Sachmet Die Rache der Löwin - Katharina Remy - E-Book

Sachmet Die Rache der Löwin E-Book

Katharina Remy

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Beschreibung

2011 AD: Luxor, Ägypten Anna, außer sich über einen brutalen Mord in ihrem Freundeskreis, macht während des Arabischen Frühlings eine schauderhafte Entdeckung. Die einst von ihr hoch über dem Arbeiterdorf Deir el Medine gefundene Statue verkörpert in den Wirren dieser unruhigen Zeiten das absolut Böse. Außerhalb ihrer Saison reist Anna deshalb überstürzt nach Luxor. Doch dort herrscht das Chaos, selbst ihr Zufluchtsort, das geliebte Winter Palace, scheint nicht mehr sicher. So trifft Anna in den Zeiten der Revolution nicht nur den alten, bedrohlichen Bettler wieder. Georg erfährt von ihrem überstürzten Aufbruch, reist ihr nach, wild entschlossen, seine Frau zurückzuerobern ... Kurz darauf erschüttert ein feiger Mordanschlag das beschauliche Städtchen. In all diesen Wirren offenbart selbst Sachmet sich und es dauert nicht lange, da muß Anna, bedrängt und von ihrer Vergangenheit eingeholt, in Luxor um ihr Leben fürchten ... 1386 v. Chr.: Uaset, Kemet Ranofers Tod wäre vielleicht zu verkraften gewesen. Doch daß er Bent und ihrer beider große Liebe vergessen hat, stürzt die ehrbare Hohepriesterin der Isis in tiefste Betrübnis. Von diesem erneuten Schicksalsschlag grausam getroffen, im Herzen kalt, fühlt Bent sich außerstande ihr Leben weiterzuführen. Von Sachmets Wut verlassen, aber stets an die grausame Rache der Löwin erinnert, von Todessehnsucht gepackt, strebt sie nach Erlösung ihrer Qualen, sucht selbstquälerisch den ewigen Schlaf. Wären da nicht Pharao selbst, der ihre Hilfe beansprucht, ihr verläßlicher Freund Bek, der ihr zur Seite steht und die Verpflichtung für den Tempel. Als sie schließlich glaubt, all das Böse hinter sich gelassen zu haben, endlich bereit sei, das Haus der Isis als ihr Zuhause anzunehmen, begegnet ihr unverhofft Amenhotep Hapu. Bent, von Blutrache gepackt, beschwört abermals die blutgierige Sachmet. Wird die Mächtige ihr diesmal zur Seite stehen?

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2011 AD:

Luxor, Ägypten

Anna, außer sich über einen brutalen Mord in ihrem Freundeskreis, macht während des Arabischen Frühlings eine schauderhafte Entdeckung. Die einst von ihr hoch über dem Arbeiterdorf Deir el Medine gefundene Statue verkörpert in den Wirren dieser unruhigen Zeiten das absolut Böse. Außerhalb ihrer Saison reist Anna deshalb überstürzt nach Luxor. Doch dort herrscht das Chaos, selbst ihr Zufluchtsort, das geliebte Winter Palace, scheint nicht mehr sicher. So trifft Anna in den Zeiten der Revolution nicht nur den alten, bedrohlichen Bettler wieder. Georg erfährt von ihrem überstürzten Aufbruch, reist ihr nach, wild entschlossen, seine Frau zurückzuerobern …

Kurz darauf erschüttert ein feiger Mordanschlag das beschauliche Städtchen. In all diesen Wirren offenbart selbst Sachmet sich und es dauert nicht lange, da muß Anna, bedrängt und von ihrer Vergangenheit eingeholt, in Luxor um ihr Leben fürchten …

1386 v. Chr.:

Uaset, Kemet

Ranofers Tod wäre vielleicht zu verkraften gewesen. Doch daß er Bent und ihrer beider große Liebe vergessen hat, stürzt die ehrbare Hohepriesterin der Isis in tiefste Betrübnis. Von diesem erneuten Schicksalsschlag grausam getroffen, im Herzen kalt, fühlt Bent sich außerstande ihr Leben weiterzuführen. Von Sachmets Wut verlassen, aber stets an die grausame Rache der Löwin erinnert, von Todessehnsucht gepackt, strebt sie nach Erlösung ihrer Qualen, sucht selbstquälerisch den ewigen Schlaf. Wären da nicht Pharao selbst, der ihre Hilfe beansprucht, ihr verläßlicher Freund Bek, der ihr zur Seite steht und die Verpflichtung für den Tempel. Als sie schließlich glaubt, all das Böse hinter sich gelassen zu haben, endlich bereit sei, das Haus der Isis als ihr Zuhause anzunehmen, begegnet ihr unverhofft Amenhotep Hapu. Bent, von Blutrache gepackt, beschwört abermals die blutgierige Sachmet. Wird die Mächtige ihr diesmal zur Seite stehen?

Die Autorin:

Ich bin im Saarland (Deutschland) geboren, lebe in der Nähe von Saarbrücken und bin verheiratet. Reisen - nicht nur nach Ägypten - sind unsere Passion.

Seit ich Kind war fühle ich eine unerklärliche Liebe für Ägypten - das Land am Nil ist seit Jahrzehnten das Reich meiner Leidenschaften und Träume. Um diese versunkene Kultur, den Glanz der Pharaonen in all ihrer Pracht vor meinen Augen erstehen zu lassen, begann ich mit dem Schreiben. Die Lebens- und Denkweise der alten Ägypter, ihr unerschütterlicher Glaube an die Götter und an Maat, die alles im Gleichgewicht hält, ist das, was mich inspiriert und all meinen bereits erschienenen Romanen Leben einhaucht.

ES GIBT KEINE GERECHTIGKEIT, ES GIBT NUR MICH!(der TOD, Terry Pratchett)

Elke Bassler hat es mal wieder geschafft mich mit ihren herrlichen 3-D-Bilder fürs Cover zu verzaubern. Lieben herzlichen Dank dafür!

Ein dicker, liebevoller Dank geht auch dieses Mal an Jürgen für seine guten Ideen und Tips

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

DEUTSCHLAND, SAARBRÜCKEN

SAARBRÜCKEN, STADTRAND, ANNAS HAUS

LUXOR, FLUGHAFEN

LUXOR, MUSEUM

LUXOR, WESTBANK, IM HAUS DER FAMILIE ABDALLAH

LUXOR, WESTBANK, RAPHAELS HAUS

KEMET, UASET

ÄGYPTEN, LUXOR

LUXOR, EL CORNICHE

LUXOR, EL CORNICHE, VOR DEM WINTER PALACE

LUXOR, WINTER PALACE, ANNAS ZIMMER

LUXOR, WESTBANK, RAPHAELS HAUS

LUXOR, LUXOR-MUSEUM

TEMPEL VON KARNAK

LUXOR, WESTBANK, RAPHAELS HAUS

LUXOR, WINTER PALACE, ROYAL BAR

DEUTSCHLAND, SAARBRÜCKEN

Real existierende Personen zur Zeit dieser Geschichte

Der ägyptische Kalender (Die Monate beginnen immer am 15.)

Juli 2020, vier Monate nach dem Ausbruch von Corona

PROLOG

Ägypten, Kairo

Januar 2011 A.D.

„Wo ist dein Mann?“

Nef legte das scharfe Messer beiseite, guckte hoch. Ihre Schwester fragte beiläufig im Vorbeihuschen, griff draußen an der Garderobe nach ihrer Handtasche, der Sonnenbrille und dem Schal.

„Was?“, plärrte Nef hinaus, drehte den Gesang Mustafa Sandals leiser, trat Paprika kauend aus der Küche in die große Diele. „Ja bleibst du nicht zum Essen? Wo willst du denn hin? He, Süße, es ist Zeit zum Abendessen.“

„Ich muß etwas wichtiges erledigen, ich habe keine Zeit zum Essen! Also wo ist er?“

„Wer?

„Dein Mann!“

Nef bekam ein abfälliges Schnauben zustande, wandte sich wieder dem Kochen zu; die Schwester folgte ihr in die nach Zwiebeln, Knoblauch, Zimt und Koriander duftende Küche. Kunterbunt türmte sich das Gemüse auf der Arbeitsplatte, in der Pfanne auf dem Herd schmurgelte Lamm vor sich hin, Mustafa Sandal quäkte weiter von Liebe und Schmerz. Entschlossen drehte die Schwester den CD-Spieler ab.

„Wo ist er?“

„Oooh!“ Nef verdrehte die Augen, schnippelte weiter Paprika. „Du weißt doch, daß mich das wenig interessiert. Ich hab ihn seit Jahren nicht gesehen. Wo soll er sein? Wenn er nicht irgendeinem Tornado nachjagt oder Gewitter fotografiert, wird er irgendwo in der Gegend sein. Ist gerade Saison für Tornados?“

„Keine Ahnung. Hol ihn her, es ist wichtig!“

„Klar doch!“ Die Ironie tropfte nur so von Nefs Lippen. „Ich ruf ihn an oder suche ihn per Google. Keine Frage, meine Große. Ich hoffe, er hat sein Handy eingeschaltet, denn bei Google wird es ein Problem…“ Sie verstummte, weil die Türglocke anschlug.

„Ich geh‘ schon“, rief der kleinwüchsige Hausangestellte, rannte auf krummen, aber flinken Beinen eilig zur Tür, an die mittlerweile heftig und ungeduldig geklopft wurde. Mit lautem Poltern wurde sie nun aufgestoßen, jemand klackerte auf hohen Hacken flott durch den Hausflur, in die Diele und Richtung Küche. Lackschwarze, hochhackige, elegante und vor allem teure Pumps traten entschlossen auf dem glänzenden Granitboden auf. Ein heißer Wind wehte herein, eine rote Handtasche knallte auf die Ablage neben dem Gemüse. Dunkelgrüne, feurige Augen, schön mit Kajal umrandet, blickten ironisch zwinkernd auf die Schwestern herab. Der zarte, rote Schal schwebte einen Augenblick über dem langen, seidig schwarzen Haar, sank schließlich achtlos neben das Gemüse, von schlanken Fingern mit langen, gepflegten Nägeln gehalten.

„Ich faß‘ es nicht!“, spottete die elegante Besucherin bissig. „Ihr kocht? Wie löblich! Ganz den Pflichten einer Hausfrau erlegen! Nur nicht einmischen. Schön den Ballen flach halten und alles aussitzen!“ Gelassen knöpfte sie sich den fußlangen, nachtschwarzen Mantel auf. Auch er wurde achtlos auf die Ablage geworfen.

„Was willst du?“ Nef pickte einen Zipfel des Schals von ihrem Paprika, betrachtete kritisch das feuerrote, knallenge – und für ihre Begriffe viel zu kurze – Kleid ihrer Cousine. „Gut, daß die Sitten heutzutags sind, wie sie sind. Vergiß bloß nie den Mantel überzuziehen, sonst haben dich die Sittenwächter gleich!“

„Das laß ruhig meine Sorge sein!“, kam die verächtlich klingende Antwort.

„Ich sitze nichts aus!“, rief Isi, hob wie beschwörend ihre Tasche hoch, „Und ich koche nicht, denn ich war schon auf dem Weg zu dir, meine Liebe. Und wenn du nicht ständig dem Schnulzensänger da zuhören würdest“, ging Isi auf Nef los, „sondern auch mal den Nachrichten im Radio, dann wüßtest du es. Auf dem Tahrirplatz ist der Teufel los!“

„Auf dem Platz der Freiheit? Aber wieso? Was ist denn?“

„Es ist der Tag des Zorns! Sie wollen den Alten stürzen, er soll weg, aber er weigert sich. Ach, als die Algerier anfingen, ahnte ich schon sowas. Das wird nicht gut ausgehen!“

Entgeistert ließ Nef sich auf einen Küchenstuhl sinken. Oh, nun verstand sie die Frage nach ihrem Gatten, jetzt wußte sie warum die lang verschollene Base urplötzlich auftauchte!

Aber so schnell?

Solange hatten sie sich nicht gesehen. Wo war sie all die langen Jahre gewesen? All die geruhsamen, gelassenen Jahre der Unaufmerksamkeit, der Schläfrigkeit und des süßen Nichtstuns. Träumen gleich verrann die Zeit, ohne Sorgen, geprägt vom Taumel der Stadt, verdöst in der Hitze des Sommers, verschlafen in der angenehmen Kühle des Winters. Die Zeit verrann im Pulsschlag der Jahreszeiten und Nef hatte sich wie ihre Schwester treiben lassen. Dem Nichtstun hatten sie gehuldigt, dem zuckersüßen Müßiggang. Lauschten von der Terrasse des großen Penthouses dem ewigen Konzert des Lebens, selbst weitab davon.

„Wo sind die beiden anderen?“ Der Besucherin scharfer Ton riß Nef aus ihren Grübeleien.

„Keine Ahnung“, erwiderte sie tonlos. „Irgendwo im Süden, seit Ewigkeiten schon, und…“

„Ja ja!“, keifte die Cousine höhnisch, fegte den Paprika mit einer boshaften Bewegung durch die gesamte Küche, „Und du vergißt, wer du bist und zu was du fähig bist! Spielst die Herrin des Hauses formvollendet! Schnippelst Gemüse!“

Plötzlich legte sich beklemmendes Schweigen über die drei Frauen. Selbst der kleine Hausdiener stand betreten in der Küchentür.

„Unsere Männer!“, klagte Nef heiser, räusperte sich, schaute zu ihrer Schwester. „Unsere Männer werden kommen…“

„Ja!“, fauchte die aufgebrachte Verwandte triumphierend, „Sie werden kommen! Angezogen wie Fliegen von verrottendem Aas werden sie bald da sein!“

„Wie du schon da bist!“, fuhr Nef böse geworden von dem Küchenstuhl hoch, fuchtelte wild mit dem Küchenmesser vor der Cousine Nase herum. „Da wo du auftauchst, ist der Ärger nicht weit!“

Blitzschnell wich sie der vorschnellenden Hand der Base aus, die katzengleich nach ihr schlug und boshaft zischte: „Und ich werde mir holen, was mir gehört! Die Zeit ist reif!“

„Hört sofort auf!“, ging Isi dazwischen. „Du machst nur Ärger und Nefs Mann auch. Aber mein Mann… er nimmt sie mit!“

„Wir müssen ihnen helfen!“, rief Nef als sei sie aus einem langen dunklen Traum erwacht. „Das Schlimmste verhindern! Keiner von euch soll reiche Beute machen.“

„Nun“, die Cousine griff entschlossen nach ihrem Mantel, „ich weiß, was zu tun ist! Ich muß nach Luxor. Zu lange haben wir tatenlos zugesehen! Zu lange haben wir geträumt!“

„Wo lang jetzt?“ Sie schaute sich unwirsch um, als sie den Bahnhof verließen. Ihr Begleiter grinste anzüglich, aber das war bei ihm nichts Neues. Schon eine geraume Weile hatte sie sich wegen ihm und den Umständen in Rage gebracht. „Daß ich zu Fuß gehe, ist alleine schon eine Frechheit! Sieh zu, daß du einen Wagen auftreibst! Alles ist umgebaut! Man kennt sich ja kaum aus! Wo sind wir?“

„Da runter geht’s zum Ipet Resit.“

„Meinst du, die Fähren legen noch da ab? Wir sind auf der falschen Seite.“

Er nickte gelassen und spazierte los. Wütend folgte sie ihm. Verflucht, bei allem, was ihr heilig war. Zu lange hatten sie gewartet, zu lange geträumt und zu lange sich dem Müßiggang hingegeben. Warum auch immer Isi – aller Hoffnung beraubt, denn nur wenige hatten noch zu ihnen gestanden – damals, als die Menschen sich anderen zuwandten, aufgegeben hatte, blieb ihr schleierhaft. Die wertvolle Zeit war sinnlos verronnen und alles Wichtige war in Vergessenheit geraten. Niemand erinnerte sich mehr an die alten Zeiten und die alte Ordnung. Nur sie neun waren von der großen Familie übriggeblieben. Aber sie selbst würde nicht aufgeben. Verlangte mit ihrem unbändigen Willen ihre einstige Macht zurück. Dunkel erinnerte sie sich, wo sie suchen mußte. Und sie würde Verbündete suchen und finden.

Ein alter, schmieriger, schmutziger Bettler tauchte vor ihr auf, riß sie aus ihren bösen Gedanken.

„Du bist schuld!“, kreischte der alte Mann. „Schuld an meinem Elend!“

Sie gab ihm eine heftige schallende Ohrfeige, daß der alte Mann rückwärts über den Bürgersteig taumelte, und dann nahm sie ihre Umwelt wieder voll wahr.

Gerade eben lag die Straße völlig ruhig vor ihr, doch jetzt erhob sich Tumult wie ein Sturm. Wütende Hunde bellten hinter einer Hecke, die Pferde vor den Kutschen wurden scheu und gingen durch. Fußgänger pöbelten sich an, Autos bogen mit aggressivem Fahrstil um die Ecke beim Luxortempel. Polizeiautos jagten hupend hinterher. Eine Bande Jugendlicher lief randalierend über die Straße, warf Steine. Irgendwo klirrte eine Schaufensterscheibe. Ihr Begleiter war höchst zuverlässig.

„Hör sofort damit auf!“, ging sie ihn an.

„Ich gehe doch ganz ruhig hier!“

„Du weißt genau was ich meine!“

Ja, er war zuverlässig.

Zuverlässig bösartig!

DEUTSCHLAND, SAARBRÜCKEN

Samstag, 23. April 2011 A.D.

Es war zauberhaft verhext in dieser lauen Frühlingsnacht. Zahllose Nachtschwärmer bevölkerten an diesem Samstagabend den St. Johanner Markt, rund um den Brunnen saßen junge Leute, Punker, ein paar Pennbrüder, manche von denen mit Hund oder Gitarre. Sämtliche Tische draußen vor den Lokalen waren besetzt. Und in dieser wild wogenden Menge glaubte Anna ein bekanntes Gesicht zu erkennen. Ein Grüppchen Leute spazierte ihr ins Blickfeld und schon war der flüchtige Eindruck verschwunden. Sie saß vor der Weinstube unter den Kastanien und betrachtete genüßlich das bunte Treiben, genehmigte sich einen Chardonnay. Aber jetzt! Den kannte sie doch …

„Hey! Schwab! Läufst du gern an mir vorbei?“

Der Typ blieb stehen, guckte, grinste, steuerte den Tisch an, an dem sie alleine saß.

„Anna? Schätzchen! Ja ist es denn die Möglichkeit?“

„Alex!“ Sie fiel ihm freudestrahlend um den Hals. „Komm setz dich. Wie schön dich zu treffen!“

„Was machst du denn hier? Wo ist Georg?“ Lex betrachtete den Tisch; lediglich das Glas Weißwein, der Aschenbecher und ein Windlicht standen da. „Ich hab euch ja ewig nicht gesehen, erzähl mal, Süße! Wo ist der alte Sack?“ Grinsend ließ er sich nieder. Anna kramte in ihrer Handtasche, packte Zigaretten und Feuer aus, wollte sich eine anstecken. Er nahm ihr das Feuerzeug ab, gab ihr Feuer.

„Der alte Sack ist in Berlin.“

„Sucht er immer noch Altbauten die er sanieren kann? Feierst du Ostern alleine?“

„Er wohnt da, in einem Protzbau. Und ich bin wieder hier. Du weißt doch, daß ich keine kirchlichen Feste feiere.“

„Wie hier? Komm, Süße, red‘ keinen Scheiß, du sagst damit doch nicht, daß ihr auseinander seid?“

Anna konnte sich das bitterböse Lachen nicht verkneifen.

„Ich hab es da nicht mehr ausgehalten, Alex. Ich bin Saarländerin. Ich will hier leben, wenn ich schon das andere halbe Jahr in Ägypten verbringe. Berlin ist einfach nicht meine Welt. Ich hatte grenzenloses Heimweh. Und dann ging vor Jahren dieser Rummel mit dem Film los. Dieses Geschiß! Alex, du kennst mich! Ich brauch das nicht in meinem Leben. Georg und ich sind getrennt, ja! Berlin ist für mich vorbei, meine Ehe ist vorbei, ich wohne wieder in unserem alten Haus. Seit Januar, mußte raus aus Ägypten. Hab die letzte Saison vorzeitig abgebrochen. Du weißt ja wie unruhig es im Moment da ist.“

„Nicht doch, Anna!“

„Wir sind freundschaftlich auseinandergegangen!“

„Trotzdem. Sowas zu hören, macht nicht froh.“

„Er lebt mit seiner ehemaligen Sekretärin zusammen. Hat einen kleinen Sohn. Niedlich. Ist irgendwie auch meine Schuld, war zu selten zu Hause und du weißt ja, Gelegenheit macht Liebe.“

„Mensch, Anna! Tut mir leid, das zu hören.“

„Schon gut. Ich habe ja noch meine Arbeit, mein Leben steht ja nicht total auf dem Kopf.“

„Ich kenn deinen staubigen Tick nur zu gut“, fotzelte Lex freundschaftlich. Mit Annas Arbeit konnte er sich überhaupt nicht identifizieren, das war gar nicht sein Ding. Anna wußte das. Sie wußte aber auch, daß Alex ihre Arbeit würdigte, deshalb nahm sie ihm sein Lästern nicht übel. Sie scherzte zurück:

„In Kom el Hettan, mit Eimerchen, Schaufelchen und Siebchen und hundert anderen buddel ich momentan im Sand.“

„Hä? Wo?“

„In Luxor, Westbank, im Tempel von Amenophis des Dritten.“

„Aha! Keine Ahnung, von was du redest.“ Lex winkte der Bedienung.

„Ein riesengroßer Tempel der wahrscheinlich durch ein Erdbeben dem Erdboden gleich gemacht wurde. Lediglich zwei große Statuen stehen heut noch. Die sogenannten Memnonkolosse. Aber hundert andere zerborstene Statuen finden sich dort. Wir versuchen gerade sie wieder zusammenzusetzen. Hoffentlich ändert sich die politische Lage in Ägypten bald… du hörst ja doch nicht zu, du alter Ignorant. Bestell mir bitte noch einen Wein und dann erzähl mal von euch. Wie geht’s Karen? Wollte Ende Oktober mit ihr reden, bekam sie aber nicht ans Telefon. Dann ging in Ägypten und mit Georgy plötzlich alles drunter und drüber und ich vergaß, mich nochmal zu melden… Sag mal, ist bei dir alles in Ordnung?“

Die Bedienung war derweil an den Tisch getreten. Lex hielt einen Moment inne, anscheinend gänzlich von ihrer Frage aus der Bahn geworfen. Schlagartig war seine offensichtlich mühsam aufrecht gehaltene Beherrschung dahin. Barsch bestellte er zwei doppelte Cognac und den Wein.

„Ich hab einen Scheißfall am Hals, Anna!“, gab er ihr völlig zusammenhanglos zur Antwort, kramte in der Innentasche seiner abgegriffenen Wildlederjacke nach Zigaretten. Mit zitternden Fingern schaffte er es mühsam, sich eine anzuzünden. „Eine alleinstehende Geschäftsfrau, hier aus der Bahnhofstraße. Und wir kommen nicht weiter.“

„Ok.“ Anna nickte, wartete darauf, daß er weitersprach, betrachtete ihn, erkannte Alexander kaum wieder. Denn erst jetzt bemerkte sie die Veränderung an ihm. Was bin ich für eine Freundin? Mit seinen hohlen unrasierten Wangen und den blutunterlaufenen Augen hatte er keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem Mann, den sie kannte. Nichts war geblieben von der latenten Ähnlichkeit mit dem Helden aus ihrer Kindheit, von Winnetous blondem, starken Gefährten Old Shatterhand, von Lex Barker. Er hatte schon immer gern ein bißchen zu tief ins Glas geschaut, doch nun schien er richtig zu trinken. Ja, er sah beinahe aus wie ein verwahrloster Säufer, nicht einmal darauf bedacht seine Sucht zu verbergen. Was war nur mit ihm los?

Die Bedienung brachte die Getränke, kassierte ab und verschwand wieder. Und jetzt war es ihm wohl scheißegal wie es auf Anna wirkte – er kippte den Cognac ex, stellte das Glas hart zurück.

„Karen ist tot!“, sagte er barsch und laut. Zu laut! Anna meinte gerade, ihr ziehe jemand den Boden unter den Füßen weg. Bevor ihr ein hysterischer Schrei entschlüpfen konnte, trank sie hastig den zweiten Cognac.

„Das glaube ich nicht!“, krächzte sie entsetzt. „Lex! Erzähl nicht solchen Blödsinn!“ Sie mußte sich beherrschen nicht laut zu kreischen.

„Letzten August.“

„War sie krank?“

Alex schlug hart mit der Faust auf den Tisch. Die Gäste ringsum verstummten, schauten zu ihm und Anna herüber. „Irgendeine Sau hat sie beim Joggen am Yachthafen erstochen“, zischte er böse.

„Um Gottes Willen!“ Anna schaute ihm bestürzt ins Gesicht, griff mitfühlend nach seiner Hand. „Alex…?“

„Ja, frag nur!“, brummte er bärbeißig wie ein alter Wolf, schaute ihr fest in die tränennassen Augen. „Genau! Du kannst es dir ausrechnen.“

„Du bist bei der Mordkommission…“ Anna versagte fast die Stimme.

„Jepp, sie haben mich gerufen!“, knurrte er. „Das war vielleicht ein Gefühl, als ich meine Frau da liegen sah…“ Er schnipste bissig die Zigarette auf den Boden. „Dieser Schock! Ich wäre zu keiner Ermittlung fähig gewesen, Anna. Da kann man direkt von Glück reden, daß ich persönlich betroffen war, offiziell von dem Fall abgezogen wurde und meine Kollegin die Ermittlungen aufnahm.“

Anna schaute mit Tränen in den Augen über den belebten alten Marktplatz. Die laue Frühlingsnacht, das schöne Osterwochenende, die Stimmung … alles vorbei!

„Ich will es mir gar nicht vorstellen. Was hast du da bloß durchgemacht! Warum hast du dich denn nicht bei uns gemeldet? Sind wir nicht Freunde!“

„Ich konnte nicht… konnte es nicht aussprechen.“

„Verstehe.“

SAARBRÜCKEN, STADTRAND, ANNAS HAUS

MITTWOCH, 27. APRIL 2011

„Du hast den Weg doch noch gut gefunden!“

Anna erwartete am Mittwochnachmittag Lex an Haustür, nahm ihn liebevoll in den Arm, führte ihn in das große Wohn- Eßzimmer, drückte ihn auf die weiße Couch, stellte ihm eine Flasche kaltes Mineralwasser und ein Glas mit Zitronenscheibchen hin, entschuldigte sich kurz und verschwand in der Küche.

„Schau dich um, alles noch wie es war!“, rief sie ins Wohnzimmer. „In Berlin stopften wir die Wohnung mit Antiquitäten zu. Lex, ich konnte es nicht mehr sehen. Zu chic, zu vornehm. Ich bin froh, mein Haus dem Dornröschenschlaf entrissen zu haben. Dank der Pflege unseres Hausmeisters überstand es die Zeit prima.“ Sie trat aus der Küche, beobachtete kurz Alex, der, die Hände in den Hosentaschen, vor der großen Terrassentür stand und gedankenversunken hinaus in den Garten schaute. Mit lautem Klappern stellte sie den Teller mit den leckeren Amuse-Gueule auf den Couchtisch.

„Trinkst du ein Glas Crémant mit? Oder…“ Sollte sie es ihm tatsächlich unverblümt an den Kopf werfen? Nein!

„Anna, es ist mir scheißegal, mit was ich meine Leber ruiniere. Du brauchst nicht höflich oder rücksichtsvoll zu sein. Ich weiß, daß ich saufe, aber ich kann mich benehmen! Ein Glas. Hab schließlich das Auto dabei.“

„Ok, aber vielleicht versuchst du es im allgemeinen einzuschränken. Ich habe keine Lust, weitere Freunde zu verlieren. Ich lenk‘ dich einfach mal ab und erinnere an alte unbeschwerte Zeiten. Komm, setz dich, ich laß mal den Korken knallen.“ Nach alter Manier öffnete Anna die Terrassentür und ließ den knallenden Korken mit lautem Juchzen weit in den Garten fliegen. Lex mußte nun doch lachen.

„Wie in alten Zeiten!“, scherzte sie und schenkte zwei Gläser voll. Der Vorspeisenteller war schnell geleert und Anna wollte nun genau wissen, um was es Lex ging. Der Hauptkommissar legte die Serviette beiseite.

„Wir fanden Frau Marquard letzte Woche tot in der Saar. Eingeklemmt an dem Anleger hinter der Polizeidirektion, zwischen dem Theater und dem Spielplatz neben der Alten Brücke. Sie hat in der Fußgängerzone ein kleines, aber luxuriöses Antiquitätengeschäft; an der Straßenecke, dort wo der kleine Weg hinunter zur Saar führt. ars vivendi prangt in goldenen Buchstaben auf dem Schaufenster. Vielleicht kanntest du sie?“

Anna schüttelte den Kopf. „Der Weg, der unter die Berliner Promenade führt?“

„Ja. Ein Stich ins Herz mit einem langen, dünnen Gegenstand – ein Stilett vielleicht. Wir wissen es nicht. Genau wie beim letzten Mal – es war dieselbe Waffe mit der Karen erstochen wurde!“ Lex trank einen Schluck, stellte das Glas zurück. „Die beiden Fällen ergeben keinen Sinn, scheinen aber irgendwie zusammenzuhängen, ich weiß nur nicht wie. Inoffiziell ermittele ich natürlich in beiden Fällen. Ich will es wissen! Wenn es auch meinen schrecklichen Schmerz niemals besiegen wird! Aber Anna, nicht zu wissen warum dieses Schwein meine Frau abgestochen hat, bringt mich schier um den Verstand. Warum nur mußte Karen sinnlos sterben?“

Anna schwieg entsetzt. Und sie sah ihm an, daß es besser war, kein weiteres Wort über Karen zu verlieren um seinen fürchterlichen Schmerz nicht unnötig aufzuwühlen. An seiner dünnen, mit Mühe und Not errichteten Politur sollte man besser nicht kratzen. Er berichtete ihr weiter, daß sie gestern in Frau Marquards Wohnung, über dem Geschäft, hinter einer Tapetentür, die zusätzlich noch von einem Regal versteckt war, eine Besenkammer entdeckt hätten.

„An allen drei Wänden standen billige Regale, voll mit allerlei Zeug, darunter Figuren von Käfern, Katzen, schwarzen Hunden und kleinen Statuen, die freundlich lächeln. Dazu unzählige Aktenordner und Dokumentmappen, die anscheinend wichtige Unterlagen enthalten; und volle Schachteln und Kisten. Meine Kollegin fragte noch ‚Was in aller Welt ist das?‘ Ich sagte: Donnerwetter! Das ist ein Fall für Anna!“ Er grinste, kramte in seinem Rucksack, holte mehrere Fotos hervor und Anna studierte sie genau.

„So ein Unwissender bist Du ja doch nicht, mein Lieber. Du hast richtig vermutet. Das sind ägyptische Uschebtis, Skarabäen, Bastet- und Anubisstatuen, Fragmente von Wandmalereien und Reliefs. Ob das echt ist, kann ich natürlich anhand der Fotos nicht beurteilen. Und die Ägypter können so gute Duplikate herstellen, daß mancher Gutachter schon verzweifelt ist. Diese Dinge, vorausgesetzt sie sind echt, gehören eigentlich dem ägyptischen Staat und nicht in ein Antiquitätengeschäft. Dulden kann ich sowas nicht unbedingt.“

Lex zauberte aus seinem Rucksack weitere Ordner und Unterlagen. Anna schaute konzentriert die Akten an. Gutachten, Expertisen, Zolldokumente, Einfuhrpapiere.

„So weit ich das sehe, scheint alles seine Ordnung zu haben, Alex. Das sieht nicht nach Antiquitätenschmuggel aus. Ich kenn mich damit aber auch nicht wirklich aus.“

„Weißt du auch, was das hier ist?“ Er hielt ihr ein weiteres Foto hin.

„Eine Schreiberpalette.“

„Wie?“

„Ein Tuschkasten, wenn du so willst. Hier, diese sechs runden Vertiefungen enthielten die feste Farbe. In dieser langen Vertiefung steckten die „Pinsel“. Die alten Ägypter nahmen zum Schreiben dünne Binsen. Aber erst, nachdem man darauf herumkaute und kräftig in die Farbe gespuckt hatte. Es war ein ähnliches Prinzip wie heute die Wasserfarben für Kinder. Scheint mir Elfenbein zu sein. Habt ihr nur die Palette oder habt ihr auch die Pinsel und den Glätter, was üblicherweise bei einer Schreiberpalette dazu gehört.“

„Nur das hier“, knurrte Lex. „Es gehörte Karen, wir haben das nicht bei Frau Marquard gefunden.“

„Karen?“, hauchte Anna schuldbewußt und trank einen Schluck von ihrem Crémant. „Ich hab sie damit angesteckt“, flüsterte sie dann. „Sie hat sich so für das alte Ägypten interessiert. Immer wieder fragte sie mich danach. Sie fand es faszinierend, wie die Menschen damals gelebt haben. Es kam ihr drollig vor, daß die Damen vor dreitausend Jahren Lockenwickler, Pinzetten und Schminke verwendeten. Sie amüsierte sich über die Unterhosen, Handschuhe und Socken. Staunte über die medizinischen Instrumente, von denen manche bis heute unverändert übernommen worden sind. Es waren die kleinen Dinge, die Karen spannend fand, nicht die großen Ausgrabungen, sondern das Alltagsleben der Menschen von damals fand ihr Interesse. Einmal hab ich ihr vom Schreiberberuf erzählt, daß es ziemlich der angesehenste Beruf der damaligen Zeit war. Und von den Anwälten, die damals schon praktizierten. Ihr Kerls habt da auf der Couch gesessen, einen Kasten Bier geleert, dem Fußballspiel im Fernsehen zugeschaut und mitgegrölt. Hat Karen diese Palette bei Frau Marquard gekauft?“

„Das Ding ist nicht mehr im Haus. Nachdem wir gestern diese Artefakte fanden, habe ich mich an diese Palette erinnert und nachgesehen. Ich habe sie nicht gefunden. Bloß dieses Foto, das wir damals für die Versicherungsunterlagen machten. Aber ich kann mich nicht erinnern, daß da noch was dabeigewesen ist. Wie sehen die Pinsel aus?“

„Gemeinerhin sind es dünne Binsenstengel, es gibt aber auch Pinsel aus anderen Materialien. Elfenbein zum Beispiel.“ Anna vertiefte sich wieder in das Foto mit der Schreiberpalette: „Gott, was ist das Ding alt und abgenutzt.“

„Naja“, warf Lex ein, „alt ist es schon. Karen sagte damals was von über dreitausend Jahren.“

„So meine ich nicht. Es sieht alt aus, weil es offensichtlich lange benutzt worden ist, richtig abgewetzt ist es. Siehst du das nicht? Es wurde viel gebraucht. Oh“, rief sie plötzlich und verschwand schnell in der Küche. Es roch verteufelt lecker. „Essen ist fertig! Komm, laß dein Papierkram. Wachteln mit Weinkraut und Kartoffeln warten.“

„Mädchen, du spinnst!“, lacht er.

„Mir macht es Spaß, ich koche gern, das weißt du doch. Guten Appetit!“

Als sie mit dem Nachtisch fertig waren – ein leckeres Eis aus ihrer Kühltruhe – wandte sich Anna wieder dem Foto mit der Schreiberpalette zu.

„Da stehen Hieroglyphen am Rand“, erklärte sie, stand auf, kramte in einer Schublade, kehrte mit einer Lupe zurück, studierte schweigend eine Zeitlang die eingravierten Schriftzeichen …

Baumeister, Vornehmer, Schreiber, Amun ist zufrieden

Loderndes Feuer

Tote, erschlagene Frauen

Blutige Gehirnmasse auf einer Wand

… knallte schreiend mit zitternden Händen die Lupe auf den Tisch, warf das Foto von sich, als sei es ein ekliges beschmiertes Blatt, rieb sich über die Augen.

„Was ist denn mit dir los?“, fragte Lex verblüfft, bückte sich nach dem Foto.

„Weiß nicht, Lex! Diese Hieroglyphen…“

„Jetzt laß mich doch nicht als vollkommenen Idioten dastehen! Was ist denn los?“

„Laß es gut sein!“

„Wenigstens eine kurze Erklärung?“

Anna schenkte sich ein Glas Crémant aus, trank es in einem Zug leer. „Soll ich mich als Irre outen?“, giftete sie. „Während du es nicht mal geschafft hast, mir von Karens Tod zu berichten! Sie war unsere Anwältin, sie war meine Freundin! Ein Anruf wäre doch das mindeste gewesen! Und so einem soll ich erzählen, daß ich meine, diesen Menschen“, sie hämmerte mit dem linken Zeigefinger auf das Foto, „dessen Namen ich soeben auf der Palette entziffert habe, persönlich zu kennen! Aber, ha!“, sie lachte laut und bitter, tippte sich mit dem Finger an die Stirn. „Diese Person ist seit über dreitausend Jahren tot! Ich bin nicht ganz dicht im Kopf, vergiß, daß ich dir helfen könnte!“

„Persönlich kennst?“, brummte er. „Was meinst du damit? Ist das Ding eine Fälschung?“

„Nein!“, fauchte Anna. „Und ich bin gaga!“

„Quatsch! Jetzt hilf mir doch! Dieser Mordfall, diese verschwundene Palette, Karen, dieser ganze ägyptischen Kram, Anna, du mußt doch zugeben, daß das eigenartig ist.“

„Ich rede nicht darüber, was mir vor über zehn Jahren passiert ist. Das hat mich völlig aus der Bahn geworfen. Ich hege und pflege meine Zwangsneurosen gerne im Verborgenen!“

„Hör mal auf mit deiner Ironie. Das brauchst du doch auch gar nicht! Ist schließlich deine Privatsache. Ich habe von diesen ägyptischen Dingen keine Ahnung. Du könntest mir wirklich ein klein bißchen helfen. Wem gehört dieses Ding? Sag mir seinen Namen, wenn du ihn kennst. Ich bin für jede klitzekleine Information dankbar!“

Anna seufzte. „Es gehört eindeutig Amenophis Hapu. Er lebte vor gut dreitausenddreihundert Jahren in Ägypten und war ein hochrangiger Beamter, Baumeister, Schreiber, Vermögensverwalter, Großwesir. Zum guten Schluß wurde er sogar als Gott verehrt. Die Palette hat ihm gehört. Und ich krieg jedesmal Panikattacken im Zusammenhang mit seinen Namen. Mehr kann ich dir dazu nicht sagen.“

„Das bringt mich nicht unbedingt weiter“, brummte Lex, stand auf, packte seine Unterlagen zusammen, scherzte: „Es geht nicht an, daß ich einen dreitausend Jahre alten Ägypter verhafte.“ Er hielt inne. „Sie hat diese Palette tatsächlich bei Frau Marquard gekauft, Anna. Das Ding war schweineteuer und lag deswegen sicher verwahrt in unserem Safe. Wieso ist es weg? Wo ist es abgeblieben?“

„Woher soll ich denn das wissen?“

„Ok! Dann such ich wohl nach einem Spinner, der glaubt, Gott Amenophis zu sein und Leute ermordet, die altägyptische Schätze horten.“ Lex griff nach seiner Jacke, packte den Rucksack, „Ich hoffe, du hast nichts dieser Art im Haus. Nein? Gut!“, küßte Anna auf die Wangen, ging zur Haustür. „Nun auf ihr tapferen Recken – es ist eine winzige Spur! Allez, danke für den schönen Abend, Anna. War gut, daß wir uns getroffen haben. Es tat gut dich wieder zu sehen und ich für ein paar Stunden abgelenkt war. Auch wenn wir am Schluß doch wieder zu meinem Fall zurückkamen. Salü, Liebes. Wir telefonieren.“

„Salü, Alex. Paß gut auf dich auf!“

Sie schaute ihm nach, bis er durch die kurze, schmale Sackgasse weggefahren war, schloß die Haustür, schenkte sich leicht beschwipst und nicht mehr ganz so aufgewühlt, das letzte Glas Crémant aus und stellte den Geschirrspüler an. Mit einem Stapel Fachzeitschriften, den sie noch nicht durchgesehen hatte, und dem vollen Glas bewaffnet, trat sie hinaus auf die Terrasse, setzte sich unter der Pergola in den schmiedeeisernen Gartenstuhl mit dem dicken Polster. Der Abend war wunderbar lau; es tat so gut, den Frühling zu spüren. Ein leises Miau weckte sie aus ihren Gedanken. Nachbars Kater strich ihr um die Beine.

„Na du Indianer? Genießt du es auch?“ Das behagliche Schnurren reichte Anna als Antwort. Sie griff die oberste Zeitung vom Stapel, trank einen Schluck, griff zu dem nächsten Heft und kraulte dem wunderschönen eleganten Abessinier auf ihrem Schoß das Fell. „Dein Frauchen wird dich schon suchen, Navajo! Geh nach Hause!“ Doch bevor sie sich auf die Zeitschrift konzentrieren konnte – irgend etwas lenkte ihre Aufmerksamkeit auf ein weiteres Titelblatt – läutete es an der Haustür. Alex hatte doch nichts liegenlassen? Und von nebenan hörte sie ihre Nachbarin nach der Katze rufen. „Dein Prinz ist hier, Helga! Ich muß rein, es hat geläutet!“

Anna glaubte sich verhört zu haben, als sie den Namen durch die Sprechanlage hörte. „Wer?“

„Ahmed! Open the Door, Mom! Yalla!“

Verdattert drückte sie den Türöffner. Und da stand er wirklich vor ihr, mit seinem frechen Grinsen in seinem schönen dunklen Gesicht, ein Lausbub, ein Bengel wie er im Buche stand. Seinen dicken Rucksack knallte er erst mal auf den Boden in der Diele, schälte sich umständlich aus der Jacke.

„Inschallah!“, seufzte er. „Endlich hab ich dich. Sag mal, hast du kein Telefon? Handy? I-Phone? E-Mail? Skype? Do you live on the Moon? Muß ich bettelarmer Student mich in ein Flugzeug setzen, hierherfliegen um dich persönlich aufzusuchen?“

Sie war viel zu verdattert, um ihm eine richtige Antwort zu geben:

„Am Handy war der Akku leer, Festnetz ist abgemeldet, zum E-Mail abhören bin ich nicht gekommen. Was zum Geier ist Skype… sag mal, spinnst du? Was machst du hier?“

„Hunger und Durst und dicke Füße!“, stöhnte er theatralisch, drückte Anna die Jacke in die Hand. „Und ich muß desperate auf’s Klo!“ Hurtig verschwand er auf der Gästetoilette.

„Du bist unglaublich!“

„Ja, und seit Stunden unterwegs“, rief er durch die Tür. „Ich konnte von Glück sagen, daß einige Plätze in der Maschine frei waren. Sind ja kaum noch Touris da. Weil ich dich telefonisch nicht erreichen konnte, fragte ich nach einem Flight. Allah ist großmütig und gewährte mir einen!“

„Aber warum?“

“Hunger and Thirst!“, jammerte er als er herauskam.

„Och, Mensch, nun rede doch!“

„Ich zieh‘ erst die Schuhe aus!“

„Wirst du wohl! Auf deine Stinkefüße, die den ganzen Tag in den Turnschuhen steckten, hab ich keinen Bock!“

„Das ist die reine Höflichkeit, Anna!“

„Laß es gut sein. Magst du Wachteln?“

„‘iss‘n das?“

„Kleine Vögelchen, mit Sauerkraut und Kartoffeln. Mehr hab ich nicht. Wasser?“

„Don't you have Coke?“

„Verwöhnter Bengel! Ich sage dir, wenn du nicht bald redest, erklär‘ ich dir den Kampf!“

Ahmed umarmte sie liebevoll und hauchte ihr ins Ohr:

„Oh du schönste Rosenblüte meines Gartens! Du, die beste aller meiner vielen Mütter, sweeter than Marzipan ist dein Lächeln, Mommy! Glätte dein gesträubtes Gefieder, du prächtigster aller Paradiesvögel; reiche mir dein delicious Water, dein saures Kraut und deine little Birds und ich werde dir alles erzählen!“

Drei Wachteln und eine Flasche Cola später begann er endlich zu erzählen:

„Wie du weißt, sind wir mit den Aufräumarbeiten im Ägyptischen Museum soweit durch. What a Chaos! Welch ein Verlust ancient Treasures. Acht wertvolle Stücke sind verschwunden. Sechs aus der Amarna-Zeit und zwei von Tut-Ankh-Amun. Aber ich vermute, es sind viel mehr Artifacts verschwunden! Manchmal packte mich die reinste Wut. Den Hawass haben sie mittlerweile geschaßt. Aber daraufhin kam einer als Supervisor, der alles besser weiß. So ein Stubenhengst ist mir noch keiner untergekommen. Ich glaub, der shits sogar Radiergummis. Jedenfalls kramt er in allen Schubladen, do you know. Und er will the Basement aufräumen!“

„Den Keller? Oh weh!“, warf Anna lachend ein. Es lagerten dort bestimmt fast vierzigtausend unsortierte und nicht katalogisierte Einzelteile.

„Yes, you kennst the Basement. Dort steht dein ‚Mädchen‘…“

„Sie ist nicht ‚mein Mädchen‘! Sie gehört der ganzen Welt!“

„Egal! You found them, sie wird immer dein bleiben. Sie sollte ja ab January auf große Tournee gehen, deshalb hat man sie vorab schon mal in den Basement gebracht, bis die Boxes fertig gebaut sind und so. Allah sei Dank, daß sie da unten stand, denn auf ihrem ursprünglichen Platz wäre sie der Revolution zum Opfer gefallen. Sie stand ja vorne, als toller Eyecatcher, fast im Foyer. Nun denn, ich muß oft in den Basement neuerdings wegen dem Aufräumen. Ich laufe an ihr vorbei, rede ein wenig mit ihr, sie guckt ja auch nice. Aber… Anna, what i'm telling you now, wirst du nicht glauben wollen…“

„Ist sie kaputt?“

„No! Wir haben sie nach Al Uqsur zurückgeholt und ins Luxor-Museum gebracht. Sie…“, er druckste herum, zog die langen Beine in den Jeans unter sich, kuschelte sich in die Ecke der Couch.

„Nun mach’s doch nicht so spannend, Mensch!“ Anna warf eins der Fellkissen nach ihm.

„Sie kleckert!“

„Was?“

„Kleckert! Der Stein gibt was ab.“

„Was ab?“ Anna roch an Ahmeds Glas. Cola, einwandfrei.

„Irgendwas fällt da aus. Keine Ahnung. I'm not a Geologist. Ein Mineral, ein Salz, wer weiß? Wir ließen das Zeugs untersuchen. Aber bei uns ticken die Uhren anders als sonstwo. Unsere Laboranten kamen zu der Überzeugung, es sei Blood, Mom.“

„Sie ist aus Gips!“ Anna traute ihren Ohren nicht. Ahmed flunkerte zwar gern was das Zeug hielt, aber er würde mit einer solch wichtigen Sache keine Scherze treiben. „Und Leinwand, Holz, Stroh, ja sogar ein Herz aus Glas fand der CT heraus. Was soll da ausfällen? Salpeter? Schimmel?“

„Es ist greasy and red, Anna. Es ist kein Salpeter und kein Rotschimmel. Du mußt doch davon gehört haben, es ging durch die gesamte Presse.“

„Ich habe nichts gehört, Ahmed. Ich habe mein Haus und den Garten auf Vordermann gebracht. Hier hat ein paar Jahre keiner gewohnt, die letzte Saison war ich in Luxor, es sah schlimm aus. Und gerade vorhin setzte ich mich nieder, um meine angesammelten Zeitschriften durchzusehen, da kamst du.“

Sie stand auf um nach der Illustrierten zu greifen, die eben ihr Interesse geweckt hatte.

Da! Groß auf dem Titelblatt sprang ihr die Statue entgegen. Bunt und schön, wie sie sie in Erinnerung hatte; ihr langes, schwarzes Haar, das etwas herbe Gesicht, die geöffneten Arme, das weiße Kleid, der schöne Schmuck.

Aber…

„Oh Gott, was ist denn das?“ Anna glaubte nicht, was sie da sah – über die gesamte Brust der Statue rann offensichtlich Blut! Darüber die reißerische Überschrift:

Die blutende Göttin! Die Rache der Revolution?

Anna deckte den Frühstückstisch, hörte den Nachrichten im Radio zu, verkniff es sich, neugierig in der Illustrierten zu blättern, die umgedreht auf der granitenen Arbeitsplatte lag.

„Blödes Ding!“, zischte sie dem Kaffeevollautomaten zu, der zuerst nach Wasser verlangte, ihr schließlich durch ein Lämpchen mitteilte, daß der Tresterbehälter voll sei. Als zur Krönung des Ganzen noch das Servicelämpchen aufleuchtete, kramte sie, sauer geworden, tief im Schrank nach ihrer alten Filtermaschine.

„Scheißtechnik!“

Endlich zog köstlicher Kaffeeduft durch die Küche.

Von oben polterte es; Ahmed war also wach.

Da kam der gute Junge den weiten Weg zu ihr geflogen, um von diesem unglaublichen Vorfall zu berichten. Sie war so stolz auf ihn und erinnerte sich an das kleine, magere Bürschchen von damals, dem kleinen Waisenjungen der auf der Straße lebte. Furchtbar dünn war er gewesen, als Ibrahim ihn ihr brachte. Ausgehungert nach Leben und Liebe, daß sie nicht anders konnte, als ihn aufzunehmen. Er blieb damals, vor fast zwölf Jahren, bei ihnen im Camp, machte sich bald unentbehrlich. Zwischendurch, wenn die Ausgräber auf Heimaturlaub gingen oder sonst niemand richtig Zeit für ihn hatte, fand er bei Ibrahims Familie Anschluß. Ibrahim regelte auch behördlich alles was zu einer ordentlichen Pflegefamilie gehörte. So fand Ahmed ein vernünftiges Zuhause, ging regelmäßig zur Schule, machte seinen Abschluß, lernte fleißig weiter, ging schließlich zur Universität. Seinen Lebensunterhalt verdiente er, indem er bei Ausgrabungen half oder im Ägyptischen Museum in Kairo als Führer oder Mitarbeiter tätig war. Dabei half ihm, neben seinem Fachwissen, auch sein Talent für Sprachen; mit deutsch und englisch kam er weit und war mittlerweile einer der beliebtesten Führer im Museum. Dieses Wunderkind verlangte jetzt lautstark nach Kaffee und Brötchen.

„Wie geht es Fatme?“ Anna schaute dem bildhübschen Kerl zu, wie er in aller Seelenruhe Marmelade auf sein Brötchen schmierte.

„Fine!“, murmelte er kauend. „Es geht allen gut. Ibrahim schimpft, hat nichts zu tun. No Guests, kein Rummel. Deshalb bleibt er oft zu Hause, hat zuviel Freizeit und geht Fatme damit gewaltig auf den Wecker. Warum sie ausgerechnet Wäsche waschen muß, wo er mit ihr ausgehen will, wie lange es dauert, bis das Essen auf dem Tisch steht und warum sie gerade jetzt Shopping will, wo er doch ein Nickerchen machen muß. Und so weiter. Fatme hat schon gedroht, ganz auf die Dachterrasse zu ziehen, wenn er länger in da House bleibt!“, Ahmed grinste frech, „And Grandma geht mit!“

Anna lachte. „Und die anderen von unserem Team?“

„Sie sind ja fast alle weg. Unsere ägyptischen Arbeiter und Archäologen sind noch da, auch ein paar Schweitzer und Andrea ist geblieben. Du weißt ja, sie hat vor nichts Angst. Außerdem kann sie da in Ruhe weiterbuddeln. Es ist wirklich spooky. Es sind kaum Touristen in Al Uqsur. Stell dir vor, sie legten alle Gäste zusammen auf die Pharao. Ein Schiff, Anna, for all Guests!“

„Und es sind über achtzig Schiffe“, warf Anna ein.

„Ich flog von Al Qahira erst nach Al Uqsur. Mußte ein paar Sachen holen, Fatme Bescheid geben und fuhr zum Tempel rüber um zu sehen wie es dort geht. Sie heben die gigantische Quarzitstatue weiter mit den Air Cushions an und es sieht gut aus. Sie machen große Fortschritte. Die schöne Teje-Statue ist gesäubert, das andere Team hat nochmal eine Sachmet-Statue ausgegraben und Andrea hat was Extraordinary gefunden! She sent it to you by E-Mail.“

„Nein?“

„Doch!“

„Das muß ich sehen! Komm mit hoch in mein Büro!“

Gespannt schaute Anna auf ihren Computerbildschirm. Die E-Mail von Andrea brauchte eine Weile, bis sie vollständig heruntergeladen war. Ahmed trippelte hinter ihrem Bürostuhl unruhig auf und ab.

„Highspeed-Internet ist schon erfunden!“, jammerte er in ihrem Rücken. „Sie hätt’s ja besser gemorst, das wär wesentlich schneller gegangen!“

„Ach, halt doch die Klappe!“ Anna ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Da! Endlich verschwand der Ladebalken. Seelenruhig knipste sie die Internetverbindung aus und hörte Ahmed irgendwas von „o heilige Flatrate“ murmeln.

„Wo hat sie es gefunden?“ Anna betrachtete eingehend die Fotos.

„Im nordwestlichen Teil von Kom el Hettan. Dort, wo sie eine Chapel vermutet. Die Reste einer Statue, die anscheinend auf einem Sockel aus Holz stand, und diese Papyri. Sie glaubt, the Woodenfigure stellt Ptah dar.“

„Schwer zu erkennen. Sind ja fast nur noch Splitter. Aber die Figur diente wie ein Puffer. Der Sockel ist dadurch kaum beschädigt. Und darin lag der Papyrus?“

Ahmed nickte. „Er ist sehr gut erhalten. Ließ sich ohne weiteres einen guten Teil aufrollen.“

Anna vertiefte sich in die Schriftzeichen auf den Fotos:

… Meisterin bin ich des heiligen Wissens und der magischen Worte … las sie. Viel ließ sich auf die Schnelle nicht entziffern. „Das sind Texte aus dem Totenbuch. Zaubersprüche, meiner Meinung nach. Wo sind die Texte jetzt?“

„Sie haben sie ins Luxor-Museum gebracht. Dort können sie properly ausgerollt werden. Die Woodenfigure und der Sockel sind ebenfalls dort. “

Anna griff nach dem Handy und wählte Andreas Nummer.

„Meinfeld!“

„Berger hier! Hey, Süße! Ich hab deine Mail bekommen! Hattest Recht, letztes Jahr, als du sagtest, dort hinten sei was zu finden! Das ist ja der Knaller!“

„Aber echt! Nicht nur das fanden wir, auch ein Siegel von Königin Teje haben wir in der Nähe der Papyri gefunden. Also könnte das Schreiben ihr gehört haben.“

„Königin Teje! Wow! Haste da kein Foto?“

„Nein. Aber hast du das mit der Statue mitgekriegt?“

Anna zog die Nase kraus. „Ich fiel aus allen Wolken, Andrea. Ahmed tauchte gestern hier auf um mir das persönlich mitzuteilen. Was ist denn das für ein Mist?“

„Keine Ahnung, Anna. Sowas habe ich noch nie gesehen…“ piep … klick … Verbindung weg.

„Sowas!“ Anna legte das Telefon beiseite. „Komm, Freundchen, Frühstück wartet.“

„Ich hab auch was für dich.“ Ahmed schenkte Kaffee nach, kramte in seinem Rucksack nach einem kleinen Nylonbeutel, den er Anna vor die Nase hielt. Darin ein paar Bröckchen der seltsamen Substanz von der Statue, wie er erklärte. Anna legte achtlos ihr Brötchen beiseite und griff interessiert nach dem Tütchen.

„Sieht aus wie Harz oder eingetrockneter Honig.“ Sie öffnete den dünnen Zipper der Tüte, steckte ihre Nase hinein, hielt die linke Hand auf und ließ eins der Körnchen auf ihre Handfläche rieseln. In Sekundenbruchteilen verflüssigte sich die feste Substanz, wurde zu einem glühendheißen Tropfen Blut, der sich mit Zischen und Schäumen in Annas Hand fraß. Schreiend sprang sie auf, der Stuhl kippte mit Gepolter um, versuchte eiligst die schmerzende Hand an der Spüle unter kaltem Wasser zu kühlen. Ahmed warf vor Schreck seine Kaffeetasse um. Im selben Moment schwoll die Lautstärke des Radios bis zur Schmerzgrenze an.

„Verdammt, Ahmed!“, brüllte sie gegen den Lärm. „Was soll diese verfluchte Scheiße? Findest du das Was war das? Salzsäure? Was ist mit dem Radio? Mach es sofort leiser!“ Anna konnte sich gar nicht mehr beruhigen, betrachtete entsetzt ihre verbrannte Handfläche. Es sah aus, als hätte jemand eine Zigarette darin ausgedrückt. Völlig von der Rolle zog Anna hastig den Stecker. In der unverhofften Stille klingelten ihr kurz die Ohren von dem Radau.

„Du wirst zurückgeben, was mir gehört!“, fauchte es brüllend aus dem toten Lautsprecher.

Beide zuckten zusammen. Anna hielt immer noch den gezogenen Stecker in der Hand, warf ihn fassungslos von sich, griff wortlos nach einem Lappen, wischte fahrig den verschütteten Kaffee auf, rückte die umgefallenen Stühle an ihren Platz, packte die Lebensmittel zurück in den Kühlschrank, griff dort nach einer kleinen Flasche Kirschwasser, setzte sie an die Lippen. Ahmed schaute ihr schuldbewußt zu.

„Geht das schon wieder los!“, seufzte sie tonlos und ließ sich resigniert auf den Stuhl sinken.

LUXOR, FLUGHAFEN

DONNERSTAG, 05. MAI 2011

„Du hättest doch nicht extra herkommen brauchen!“ Andrea nahm Anna die Reisetasche ab. „Hey, Ahmed! Ägypten ist mancherorts ein einziger Hexenkessel. Und ziemlich gefährlich für Alleinreisende. Gestern wurde Frau Mubarak aus der Haft entlassen. Obwohl sie ihr Vermögen offenlegte, sei der Fall nicht abgeschlossen, sagt man. Und fünf Jahre Haft hat der Tourismusminister für seine Bestechungen bekommen. Hier ist nichts mehr, wie es einmal war.“

„Guck dir das mal an!“, giftete Anna und hielt Andrea ihre Handfläche, auf der ein rotes, eingebranntes Mal zu sehen war, hin. „Wenn du glaubst, daß ich das auf mir sitzen lasse, dann irrst du!“

Sie traten aus dem Flughafengebäude in die pralle Sonne. „Ich muß sie mir einfach selbst ansehen. Wie habt ihr es bloß geschafft, sie hierher zu bekommen? Oh Mann, ist das heiß! Jetzt weiß ich wieder, warum ich spätestens Mitte April verschwunden bin.“

„Beziehungen, meine Süße, mit Beziehungen haben wir sie hergekriegt!“

„Nicht, daß es euch wie dem Tourismusminister geht!“

„Andrea, laß mich am Central Station raus, ich treff mich dort mit jemand.“

„Ok, Ahmed.“

Sie stiegen in den Wagen und Andrea scheuchte den klapprigen Defender mit ungeheuerlicher Geschwindigkeit bis in die Innenstadt. Ahmed stieg am Bahnhof aus, Andrea sauste weiter, bremste auf der Corniche gerade rechtzeitig vor einem alten Mann, der plötzlich wie von Furien gehetzt, humpelnd auf die Straße lief, bärbeißig durch die Windschutzscheibe stierte, etwas aus seinem zahnlosen Mund plärrte und grob mit seinen beiden dreckigen Fäusten auf die Motorhaube einschlug. Andrea streckte den Kopf aus dem offenen Fenster, „Verschwinde du Arsch! Yalla! Yalla!“, fluchte wie ein alter Kutscher, hupte wie eine Einheimische, gab jaulend Gas, schubste den lästigen, aufdringlichen Alten zur Seite. Mit quietschenden Reifen fuhr sie schließlich weiter.

„Dieser alte Sack!“, knurrte sie. Anna drehte sich um, aber längst war der Bettler ihrem Blickfeld entschwunden.

„Das war doch der Alte, der immer am Winter Palace rumlungert? Der mit dem zerfressenen Gesicht, voller Naben! Der lauert mir doch ständig auf! Was hat er genuschelt? Irgendwas von einem Fluch? Damit kommt er mir jedesmal, wenn er mir über den Weg läuft!“

„Das ist ein widerlicher, ekelhafter Mensch. Keiner hier will ihn in seiner Nähe haben. Der lauert dir nicht nur auf, Süße, der hat sogar schonmal die Frechheit besessen, im Camp nach dir zu fragen! Ich hab ihn achtkantig rausgeworfen! Einchecken oder angucken?“, fragte Andrea unvermittelt.

Anna, müde von vier Stunden Flug, entschied sich für einchecken. Die Statue konnte ruhig warten.

Ziemlich groggy stieg Anna die Treppe vom Winter Palace hoch. Einer der Security kam ihr entgegen, nahm ihr höflich die schwere Tasche ab.

„Danke!“

Ohne Reservierung in dem Fünf-Sterne-Haus ein Zimmer zu bekommen, war zu normalen Zeiten ein Unding. Heute jedoch freute sich der Empfangschef über den unverhofften Gast.

„Madame Anna! Wie schön! Bonjour!“ Ibrahim kam freudestrahlend hinter seiner Rezeption hervor. „Haben Sie sich doch entschlossen zu bleiben?“