federmann in die Stadt zurückgekehrt war und Jana um ein Haar …

Ein Haar, dachte er. Federn und Haare, die Passion dieser Bestie. Er wurde die Alpträume darüber nicht mehr los. Einer der furchtbarsten Serienmörder hatte sich in sein Leben geschlichen, und er bekam ihn einfach nicht zu fassen.

Womit auch er schon beim zweiten Punkt war. Trojan schrieb:

Zweitens. Ich mache mir große Sorgen um Emily.

Seine Tochter Emily. Was sie im vergangenen Juli im Zusammenhang mit dem Federmann und dieser jungen Frau, die sich das Dornenkind nannte, durchgemacht hatte, war unvergleichlich. Es drängte ihn danach, sich mit ihr zu treffen, aber auch sie hatte sich gerade zurückgezogen. Sie nannte es zwar nicht eine Auszeit von den Eltern, aber sie weigerte sich beharrlich, mit ihnen über diese schreckliche Episode in ihrem Leben zu sprechen. Trojan hatte sich unlängst mit seiner Exfrau Friederike darüber auseinandergesetzt und vorgeschlagen, man solle einen Psychologen einschalten. Friederike teilte seine Meinung, doch stets blockte Emily ab. Wie ein Mantra wiederholte sie: »Ich bin völlig unbeschwert, mir geht es gut.« Dabei legte sie zuweilen eine Fröhlichkeit an den Tag, die Trojan mehr als gekünstelt vorkam.

Er verband die beiden Punkte auf seinem Papier mit einem Strich. Er sollte Jana zu dem Thema befragen. Immerhin war sie doch Psychologin. Aber nein, er würde sie nicht anrufen. Wenn überhaupt, war es an ihr, den ersten Schritt einer Wiederannäherung zu tun. So war zumindest seine Einschätzung.

Trojan blickte aus dem Fenster. Das Sonnenlicht hatte sich verzogen, die Forster Straße lag nun im Schatten. Er sollte sich wirklich nicht in seiner kostbaren Freizeit mit diesen Sorgen belasten.

Aber er hatte noch einen dritten Punkt für seine Liste. Und der war äußerst gewichtig.

Er notierte nur ein einziges Wort:

Vater.

Er musste dringend mit ihm sprechen. Wieder einmal galt es, den schweren Gang nach Berlin-Lankwitz anzutreten.

Vater. Er strichelte um die Buchstaben herum. Er brachte es ja nicht einmal fertig, »Papa« zu ihm zu sagen. Oder gar »Paps«. So wie er selbst liebevoll von seiner Tochter genannt wurde. Ein jedes Mal durchflutete es ihn warm, wenn Emily ihn so ansprach. Nein, nur das nüchterne, kühle Wort »Vater«.

Und er fügte auf dem Papier hinzu:

Ihn fragen, ob er ein Mörder ist.

Der Satz war erschütternd. Er, Nils Trojan, Hauptkommissar bei der Berliner Mordkommission, stand vor der schwierigen Aufgabe, seinen Vater zu fragen, ob er tatsächlich vor vielen Jahren im Zorn eine junge Frau aus der Nachbarschaft, die offenbar seine Geliebte gewesen war, mit einem gusseisernen Kerzenständer erschlagen hatte. Er, Nils Trojan, meinte, sich daran erinnern zu können, die Tat als kleiner Junge von einem Baugerüst aus beobachtet zu haben. Mal hatte er die Erinnerungsbilder deutlich vor sich, mal zweifelte er sie an, so ungeheuerlich waren sie. Bereits im letzten Sommer hatte er seinen Vater deswegen wiederholt zur Rede gestellt, doch Richard Trojan hatte geschwiegen.

Zwar hatte er mit seinem Gehstock das Wort »SCHULDIG« in den Sand geschrieben, dort in dem kleinen Park in Lankwitz, wo sie sich begegnet waren, aber Trojan wollte es von ihm laut ausgesprochen hören, wenn es denn überhaupt der Wahrheit entsprach.

Er schreckte vor diesem Gespräch zurück. Denn es hätte schwerwiegende Konsequenzen. Ein Mord verjährt nicht.

Unter Umständen wäre er dazu gezwungen, seinen eigenen Vater verhaften zu lassen, einen überdies hochbetagten Mann.

Seit Wochen hatte er das Gespräch aufgeschoben. Wie Blei lastete es auf seinen Schultern.

Trojan warf den Stift hin, zog sich wieder die Jacke an und verließ die Wohnung. Ein Spaziergang am Landwehrkanal sollte ihm helfen, sich von seinen düsteren Gedanken zu befreien.

Doch er kam nicht weit.

An einem Straßenbaum in der Forster Straße fiel ihm ein Hund auf, den er hier schon öfter gesehen hatte. Es war ein nicht ganz reinrassiger Schäferhund, um die Schnauze bereits ein wenig angegraut. Das Erstaunliche an ihm war, dass er stets allein seine Runden drehte, bisher hatte Trojan nie jemanden beobachten können, zu dem er gehörte. Halsband und Marke trug er, also schien er auch einen Besitzer zu haben. Doch ein jedes Mal, wenn Trojan ihn bemerkte, trottete er aufs Neue ohne jegliche Begleitung bis zu einer bestimmten Toreinfahrt, kehrte dann um, schnüffelte an den Bäumen, verrichtete sein Geschäft, um schließlich an der Ecke zur Reichenberger Straße zu verschwinden. Schon oft hatte sich Trojan vorgenommen, ihm zu folgen, um herauszufinden, wohin er eigentlich ging. Endlich hatte er die Zeit dafür.

Darum wechselte er kurzentschlossen die Straßenseite und ging zu dem Tier hinüber. Ihm kam sogar der überraschende Gedanke, sich bei Gelegenheit selbst einen Hund anzuschaffen. War er denn schon so einsam, nur weil Jana gerade etwas Zeit zum Nachdenken brauchte? Und sofort verwarf er die Idee. Ein Hund käme für ihn sowieso nicht in Frage, bei seinen vielen Überstunden und den Dauereinsätzen.

»Hey«, sagte er. Das Tier hob den Kopf und blickte ihn aus großen treuen Augen an.

Trojan streckte die Hand nach ihm aus und kraulte ihm das Fell. Der Schäferhund-Mischling ließ es sich gefallen.

Nachdem er an einem der Linden das Bein gehoben hatte, spazierte er mit Trojan im gemächlichen Tempo zurück zur nächsten Straßenecke. Gemeinsam kamen sie an Cems Laden vorbei. Trojan grüßte mit einem Kopfnicken hinein, und der Türke, wie immer in seinem grauen Kittel hinterm Verkaufs­tresen, winkte ihm durch die Schaufensterscheibe zu.

Trojan gefiel die langsame Gangart des Hundes. Er bemerkte, dass sein Atem viel ruhiger war, seitdem er ihn begleitete.

Nach einigen Metern blieb der Hund vor einer Ladenwohnung stehen. Der Rollladen vor dem Eingang war bis auf einen etwa fünfzig Zentimeter großen Spalt herabgelassen, so dass der Hund bequem hindurchschlüpfen konnte, was er in diesem Moment auch tat.

Neugierig geworden, bückte sich Trojan und lugte durch die Öffnung hindurch. Die Tür hinter den Lamellen war geöffnet.

»Hallo«, meldete sich plötzlich eine Stimme von innen. »Willst du reinkommen?«

Noch ehe er antworten konnte, wurde polternd die Jalousie hochgezogen.

Orangefarbene Wände, drapiert mit bunten Seidentüchern und Lichterketten. Der Geruch nach Räucherstäbchen. Und eine strahlende Frau, ihr Gesicht breit und klar, Lachfältchen und ein Doppelkinn, rotumrandete Lippen, eine Reihe von hübschen weißen Zähnen. Unzählige Ohrringe, ein Nasen- und ein Wangenpiercing, das eine mit einem lilafarbenen, das andere mit einem grünen Glitzerstein. Und ihre Frisur, ein unglaubliches Gebilde, Berge von wallenden Haaren, festgesteckt, geflochten, mit einem wild gemusterten Tuch gekränzt. Um ihren massigen Körper herumgewickelt, geschlungen ein Gewand, in das kleine Spiegelsteinchen und vielfarbige lose Fädchen eingewebt waren.

Sie lächelte ihn so freudig und offen an, dass es Trojan kurzzeitig den Atem nahm. Allem Anschein nach war sie im Einklang mit ihrem Gewicht, harmonisch verbunden mit diesem Raum voller Buddha-Figuren und Klangschalen und Postern, die wabernde Farblandschaften und Lichtstimmungen abbildeten. Aus dem Hintergrund drang Musik an seine Ohren, sanft und monoton, ein Summen, Brummen, dazu die Schläge eines Gongs. Ihm war, als sei er durch einen unerklärlichen Zauber unvermittelt in Bangladesch gelandet oder zu Gast auf einer ayurvedischen Farm irgendwo im fernen Sri Lanka.

Der Hund trottete in die Küche, aus der es betörend würzig nach Ingwer und allerlei namenlosen Erdgewächsen duftete. Dort legte er sich auf eine Steppdecke und ließ die Schnauze auf die Vorderpfoten sinken. Offenbar hatte er sie beide von seinem Ruheplatz aus gut im Blick, ihn, Nils, verblüfft und von den Aromen in der Ladenwohnung leicht betört, und jene Frau, die ein einziges Lächeln war.

Sie reichte Trojan die Hand. »Ich bin Loni. Und wer bist du?«

Er betrachtete ihren freundlichen Mund, die Grübchen auf ihren vollen Wangen. Schmuckstücke an ihrem Hals, eine Kette, vermutlich selbst gebastelt, sie bestand aus kleinen Muscheln und Glitzerkram, erinnerte ihn an Spielzeug, buntes Zeug, das er als Kind für ein paar Groschen aus dem Kaugummiautomaten gezogen hatte. Musik und Farben, dazu ihr Odem, der mit Hölzern und Rauch zu tun hatte, Bambus und Curry. Trojan fühlte sich auf einen fernöstlichen Basar versetzt, einen Ort, an dem man Wünsche äußern durfte, und plötzlich wurden sie einem erfüllt.

»Nils«, sagte er leise.

Die Frau lachte. »Hat dich Franz hierhergeführt?«

»Franz?«

Sie machte eine Bewegung, die einer Figur aus einem Tanz glich. Trojan hatte den Eindruck, als würden Glöckchen an ihrem Gewand bimmeln, sie mussten irgendwo verborgen sein unter den bunten Stoffschichten, überwiegend Farben, die ihn an Safran denken ließen, Kardamom und Zimt, aber auch an wogende Lavendelfelder, Reisen in die Provence, er dachte an Pferde aus der Camargue, Weißes vom Strand und das blaue Schimmern am Horizont. Es wallte und wehte an ihr. Was war das eigentlich, ein Kleid, ein Kaftan oder ein Umhang?

Lachend deutete sie auf den Mischling. »Franz!«

Der Hund spitzte, als er den Namen hörte, das linke Ohr, und ließ es gleich darauf wieder fallen. Er sah gutmütig aus. Weise und zufrieden. Als habe er für diesen Tag ein sinniges Werk vollbracht.

Trojan räusperte sich. »Richtig, ich hab mich gefragt, zu wem er wohl gehört, und bin ihm gefolgt. Ich wohne hier in dem Viertel, hab ihn oft beobachtet, wenn er allein draußen war.«

»Franz ist sehr ritualverbunden, und ab und zu genießt er es, ganz für sich zu sein. Dann geht er ohne mich hinaus. Ich glaube, er tut es, um nachzudenken.«

»Nachdenken, ein Hund?«

Erneut erklang ihr fröhliches Lachen. »Er ist ein großer Denker, leider versteigt er sich manchmal ins Grübeln.« Sie berührte ihn am Arm. »Darf ich dir einen Tee anbieten, Nils? Ich hab gerade einen gekocht.«

Deshalb also diese Wohlgerüche, sie machten ihn schier benommen. Und es störte ihn nicht im Geringsten, dass sie sofort beim Du waren, und so willigte er ein.

Loni ging in die Küche. Es war mehr ein Schweben, trotz ihres Gewichts. Er schaute auf ihre nackten Füße, und nun wusste er auch, woher der Klingklang kam, sie trug kleine Kettchen um ihre Fußknöchel, an denen winzige Schellen befestigt waren. Sie schien seinen Blick zu bemerken. Während sie am Herd stand, wandte sie sich ihm zu und lachte ihn durch den offenen Türrahmen an.

»Gefällt dir das?« Sie hob tänzerisch den Fuß und ließ es klingeln. »Ich glaube, es stimmt dich froh, Nils.«

Er antwortete nicht. Wie alt war diese Frau? Ziemlich schwer zu schätzen, sie konnte Mitte dreißig, aber auch Anfang fünfzig sein.

Bald darauf saßen sie sich auf orangefarbenen Sitzkissen gegenüber. Sie hatte die Stoffbahnen ihrer Kleidung um sich her­um verteilt, hielt die Teeschale in beiden Händen und blies hinein.

»Koste mal, das ist eine Spezialmischung.«

Trojan inhalierte zunächst den Duft, dann nahm er einen Schluck und gleich darauf noch einen. Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. Er spürte, wie sich etwas in ihm löste.

»Was ist das?«

»Da sind ein paar Essenzen drin, die deinem Tag mehr Kraft spenden. Und mehr Licht.«

Trojan schlürfte den Tee. Lonis Gelächter war wie das Gluckern eines Bergbachs.

Sie schwiegen eine Weile, von Franz aus dem Hintergrund beäugt. Trojan sah sich um, verlor sich in den Farben, den bunten Lichterketten, dem ganzen Schnickschnack und Firlefanz, der wohl von unzähligen Flohmärkten und Asia-Geschäften stammte. Er sog alles in sich auf. Die Reichenberger Straße war so fern, den Rollladen vor dem Eingang hatte Loni wieder herabgelassen bis auf den Durchgang für Franz, doch die Tür war jetzt verschlossen. Der Blick durch das große Schaufenster zur Straße hin war versperrt von einem Wirrwarr aus Grünpflanzen, einem wahren Dschungel. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn der eine oder andere Paradiesvogel darin beheimatet wäre, um sie mit munteren Gesängen zu beglücken.

Sie hat mir etwas in den Tee gemischt, dachte er. Aber selbst dieser Gedanke war so leicht und flirrend in seinem Kopf, dass er ihm keine Probleme bereitete.

Loni und ihr hennagefärbtes Haar, ihr tiefer, wissender Blick. Er betrachtete die weitverzweigten Fältchen unter ihren Augen. Wieder versuchte er, ihr Alter zu schätzen, ein Ding der Unmöglichkeit.

Unvermittelt fragte sie: »Du hast Kummer, Nils, nicht wahr?«

Da er nicht antwortete, stellte sie ihre Schale ab, schloss die Augen und holte mit den Armen zu einer weiten Geste aus. Ihre Hände öffneten sich, als sollte etwas aus der Ferne zu ihnen gelangen.

»Oh ja«, sagte sie, »deine Traurigkeit hat mit einer Frau zu tun. Sie hat sich von dir entfernt. Und da sind noch andere Geschichten aus deiner Vergangenheit. Eine andere Frau. Sie verließ dich. Du bist Vater eines Kindes. Du sehnst dich nach deinem Kind, aber es ist schon beinahe erwachsen und wird seiner eigenen Wege gehen. Du hast einen Sommer ohne Lachen hinter dir. Hinzu kommen Probleme mit deinen Wurzeln, deiner Herkunft, möglicherweise macht dir ein Elternteil zu schaffen. Du bist sehr ernst, Nils, was dir fehlt, ist Leichtigkeit.«

Sie blickte ihn wieder an. Trojan blinzelte. Es war ihm zutiefst unangenehm, denn eine einzelne Träne lief über seine Wange. Er stellte die Teeschale weg.

Er brauchte einen Moment, bis er sich gesammelt hatte.

»Was soll ich sagen, du hast … ein ziemlich umfassendes Bild meiner seelischen …« Er schluckte, brach ab.

Plötzlich lag seine Hand in der ihren. Sie hatte sie sich wohl gegriffen. Ihre Berührung war warm und einladend.

»Du musst nicht sprechen, Nils. Lass uns einfach stille werden.«

Sie lächelte.

Er nahm die Hand weg. »Und du, Loni?«, fragte er nach einer längeren Pause. »Was ist mit dir?«

Sie lachte wieder. »Wie meinst du das?«

»Was machst du? Wovon lebst du?«

»Oh, diese Frage. Ja, das Geld und die damit verbundenen Sorgen. Die Miete und das ganze Dilemma. Angst vor der drohenden Heizkostennachzahlung.« Sie wedelte ironisch mit den Armen, warf sie in die Höhe, und ein verblüffend dichter Busch Achselhaare blitzte unter ihrem Gewand auf. Dazu das exotisch safranisierte Aroma ihrer Haut, die Kräuterdämpfe aus der Küche und diese eigenartige Musik, die aus den Lautsprecherboxen zu tröpfeln schien.

Und Franz, der weise alte Hund, der sie von seiner gesteppten Decke aus beobachtete.