Sag mir, wo die Mädchen sind - Leena Lehtolainen - E-Book
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Sag mir, wo die Mädchen sind E-Book

Leena Lehtolainen

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Beschreibung

Innerhalb weniger Wochen verschwinden in Espoo drei muslimische Mädchen. Die Teenager haben oft einen Jugendclub besucht, in dem auch Maria Kallios Tochter Iida gern ihre Freizeit verbringt. Kallio hat vor kurzem die Leitung einer Sondereinheit der Kripo übernommen und befasst sich mit Fällen wie diesem, die aus dem üblichen Ermittlungsraster fallen. Kaum hat Marias Team damit begonnen, Menschen aus dem Umfeld der Mädchen zu befragen, taucht ein weiteres totes Mädchen auf. Die Iranerin Noor wurde mit ihrem eigenen Kopftuch erdrosselt. Schnell stellt sich heraus, dass das Mädchen einen finnischen Freund hatte. Alle Spuren deuten auf einen Ehrenmord. Während der Verbleib der anderen drei Mädchen nach und nach zu klären ist, wird Noors Cousin verhaftet. Dann aber stößt Maria Kallio in dem Jugendclub auf Umtriebe, die sie an ihrem Verdacht zweifeln lassen. Maria Kallios zehnter Fall besticht durch seine Aktualität und den differenzierten Blick auf Integration und Islam in Europa.

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Seitenzahl: 457

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Leena Lehtolainen

Sag mir, wo die Mädchen sind

Maria Kallios zehnter Fall

Roman

 

 

Aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara

 

Über dieses Buch

Innerhalb weniger Wochen verschwinden in Espoo drei muslimische Mädchen. Die Teenager haben oft einen Jugendclub besucht, in dem auch Maria Kallios Tochter Iida gern ihre Freizeit verbringt. Kallio hat vor kurzem die Leitung einer Sondereinheit der Kripo übernommen und befasst sich mit Fällen wie diesem, die aus dem üblichen Ermittlungsraster fallen. Kaum hat Marias Team damit begonnen, Menschen aus dem Umfeld der Mädchen zu befragen, taucht ein weiteres totes Mädchen auf. Die Iranerin Noor wurde mit ihrem eigenen Kopftuch erdrosselt. Schnell stellt sich heraus, dass das Mädchen einen finnischen Freund hatte. Alle Spuren deuten auf einen Ehrenmord. Während der Verbleib der anderen drei Mädchen nach und nach zu klären ist, wird Noors Cousin verhaftet. Dann aber stößt Maria Kallio in dem Jugendclub auf Umtriebe, die sie an ihrem Verdacht zweifeln lassen.

 

Maria Kallios zehnter Fall besticht durch seine Aktualität und den differenzierten Blick auf Integration und Islam in Europa.

Vita

Leena Lehtolainen, 1964 geboren, lebt und arbeitet als Kritikerin und Autorin in Degerby, westlich von Helsinki. Sie ist eine der beliebtesten und renommiertesten finnischen Schriftstellerinnen. 1994 erschien der erste Roman mit der Anwältin und Kommissarin Maria Kallio, deren Fälle in Finnland auch als Fernsehfilme sehr erfolgreich sind.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel «Minne Tytöt Kadonneet» bei Tammi, Helsinki.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2012

Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Minne Tytöt Kadonneet» Copyright © 2010 by

Leena Lehtolainen

Redaktion Stefan Moster

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-30711-7

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für Anna und Hanna

Prolog

Als das Reihenfeuer begann, war ich gerade eingenickt. Ich erkannte das Geräusch der Kalaschnikows im Halbschlaf, und als ich die Augen öffnete, sah ich östlich der Straße Mündungsfeuer aufflammen, knapp einen Kilometer vor dem Panzerfahrzeug, das uns nach Kabul zurückbringen sollte.

«Versuchen wir zu wenden?», fragte unser Fahrer, Unteroffizier Jere Numminen, seinen Vorgesetzten. Hinter uns war nichts als Dunkelheit. Die Schüsse trafen uns noch nicht, wohl aber die beiden Geländewagen vor uns. Auch sie transportierten Polizeibeamte aus den EU-Staaten, die an der Eröffnung der von EUPOL geförderten neuen afghanischen Polizeischule in der Nähe von Dschalalabad teilgenommen hatten.

Bevor Major Lauri Vala antworten konnte, explodierte der erste Wagen unserer Kolonne, in dem die deutschen Polizeiausbilder Helmut Lindemann und Ulrike Müller saßen. Ihr Fahrer war ein junger Offizier, der mit Vornamen Sven hieß.

Die Deutschen waren, so wie wir, in einem gepanzerten Geländewagen vom Typ RG-32 unterwegs. Gewehrkugeln konnten ihm nichts anhaben, zumal die Schützen zu weit entfernt waren, um die optimale Feuerkraft zu erzielen. Also musste am Rand der angeblich sicheren Straße eine Bombe detoniert sein. Die vor uns fahrenden Franzosen hielten an, die Briten hinter uns setzten bereits zurück. Lauri Vala drückte sich den Helm fester auf den Kopf. Ich hatte meinen abgenommen, weil er mir über dem Hijab zu warm geworden war. Jetzt setzte ich ihn hastig wieder auf, obwohl mir seine Schutzwirkung fragwürdig erschien. Im Licht der Flammen nach der Explosion konnte man sehen, dass von dem französischen Wagen aus zurückgeschossen wurde.

«Die haben nur eine Waffe», sagte Vala. Ich spürte das Gewicht meines Revolvers im Achselhalfter. Es drängte mich, zu den Deutschen zu rennen und nachzusehen, ob man noch etwas für sie tun konnte, doch das wäre glatter Selbstmord gewesen.

Antti und meine Mutter hatten recht gehabt: Nur Verrückte gehen freiwillig nach Afghanistan. Ich hatte wie eine verantwortungslose Idiotin gehandelt, als ich mich bereit erklärt hatte, zur Eröffnung zu reisen. Nun würde ich meine Kinder Iida und Taneli womöglich nie mehr wiedersehen. Als Vala eine Maschinenpistole unter dem Sitz hervorholte und den Lauf durch die eigens dafür eingebaute Schießscharte schob, merkte ich, dass ich betete. Gleichzeitig begriff ich, dass ich nicht wusste, an welchen Gott ich mein Gebet richtete, an den der Christen oder an den des Islam. Der Letztere schien in diesem Landstrich mächtiger zu sein.

Valas Gesicht war ausdruckslos, als er das Feuer eröffnete. Die Angreifer waren weit weg, und er schoss in erster Linie zur Abschreckung, verballerte aber sämtliche dreißig Patronen des Stangenmagazins. Auch die Franzosen hatten begonnen, die Angreifer unter Beschuss zu nehmen, und allmählich erloschen die Mündungsfeuer in der Ferne. Außerhalb der lodernden Flammen, die aus dem Wagen der Deutschen schlugen, lag die Welt wieder in undurchdringlicher Dunkelheit. Vala zog die MP aus der Schießscharte und suchte nach seinem Satellitentelefon. Bevor er den Code eintippen konnte, klingelte es.

«Moose.» Das war Valas Codename. Er sprach auf Englisch weiter, offenbar handelte es sich bei dem Anrufer um den Fahrer des britischen Wagens, der hinter uns wartete. Albert Shaw, Vizepolizeichef bei New Scotland Yard, war der ranghöchste unter den Beamten, die an der Eröffnung der Polizeischule teilgenommen hatten.

Während Vala sprach, reckte sich Numminen zur Ladefläche. Zur Standardausrüstung der Fahrzeuge gehörte neben Waffen, Notproviant und Wasser auch ein Minensuchgerät. Vala beendete das Gespräch abrupt. Ich sah, dass die Tür des französischen Wagens geöffnet wurde. Natürlich hatte auch der Fahrer der Franzosen ein Suchgerät.

«Den Amis nach sollte die Straße in Ordnung sein. Das hatten sie auch den Franzosen bestätigt. Wie zum Teufel sind die Bomben hergekommen? Nicht aussteigen!», hielt Vala seinen Untergebenen zurück. «Wenn die Pariser Jungs ihr Leben riskieren wollen, nur zu. Ich ruf jetzt Baxter an.»

Steve Baxter, Oberst bei den amerikanischen ISAF-Truppen, war für die Sicherheit unserer Delegation zuständig. Während des Telefonats mit ihm ließ Vala eine ganze Litanei englischer Flüche vom Stapel, mischte aber auch ein paar finnische darunter.

Bisher war alles nach Plan verlaufen, und Vala hatte eiskalt und gelassen gewirkt, ein Typ, dem auch eine Polizistin wie ich ihr Leben anvertrauen konnte. Nun war er wütend über den Fehlschlag.

Ich beobachtete den jungen französischen Offizier, der sein Minensuchgerät langsam hin und her schwenkte. Er sah aus wie eine Osterhexe, die mit einem modernisierten Besen um das Feuer tanzt. Die Ethik finnischer Soldaten besagte, dass man einen Kameraden nicht im Stich lässt, doch man hatte uns streng verboten, unser Leben zu riskieren, um andere zu retten. Ulrike und ich waren für die Ausbildung weiblicher Polizeikräfte zuständig gewesen, wir waren Freundinnen geworden. Ich dachte an Ulrikes blonden Dutt, aus dem sich immer wieder einzelne Locken lösten, und spürte den Geruch brennender Haare in der Nase. Ich konnte nur hoffen, dass Ulrike sofort tot gewesen war. Es war reiner Zufall, dass der Wagen der Deutschen auf dem Rückweg von Dschalalabad nach Kabul an der Spitze des Geleitzugs gefahren war.

Der zweite französische Soldat hatte einen Schaumlöscher zur Hand genommen, der jedoch gegen die hoch aufschlagenden Flammen machtlos war. Nun stiegen auch die Briten aus, sie hatten ein effektiveres Löschgerät. Als Numminen erneut Anstalten machte, den Wagen zu verlassen, legte Vala ihm eine Hand auf die Schulter. Mehr brauchte es nicht, Numminen ließ sich auf seinen Sitz zurückfallen.

Vala hatte sein Gespräch beendet. «Baxter weiß nicht, was schiefgelaufen ist. Die zwölfte Abteilung des vierzehnten Bataillons sollte die Straße überwachen. Die Verbindung zu dem Trupp ist abgebrochen. Hilfe ist unterwegs, die Hubschrauber starten gerade im nächsten Stützpunkt der NATO-Truppen, zehn Kilometer von hier. Die Kavallerie kommt also, aber viel zu spät. Wie hieß es noch in den Festreden? Die neue Polizeischule ist ein großer Schritt in Richtung Demokratie und ein Hoffnungsfunke für das vom Krieg gebeutelte Land. Na, der Funke hat ein prächtiges Feuer entzündet.»

Ich hatte nicht die Kraft, ihm zu antworten. In Todesangst reden Menschen oft dummes Zeug. Allerdings wünschte ich mir, Vala würde den Mund halten, denn ich konnte keine Worte ertragen. Noch nie hatte ich mich so klein und hilflos gefühlt wie in diesem Moment in der trostlosen, lichtlosen Wüste, wo vor meinen Augen drei Menschen zu Asche wurden.

1

Es war noch hell am frühen Februarabend, die Sonne färbte die einen Meter hohe Schneewehe in unserem Garten zartblau. Als ich die Tür öffnete, stieg mir Schokoladenduft in die Nase. Taneli saß mit einer Tasse Kakao am Küchentisch und las Comics. Aus Iidas Zimmer kam Musik, ich erkannte die schicksalsschwere Stimme von Nina Hagen. Meine Tochter hatte einen Teil ihrer musikalischen Vorlieben von mir geerbt. Wie jeden Tag hatte sie die Post aus dem Kasten geholt, als sie von der Schule kam. Auf dem Küchentisch lagen die Freitagszeitungen, Anttis Handyrechnung und ein dicker, gefütterter Briefumschlag im Format DIN A4, dessen ursprüngliche Adresse krakelig durchgestrichen war. Der Brief war zunächst an die Polizeiabteilung des finnischen Innenministeriums geschickt und von dort an mich weitergeleitet worden. Der fleckige, zerdrückte Umschlag ließ darauf schließen, dass die Sendung mit Metalldetektoren, Bombenspürhunden und Röntgengeräten untersucht worden war.

Der Brief war in München abgestempelt, als Absenderin war Helga Müller, Kurfürstenstraße 13, angegeben. Ich nahm die Schere aus dem Ständer und schnitt den Umschlag vorsichtig auf. Er enthielt ein Schmuckkästchen aus glattpoliertem Holz, allem Anschein nach Birke, und einen Brief, auf dem mein Name stand: «Oberkommissarin Maria Kallio». Da ich wusste, von wem der Brief kam, zögerte ich, ihn zu lesen.

Er war auf lindgrünem Papier geschrieben, in klarer und akkurater Handschrift, mit einfachen englischen Sätzen, die allerdings einige grammatikalische Fehler enthielten.

«Sehr geehrte Oberkommissarin Kallio. Erst jetzt sind meine Kräfte so weit wiederhergestellt, dass ich fähig bin, den letzten Wunsch meiner Tochter Ulrike zu erfüllen. Vor der Abreise nach Afghanistan hat sie ihr Testament gemacht; darin bittet sie mich, ihren Schmuck unter ihren Freunden zu verteilen. Ich bin Ihnen nie begegnet, aber meiner Meinung nach passt dieses Schmuckstück zu einer Finnin. Ulrike hat Sie sehr geschätzt; sie hat mir erzählt, dass sie mit Ihnen die besten Gespräche über den Polizeiberuf und über die Stellung der Frau im Arbeitsleben geführt hat.

Wir haben Ulrike in aller Stille im Familienkreis beigesetzt, obwohl die Presse und andere Neugierige dabei sein wollten. Deshalb haben wir Sie nicht eingeladen; außerdem hätten Sie ja auch einen langen Weg gehabt.

Hochachtungsvoll, Ulrikes Mutter Helga Müller.»

«Mutti, was ist da drin?» Offenbar hatte ich aufgeschluchzt, denn Taneli hatte seine Lektüre unterbrochen und starrte mich erschrocken an.

«Ein Geschenk von einer Freundin. Ein Schmuckstück. Komm, wir sehen es uns an.» Ich gab mir Mühe, freudig überrascht zu wirken, denn meine beruflichen Sorgen gingen einen Neunjährigen nichts an. Ich öffnete das mit grünem Satin ausgeschlagene Kästchen. Darin lag ein Halsschmuck, ein schmaler Reif, an dem aus Silber geschmiedete, etwa sechs Zentimeter lange Anhänger in Form von Fichtennadeln befestigt waren. Ulrike hatte diesen Schmuck getragen, als wir mit den Afghaninnen den Abschluss des Polizeiausbilderkurses in Tampere gefeiert hatten. Danach waren unsere Schülerinnen nach Afghanistan zurückgekehrt, um dort die Polizeischule aufzubauen, und Ulrike war wieder nach München geflogen, wo sie mit ihrer Mutter in der Nähe des Englischen Gartens und der Pinakotheken wohnte. Ich hatte vorgehabt, sie zu besuchen, wenn in Süddeutschland der Frühling Einzug hielt. Doch bevor es dazu kam, war Ulrike gestorben, und nun erwartete mich in München nur ihr Grab.

Ich brachte den Schmuck ins Schlafzimmer. Auf dem Bett lagen unsere Katzen Seite an Seite. Der grau gestreifte Venjamin hatte im Herbst einen Gefährten bekommen, Jahnukainen, einen Kater aus dem Tierheim, dessen Fell dem Panzer einer Schildkröte ähnelte. Iida hatte zwei Jahre lang über Venjamins Einsamkeit gejammert und versprochen, sich darum zu kümmern, dass Venjamin sich mit einem neuen Katzenjungen anfreundete. Ein paar Wochen lang hatten die Tiere sich angefaucht und gezankt, doch dann gewöhnten sie sich aneinander. Mitunter kämpften sie spielerisch, dann wieder leckten sie sich gegenseitig den Nacken wie liebevolle Brüder.

Die Musik war verstummt, ich hörte, wie Iida nach unten kam.

«Hallo. Ich hab in der Mathearbeit eine Eins plus gekriegt! Wann fahren wir zu den Koivus?»

Meine Tochter schaffte es, mich zum Lächeln zu bringen: Heute war zur Abwechslung ein Sonnentag. Gestern hatte sie noch gemotzt, weil sie bei den Koivus mit Kleinkindern spielen musste. Juuso war gut ein Jahr jünger als Taneli, Sennu war sechs, und Jaakko wurde in der nächsten Woche fünf. Das war der Anlass für die Einladung.

«Wir nehmen den Bus um Viertel vor sechs. Eine Eins plus? Wofür hast du denn das Plus gekriegt?»

«Die Lehrerin hat mir eine Zusatzaufgabe gegeben, weil ich so schnell fertig war.»

Ich strich ihr über die Haare. Iida hatte die mathematische Begabung ihres Vaters geerbt. Sie war ein paar Zentimeter größer als ich und körperlich bereits eine junge Frau. Ihre Haare hatte sie schwarz gefärbt, und seit einem Jahr trug sie ausschließlich schwarze Kleidung. Ich hatte nicht vergessen, wie ich mich mit meiner Mutter über meine Kleidung gestritten hatte, darum erlaubte ich Iida anzuziehen, was sie wollte, obwohl sie es mit ihren Gothic-Spitzen und dem violetten Lidschatten mitunter derart übertrieb, dass ich ein Lachen nicht unterdrücken, sondern allenfalls als Hustenanfall tarnen konnte. Ich selbst hatte mit dreizehn noch Jeans und jungenhafte Hemden getragen, doch dann waren Sicherheitsnadeln und zerfetzte Strumpfhosen an der Reihe gewesen. Ulrike hatte mir erzählt, sie habe mit Punkmusik gegen ihre Rolle als braves bayerisches Mädchen rebelliert; unsere ähnliche Jugend hatte uns verbunden, obwohl Ulrike zehn Jahre jünger war als ich.

Kaum dachte ich daran, kehrte die Trauer, die sich allmählich gelegt hatte, so heftig zurück, dass ich vor Wut hätte brüllen mögen. Zum Glück holte Iida ihre Klassenarbeit. Sie wollte ihr Lob, und ich gab es ihr. Bei einer Dreizehnjährigen war es das Beste, jeden Moment zu genießen, in dem sie noch die Nähe ihrer Eltern suchte.

Für den Besuch bei den Koivus kleidete ich mich nicht besonders festlich, legte aber den Schmuck an, den ich von Ulrike geerbt hatte. Anu und Pekka Koivu waren gute Freunde, ihnen konnte ich die Geschichte der Halskette erzählen. Antti kam so spät nach Hause, dass uns nur noch fünf Minuten blieben, bevor wir zum Bus gehen mussten, und er merkte natürlich nicht, was ich anhatte. Er war vor einiger Zeit widerstrebend an die Universität zurückgekehrt, um eine Mathematikprofessur zu übernehmen. Die Arbeit selbst fand er nach wie vor interessant, aber der Papierkrieg und die Pflicht, Erfolge vorzuweisen, nagten an der akademischen Freiheit, was Antti mindestens einmal wöchentlich zur Weißglut trieb. Auch jetzt wirkte er so angespannt, dass ich ihn lieber nicht fragte, was es Neues gab. Iida marschierte ein Stück vor uns zur Bushaltestelle, und Taneli machte abwechselnd Wechselschritte und Scherensprünge. Iida hatte im letzten Sommer erklärt, sie wolle mit dem Formationseiskunstlauf aufhören; dagegen trainierte Taneli noch eifriger als zuvor im Solo und legte die leichteren doppelten Sprünge bereits mühelos hin. Es gefiel ihm, nicht mehr im Schatten seiner großen Schwester zu stehen. Der Eiskunstlauf war nun nur noch seine Sportart, und er war deutlich begabter als Iida.

Im Bus forderte Iida plötzlich, nach Tapiola fahren zu dürfen, statt mit uns nach Leppävaara zu den Koivus. Im Mädchenclub, den sie immer häufiger besuchte, stand wie jeden Freitag Improvisationstheater auf dem Programm.

«Nächste Woche!», fuhr Antti sie so heftig an, dass sie verstummte. Im Allgemeinen schimpfte Antti nicht mit den Kindern, sondern überließ mir das Kommando. Iida funkelte ihren Vater erbost an und legte dann demonstrativ eine weitere Schicht Lipgloss auf ihre Lippen, die ohnehin bereits glänzten wie ein Spiegel.

Bei Koivus roch es nach Chili und Zitronengras, Anu hatte vietnamesisch gekocht. Iida hörte auf zu meckern und spielte mit Sennu Friseur, während Juuso Taneli zu einem Brettspiel holte und Jaakko den beiden folgte. Pekka servierte Aperitifs, und nach einigen Schlucken wirkte Antti schon sichtlich entspannter. Er bemerkte sogar meinen Schmuck und fragte, ob er neu sei.

«Heute per Post gekommen, von Ulrike Müllers Mutter.»

«Auf Ulrike», sagte Pekka und hob sein Glas. Anu und er hatten Ulrike kennengelernt, als wir mit den afghanischen Kursteilnehmerinnen das Polizeipräsidium in Espoo besucht hatten. Wir stießen schweigend an. Iidas und Sennus Lachen drang aus dem Elternschlafzimmer, in das sie sich zurückgezogen hatten, um ungestört ihre Frisuren ausprobieren zu können. Schließlich brach Pekka das Schweigen.

«Hat man eigentlich herausgefunden, wie die Bombe auf die Straße gekommen war, die doch streng überwacht und sicher sein sollte?»

«Die Einheit, die den Straßenabschnitt kontrollieren sollte, war angegriffen worden, das heißt, zuerst hat die Kontrolle versagt und dann die Kommunikation. In der Woche darauf hat an derselben Stelle eine Bombe Mitarbeiter des Roten Halbmonds getötet. Auch unter ihnen waren Frauen. Hinter den Anschlägen stecken wahrscheinlich Drogenbarone, die sich durch die Verstärkung der Polizeikräfte bedroht fühlen. Es ist unmöglich, mit ihnen zu verhandeln.»

Während meines Aufenthalts in Afghanistan hatte ich einige Frauengefängnisse besucht. Die meisten Häftlinge waren nach finnischem Maßstab keine Kriminellen; in den Zellen saßen unter anderem vergewaltigte Frauen und blutjunge Mädchen, die vor einer Zwangsehe mit einem mehrere Jahrzehnte älteren Mann geflohen waren. Das Gefängnis war beinahe eine Art Asyl, obwohl man sich nicht immer auf den Gerechtigkeitssinn der Wärterinnen verlassen konnte. Von den Taliban wurde das Gefängnis ebenso abgelehnt wie die Polizeischule, weil dort auch Frauen ausgebildet werden sollten. Die Arbeit der Schule, die wir gegründet hatten, stützte sich nicht auf die Scharia, sondern auf den Gedanken, dass demokratische Polizeikräfte jeden gleich behandelten und sich nicht bestechen ließen. Obwohl ich mich nur zehn Tage im Land aufgehalten hatte, war mir klargeworden, wie utopisch das Projekt war. Viele der aktiven Polizisten konnten nicht einmal lesen, und Korruption war an der Tagesordnung. Einer der bisher schlimmsten Rückschläge hatte sich Anfang Februar ereignet, als ein Mann in Polizeiuniform zwei schwedische Soldaten und einen Dolmetscher erschossen hatte. Auch estnische Opfer hatte es bereits gegeben, und früher oder später würden auch Finnen ihr Leben lassen.

Nach dem Afghanistan-Projekt hatte ich weiterhin periodisch an der Polizeifachhochschule in Tampere unterrichtet. Am nächsten internationalen Polizistinnenkurs hatten Frauen aus den von Kriegen geschwächten Ländern Afrikas teilgenommen, unter anderem aus dem Sudan, aus Somalia und dem Kongo. Die Abschlussfeier hatte Anfang Februar stattgefunden, und danach hatte turnusgemäß Schweden die Verantwortung für die von der EU finanzierte Polizeiausbildung übernommen. Man hatte mir angeboten, weiter mitzuarbeiten, aber ich hatte keine Lust, zwischen Göteborg und Espoo zu pendeln. Es war mir schon schwer genug gefallen, wochenweise in Tampere wohnen zu müssen, getrennt von meiner Familie.

«In gut einer Woche hast du wieder einen ungefährlichen Job», lächelte Anu. «Und nicht mehr so weit zur Arbeit.»

«Gut, dass du die positiven Seiten siehst. Und obendrein bekomme ich ja nette Kollegen.»

In den letzten fünf Jahren hatte ich nur befristete Jobs gehabt. Bevor ich bei der internationalen Ausbildung eingesetzt wurde, hatte ich meine Brötchen bei einem Forschungsprojekt des Innenministeriums über Gewalt in der Familie verdient, von wo ich einmal kurzfristig in den Dienst der Espooer Polizei abkommandiert worden war. Nun kehrte ich wieder dauerhaft zur Polizei zurück, deren Organisation im vergangenen Jahr von Grund auf umgestaltet worden war. Im ganzen Land hatte man Polizeibezirke zusammengelegt, und dem Espooer Polizeipräsidium war die Leitung für den ganzen Polizeibezirk West-Uusimaa zugekommen, zu dem auch die Städte Raasepori, Lohja und Vihti gehörten. Der Hauptarchitekt der Reform in Espoo war mein früherer Vorgesetzter Jyrki Taskinen, der die von der Polizeiabteilung des Innenministeriums vorgegebenen Grenzen so weit gedehnt hatte, wie er konnte. Darum gab es bei der Espooer Polizei immer noch ein Gewaltdezernat. Es wurde von meiner Nachfolgerin Anni Kuusimäki geleitet, die jedoch vor gut einem Jahr Drillinge zur Welt gebracht hatte und noch im Mutterschaftsurlaub war. Ihr Vertreter war der fünfzigjährige Markku Ruuskanen, Koivu zufolge ein fairer, wenn auch etwas distanzierter Vorgesetzter.

Vor anderthalb Jahren hatte Taskinen versucht, mich als Stellvertreterin für Anni zu gewinnen, doch ich hatte abgelehnt. Ich wollte meinen alten Job und all den Stress, der damit verbunden war, nicht mehr. Später hatte Taskinen eine neue Taktik gewählt. Er hatte mich ein paar Wochen nach meiner Rückkehr aus Afghanistan angerufen und ein Treffen im Polizeipräsidium vorgeschlagen.

«Es würde mich interessieren, etwas über deine Reise zu hören. Mich hätte fast der Schlag getroffen, als ich im Internet gelesen habe, dass auf eure Delegation ein Bombenanschlag verübt wurde. Zum Glück kam bald darauf die Nachricht, dass unter den Opfern keine Finnen waren.»

Da ich mich immer freute, Jyrki zu sehen, hatte ich seine Einladung zum Kaffee in den Repräsentationsräumen im obersten Stock des Polizeigebäudes gern angenommen. Jeder andere hohe Polizeibeamte hätte zum Kaffee Berliner angeboten, aber Taskinen, der auf gesunde Ernährung achtete, hatte mit Käse und Salat belegte Brote bestellt. Obwohl er schon über fünfzig war, legte er die Marathonstrecke immer noch in dreieinhalb Stunden zurück. Inzwischen lief er allerdings vorwiegend hinter seinen Enkelkindern her. Seine Tochter Silja war mit ihrer Familie aus Kanada zurückgekommen und leitete nun mit ihrem Mann das Training in dem Eiskunstlaufverein, dem auch Taneli angehörte.

Nach meinem ausführlichen Reisebericht sah Taskinen mich auf eine Weise an, die mir klarmachte, dass er ein Anliegen hatte. Ich nahm mir vor, strikt abzulehnen, egal, was er mir vorschlug.

«Du bist ja über die Organisationsreform informiert, die bei der Zusammenlegung der Polizeibezirke durchgeführt wurde.»

«Nicht im Einzelnen.»

«Wir in Espoo sind im Prinzip für alle Ermittlungen bei Gewaltverbrechen im gesamten Polizeibezirk zuständig. Einfache Fälle werden weiterhin auf örtlicher Ebene bearbeitet, aber die komplizierteren werden an uns weitergeleitet, ebenso die untypischen. Totschlag unter Zechbrüdern und im Familienkreis oder Übergriffe, bei denen es Augenzeugen gibt, kann jeder aufklären. Bei den untypischen Fällen sieht das schon anders aus. Solche, bei denen keine Spuren zu entdecken sind, rassistisch motivierte Gewalttaten, angedrohte Amokläufe an Schulen – du weißt, was ich meine. Für diese Fälle brauchen wir eine eigene Einheit, oder eher eine eigene Zelle mit erfahrenen Ermittlern. Ein Kommissar und zwei Obermeister. Der Kommissar ermittelt auch vor Ort und führt Vernehmungen, falls er – oder sie! – der richtige Typ dafür ist. Es handelt sich keineswegs um einen Schreibtischjob, sondern um klassische Polizeiarbeit. Ich möchte dich als Kommissarin der Einheit für untypische Fälle. Mit Koivu und Puupponen habe ich schon gesprochen. Die beiden haben auch die Nase voll davon, sich mit Alkoholikern rumzuärgern, und sind mit Freuden bereit, die neue Aufgabe zu übernehmen, wenn du die Zelle leitest.»

«Zelle – das klingt eher nach terroristischen Aktionen», sagte ich, weil mir vor Verblüffung nichts anderes einfiel.

«Es klingt ausgesprochen modern und dynamisch. Die oberste Polizeiführung hat den Terminus sehr begrüßt. In unserer Branche sind derzeit Spezialisierung und Flexibilität gefragt, und da passt diese Einheit haargenau hinein. Ihr spezialisiert euch auf einen bestimmten Typ von Gewaltverbrechen, und bei Bedarf wird die Zelle von den anderen Mitarbeitern des Gewaltdezernats unterstützt.»

«Und wenn nichts Untypisches anliegt?»

«Dann arbeiten Koivu und Puupponen im Gewaltdezernat mit, während du Forschungsarbeit leistest.»

«Also bietest du mir doch einen Schreibtischjob an.»

Taskinen schmunzelte. «Damit habe ich den hohen Herren die Sache schmackhaft gemacht. Du hast bei dem Projekt über familiäre Gewalt und als Ausbilderin Erfahrung gesammelt. Wenn es nichts zu tun gibt, kannst du eine Art Bericht darüber abfassen, welche Art von untypischer Gewaltkriminalität im Polizeibezirk West-Uusimaa vorkommt. Willkommen in der modernen Zeit! Bei den Entscheidungsträgern kann man alles durchsetzen, wenn man es mit den richtigen Ausdrücken spickt.»

Ich stand auf und ging zum Fenster. Die Kiefern schwankten im Novemberwind, von Norden her zog eine Regenwolke auf, die den Mittagshimmel verdunkelte. Es stimmte, dass ich keine Ahnung hatte, was ich tun sollte, wenn der Kurs an der Polizeifachhochschule im Februar zu Ende ging. Ich spürte den säuerlichen Kaffeegeschmack auf der Zunge; die Qualität des Gebräus hatte sich in meiner Abwesenheit nicht verändert.

«Mir bleiben nicht mehr viele Jahre bis zur Pensionierung», sagte Taskinen. «Da erlaube ich mir ein wenig Egoismus: Ich möchte für den Rest meiner Dienstzeit mit den qualifiziertesten Leuten zusammenarbeiten. Du bist eine von ihnen.»

Ich ließ mich noch eine Viertelstunde lang überreden, bevor ich schließlich zustimmte. Die Vorstellung, von Anttis Einkommen abhängig zu sein, war mir ohnehin zuwider, ich hatte ja schon Gewissensbisse, weil wir unsere Wohnung in Nihtimäki zum Teil mit dem Erbe seines Vaters finanziert hatten. Das Gehalt, das Taskinen mir anbot, enthielt alle denkbaren Zuschläge. Es reizte mich, weitgehend selbständig arbeiten zu können, und die faulen Witze von Koivu und Puupponen hatte ich geradezu vermisst. Bessere Kollegen als die beiden hätte ich mir nicht wünschen können.

«Am Montag in einer Woche bin ich wieder im Metier. Aber über die Arbeit wollen wir jetzt nicht reden», sagte ich rasch, bevor Anu das Thema vertiefen konnte, denn Anttis Miene hatte sich verfinstert. Er fühlte sich leicht ausgeschlossen, wenn Anu, Pekka und ich über Polizeiangelegenheiten sprachen. Anu arbeitete immer noch bei der Jugendpolizei, die ein Verbindungsglied zwischen der Schutzpolizei, dem Gewaltdezernat und dem Jugend- und Sozialamt bildete. Auch ihre Stelle hatte Taskinen für sie maßgeschneidert, damit sie nur tagsüber zu arbeiten brauchte. Jyrki Taskinen hatte sich zur grauen Eminenz des Polizeiwesens entwickelt, er zog die Strippen, wie er wollte.

Koivu erzählte von den seltsamsten Verbrechen der letzten Monate. Unter anderem berichtete er von einem Mann, der in diesem Winter in Haukilahti Frauen aufgelauert hatte, nur mit Tennissocken bekleidet.

«Ein untypischer Flitzer also. Man sollte meinen, dass er in der Kälte schrumpft, hat Puupponen gesagt. Er nennt den Kerl Hubschraubermann.»

«Hoffentlich nicht in Anwesenheit der Betroffenen. Man erwartet doch wohl nicht von uns, dass wir solche Fälle bearbeiten?»

Koivu schüttelte nur den Kopf. Anu trug mit Iida und Sennu kleine Schüsseln mit verschiedenen vietnamesischen Fleisch- und Gemüsegerichten auf. Für Iida konnte das Essen gar nicht scharf genug sein, und Juuso schien den gleichen Geschmack zu haben. Amüsiert dachte ich an den Koivu zurück, den ich vor einer Ewigkeit kennengelernt hatte. Für den jungen Mann aus Ostfinnland waren Anfang der neunziger Jahre sogar frische Kräuter exotisch gewesen.

«Wir haben im Kochkurs im Mädchenclub Satay-Soße gemacht, vorige Woche, als vietnamesisch Kochen dran war. Wenn finnisches Essen an der Reihe ist, backe ich karelische Piroggen nach Uromas Rezept.» Iida zwinkerte ihrem Patenonkel Koivu zu.

«Du bist ziemlich oft im Mädchenclub», stellte Anu fest. «Ich soll dort nächsten Monat über die Arbeit der Jugendpolizei sprechen.»

«An welchem Abend? Sag dann bloß keinem, dass du mich kennst!»

«Total blöd, dass Jungen da nicht reindürfen», beschwerte sich Taneli. Über dieses Thema hatten wir schon öfter gesprochen. Als die Stadt Espoo im vorigen Frühjahr beschlossen hatte, sie könne es sich nicht leisten, das Projekt Mädchenhaus zu finanzieren, war die pensionierte Kommerzienrätin Sylvia Sandelin wütend geworden und hatte öffentlich erklärt, dann werde sie persönlich die Kosten übernehmen. Sie hatte dem Buchhaltungsbüro im Erdgeschoss eines Etagenhauses in Tapiola, dessen Miteigentümerin sie war, gekündigt und die Räume in ein nur für Mädchen zugängliches Jugendzentrum umgewandelt. Außerdem bezahlte sie die beiden festangestellten Mitarbeiterinnen und die Leiterinnen einiger AGs und verbrachte auch selbst viel Zeit mit den Mädchen. Die siebzigjährige, elegante und gepflegte Frau war ein ungewöhnliches Vorbild für junge Mädchen, aber Iida fand Frau Sandelin richtig cool. Der Club arbeitete nach einem ähnlichen Konzept wie das Mädchenhaus in der Nachbarstadt Helsinki. Antti und ich waren froh, dass Iida nach dem Eiskunstlauf eine neue Freizeitbeschäftigung gefunden hatte.

«Sind eigentlich die Schreihälse noch mal im Club aufgetaucht?», fragte Anu, als die Kinder nach dem Hauptgericht wieder spielen gegangen waren. «Hat Iida irgendwas erzählt?»

«Ab und zu hängen ein paar Jungen da herum, aber die werden von Sylvia Sandelin höchstpersönlich verscheucht. Sie reagieren natürlich genauso wie Taneli, es ärgert sie, dass sie nicht reindürfen. Einige wollen nicht verstehen, dass es manche Migrantenmädchen gibt, die nur mit Mädchen zusammenkommen dürfen.»

Obwohl es schon seit zwei Generationen keine separaten Schulen für Jungen und Mädchen mehr gab, war es manchmal nötig, die Geschlechter zu trennen. Das hatte ich auch in Afghanistan gesehen. Die Eröffnung der Polizeischule lag vier Monate zurück, und bisher war die Schule noch funktionstüchtig, auch wenn die Schüler und ihre Familien bedroht worden waren. Im Januar hatten die ISAF-Truppen der Nato in letzter Minute ein Selbstmordattentat auf die Schule verhindern können. Ich hielt per E-Mail Kontakt zu meinen ehemaligen Schülerinnen, aber manchmal war die Verbindung tagelang unterbrochen. Die Mail-Adressen waren anonymisiert, sodass die Klarnamen der Polizistinnen nicht erkennbar waren.

Ich war bei meiner Arbeit auch schon in Lebensgefahr geraten, doch dabei hatte es sich um vorübergehende, von Einzelpersonen ausgehende Bedrohungen gehandelt, nicht um systematische Verfolgung. In Afghanistan hingegen waren Polizeikräfte nicht einmal durch ihren Rang geschützt: Malalai Kakar, die Leiterin einer Einheit, die Verbrechen gegen Frauen untersuchte, war im Herbst 2008 getötet worden, als warnendes Beispiel für andere Frauen.

Ulrikes Schmuck hing mir schwer am Hals, die silbernen Fichtennadeln stachen, weshalb ich mich vorsichtig bewegen musste. Vielleicht passte der Schmuck besser zu einer hochgeschlossenen Bluse. Anu räumte den Tisch ab, und Antti stand auf, um ihr zu helfen. Ich trank meinen Wein aus und wollte ebenfalls in die Küche gehen, doch Pekka Koivu drückte mich an der Schulter auf den Stuhl zurück. Zuerst dachte ich, er wolle mir nur bedeuten, dass meine Hilfe nicht gebraucht wurde, aber dann las ich in seinen Augen, dass er etwas mit mir zu bereden hatte.

«In Anttis Anwesenheit möchte ich nicht darüber sprechen, er ist immerhin Zivilist. Ich habe den ganzen Abend auf die Gelegenheit gewartet, dir zu sagen, wie sehr ich mich darauf freue, unseren ersten Fall in Angriff zu nehmen. Wir brauchen nicht lange zu überlegen, womit wir anfangen: Bis jetzt hat niemand diese Vermisstenfälle ernst genommen, obwohl es Grund genug dafür gäbe.»

«Welche Vermisstenfälle? Ich kann mich nicht erinnern, dass etwas in der Zeitung gestanden hätte.»

«Ruuskanen hält sie für unwichtig. Er ist ganz in Ordnung, aber er will keine Schwierigkeiten und vor allem kein öffentliches Aufsehen. Es geht um Folgendes: In den letzten fünf Wochen sind drei junge Migrantinnen verschwunden. In keinem Fall gibt es Hinweise auf ein Verbrechen, aber was soll sonst dahinterstecken? Die Familien behaupten, keine Ahnung vom Verbleib der Mädchen zu haben. Irgendwie stehen diese Fälle miteinander in Verbindung. Das sagt mir meine Polizistennase.»

2

«Guck dir das an, Maria, ist das nicht eine klare Sache?», drängte Koivu. Es war am späten Vormittag meines zweiten Arbeitstages, als er endlich dazu kam, mir die Serie der Vermisstenfälle zu präsentieren, die ihm verdächtig erschien. Ich saß mit ihm und Puupponen in meinem neuen Dienstzimmer. Die beiden Männer teilten sich den angrenzenden großen Raum, der je nach Bedarf als Ermittlungszentrum oder als Besprechungsraum verwendet werden konnte. In meinem Dienstzimmer fanden außer dem Schreibtisch eine Couch, ein Sofatisch und ein Sessel Platz. Koivu stand am Flipchart und schrieb. Dann befestigte er das Foto eines Mädchens an der Pinnwand. Das Kopftuch ließ nur das Gesicht mit den lebhaften Augen frei, die Lippen waren ganz leicht geschminkt.

«Der erste Fall, am zweiten Januar. Aziza Abdi Hasan, siebzehn Jahre alt, aus Afghanistan. Vor vier Jahren nach Finnland gekommen, die Familie hat eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Aziza hat in Leppävaara die achte Klasse besucht, ist also nach diesem Schuljahr noch ein Jahr lang schulpflichtig. Sie ist mit Abstand die Älteste in ihrer Klasse, was an ihren lückenhaften Sprachkenntnissen und der fehlenden Grundschulausbildung liegt – sie ist erst hier in Finnland eingeschult worden, konnte vorher nicht einmal lesen. Wenn man das in Betracht zieht, hat sie sehr gute Fortschritte gemacht. Nach Aussage ihrer Eltern ist sie in den Weihnachtsferien mit einem Onkel zu Verwandten in Stockholm gefahren. Als sie nach den Ferien nicht zur Schule kam und die Familie keine Auskunft über ihren Verbleib geben konnte, hat das Schulamt Vermisstenanzeige erstattet. Die finnische Botschaft in Stockholm hat sich mit der dortigen Polizei in Verbindung gesetzt, die daraufhin die Verwandten vernommen hat. Weder Aziza noch ihr Onkel ist dort aufgetaucht. Der Onkel hat die schwedische Staatsbürgerschaft und ist den Passagierlisten zufolge am siebenundzwanzigsten Dezember mit dem Schiff nach Finnland gekommen. Über die Rückfahrt gibt es keinen Vermerk. Die schwedische Polizei hat die Fahndung eingeleitet. Übrigens hat die Familie auch in Dänemark Verwandte. Sollte das Mädchen mit Einverständnis seiner Angehörigen untergetaucht sein, decken sie sich gegenseitig.

Der zweite Fall, am fünfundzwanzigsten Januar. Sara Amir, bosnische Muslima, vierzehn Jahre alt, ebenfalls in der achten Klasse, aber an einer anderen Schule. Die gleiche Geschichte: Die Eltern haben keine Vermisstenanzeige erstattet. Die Schule hat sich mit dem Sozialamt in Verbindung gesetzt, das dann uns alarmiert hat. Die Eltern sagen, das Mädchen sei nach Bosnien zurückgekehrt, was sie allerdings nicht nachweisen können. Die Familie besitzt eine unbegrenzte Aufenthaltserlaubnis und hat die finnische Staatsbürgerschaft beantragt. Ich war mit den Sozialarbeitern dort. Mikael Amir, der Vater, hat die anderen Familienmitglieder nicht zu Wort kommen lassen. Sara ist die einzige Tochter, das mittlere von fünf Kindern. Die Mutter sah verweint aus, hat aber nichts gesagt. Das Schulfoto ist vom letzten Jahr, dieses Jahr war Sara krank, als die Klassenfotos gemacht wurden.»

Auf dem Foto wirkte das Mädchen noch kindlich. Ihr Gesicht war hager und ernst, in den Augen lag Furcht. Ich hatte geglaubt, die bosnischen Muslime seien säkularisiert, aber Saras Kopftuch verbarg alle Haare und war unter dem Hals verknotet.

«Ich hätte gern unter vier Augen mit der Mutter gesprochen, aber das war nicht möglich. Der Vater hat beteuert, er würde die Polizei natürlich sofort informieren, wenn er erfährt, wo sich das Mädchen aufhält. Bisher haben wir nichts von ihm gehört.» Koivu rückte seine Brille zurecht. Er hatte sich kurz vor Weihnachten Bifokallinsen zulegen müssen.

«Der dritte Fall, am vierzehnten Februar. Ayan Ali Jussuf, aus dem Sudan, unbefristete Aufenthaltsgenehmigung, wie ihre ganze Familie. Achtzehn Jahre alt, nicht mehr schulpflichtig und nach finnischem Gesetz volljährig. Keine Vermisstenmeldung seitens der Eltern. Ihre Freundinnen im Mädchenclub haben sich Sorgen gemacht, als Ayan sich nicht mehr blicken ließ. Die Eltern behaupten, sie wüssten von nichts. Beim Meldeamt ist auch kein Umzug registriert.»

«Und was verbindet diese Fälle?», fragte ich dazwischen.

«Keine dieser jungen Frauen hat das Land unter ihrem eigenen Namen per Schiff oder per Flieger verlassen. Es ist möglich, dass sie mit dem Auto nach Norden gefahren und bei Tornio-Haaparanta über die Grenze nach Schweden gereist sind, damit wären sie im Schengengebiet und nicht mehr aufspürbar. Möglicherweise haben sie aber auch falsche Papiere benutzt.»

«Und da meint Ruuskanen, es gebe keinen Grund, Ermittlungen anzustellen? Drei junge Muslimas aus Espoo verschwinden spurlos. Jeder halbwegs aufgeweckte Reporter würde einen Zusammenhang wittern. Wie kommt es, dass die Presse nicht darüber berichtet hat?»

«Die Familien wollten nicht in die Öffentlichkeit, und Ayans Freundinnen fürchten, dass Presseberichte Ayan schaden könnten. Allerdings ist sie volljährig, es kann durchaus sein, dass sie aus freien Stücken gegangen ist. Möglicherweise gilt das auch für Aziza und Sara, es kommt schließlich vor, dass Jugendliche ausreißen.»

«Gibt es Gerüchte im Internet?», fragte ich. Koivu schien den Fall der verschwundenen Mädchen sehr ernst zu nehmen. Daher vermutete ich, dass er trotz Ruuskanens Desinteresse auf eigene Faust Ermittlungen angestellt hatte.

«Über Ayan wurde im Helmi-Portal diskutiert, aber der Systemadministrator hat die Beiträge entfernt, weil sie die Privatsphäre verletzten. Offenbar hat eine von Ayans Freundinnen aus dem Mädchenclub die Diskussion eröffnet. Es wurde gemunkelt, Ayan sei von ihrer Familie außer Landes geschickt worden, weil sie einen finnischen Freund hatte. Die Familie gibt jedoch an, nichts von einem Freund zu wissen; Ayan habe nur mit Mädchen Umgang. Als einer der Chatter behauptete, Ayan sei von ihrem älteren Bruder umgebracht worden, wurden die Beiträge entfernt. Ohne Untersuchungsbefehl konnte ich sie nicht anfordern.»

Das mehr als zehnjährige Zusammenleben mit Anu Wang-Koivu, die als vietnamchinesischer Flüchtling nach Finnland gekommen war, hatte Pekka vor Augen geführt, was es bedeutete, als Angehöriger einer ethnischen Minderheit in unserem Land zu leben. Anu war vollkommen integriert und sprach fließend und akzentfrei Finnisch, aber sie wurde nach wie vor auf Englisch angesprochen oder wie eine Schwachsinnige behandelt. Da Polizisten mit Migrationshintergrund immer noch spärlich gesät waren, wurde Anu häufig hinzugezogen, wenn es um Migranten ging, gleich welcher Herkunft oder Religion sie waren, obwohl sie selbst einen ganz anderen Hintergrund hatte als beispielsweise somalische Asylbewerber oder polnische Putzfrauen. Bei all dem war Koivu gegen Rassenfestlegungen äußerst allergisch geworden.

Puupponen trällerte eine bekannte Melodie, einen Folksong aus den sechziger Jahren. Sag mir, wo die Mädchen sind, so lauteten die Worte in seiner Version. Als Koivu ihm den Kuchenteller hinschob, grinste er und hörte auf zu singen.

«He, Leute, ist es in den muslimischen Ländern nicht ganz normal, dass Mädchen schon mit vierzehn verheiratet werden? Vielleicht hat man Sara und die anderen gezwungen, einen Vetter zu ehelichen, und sie deshalb irgendwohin gebracht, wo unsere Gesetze nicht gelten.» Puupponen drehte den Berliner in der Hand, ohne hineinzubeißen. Der rosa Zuckerguss verschmierte ihm die Finger.

«Eine Achtzehnjährige hätte man auch hier verheiraten können», wandte Koivu ein.

«Auch gegen ihren Willen? Vielleicht hat man sie zurück in den Sudan verfrachtet. Inzwischen hat sie einen neuen Namen, und ihre finnische Personenkennziffer ist nur noch eine blasse Erinnerung. Ein Paranoiker könnte auf die Idee kommen, wir hätten es mit einem Serienmörder zu tun, der es auf junge Migrantinnen abgesehen hat. Ein ostfinnischer Realist wie ich glaubt nicht so leicht an derartige Theorien. Ich kann gut verstehen, dass Ruuskanen keinen Wind um die Sache machen wollte. Das wäre doch ein gefundenes Fressen für alle möglichen Nazis.»

«Aber Finnland ist ein Rechtsstaat, und in einem Rechtsstaat wird nach vermissten Personen gesucht. Vor allem, wenn sie minderjährig sind. Verdammt noch mal, nun schmier dir den Zuckerguss nicht auch noch an den Pullover!», fuhr Koivu Puupponen an, der Anstalten machte, sich die Finger an seinem unglaublich hässlichen, selbstgestrickten Pullover mit Tiermuster abzuwischen. Die Tiere sollten wohl Bären darstellen, waren aber so verzerrt, dass sie eher an langgezogene Marder erinnerten. Vielleicht hatte Puupponens Mutter oder seine Schwägerin beim Stricken ihren schrägen Humor spielen lassen.

Meine beiden Mitarbeiter starrten mich an, als sei ich die Schiedsrichterin. Es lag in meiner Macht zu entscheiden, ob Ermittlungen eingeleitet werden sollten oder nicht. Ich kannte Koivu gut genug, um davon auszugehen, dass er sich nicht grundlos Sorgen machte.

«Wir können ja noch mal mit den Angehörigen sprechen. Vielleicht darf Saras Mutter mit einer Frau unter vier Augen reden. Wer hat Ayan als vermisst gemeldet?»

«Nelli Vesterinen, eine der beiden Leiterinnen des Mädchenclubs. Ayans Freundinnen hatten sie um Rat gefragt.»

Iida hatte Nelli oft erwähnt. Sie sei nicht so kleinlich wie ihre Kollegin, sondern erlaube Spaß und Albernheiten. Anu, die demnächst einen Vortrag im Mädchenclub halten sollte, war zwar nicht meine Mitarbeiterin, dennoch konnte ich sie bitten, bei ihrem Besuch im Club Augen und Ohren offen zu halten; vielleicht waren Freundinnen von Ayan unter den Anwesenden. Aber mit Nelli Vesterinen mussten wir möglichst bald sprechen.

«Pekka, wahrscheinlich hast du die Personalien und Adressen der Angehörigen aller verschwundenen Mädchen in einer gemeinsamen Mappe oder Datei abgelegt?»

«Richtig geraten. Ganz altmodisch in einem Aktenordner. Die Computer hier im Haus stürzen immer mal ab, deshalb druckt man am besten alles Wichtige aus.»

«Schon mal was von Sicherheitskopien gehört?», frotzelte Puupponen.

«Ville, du als Computergenie kämmst das Internet durch. Such nach den Namen der Mädchen, vielleicht ist die Diskussion ja wieder aufgeflammt. Wir bitten Europol und Interpol um Amtshilfe. Pekka, du warst offenbar bei allen drei Familien?»

«Ja. Ruuskanen hat mir die Ausländer zugeschoben, weil ich mit einer Migrantin verheiratet bin und drei schlitzäugige Kinder habe.»

«Meine Güte, was bist du grantig! Dabei sollte man meinen, du freust dich, dass Maria wieder bei uns ist», versetzte Puupponen und biss so ungeschickt in seinen Berliner, dass ein Klecks Marmelade auf dem Kopf des obersten Bären-Marders landete.

«Mich ärgert eben unsere Hilflosigkeit in solchen Fällen. Kein Anlass zu Ermittlungen. Ein Kanake mehr oder weniger, was soll’s. Ist sowieso besser, wenn sie verschwinden. Das hat Ruuskanen natürlich nicht gesagt, aber die Einstellung war deutlich zu spüren. Fast wie zu Ströms Zeiten. Aber gut, machen wir uns an die Arbeit, auch wenn wir verdammt spät dran sind. Nehmen wir unser Zimmer als Ermittlungsraum, damit unsere werte Chefin ihre Ruhe hat?»

Jetzt lächelte Koivu endlich. Er hatte seinen Willen durchgesetzt.

«Es wäre gut, die DNA der Mädchen zu bekommen. Hoffentlich sind ihre Zahn- und Haarbürsten noch nicht weggeworfen worden. Ach ja, wenn die Mädchen tatsächlich verreist sind, haben sie die Bürsten natürlich mitgenommen … Aber versuchen wir es. Koivu, mach mit allen drei Familien einen Besuchstermin aus. Wir gehen zu dritt hin, dann können wir einzeln mit den Leuten reden. Ich setze mich inzwischen mit dem Mädchenclub in Verbindung.»

«Ist das wieder so ein Laden, zu dem Männer keinen Zutritt haben?», fragte Puupponen.

«Ein Polizist hat überall Zutritt», antwortete Koivu, nahm den letzten Berliner vom Teller und verschwand im Nebenraum. Puupponen blieb noch im Sessel sitzen.

«Hast du Ruuskanen inzwischen kennengelernt?», fragte er.

«Wir haben uns gestern miteinander bekannt gemacht. Ich bin ihm früher schon mal begegnet, auf einer Kommissarstagung vor ein paar Jahren, wo wir allerdings nur ein paar Worte miteinander gewechselt haben. Aber er hat mit uns nichts zu tun. Wir sind eine selbständige Einheit, außerdem ist er bloß als Vertretung hier. Ich glaube kaum, dass er uns Schwierigkeiten machen wird.»

Puupponen schüttelte den Kopf. Auf seiner blassen Haut waren nur wenige Sommersprossen zu sehen, die Wintersonne war zu schwach, sie hervorzulocken. Während die vielen Berliner bei Koivu für einen Rettungsring gesorgt hatten, zeigten sie bei Puupponen keine Wirkung. Er war rank und schlank, obwohl er im Sommer auch schon vierzig wurde. Seine Haare leuchteten so rot wie eh und je, in einem Farbton, den man nicht künstlich erzeugen konnte.

«Bei der Suche im Internet bin ich auf eine interessante Verbindung gestoßen. Ruuskanens Sohn Miro, um die zwanzig, engagiert sich in einer migrationskritischen Gruppe namens ‹Das Herz Finnlands›. Das ist eins von diesen kleinen Grüppchen, denen die Partei ‹Die wahren Finnen› nicht ausländerfeindlich genug ist. Natürlich müssen Vater und Sohn nicht unbedingt dieselben Auffassungen vertreten, aber ich finde, du solltest das wissen. Koivu habe ich nichts davon gesagt, der hat sowieso schon genug Verschwörungstheorien im Kopf.»

«Wir sollten Ruuskanens Lustlosigkeit nicht überbewerten. Vermutlich ist sie nur auf mangelnde Ressourcen zurückzuführen, und da schafft unsere Einheit ja Abhilfe. Aber nun mach dich an die Internetrecherche, ich versuche, die erste Befragung zu organisieren. Husch!» Ich scheuchte Puupponen aus dem Zimmer wie eine Wespe, und das wirkte. Er ging lachend hinaus und hinterließ klebrigen Zuckergeruch.

Zunächst nahm ich mir einen Moment Zeit, meine Gedanken zu ordnen. Im Gegensatz zu Koivu und Puupponen hatte ich den Verdacht, dass hinter Ruuskanens Entscheidung, die Vermisstenfälle nicht zu untersuchen, umgekehrter Rassismus stand. Vielleicht kannte er durch seinen Sohn die Gedankengänge der Migrationskritiker und ahnte, welchen Wirbel diese Leute um das Verschwinden der Mädchen machen würden. Dennoch war seine Entscheidung falsch gewesen. Wahrscheinlich waren die Mädchen einfach nur außer Landes gebracht worden; jedenfalls war der Verdacht, es könne sich um Ehrenmorde handeln, unbegründet, solange keine Leichen gefunden wurden.

Durch das Fenster drang das vertraute Brummen des Verkehrs auf der Autobahn nach Turku. Mein neues Zimmer lag nach Süden und würde sich im Sommer aufheizen wie ein Backofen. Ich suchte die Telefonnummern des Mädchenclubs heraus und rief Nelli Vesterinen am Handy an, erreichte aber nur die Mailbox. Ich hinterließ eine Bitte um Rückruf. Dann erledigte ich den Rest der Routineaufgaben, die in den ersten Tagen an einem neuen Arbeitsplatz anfallen: Ich teilte meine dienstliche Mail-Adresse denjenigen mit, die sie eventuell brauchen würden, und speicherte die Telefonnummern meiner Familienangehörigen und anderer regelmäßiger Kontakte auf meinem Dienstanschluss. Das nahm überraschend viel Zeit in Anspruch. Ich wollte mich gerade auf den Weg zur Kantine machen und nachsehen, wie sich das Lunchangebot in den letzten Jahren entwickelt hatte, als unter meiner neuen Adresse eine Mail eintraf. Der Betreff lautete «Gruß aus Kabul», der Absender war Lauri Vala.

«Hallo, Kallio, wie es aussieht, hast du einen neuen Job, diesmal in der Polizeiorganisation und nicht an der Fachhochschule. Gut so, Berufspolizisten haben wohl eine größere Immunität als Ausbilder.

Ich komme nächste Woche nach Finnland, wir sollten uns treffen. Per Mail will ich nicht ins Detail gehen. Ich melde mich, wenn ich im Land bin. Lauri Vala.»

Major Vala war der ranghöchste finnische Militärbeamte in der Gruppe gewesen, die für die Sicherheit der zivilen Teilnehmer an der Eröffnung der Polizeischule verantwortlich war. Wie die anderen finnischen Soldaten war er in Mazar-i-Sharif stationiert, aber er hatte uns für die gesamte Dauer der Reise zur Verfügung gestanden. Anfangs war er kühl und sachlich gewesen, doch am Abend nach der Bombenkatastrophe hatte er plötzlich einen Annäherungsversuch gemacht. Nachdem die Hilfstruppen eingetroffen waren und das Gebiet abgesucht hatten, ohne jedoch weitere Bomben oder Minen zu finden, hatten wir die Fahrt nach Kabul fortgesetzt. Der zersplitterte und verkohlte Jeep der Deutschen war zurückgeblieben, später sollte ein Krankenwagen die Leichen abtransportieren. Auf dem Rest der Fahrt sprachen wir nur das Allernötigste. Als wir die Stadt erreichten, blieben wir immer wieder im Stau stecken, obwohl es bereits spät war. Numminen brachte uns ans Ziel. Vala wohnte in Kabul im selben streng bewachten Hotel wie ich, und als wir dort ankamen, holte er seinen und meinen Schlüssel von der Rezeption und begleitete mich zu meinem Zimmer.

«Du solltest jetzt nicht allein sein. Ich komme gleich zurück, hole nur etwas, was wir beide brauchen. Ich klopfe in drei Zweierserien: tata, tata, tata. Mach keinem anderen auf.»

Valo hatte das Kommandieren gelernt, und ich war als Polizistin an eindeutige Befehlsstrukturen gewöhnt. Einen eigenen Willen hatte ich in diesem Moment ohnehin nicht. Völlig konfus vor Trauer und auch vor Dankbarkeit, dass ich überlebt hatte, setzte ich mich aufs Bett. Meine Haare rochen nach verbranntem Fleisch, ein Geruch, der sich vielleicht nicht auswaschen ließ. Ich zog nur die Schuhe aus und legte mich hin. Draußen rief jemand mit gellender Stimme zum Gebet, dann ging der Ruf im chaotischen Verkehrslärm unter. An der Zimmerdecke waren dunkle Flecken, wie Tränen.

Ich hätte nicht sagen können, wie viel Zeit vergangen war, als Vala klopfte. Er hatte eine frische Uniform angezogen und offenbar auch geduscht, denn seine stahlgrauen kurzen Haare waren noch feucht. Im Hotel gab es fließendes Wasser, was in Kabul immer noch ein Luxus war. Auf der Straße sah man Frauen, die an den öffentlichen Brunnen Wasser holten. Man hatte uns strikt eingeschärft, nur in Flaschen abgefülltes Wasser zu trinken und genau darauf zu achten, dass der Verschluss dicht war.

Ich ließ Vala herein, obwohl ich keineswegs sicher war, dass ich Gesellschaft brauchte. Er hatte eine etwa vierzig Zentimeter lange und ebenso breite, an die zwanzig Zentimeter hohe Holzkiste mitgebracht, die er auf den Tisch stellte, bevor er sich auf den einzigen Stuhl in meinem Zimmer setzte. Der Deckel war mit einem Segelschiff bemalt. Vala nahm zwei Gläser und eine Flasche Malt-Whisky aus der Kiste. Es handelte sich um eine meiner Lieblingsmarken, doch der rauchige Torfgeschmack lockte mich diesmal nicht. Er erinnerte zu sehr an das, was geschehen war.

«Wir brauchen jetzt beide einen Drink. Wie viele Fingerbreit?»

«Darfst du im Dienst überhaupt trinken?»

«Wir wollen mal nicht pingelig sein. Ich genehmige mir jedenfalls einen.» Vala goss sein Glas halb voll. «Was ist? Stehst du doch unter Schock?»

Offenbar nicht, überlegte ich mir, denn ich war immer noch fähig, die Schocksymptome aufzuzählen. Aber wahnsinnig müde war ich. Ich bat Vala, mir zwei Fingerbreit einzugießen. Der Laphroaig hatte Fass-Stärke, sechzig Prozent, er brannte zuerst im Hals, dann im Magen. Wenn ich mein Glas leer trank, würde ich die Tränen nicht mehr zurückhalten können.

«Was in aller Welt machst du hier? Du hast zwei Kinder, das jüngere ist noch nicht mal zehn. Wieso bist du nicht bei ihnen, sondern in einem Land, in dem Kriegszustand herrscht?»

Bis dahin hatten Vala und ich uns strikt auf berufliche Themen beschränkt. Vermutlich hatte er gehört, was ich Ulrike über meine Kinder erzählt hatte. Ich hatte Ulrike durch das European Network of Policewomen kennengelernt, schon bevor sie zu dem Projekt «Polizistinnen für Afghanistan» gestoßen war. Sie hatte Iida und Taneli getroffen, als die beiden mich in Tampere besucht hatten.

«Ich war intensiv an dem Schulprojekt beteiligt und habe in Finnland weibliche Lehrkräfte ausgebildet. Ich wollte an der Eröffnung teilnehmen, weil ich ihren Mut respektiere.»

«Respektierst du ihn mehr als das Recht deiner Kinder auf ihre Mutter?»

Genau das hatten auch Antti und meine Mutter gefragt. Nur mein Vater hatte geschwiegen und nicht versucht, mich von meinem Entschluss abzubringen.

«Meine afghanischen Schülerinnen Sayeeda, Muna und Uzuri können ja auch keinen anderen Weg wählen, egal, wie groß das Risiko ist.»

«Aber dies ist ihr Land. Du kommst aus Finnland.»

«Du doch auch. Wo liegt der Unterschied?»

«Meine Söhne kommen schon allein zurecht, und meine Frau hat mich vor Jahren verlassen. Hör mir mal zu, Kallio. Es ist immer schon so gewesen, dass die Männer kämpfen und die Frauen sich um den Haushalt und die Kinder kümmern. Das hat die Natur einfach so vorgesehen. Beides ist gleichermaßen wertvoll. Was wäre, wenn die Bombe nicht die Deutschen, sondern uns getroffen hätte? Würden deine Kinder dich für eine Heldin halten? Nein, sondern für ein egoistisches Weibsstück.»

Die Person, die ich bis zu diesem Abend gewesen war, hätte Lauri Vala vermutlich den Whisky ins Gesicht geschüttet. Aber sie war auf der Straße von Dschalalabad nach Kabul zurückgeblieben, und mein neues Ich trank kraftlos von dem nach Torf riechenden, kupferfarbenen Destillat.

«Unsere Sicherheit sollte doch gewährleistet sein», wandte ich ein.

«In diesem Land herrscht Bürgerkrieg. Da gibt es keine Garantien. Unsere westlichen Gesetze gelten hier nicht. Wir stehen Horden von Männern gegenüber, die völlig anders denken als wir. Für die ist sogar das eigene Leben billig und das des Gegners absolut wertlos. Von Finnland aus ist es leicht, optimistisch zu sein. Du warst hier doch in den Gefängnissen. Was denkst du, wie schnell man solche Verhältnisse ändern kann? Wie lange werden deine Schülerinnen überleben? Mit viel Glück vielleicht bis Weihnachten. Für die Taliban ist die Polizeischule doppelt schlimm, weil die westlichen Länder dahinterstehen und weil dort auch Frauen arbeiten.»

Ich spürte, wie der Whisky meine Gedanken zum Schweben brachte, mein Gehirn war leicht, es wog fast nichts mehr. Männer wie Lauri Vala waren mir schon öfter begegnet, und von einem bei der Friedenssicherung eingesetzten Berufssoldaten war wohl nicht allzu viel Optimismus zu erwarten.

«Versteh mich nicht falsch. Die Leute von der Polizeischule sind ein famoser Haufen. Wenn alle so handeln würden, hätten wir in diesem Land nichts mehr zu tun. Mein Platz ist hier, aber deiner nicht», sagte er.

«Warum hältst du mir diese Predigt? Ich reise morgen ab und habe nicht die Absicht zurückzukommen. Um mich brauchst du dir also keine Sorgen zu machen.»

«Dann hast du also nicht vor, der Bitte des Leiters der neuen Polizeischule nachzukommen? Er hat dich doch eingeladen, als Gastdozentin an der Schule zu arbeiten.»

Vala trank seinen Whisky wie Wasser. Äußerlich wies ihn allerdings nichts als Gewohnheitstrinker aus. Keine geplatzten Äderchen im gebräunten Gesicht, keine rote Nase, sein muskulöser Körper war an keiner Stelle aufgedunsen. Als Alkoholiker wäre er seinen Aufgaben auch nicht gewachsen gewesen. Vermutlich war Alkohol nur sein Heilmittel bei Rückschlägen.

«Vielleicht habe ich die Möglichkeit noch in Betracht gezogen, als wir von der Schule abgefahren sind. Jetzt nicht mehr.»

«Du bist also doch fähig, dich zu fürchten?»

«He, Soldat, glaubst du, als Polizistin lernt man das nicht? Wir trainieren das: gesunde Furcht, aber auch die Fähigkeit, trotzdem zu handeln.» Ich trank meinen Whisky ebenfalls zu schnell, obwohl mich der Geschmack an den Geruch der verkohlten Leichen erinnerte. Fremdartige Wörter gingen mir durch den Kopf. Uzuri hatte bei der Eröffnung ein Festgedicht vorgetragen, das sie selbst verfasst hatte. Darin hieß es, die Hoffnung sei wie eine Mohnblume, deren Samen die Vögel weitertragen, und nanawati, Vergebung, werde jenen zuteil, die ihre Missetaten vor dem Gesetz sühnen. Die englische Prosaübersetzung des Gedichts steckte in meiner Tasche, Uzuri hatte sie mit einem Kugelschreiber geschrieben, in kunstvoller Handschrift. Wie dachte Vala wohl über nanawati?

«Du weißt bestimmt auch, wie man die Nähe des Todes am besten vertreibt, Kallio.» Vala beugte sich zu mir und berührte mich an der Schulter. «Sex hilft dem Menschen, sich wieder lebendig zu fühlen, er ist wirksamer als Alkohol oder Drogen.»

Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was Vala sagte, und selbst dann wollte ich meinen Ohren nicht trauen. Ich stammelte, ich sei verheiratet. Das wusste er natürlich.

«Verheiratet und treu?»

Ich rückte von ihm ab. Sein Lächeln gefiel mir nicht.

«Das ist natürlich lobenswert. Und nicht besonders häufig. Rate mal, wie viele meiner Männer feststellen mussten, dass ihre Frau das Warten und den drohenden Tod nicht ertragen konnte und sich jemanden gesucht hat, der bei ihr bleibt? Ich habe meinen Söhnen eingeschärft, sie sollen bloß nicht in meine Fußstapfen treten, aber der jüngere ist jetzt auf der Kadettenschule. Der ältere wird zum Glück Verkehrspilot.»

Die spitze Bemerkung, wenn ich auf einen Seitensprung aus wäre, würde ich mir dazu auf keinen Fall ihn aussuchen, wurde ich nicht mehr los, denn Vala erhielt einen Anruf. Da das Handynetz nicht zuverlässig funktionierte, hatten die Soldaten Funksprechgeräte. Plötzlich ging mir auf, dass der Bombenanschlag bald in der ganzen westlichen Welt Schlagzeilen machen würde. Ich musste meine Familie wissen lassen, dass ich unversehrt war. Im Hotel gab es zwar ein Fax, doch von meinen Angehörigen besaß keiner mehr ein solches Gerät. Antti hatte eins am Arbeitsplatz, aber dort würde ihn die Nachricht erst am nächsten Morgen erreichen. E-Mails kamen manchmal zügig an, ebenso oft verschwanden sie jedoch irgendwo.

Valas englischsprachiges Gespräch war kurz und bestand von seiner Seite hauptsächlich aus Verneinungen. Während er sprach, trank ich meinen Whisky aus. Ich wollte schlafen, notfalls mit Hilfe von Tabletten. Vor allem wollte ich Vala loswerden. Als er sein Gespräch beendet hatte, bedankte ich mich für den Whisky und bat ihn zu gehen. Er stand langsam auf und sah mir in die Augen, so tief, dass ich am liebsten den Kopf abgewandt hätte.

«Ich bin in Zimmer sechsundvierzig, auf derselben Etage. Klopf an, wenn du Hilfe brauchst. Andernfalls sehen wir uns vielleicht beim Frühstück. Numminen bringt dich zum Flughafen, die Franzosen fliegen mit derselben Maschine nach Frankfurt.» Er gab mir die Hand. Beim Frühstück am nächsten Morgen traf ich ihn zu meiner Erleichterung nicht an.

In der Maschine nach Frankfurt blieb der Sitz neben mir leer: Er war für Ulrike reserviert gewesen. Ich wagte es nicht, während des Flugs etwas zu trinken, ich musste die Kontrolle behalten, musste vergessen … An Lauri Vala wollte ich mich nicht erinnern. Seit jenem Abend hatten wir kein Wort miteinander gewechselt. Und nun wollte er mich treffen, angeblich in einer Angelegenheit, über die er sich in seiner E-Mail nicht äußern konnte. Was für ein Unsinn!

Ich vergaß Vala in dem Moment, als Nelli Vesterinen zurückrief.

«Endlich nimmt jemand Ayans Verschwinden ernst! Wir haben uns schon gewundert, dass die Polizei nichts tut. Ayans Freundinnen haben schon schlechte Erfahrungen mit der Polizei in ihren Heimatländern gemacht, und nun werden sie auch von den Finnen enttäuscht. Ayan hätte Finnland niemals freiwillig verlassen. Hier hatte sie ihre Arbeit und ihre Freundinnen.»

Ich fragte Nelli, mit wem Ayan befreundet war.

«Mit ihren Kolleginnen aus der Lebensmittelabteilung von Stockmann in Tapiola, wo sie halbtags gearbeitet hat. Von da ist sie oft zu uns in den Club gekommen. Ich habe sie nie in Begleitung gesehen, nur manchmal hat ihr älterer Bruder sie abgeholt. Aber Miina, Ayans beste Freundin, weiß sicher mehr als ich. Sie war diejenige, die sich Sorgen gemacht hat, als Ayan nicht mehr in den Club kam. Sie ist zu ihr nach Hause gegangen, aber die Eltern haben ihr gesagt, sie wüssten nicht, wo Ayan sei. Vielleicht wissen sie es tatsächlich nicht.»

«Wie heißt Miina mit Nachnamen, und wo finde ich sie?»