Rückkehr nach Reims - Didier Eribon - E-Book + Hörbuch

Rückkehr nach Reims Hörbuch

Didier Eribon

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Beschreibung

Als sein Vater stirbt, reist Didier Eribon in seine Heimatstadt, die er jahrzehntelang gemieden hat. Gemeinsam mit seiner Mutter sieht er sich Familienfotos an und macht sich auf eine Erinnerungsreise in die eigene Vergangenheit. Dabei stößt er auf die blinden Flecke der Gesellschaft: die Ausgrenzungsmechanismen eines Bürgertums, dem er als Intellektueller inzwischen selbst angehört. Brillant verknüpft Eribon das autobiografische Schreiben und seine persönlichen Bekenntnisse mit scharfsinniger soziologischer Reflexion. Er beschreibt die Homophobie und den »volkstümlichen Alltagsrassismus« seines Herkunftsmilieus, seine eigenen Erfahrungen als Homosexueller mit Stigmatisierung und Gewalt und beleuchtet den politischen Rechtsruck einer einst kommunistischen Arbeiterklasse.

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Zeit:4 Std. 38 min

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Didier Eribon

Rückkehr nach Reims

Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn

Suhrkamp

Die französische Originalausgabe erschien unter dem Titel

Retour à Reims 2009 bei Librairie Arthème Fayard (Paris).

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt 1. Auflage des edition Sonderdrucks 2016.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© Librairie Arthème Fayard Paris 2009

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlag gestaltet nach einem Konzept

von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-74439-0

www.suhrkamp.de

Für G., der immer alles wissen will.

I

1

Lange ist es für mich nur ein Name gewesen. Meine Eltern waren zu einer Zeit in dieses Dorf gezogen, als ich sie nicht mehr besuchte. Hin und wieder schickte ich ihnen eine Postkarte von meinen Auslandsreisen, halbherzig bemüht, eine Verbindung aufrechtzuerhalten, die ich mir so lose wie möglich wünschte. Beim Schreiben der Adresse fragte ich mich, wie der Ort, an dem sie wohnten, wohl aussah. Nie trieb ich die Neugier weiter. Wenn ich sie drei- oder viermal pro Semester, oft auch seltener, am Telefon hatte, fragte mich meine Mutter: »Wann kommst du uns besuchen?« Ich wich aus, gab vor, sehr beschäftigt zu sein, und versprach, bald zu kommen. Aber ich hatte es nicht vor. Ich war vor meiner Familie geflohen und verspürte nicht die geringste Lust, sie wiederzusehen.

Ich habe Muizon also erst vor Kurzem kennengelernt. Es entsprach meiner Vorstellung: eine Karikatur der Zersiedlung, einer dieser semiurbanen, von Feldern gerahmten Räume, von denen man nicht genau weiß, ob sie noch Land oder schon zu dem geworden sind, was man gemeinhin Banlieue nennt. Seitdem habe ich erfahren, dass hier noch zu Beginn der fünfziger Jahre nicht mehr als fünfzig Menschen um eine Kirche siedelten, von der trotz all der Kriege, die den französischen Nordosten in unerbittlichen Wellen verwüstet haben, Teile aus dem 12. Jahrhundert erhalten geblieben sind. Diese »Region mit Sonderstatus«, wie Claude Simon schreibt, wo Städte- und Dorfnamen nach »Schlachten«, »Schanzen«, »dumpfem Kanonendonner« und »großen Friedhöfen« klingen.1 Heute leben mehr als zweitausend Menschen hier, zwischen der Route du Champagne, die sich ganz in der Nähe durch weinbebaute Hänge schlängelt, und einem trostlosen Industriegebiet in den Vororten von Reims, das man in fünfzehn bis zwanzig Autominuten erreicht. Straßen wurden gebaut, an denen sich uniforme Doppelhäuser aufreihen. Sozialer Wohnungsbau größtenteils, reich sind die Mieter beileibe nicht. Mehr als zwanzig Jahre haben meine Eltern dort gelebt, ohne dass ich mich zu einem Besuch hatte durchringen können. Ich entdeckte diesen Flecken – wie bezeichnet man einen solchen Ort? – und ihr Häuschen erst, als mein Vater dort nicht mehr war, weil meine Mutter ihn in einer Alzheimer-Klinik untergebracht hatte, aus der er nicht wieder herauskommen sollte. Sie hatte diesen Moment so lange wie möglich hinausgezögert, dann aber, erschöpft und von seinen plötzlichen Gewaltausbrüchen erschreckt (einmal war er mit dem Küchenmesser auf sie losgegangen), der Wahrheit ins Auge gesehen: Es gab keine andere Lösung. Sobald er weg war, wurde es mir möglich, diese Reise, oder besser, diesen Prozess der Rückkehr auf mich zu nehmen, zu dem ich mich so lange nicht hatte entschließen können. Die Wiederentdeckung dieser »Gegend meiner selbst«, wie Genet gesagt hätte, von der ich mich so sehr hatte lossagen wollen. Ein sozialer Raum, den ich auf Distanz gebracht hatte, ein geistiger Raum, gegen den ich mich konstruiert hatte, der aber trotz allem einen wesentlichen Teil meines Seins bestimmte. Ich besuchte meine Mutter. Es war der Beginn einer Aussöhnung mit ihr. Oder genauer, einer Aussöhnung mit mir selbst, mit einem ganzen Teil meines Selbst, den ich verweigert, verworfen, verneint hatte.

Wenn ich sie in den folgenden Monaten ab und an besuchte, erzählte mir meine Mutter viel. Von sich selbst, ihrer Kindheit und Jugend, ihrem Leben als Ehefrau … Sie sprach auch von meinem Vater, von ihrer Begegnung und Beziehung, wie sie ihr Leben geführt, wie schwer sie gearbeitet hatten. Alles wollte sie mir sagen, unermüdlich, ihre Worte überschlugen sich. Als sei ihr daran gelegen, mit einem Mal die verlorene Zeit einzuholen und die Traurigkeit zu vertreiben, die unsere nichtgeführten Gespräche in ihr hinterlassen hatten. Wir saßen uns bei Kaffee gegenüber, ich hörte ihr zu. Aufmerksam, wenn sie von sich selbst berichtete, matt und gelangweilt, wenn sie die Großtaten ihrer Enkelkinder aufzählte, meiner Neffen, die ich nie getroffen hatte und die mich kaum interessierten. Es entstand wieder eine Bindung zwischen uns. Etwas stellte sich wieder her in mir. Ich erkannte, wie schwer es für sie gewesen war, mit meiner Abwendung zu leben. Ich verstand, dass sie darunter gelitten hatte. Aber wie war es für mich gewesen, der ich es doch immer so gewollt hatte? Hatte ich nicht auf andere Weise gelitten, gemäß dem freudschen Schema einer Melancholie, die aus einer nichtverwundenen Trauer über die ausgeschlagenen Möglichkeiten und abgewiesenen Identifikationen entsteht? Sie überleben im Ich als ein konstitutives Element. Das, wovon man losgerissen wurde oder sich losreißen wollte, bleibt ein Bauteil dessen, was man ist. Vielleicht leistet die Soziologie mit ihrem Vokabular eine bessere Beschreibung dessen, was die Psychoanalyse mit den einfachen, aber letztlich irreführenden Metaphern der »Trauer« und »Melancholie« evoziert: Die Spuren dessen, was man in der Kindheit gewesen ist, wie man sozialisiert wurde, wirken im Erwachsenenalter fort, selbst wenn die Lebensumstände nun ganz andere sind und man glaubt, mit der Vergangenheit abgeschlossen zu haben. Deshalb bedeutet die Rückkehr in ein Herkunftsmilieu, aus dem man hervor- und von dem man fortgegangen ist, immer auch eine Umkehr, eine Rückbesinnung, ein Wiedersehen mit einem ebenso konservierten wie negierten Selbst. Es tritt dann etwas ins Bewusstsein, wovon man sich gerne befreit geglaubt hätte, das aber unverkennbar die eigene Persönlichkeit strukturiert: das Unbehagen, zwei verschiedenen Welten anzugehören, die schier unvereinbar weit auseinanderliegen und doch in allem, was man ist, koexistieren. Eine Melancholie, die aus einem »gespaltenen Habitus« erwächst, um diesen schönen und kraftvollen Begriff Bourdieus aufzugreifen. Dieses unterschwellige, diffuse Unbehagen, und mit ihm eine noch stärkere Melancholie, drängt genau dann an die Oberfläche, wenn man glaubt, es hinter sich gelassen oder zumindest neutralisiert zu haben. Diese Gefühle waren nie ganz weg, und man entdeckt dann, oder besser, man entdeckt wieder, wie sie, tief in unserem Selbst verkrochen, in uns arbeiten und auf uns wirken. Kann man ein solches Unbehagen jemals überwinden? Kann man der Melancholie entkommen?

Als ich meine Mutter am 31. Dezember jenes Jahres kurz nach Mitternacht anrief, um ihr ein gutes Jahr zu wünschen, sagte sie: »Die Klinik hat gerade angerufen. Dein Vater ist vor einer Stunde gestorben.« Ich mochte ihn nicht. Ich hatte ihn nie gemocht. Mir war klar gewesen, dass seine Monate, dann auch seine Tage gezählt waren, aber ich hatte nichts unternommen, um ihn ein letztes Mal zu sehen. Wozu auch, hätten wir uns doch eh nicht erkannt, anerkannt sowieso nicht, seit Ewigkeiten nicht. Die Abgründe, die sich in meiner Jugend zwischen ihm und mir aufgetan hatten, waren mit den Jahren größer, wir füreinander Fremde geworden. Nichts verband uns, nichts hatten wir gemeinsam. Wenigstens glaubte ich das oder hatte es so sehr glauben wollen, weil ich dachte, man könne ein Leben losgelöst von seiner Familie leben und sich neu erfinden, indem man der Vergangenheit und denen, die sie bevölkern, den Rücken zukehrt. Für meine Mutter, dachte ich, musste es eine Erlösung sein. Mein Vater war dem Zustand körperlicher und geistiger Zersetzung jeden Tag ein Stück näher gekommen. Ein unerbittlicher Verfall. Besserung ausgeschlossen. Auf Demenzkrisen, in denen er Krankenschwestern angriff, folgten lange Phasen des Dämmerns, sicherlich bedingt durch die Medikamente, die man ihm nach seinen Anfällen verabreichte. Er schwieg dann, bewegte sich kaum noch und aß nichts mehr. Erinnern konnte er sich sowieso an nichts und niemanden. Besuche bei ihm waren für meine drei Brüder und für seine Schwestern (zwei von ihnen gingen vor lauter Angst nicht wieder hin) eine schwere Prüfung. Meiner Mutter, die jedes Mal zwanzig Kilometer mit dem Auto zurücklegen musste, verlangten sie eine Selbstlosigkeit ab, die mich wirklich erstaunte, waren doch ihre Gefühle für ihn, solange ich mich erinnern konnte, immer feindlich, eine Mischung aus Abscheu und Hass gewesen. Ja, Abscheu und Hass, die Worte sind nicht zu stark. Aber meine Mutter machte sich diese Besuche zur Pflicht. Ihr Selbstbild stand auf dem Spiel: »Ich kann ihn doch nicht hängenlassen«, sagte sie immer wieder, wenn ich fragte, warum sie weiter täglich in die Klinik fuhr, obwohl er sie nicht einmal mehr erkannte. Sie hatte ein Foto von sich und ihm an seine Zimmertür geklebt und fragte ihn regelmäßig: »Weißt du, wer das ist?« »Die Frau, die sich um mich kümmert«, antwortete er.

Zwei oder drei Jahre zuvor hatte mich die Nachricht von seiner Krankheit in tiefe Angst gestürzt. Nicht um ihn – es war zu spät, und ohnehin rief er in mir keinerlei Gefühl, nicht einmal Mitleid hervor –, sondern um mich selbst, egoistischerweise: Ist das erblich? Bin auch ich bald an der Reihe? Ich begann, auswendig gelernte Gedichte oder Tragödienszenen zu rezitieren, um mich zu vergewissern, dass ich sie noch konnte: »Songe, songe, Céphise, à cette nuit cruelle qui fut pour tout un peuple une nuit éternelle« …, »Voici des fruits, des fleurs, des feuilles et des branches / Et puis voici mon cœur« …, »L’espace à soi pareil, qu’il s’accroise ou se nie / Roule dans cet ennui« …2 Sobald mir ein Vers entfiel, dachte ich: »Es geht los.« Diese Obsession hat mich seither nicht mehr losgelassen. Strauchelt meine Erinnerung an einem Namen, einem Datum, einer Telefonnummer, erwacht sofort eine Unruhe. Überall sehe ich Anzeichen, ich erspähe sie, weil ich sie fürchte. Mein Alltagsleben wird gewissermaßen vom Gespenst des Alzheimer heimgesucht. Ein Gespenst, das aus der Vergangenheit auftaucht, um mich mit der Zukunft zu ängstigen. Auf diese Weise bleibt mein Vater ein Teil meines Daseins. Eine seltsame Art für einen verstorbenen Menschen, im Inneren des Gehirns eines seiner Söhne, am bedrohten Ort selbst, zu überleben. Lacan spricht in einem seiner Seminare sehr eindringlich von der Angst, die der Tod des Vaters auslöst, beim männlichen Nachkommen jedenfalls. Er steht nun alleine an vorderster Front, alleine vor dem Tod. Zur ontologischen Angst fügt Alzheimer die alltägliche Furcht hinzu. Überall sieht und deutet man Anzeichen. Aber mein Leben wird nicht nur von der Zukunft heimgesucht, sondern auch von meiner Vergangenheit, deren Geister gleich nach dem Tod desjenigen erwachten, der all das verkörpert hatte, was ich hatte hinter mir lassen und womit ich hatte brechen wollen, der für mich ohne Zweifel eine Art negatives soziales Modell abgegeben hatte, einen Gegenpol für die Arbeit an meinem Selbst. In den Folgetagen musste ich an meine Kindheit zurückdenken, an meine Jugend, an all die Abgründe, die mich diesen Menschen, der soeben gestorben war, hatten verabscheuen lassen, diesen Mann, dessen Tod so unerwartete Gefühle in mir auslöste und so viele vergessen geglaubte Bilder in mir weckte (vielleicht hatte ich immer gewusst, dass sie nicht vergessen waren, weil ich sie ganz bewusst verdrängte). So etwas geschieht in jeder Trauer, wird man mir sagen, und vielleicht ist das eines ihrer allgemeinsten Merkmale, besonders, wenn sie die eigenen Eltern betrifft. Trotzdem hatte ich eine eigentümliche Art, diese Trauer zu empfinden. Mein Wille, den Verstorbenen und auch mich selbst, den Weiterlebenden, zu verstehen, überwog die Traurigkeit. Frühere Todesfälle hatten mich härter getroffen, mich in tiefere Bedrängnis gestürzt. Ich hatte Freunde verloren, Mitglieder meiner Wahlfamilie gewissermaßen, deren brutale Auslöschung mein Leben in seiner alltäglichen Substanz beschädigte. Im Gegensatz zu diesen selbstgewählten Beziehungen, deren Kraft und Beständigkeit sich dem Wunsch und Bemühen zweier aktiv Beteiligter verdankt (daher der Zusammenbruch bei gewaltsamer Trennung), war die Verbindung zu meinem Vater für mich rein biologisch-juristisch: Er hatte mich gezeugt, ich trug seinen Namen, ansonsten war er mir egal. Wenn ich lese, wie Roland Barthes nach dem Tod seiner Mutter Tag für Tag seine übermächtige Verzweiflung niederschreibt, seinen unüberwindlichen, wesensverändernden Schmerz, dann kann ich ermessen, wie viel meine Gefühle nach dem Tod meines Vaters von echter Hilflosigkeit, von echtem Leiden trennte. »Ich bin nicht in Trauer. Ich habe Kummer«,3 schreibt Barthes, um die psychoanalytische Beschreibung dessen, was der Tod eines geliebten Menschen in uns auslöst, zurückzuweisen. Wie war das in meinem Fall? Genau wie Barthes könnte ich nicht sagen, dass ich »in Trauer« war (im freudschen Sinn einer »Trauerarbeit«, die sich in einer psychologischen, den anfänglichen Schmerz allmählich vertreibenden Zeit bemisst). Aber ich empfand auch nicht diesen Kummer, der nicht weichen will und dem die Zeit nichts anhaben kann. Was dann? Eher eine Irritation, hervorgerufen von einer Reihe Fragen, in denen das Persönliche vom Politischen nicht zu trennen ist. Fragen über soziale Schicksale, über die Teilung der Gesellschaft in Klassen, über den determinierenden Einfluss der sozialen Welt auf die Subjektkonstitution, über individuelle Psychologien und die Beziehungen zwischen Individuen.

Ich bin nicht zur Beerdigung meines Vaters gegangen. Ich hatte keine Lust, meine Brüder wiederzusehen, zu denen ich seit über dreißig Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Was ich von ihnen wusste, beschränkte sich auf die gerahmten Fotos im Haus in Muizon. Ich wusste also, wie sie aussahen, was äußerlich aus ihnen geworden war. Aber wie hätte ich ihnen nach all den Jahren gegenübertreten sollen, selbst unter diesen besonderen Umständen? »Der hat sich aber verändert …«, hätten wir voneinander gedacht und verzweifelt versucht, in unseren heutigen Zügen die Menschen wiederzuerkennen, die wir gestern oder besser vorgestern gewesen sind, als wir Brüder, als wir jung waren. Den darauffolgenden Nachmittag verbrachte ich mit meiner Mutter. Mehrere Stunden saßen wir im Wohnzimmer und redeten. Sie hatte einen Fotokarton aus dem Schrank geholt, natürlich waren Bilder von mir dabei, als kleiner Junge, als Jugendlicher, auch von meinen Brüdern. Ich hatte plötzlich wieder – aber war es nicht die ganze Zeit in meinen Kopf und in meinen Leib eingeschrieben gewesen? – dieses Arbeitermilieu vor Augen, dieses Arbeiterelend, das aus den Physiognomien der Häuser im Hintergrund spricht, aus den Inneneinrichtungen, aus den Klamotten, aus den Körpern selbst. Es ist immer wieder bestürzend, wie unmittelbar fotografierte Körper aus der Vergangenheit, viel mehr noch als bewegte oder leibhaftig vor uns stehende, einen sozialen Körper darstellen, den Körper einer Klasse. Und wie sehr die fotografische Erinnerung jeden Einzelnen, indem sie ihn (in diesem Fall mich) an seine Klassenherkunft erinnert, in seiner sozialen Vergangenheit verankert. Das Private und Intime, wie es aus diesen alten Bildern spricht, schreibt uns wieder in unsere ursprüngliche gesellschaftliche Kategorie ein, in Orte der Klassenzugehörigkeit, in eine Topografie, die unsere scheinbar persönlichsten Erfahrungen und Beziehungen innerhalb einer kollektiven Geschichte und Geografie verortet, ganz so, als hinge jede individuelle Genealogie von einer sozialen Archäologie oder Topologie ab, die ein jeder als eine seiner tiefsten Wahrheiten, vielleicht als die bewussteste überhaupt, in sich trägt.

2

Schon seit einer Weile, seitdem ich meine Rückkehr nach Reims in Angriff genommen hatte, kam ich von einer Frage nicht mehr los. Ganz deutlich wurde sie mir in den Tagen nach der Beerdigung meines Vaters, nachdem ich mit meiner Mutter einen Nachmittag lang Familienfotos angeschaut hatte: »Warum habe ich, der ich so viel über Mechanismen der Herrschaft geschrieben habe, kaum etwas zur sozialen Herrschaft geschrieben?« Und: »Warum habe ich, der ich dem Schamgefühl im Prozess der Emanzipation und Unterwerfung [le processus de l’assujettissement et de la subjectivation] eine so große Bedeutung beigemessen habe, so gut wie gar nichts zur sozialen Scham geschrieben?« Ich dürfte die Frage sogar in diesen Worten formuliert haben: »Warum bin ich, der ich so große soziale Scham empfunden habe, Herkunftsscham, wenn ich in Paris Leute aus ganz anderen sozialen Milieus kennenlernte und sie über meine Klassenherkunft entweder belog oder mich zu dieser nur in größter Verlegenheit bekannte, warum also bin ich nie auf die Idee gekommen, dieses Problem in einem Buch oder Aufsatz anzugehen?« Sagen wir es so: Es war mir leichter gefallen, über sexuelle Scham zu schreiben als über soziale. Als sei die Untersuchung der Konstitution inferiorisierter Subjektivität mit ihren komplexen Mechanismen des Sich-Verschweigens und Sich-Bekennens heute geachtet und achtbar, ja politisch gewollt, wenn es dabei um Sexualität geht, als sei sie aber höchst problematisch und in den Kategorien des öffentlichen Diskurses so gut wie gar nicht vertreten, wenn sie die Herkunft aus einer niedrigen sozialen Schicht zum Thema hat. Ich wollte verstehen, warum. Die Flucht in die Großstadt und Kapitale, um seine Homosexualität auszuleben, ist für einen jungen Schwulen eine klassische und gewöhnliche Entwicklung. Was ich zu diesem Vorgang in geschrieben habe, lässt sich, wie auch das erste Kapitel dieses Buchs, als eine zur historischen und theoretischen Analyse geformte Autobiografie lesen oder schlicht als die Analyse einer persönlichen Erfahrung. Aber Autobiografien sind immer selektiv. Meinen Werdegang kann man mit ein wenig Abstand auch ganz anders analysieren. Denn die Entscheidung, die Stadt meiner Geburt und Adoleszenz zu verlassen, um mit zwanzig in Paris zu leben, bedeutete für mich auch einen progressiven Milieuwandel. Tatsächlich wäre die Behauptung nicht übertrieben, in meiner Entwicklung sei das Coming-out aus dem sexuellen »Schrank« – das Verlangen, meine Homosexualität anzunehmen und zu bejahen – mit dem Eintritt in etwas zusammengefallen, das man den »sozialen Schrank« nennen könnte: in Zwänge, die von einer anderen Form des Verbergens, der Persönlichkeitsspaltung und des doppelten Bewusstseins geprägt sind (wobei die Mechanismen den wohlbekannten der sexuellen Ein-Schränkung gleichen: Ausflüchte und das Verwischen von Spuren; sehr wenige Freunde, die Bescheid wissen und schweigen; je nach Situation und Gesprächspartner variierende Sprachregister; permanente Kontrolle der Gesten, Vokabeln und der Intonation, um ja nichts durchscheinen zu lassen, sich ja nicht zu »verraten« usw.). Als ich mich nach einigen ideengeschichtlichen Arbeiten (unter anderem den beiden Büchern über Foucault) mit Unterwerfung und Subjektivierung () befasste, nahm ich meine Geschichte als Schwuler zum Ausgangspunkt, um die Wirkmechanismen jener sozialen Inferiorisierung und »Abjektion« zu untersuchen (wenn man von seiner Mitwelt ausgesondert, verabscheut wird), die bei sexuellen Normverletzungen greifen. Dabei ignorierte ich all das, was an mir selbst und in meiner eigenen Geschichte auf Machtverhältnisse zwischen Klassen verwies, alles, was mich auf jene Aspekte der Subjektivierung hätte bringen können, ja bringen müssen, die von sozialen Zugehörigkeiten und der Inferiorisierung »niedrigerer« Klassen bestimmt sind. Solche Aspekte hatte ich in meinen Büchern , oder auch in zwar nicht völlig unterschlagen, schließlich geht der Anspruch dieser Arbeiten weit über ihren sorgsam begrenzten Analyserahmen hinaus. Ich wollte dort eine Anthropologie der Scham entwerfen, mit der sich eine Theorie der Herrschaft und des Widerstandes, der sozialen Unterwerfung und Subjektivierung konstruieren lässt. Deshalb habe ich in (Untertitel: ) auch die von Genet, Jouhandeau und anderen erarbeiteten Theoreme zur sexuellen Inferiorisierung mit Ansätzen verknüpft, die Bourdieu zur sozialen sowie Fanon, Baldwin und Chamoiseau zur rassischen oder kolonialen Inferiorisierung entwickelt haben. Aber solche sozialen oder auch ethnischen Dimensionen kommen in diesen Büchern nur insoweit vor, als sie mir verstehen helfen, was es heißt, einer sexuellen Minderheit anzugehören. Ich verwende Ansätze aus anderen Kontexten, versuche meine Analysen zu öffnen und den Fokus zu erweitern, allerdings immer nur, um sekundäre, ergänzende Aspekte hinzuzufügen, bald als argumentative Stütze, bald als illustrative Verallgemeinerung. Wie ich im Vorwort zur englischen Ausgabe der betone, liegt mein Ansatz darin, Bourdieus Begriff des Habitus auf die Sexualität zu übertragen. Bringt die Verinnerlichung und Verkörperung einer sexuellen Ordnung in ähnlicher Weise einen sexuellen Habitus hervor wie die Aneignung einer sozialen Ordnung den Klassenhabitus? Obwohl jede Antwort auf diese Frage auf die Notwendigkeit hinausläuft, den sexuellen und den sozialen Habitus zusammenzudenken, hatten meine Bücher die sexuelle, nicht die soziale Subjektivierung zum Thema.

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