Saudade - Jorn Straten - E-Book

Saudade E-Book

Jorn Straten

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Beschreibung

DAS SPIEL MIT DEM SURREALEN Zehn mystische Geschichten über die Tragweite unserer Entscheidungen und die Bedeutung unserer Vergangenheit. Eine Tour de Force zwischen Liebe, Sehnsucht, dem Tod und unserem Unvermögen, im Hier und Jetzt zu leben. Stets begleitet von der Frage: »WAS WÄRE, WENN?« Doch wie weit würde jeder von uns gehen und welchen Preis wäre er bereit dafür zu zahlen? KURZROMANE DES MAGISCHEN REALISMUS Das Romandebüt von Jorn Straten führt seine Protagonisten und Leser nach Italien, Deutschland, Frankreich, Russland und Japan, bis auf eine kleine Insel mitten im Südchinesischen Meer. BRÛLANT Ein mysteriöser Roadtrip durch Südfrankreich auf der Suche nach dem Glück. NIE MEHR HOKKAIDO Ein Leuchtturmwärter und die Grenzen zwischen Wahn und Realität. ES WAR DIE NACHTIGALL Vincents Irrtum, die Liebe und seine Suche nach Frieden. FIN DE SIÈCLE Vom Leben eines französischen Rockstars wider Willen. JANUS Ein seltsames Paar und das skurrile Leben anderer Leute. UNNÜTZ LEBEN IST DER TOD Im Sommer 1997 änderte sich sein Leben, nun will er es zurück. DAS RITUAL Joaquíns Prüfungen und die Suche nach einem neuen Leben. AM ANFANG DAS ENDE Eine nackte Frau und ein Mann auf einer Brücke in einem Pariser Park. BLUMENKINDER Julies Tagebuch über einen Trip zu den Hippies in der Camargue. MACH MAL LAUTER! Eine Reise durch die Nacht mit Elvis und einem Hula Hula Girl.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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JORN STRATEN

KURZROMANE

Jorn Straten wurde 1972 in Goslar geboren. Nach einem Abschluss in Tourismus und Marketing war er für einen Reiseveranstalter tätig. Er lebte mehrere Jahre in München und arbeitete dort u.a. für eine Fluggesellschaft, Fernsehsender und ein Münchner Verlagshaus. Mitte 2009 wurde es Zeit für Veränderungen und so zog es ihn in die Toskana, wo er für ein Unternehmen aus dem Bereich Collaborative Marketing tätig war. Später gründete er in Italien eine eigene Firma. Seit mehreren Jahren lebt Jorn wahlweise in Italien und Indonesien.

 

Der sensible Mensch leidet nicht aus diesem oder jenem Grunde, sondern ganz allein, weil nichts auf dieser Welt seine Sehnsucht stillen kann.

Jean-Paul Sartre

 

Saudade ist eine lusophone Form des Weltschmerzes. Das Konzept der Saudade lässt sich mit Traurigkeit, Wehmut, Sehnsucht, Heimweh, Fernweh oder „sanfte Melancholie“ nur annähernd übersetzen.

Das Wort steht für das nostalgische Gefühl, etwas Geliebtes verloren zu haben, und drückt oft das Unglück und das unterdrückte Wissen aus, die Sehnsucht nach dem Verlorenen niemals stillen zu können, da es wohl nicht wiederkehren wird.

 

Für Livia

Inhalt

Inhalt

Brulant

Nie mehr Hokkaido

Es war die Nachtigall

Fin de Siècle

Janus

Unnütz Leben ist der Tod

Das Ritual

Am Anfang das Ende

Blumenkinder

Mach mal lauter!

Impressum

Andere Werke

 

 

Brulant

An diesem Morgen lag die Grand Corniche völlig unberührt vor mir. Strahlend weiße Möwen flogen an einem blauen Himmel, andere hinaus auf das türkisgrüne Meer. In einer Bucht lagen Boote vor einem Dorf, das sich wie ein Pinselstrich an die Küste schmiegte. Ein Bild von Chagall, durch das ein hellgrüner Peugeot 504 fuhr, auf dessen Lack erste Sonnenstrahlen tanzten. Mit mir am Steuer, während Alain Delon „Laetitia“ im Radio pfiff. Der perfekte Tag, doch wäre er das auch ohne das Bild in meinem Gepäck gewesen?

Vor zwei Tagen hatte alles in Malamocco seinen Anfang gefunden. Mit meinem Studienabschluss in der Tasche war ich mir noch nicht über meine Zukunft im Klaren gewesen und hatte daher beschlossen, für ein paar Tage das warme Spätsommerwetter in der Lagune von Venedig zu genießen. Bei einem Spaziergang am menschenleeren Strand hoffte ich, Antworten über meine Zukunft zu finden. Ich schlenderte den Strand von Alberoni bis zur südlichsten Spitze hinunter. Die zwei auf Pfählen stehenden, kleinen Holzhütten auf der Diga Faro Alberoni standen bereits leer und die Möwen kehrten auf die Terrassen zurück. Der Lido di Venezia zeigte sich an diesem Tag von seiner besten und vor allem ruhigsten Seite.

Beim grün-weiß gestrichenen Leuchtturm am Ende der Mole war eine alte Frau dabei, die Möwen mit Brot zu füttern. Ich setzte mich auf einen der Wellenbrecher-Steine, trank etwas Wasser und aß einen der Tramezzini, die ich im Rucksack mitgebracht hatte.Plötzlich vernahm ich ein Geräusch hinter mir. Eine der Möwen, die von der alten Dame gefüttert wurden, war gegen eine leere Flasche Rotwein gestoßen, die nun über die Mole rollte. Nachts war der Leuchtturm ein beliebter Treffpunkt für die Bewohner des Lido. Ich beschloss, mich zu der Frau zu setzen.

»Guten Morgen, wie geht es ihnen?«, fragte ich sie.Sie sah zu mir auf. Ihr Gesicht war vom salzigen Wetter gezeichnet. Tiefe Falten gruben sich durch ihre Stirn. Sie trug mehrere, an einigen Stellen schmutzige und abgenutzte Kleider übereinander. Ich nahm an, dass sie eine Obdachlose war.»Man kann hören, was du denkst! Aber hab keine Sorge, nur weil ich unter den Sternen lebe. Das war meine eigene Entscheidung und ich kann auf ein erfülltes Leben zurückblicken. Niemand hat so viel gesehen wie ich und bestimmt auch nicht so viel erlebt. Glück und Trauer lagen oft beieinander, aber das Leben hätte mich auch schlechter behandeln können. Bei diesem Ort hätte es nicht bleiben müssen, aber meine Augen haben schon viel gesehen«, erklärte sie mir.»Nicht jeder kann das von sich behaupten. Ich bin mir nicht sicher, wohin mich mein Leben führen wird. Im Moment stehe ich allem noch ziemlich ratlos gegenüber«, antwortete ich.»Die Zeit wird dich lehren. Hab Geduld!«

Mir kam die Idee, meine restlichen Tramezzini mit ihr zu teilen. Sie freute sich darüber und aß langsam und mit Bedacht.»Du bist nett! Es kommt nicht oft vor, dass Menschen mit mir reden oder mir etwas zu essen geben. Eine Obdachlose, mit der will doch niemand etwas zu tun haben.«»Für mich zählt nur der Mensch.«»Das macht dich zu einem weisen Mann. Nutze deine Weisheit und du wirst es mal gut haben. Meine Tage hier sind gezählt, der Geist will, aber der Körper nicht mehr«, sprach sie nachdenklich und fragte, »Wie heißt du denn?«»Antoine. Mein Name ist Antoine.«»Das ist ein wunderschöner Name.«Dann schwiegen wir und ich dachte über ihre Worte nach. So, wie sie sich gab, kam sie wohl aus einem guten Hause. Nach einer Weile erhob sich die alte Dame und sah mich an.

»Für mich wird es Zeit, aber ich habe etwas für dich. Es wird dir gehören, solang du es haben möchtest. Viel Glück wird es dir bringen und Erfahrungen. Ist es nicht das, was du suchst, bevor du deine Entscheidungen für das Leben treffen wirst?«

Fragend schaute ich die Dame an. Sie wühlte in ihrem Leinensack und zog etwas heraus. Es war eine alte, verzierte Blechschatulle, die sie da in den Händen hielt.»Da, nimm und werd’ glücklich! Bei mir hat es, mit ein paar Ausnahmen, funktioniert. Jetzt wird es Zeit, zu gehen. Das Glück benötigt einen neuen Herrn. Bedenke nur, es muss immer in deiner Nähe sein! Stets musst du dem Bild folgen, denn mit der Entfernung schwindet das Glück!«Ich schaute sie fragend an: »Dem Bild folgen? Was meinen Sie damit?« Doch da schüttelte die alte Dame schon mit der Schatulle, die sie mir entgegenhielt. Mein Arm sackte etwas nach unten, da ich nicht damit gerechnet hatte, dass der Inhalt so schwer sein würde. Die Schachtel war quadratisch, sehr tief und etwas größer, als ein aufgeschlagenes Buch.»Aber sie können mir doch nichts schenken!«»Wieso kann ich das nicht?«, entgegnete sie und kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, war sie auch schon hinter dem Leuchtturm verschwunden.Behutsam stellte ich die Schachtel auf meine Knie und versuchte vorsichtig, sie aufzumachen. Erst ließ sie sich nicht öffnen, doch schließlich gab der Deckel nach. In der Schachtel befand sich ein weißes Leinentuch, in dem etwas eingewickelt war. Ich schlug die Seiten des Tuches nacheinander auf und erblickte ein Ölbild. Es war in einem Goldrahmen mit Verzierungen eingefasst. Auf ihm war die Rückseite des Leuchtturms mit der zugehörigen Treppe zu sehen. Auf der Treppe saß die alte Dame, die Möwen fütterte. Sogar die umgefallene Weinflasche war zu sehen. Das Bild war mit sehr großer Hingabe zum Detail gemalt worden. Auch unschöne Dinge hatte der Maler nicht ausgelassen. So konnte ich den gleichen Haufen Geröll rechts von der Treppe entdecken, auf den ich schaute. Auch die Graffiti an der weißen Wand des Leuchtturms, wie etwa die Pistole, die eine Kugel abfeuerte, und verschiedene Tags der Künstler waren absolut wahrheitsgemäß wiedergegeben. Das Ölbild zeichnete sich durch einen sehr realistischen Malstil aus und stand einem Foto in nichts nach.Ich faltete das Leinentuch über dem Bild zusammen und schloss die Metallschachtel wieder. Sie war mit heraldischen Elementen wie Ähren, Pflanzen, Trauben und Blüten verziert. Auf einer Banderole, die sich von links unten nach rechts oben zog, konnte ich ein Zitat von Victor Hugo herauslesen: »Le bonheur est parfois caché dans l'inconnu«. Die Schatulle und das Bild waren aufwendige Arbeiten und für manch einen Sammler sicherlich von einigem Wert.Ich warf meinen Rucksack über die Schulter, nahm die Schatulle und rannte um den Leuchtturm, mit der Absicht, der alten Dame diese kostbare Schatulle wieder zurückzugeben. Auf der Mole, die zum Strand führte, war die alte Dame jedoch nirgends mehr zu sehen.

Als ich wieder nach Malamocco zurückkehrte, fühlte ich mich zwar schwach, aber innerlich glücklich. Ich duschte, zog mich um und fuhr mit dem Linienbus bis zur Anlegestelle für die Traghetti. Von dort spazierte ich auf der Hauptmeile und genoss die Luft, die kühler geworden war. Als ich an einem Tabakladen vorbeikam, kaufte ich mir eine Schachtel Zigaretten und ein Los. Für das zukünftige Leben, das noch vor mir lag, wäre etwas Geld sicherlich nicht der schlechteste Schachzug. Ich steckte alles ein und ging in die Bar Nove. Dort bestellte ich einen Spritz und eine Pizza. Nachdem ich fertig gegessen hatte, erinnerte ich mich an mein Los. Hastig kramte ich es hervor und rubbelte die Felder mit einer Münze frei. Ein Freudenschrei entfuhr mir. Einige Gäste drehten sich nach mir um. Ich hatte mit meinem Los tatsächlich gewonnen. Der Gewinn betrug satte 60.000 Euro! Mein Leben fing an, mir zu gefallen.Zwei Tage später fühlte ich mich nicht mehr wie ein glücklicher Gewinner. Ganz im Gegenteil, es machte sich eine gewisse Melancholie in mir breit. War das der Beweis, dass Geld allein nicht glücklich machen konnte? Als ich auf meinem Bett saß, blieb mein Blick auf der Metallschatulle liegen. Ich stand auf, ging zum Schreibtisch und öffnete sie. Wieder faltete ich behutsam das weiße Leinentuch auf. Als ich auf das Bild blickte, traf mich der Schlag! Die alte Dame und der Leuchtturm befanden sich nicht mehr darauf. Anstelle dessen sah ich das Hotel Negresco und zwei Personen, die im Eingang standen. Es war eine schöne Frau im schwarzen Mini mit langen, blonden Haaren, die ihre Arme um jemanden in einem schwarzen Anzug schlang. Ich schaute mehrfach auf das Bild, konnte meinen Augen kaum trauen. Der Mann, das war ich selbst! Sollte das bedeuten, dass ich kurz davor war, meinen Verstand zu verlieren? Die alte Dame hatte mich indirekt vor dem Inhalt der Schatulle gewarnt: »Bedenke nur, es muss immer in deiner Nähe sein! Stets musst du dem Bild folgen, denn mit der Entfernung schwindet das Glück!«Das Glück kam auf merkwürdigen Wegen zu mir. Wenn ich klaren Verstandes war, ergaben sich nur zwei Möglichkeiten. Entweder war jemand bei mir eingebrochen und derjenige hatte das Bild neu gezeichnet oder eine unbekannte Macht hatte das Bild gemalt. Es gab noch eine weitere Lösung, die ich aber von mir wies, denn sie hätte bedeutet, dass ich unter Halluzinationen litt. Ich entschied mich für die unbekannte Macht. Auch, wenn ein Einbruch wahrscheinlicher war. Aber wer und vor allem warum sollte jemand ein Bild neu malen? Seit ich das Bild besaß, waren mir gute Sachen widerfahren. Welchen Grund gab es also, die Dinge zu hinterfragen?Die alte Dame sagte, dass ich dem Bild folgen müsse. Es war schon länger her, dass ich Frankreich besucht hatte. Mir gefiel der Gedanke, meiner Heimat einen Besuch abzustatten. Ein Grinsen machte sich breit. Kaum zwanzig Minuten später stand ich mit gepackter Tasche im Raum und rief: »On y va! Let’s go to Nizza!«

Nachdem Alain Delon im Radio verklungen war, spielte der Sender noch einige Hits von Jacques Dutronc, Françoise Hardy und Serge Gainsbourg. Kurze Zeit später erreichte ich die Ausfahrt für Nizza. Als ich die Promenade des Anglais erreichte, war der Strand zwar noch leer, aber es waren bereits einige Touristen in kurzen Hosen unterwegs.

Ich hielt direkt vor dem Hotel Negresco, wo der Wagenmeister meinen Autoschlüssel verlangte und ein Page mir mein Gepäck abnahm. An der Rezeption entschied ich mich für eine Suite. Bei dem Preis war die Nutzung des Parkplatzes inbegriffen, was mich grinsen ließ, denn vor ein paar Tagen hätte ich mir noch nicht einmal ein einfaches Zimmer in Nizza leisten können. Als ich die Tür der Suite öffnete, fühlte ich mich etwas fehl am Platz, denn sie war mit eleganten Vorhängen eingerichtet und verfügte sogar über ein separates Wohnzimmer. Natürlich mit einem fantastischen Meerblick.Nachdem ich geduscht hatte, bestellte ich ein kleines Frühstück auf mein Zimmer. Anschließend zog ich mir frische Sachen an und ging auf der Promenade spazieren. Zum Mittagessen besuchte ich die Bar Les Distilleries Idéales. Nach einem Kaffee fühlte ich mich noch immer sehr müde und beschloss, ins Hotel zurückzukehren. Dort angekommen, bat ich den Portier, mir einen Anzug in meiner Größe zu besorgen, da ich vorhatte, abends auszugehen. Er nahm meinen Auftrag an und sagte, dass mir ein Zimmermädchen gegen Abend alles bringen würde. Völlig geschafft von der Fahrt, legte ich mich auf das riesige Doppelbett und schlief sofort ein. Ein Klopfen an der Tür ließ mich hochschrecken. Das Zimmermädchen brachte mir, wie versprochen, meinen Anzug. Er passte wie angegossen. Nun konnte mich eine lange Nacht erwarten.Ich flanierte über die Promenade bis zum Jardin Albert, um dort in einem Billardsalon zu spielen. Am Eingang lag ein Flyer mit Werbung für das Casino Monte-Carlo. Ich bekam Lust auf das Spiel mit dem Feuer. Wann hatte ich das letzte Mal um Geld gespielt? Wenn alles stimmen sollte, konnte ich nur gewinnen. Immerhin existierte ein Bild, auf dem ich zu sehen war, mit freudestrahlendem Gesicht vor dem Hotel Negresco, zusammen mit einer Blondine, die ich noch nie gesehen hatte. Also hielt ich nach einem Taxi Ausschau. Ich hatte Glück und so befand ich mich schon wenige Minuten später auf dem Weg zum Casino Monte-Carlo.

Vor meiner Fahrt nach Nizza hatte ich 30.000 Euro abgehoben. Fünfzehn davon trug ich bei mir, während die andere Hälfte im Hoteltresor lag. Nachdem ich im Casino mein Geld in Jetons gewechselt hatte, suchte ich mir einen der Roulette Tische aus. Ich legte 15.000 Euro Jetons auf dem Spieltisch. Der Croupier sah mich an und spürte, dass ich größeres im Sinn hatte. Schließlich bat er um meinen Einsatz. Ich setzte 5.000 Euro auf Schwarz. Um mich herum fanden sich einige Neugierige ein. Die Kugel rollte unendlich lange, sprang von einem Fach zum nächsten, bis sie endlich liegen blieb. Auf Rot! Ärgerlich raufte ich mir die Haare. Etwas in Rage setzte ich die restlichen 10.000 Euro. Erneut alles auf Schwarz. Wieder lief die Kugel, die Zeit dehnte sich ins Unendliche und kam zum Stillstand. Ich sah zweimal hin. Beim ersten Mal war ich mir unsicher, doch dann sah ich das Fach, in dem die Kugel lag. Die Farbe und die Zahl wurden immer größer vor mir. Es kam mir vor, als ob es nichts anderes geben würde, außer dieser Farbe und Zahl. Der Croupier verkündete laut: »21, rot« Wie ein Echo hallte seine Stimme in meinen Ohren. Ich hatte in nur zwei Spielen 15.000 Euro verloren.Unter den Augen der anderen Gäste stand ich benommen auf, verließ leicht schwindelig den Tisch und das Casino, ohne mich noch ein einziges Mal umzudrehen.Niedergeschlagen von den hohen Verlusten, schritt ich vor dem Casino auf und ab. Wo war mein Glück geblieben? Was sagte die alte Dame noch zu mir? »Bedenke nur, es muss immer in deiner Nähe sein! Stets musst du dem Bild folgen, denn mit der Entfernung schwindet das Glück.« Was für ein Idiot war ich! Das Bild lag doch im Tresor in Nizza!Eilig rannte ich zur Straße und rief ein Taxi zum Hotel Negresco herbei. Dort angekommen, bat ich den Fahrer, auf mich zu warten. Nachdem ich endlich meine Suite erreicht hatte, holte ich das Bild aus dem Tresor und legte es in meinen Leder Duffle Bag. Anschließend eilte ich zum Fahrstuhl und Sekunden später saß ich schon wieder im Taxi.»Zurück, zum Casino bitte!«, wies ich den Fahrer völlig außer Atem an.Während der Fahrt öffnete ich die Tasche und vergewisserte mich, alles dabei zu haben. In der Tasche lagen die Schatulle und weitere 15.000 Euro.

Ich bezahlte den Fahrer und gab ihm ein gutes Trinkgeld. Am Eingang des Casinos begrüßte man mich nett, als wenn ich ein gern gesehener Kunde wäre. Wieder tauschte ich das Geld in Jetons, dann sah ich mich nach einem neuen Tisch um. Ich brannte darauf, zu wissen, woran ich mit dem Bild und seinem Versprechen war.»Faites vos jeux!«, verkündete der Croupier und schaute mich eindringlich an. Ich schob alle Jetons auf das Feld, sagte: »15.000 auf Rot«, und schloss meine Augen.Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bis der Croupier endlich sprach: »Rien ne va plus.«Kurze Zeit später hörte ich, dass sich die Kugel nur schwer für eines der Felder entscheiden konnte. Sie sprang von einem Fach zum nächsten. Dann vernahm ich deutlich: »Rot gewinnt!«Die Stimme des Croupiers hallte in meinem Kopf. Ich ballte die Fäuste und wollte schreien, riss mich aber zusammen.Für das nächste Spiel ließ ich den Gewinn und meinen gesamten Einsatz auf Rot liegen. Routiniert führte der Croupier das Spiel fort. Wieder kam die Farbe Rot und erneut ließ ich alle Jetons liegen. Im darauffolgenden Spiel wiederholte ich das Ganze. Erneut gewann die Farbe Rot.

Weiter wollte ich das Glück aber nicht herausfordern. Daher verlangte ich vom Croupier größere Jetons und deutete ihm, dass ich nicht weiter spielen würde. Vor mir lagen tatsächlich 120.000 Euro! Ich nahm die Tasche, die zuvor zwischen meinen Beinen gestanden hatte, und verließ den Tisch. Als ich die Jetons umgetauscht hatte, verstaute ich den Großteil des Geldes in meinen Duffle Bag und einen kleinen Teil in meinem Jackett. Mein neu gewonnenes Glück blendete wohl meine Umgebung aus, denn ich stieß versehentlich mit einer Frau zusammen. Sie war schlank, trug ein enges, schwarzes Minikleid und hatte lange blonde Haare.»Oh, das tut mir sehr leid.«»Nicht der Rede wert«, antwortete sie mit einem Lächeln. Dann fügte sie hinzu: »Sind wir uns vielleicht schon mal begegnet?«»Kann sein, wer weiß das schon.«»Alles auf Rot?«»Alles auf Rot.«»Die Farbe der Liebe und des Kämpfers. Kraft, Feuer, Leidenschaft. Sind Sie leidenschaftlich?»»Das kommt auf die Gelegenheit oder die Person an. Darf ich Sie zum Essen einladen?«»Aber gerne doch«, antwortete sie mit einem vielversprechenden Lächeln. Mir fiel auf, dass ich meinem Alter entsprechend viel zu förmlich sprach. Vielleicht lag es daran, dass die hübsche Blonde etwas älter als ich war.

Wir fuhren mit dem Taxi zum Hotel und ich bat sie, im Foyer zu warten. Nachdem ich das Bild und 110.000 Euro im Tresor eingeschlossen hatte, eilte ich hinunter. Ganze 10.000 Euro trug ich an mir und kam mir unsterblich vor. War das, was ich spürte, die Macht des Geldes?

Sie lächelte, als sie mich wiedersah.»Dann wollen wir mal«, sagte ich zu ihr. Sie nahm meine Hand und antwortete: »Was auch immer wir wollen.«Wir aßen in einem der besten Fischrestaurants der Stadt und feierten. Erst mit Champagner, schließlich mit Wodka. Schon nach der ersten Flasche waren ihre Absichten mehr als deutlich. Dieser Rausch, ein Blizzard, der laut in den Ohren tobte und meinen Kopf in alle Richtungen drehen ließ. Eine mit sich reißende Sucht, die aus Trinken, Küssen und ihrem Lächeln bestand. Es drehte langsam, dann immer schneller, unser Kettenkarussell, in dem wir uns durch Raum und Zeit drehten. Immer wieder Perlen des Champagners im Glas, rote, geöffnete Lippen und ihren Hals, den sie mir anbot, den ich küsste, manchmal leicht biss, weil mir ihr Duft die Sinne nahm.

Während des Sonnenaufgangs spazierten wir durch die schlafenden Straßen Nizzas. Als wir mein Hotel erreichten, blieben wir am Eingang stehen und ich fragte sie, ob sie mich noch auf mein Zimmer begleiten würde. Sie schlang ihre Arme um mich und antwortete verführerisch:»Was dachtest du denn?«

Als ich in meinem Anzug erwachte, war das Bett neben mir leer. Mein Kopf dröhnte unheimlich und meine Augen schmerzten vom grellen Licht, das durch die Fenster schien. Ich sah, dass die Tür des Kleiderschrankes, in dem sich auch der Tresor befand, offen stand. Hastig schleppte ich mich hin und öffnete den Tresor. Die Schachtel und das Geld waren noch da. Vor dem Bett auf dem Boden entdeckte ich das Jackett meines Anzugs. Ich fingerte in die Innentasche. Leer! Sie hatte mich tatsächlich bestohlen. Das waren sicher noch 8.000 Euro. Aber mir blieb noch immer so viel Geld. Ich gönnte ihr das Spielchen, welches sie bestimmt nicht zum ersten Mal abgezogen hatte. Mit der Kohle saß sie vermutlich schon in einem Flugzeug nach Paris. Sollte die Kleine mit dem Geld doch ausgiebig shoppen gehen. Sie hätte sowieso nicht zu mir gepasst.

Ich beschloss, es mir erst mal gut gehen zu lassen und startete den Tag mit einem verfrühten Mittagessen, das ich an der Rezeption bestellte und der Zimmerservice auf einem Wagen in meine Suite rollte. Es schmeckte hervorragend und ließ mich den bitteren Beigeschmack der letzten Nacht vergessen. Trotzdem war es ein toller Abend gewesen. Dem Geld weinte ich keine Träne nach. Nach dem Essen nahm ich ein Bad und schlief fast sofort ein.

Als ich etwas später erwachte, flutete die Sonne mein Zimmer. Ich ging zum Tresor und nahm die Schatulle heraus. Das Bild hatte sich schon wieder verändert. Dieses Mal zeigte es einen See mit türkisblauem Wasser, der in eine Schlucht führte. Man sah ein paar Kanus und Tretboote im Wasser und einen Mann in schwarzen Badeshorts, der von einer Brücke sprang. Wo mochte das wohl sein? Ich packte meine Sachen. Kurze Zeit später stand ich an der Rezeption und zahlte die Rechnung. Als ich gehen wollte, fiel mir ein, dem Portier das Bild zu zeigen, um so den Namen des Ortes herauszubekommen. Ich holte es aus der Schatulle heraus und hielt es ihm hin.»Eine schöne Arbeit. Das ist der Lac de Sainte-Croix! Da war ich schon. Und die Brücke, sie müsste an der Verdonschlucht sein.«Das brachte mich ein gutes Stück weiter. Auch, wenn ich nicht wusste, was noch auf mich warten würde. Ich gab dem Portier ein gutes Trinkgeld und verabschiedete mich vom Personal.

Nach knapp zwei Stunden erreichte ich den Lac de Sainte-Croix. Vor mir lag der wohl schönste See Frankreichs. Die Sonne schien und das Wasser funkelte türkisblau. Mit den leuchtenden Felsen, dem Strand und den grünen Wäldern wirkte es fast schon kitschig. Alles sah aus, wie auf meinem Bild. Also musste ich hier richtig sein. Auf einem Schild stand Gorges du Verdon. Ich bog dorthin ab, denn der Portier meinte, das Bild wäre an der Verdonschlucht gemalt worden. Die Strecke war malerisch und ab und zu hielt ich an, um auf den See zu blicken. Da lag schon ein wunderschönes Stück Natur vor mir.Nach einigen Kilometern erreichte ich einen großen Parkplatz, auf dem schon einige Autos standen. Gedankenverloren fuhr ich an einem Schild vorbei, auf dem Pont du Galetas geschrieben war. Ich verlangsamte etwas, denn auf der Brücke waren einige Menschen, die in die Schlucht hinunterschauten. Andere liefen quer über die Straße, um von der gegenüberliegenden Seite ein Foto vom See machen zu können. Die Aussicht war wirklich einzigartig. Der Parkplatz auf der anderen Seite der Brücke war voll, also entschied ich mich, wieder zurückzufahren.Als ich endlich geparkt hatte, zog ich mir meine schwarzen Badeshorts an. Fast alle Besucher liefen in Badesachen herum. Es war warm und ein Sprung ins kühle Nass war nicht die schlechteste Idee dieses Tages. Also ging ich auf die Brücke, über die ich zuvor gefahren war. Obwohl ich mal Springer war, kam sie mir doch sehr hoch vor. Hinzu kam, dass einige Schilder vor dem Hinunterspringen warnten, nein sogar darauf hinwiesen, dass es verboten sei. Wie auch immer, ich wollte springen, denn mich reizte die Gefahr. Oder war es meine Sucht nach Adrenalin?Ich stieg über das Geländer und sprang, ohne lange zu warten. Das Wasser war hart, als ich mit den Füßen eintauchte. Vom Springen von dieser Brücke war wirklich abzuraten.Mir fiel mein Bild ein, auf dem man einen Mann sah, der mit schwarzen Badeshorts von der Brücke sprang. War ich gesprungen, weil ich es wollte oder hatte das Bild eine gewisse Macht über mich? Wohin würde mich wohl meine Reise noch führen? Was würde mich hier in der Provence erwarten? Langweilig wurde es mir mit dem Bild und seinen Prophezeiungen wenigstens nicht.

Nachdem ich schwimmend das Ufer erreicht hatte, bahnte ich mir einen Weg durch das Gestrüpp. Erst, als ich zurück zum Parkplatz kam, wurde mir bewusst, wie leichtsinnig ich gewesen war, das ganze Geld unbeaufsichtigt im Auto zu lassen. Aber das Glück meinte es wohl gut mit mir. Mein Auto stand unversehrt am gleichen Platz. Nachdem ich mir frische Sachen angezogen hatte, stieg ich ein und fuhr erneut über die Brücke. Mein Ziel war die Hochebene hinter Moustiers-Sainte-Marie, die mich laut Karte nach Saint-Croix-du-Verdon bringen sollte. Wenn ich schon mal hier war, wollte ich wenigstens den ganzen See kennenlernen.

Von der anderen Seite des Sees bekam ich einen Eindruck davon, wie sich die Landschaft zusammensetzte. Als ich in das Dorf Sainte-Croix-du-Verdon einbiegen wollte, versperrten Schilder die Straße. Ein Polizist, der zu meinem Auto kam, teilte mir mit, dass ich wegen eines Unfalls nicht in den Ort fahren könne. Da ich etwas hungrig war und mir sowieso ein Bistro oder Restaurant suchen wollte, störte es mich nicht groß. Meistens bevorzugte ich kleinere Orte, das hatte sich in der Vergangenheit nicht nur bei der Qualität des Essens, sondern auch bei den Gästen bewährt.Auf meiner Karte entdeckte ich ein kleineres Dorf namens Bauduen, das direkt am See lag. Ich beschloss, dort mein Glück zu versuchen. Als ich ankam, war ich froh, dass dieses Dorf von den Touristenströmen verschont geblieben war. Die Straßen wirkten wie leer gefegt.Gleich an der Seepromenade parkte ich meinen Peugeot und entschied mich für ein kleines Bistro. Als Tagesgericht war in Kreide Tatar auf einer Tafel angeschrieben. Ein Gericht, das ich generell nur in Frankreich aß. Ein guter Rotwein würde es optimal ergänzen.Ich trat ein und mir wurde klar, wo sich die Menschen dieses Dorfes aufhielten. Es freute mich, ausschließlich Franzosen reden zu hören. Da sich die Gäste über den Wein der Region und dessen Ernte unterhielten, ging ich davon aus, dass sie Einheimische und keine Touristen waren. Ich bahnte mir meinen Weg durch die Menschenmenge, als mir der Kellner von der Bar zurief, dass nur noch ein letztes Tatar übrig wäre. Ich nickte zustimmend und sah, wie er in der Küche verschwand. Nur ein einziger Tisch war noch eingedeckt und an ihm saß eine richtig Hübsche in meinem Alter. Ihre Haare waren kurz rasiert und rosafarben. Selbst ihre Lippen und Augenbrauen hatten die gleiche Farbe. Alles an ihr war rosa. Das gab ihr eine gewisse Frische und auch etwas Freches. Nur ihre Augen, die waren grün und sie schauten mich sehr freundlich an.»Ist hier noch frei?«, fragte ich.»Klar, setz dich. Ich bin gleich weg.«»Von mir aus darfst du gern bleiben«, antwortete ich grinsend.»Wenn du hier gesessen hättest, hätte ich das auch gesagt.«Mit ihren grünen Augen schaffte sie es, mich in Verlegenheit zu bringen. Sie grinste leicht und so bekam ich fast nicht mit, dass der Kellner versuchte, mir das Tatar zu servieren. Es sah lecker aus, sie sah lecker aus. Ich griff nach dem Pfefferstreuer und bemerkte nicht, dass die Hübsche mit den rosa Haaren dasselbe im Sinn hatte. Unsere Finger berührten sich kurz und mir kam es vor, als ob ich einen Stromschlag bekommen hätte, fast wie an einem elektrischen Zaun. Er fuhr durch meine Finger, meinen Arm, schoss in mein Herz. Ich zog die Hand blitzartig zurück und sah, dass sie dasselbe tat.Durch die Menge der Gäste konnte ich nur kurz den Kellner sehen. Bestimmt war es ihr Vater, denn er rief laut durch das Bistro: »Zoé, bist du fertig? Hier brennt’s ziemlich!«So hieß sie also. Welch seltener und schöner Name.»Ja klar. Ich bin gleich bei dir.«Bevor sie in der Menge verschwand, zwinkerte sie mir zu. Sie gefiel mir sehr, diese Zoé mit ihren rosa Haaren.Das Tatar schmeckte hervorragend, leider auch der Wein, von dem ich eine weitere Karaffe bestellte. Erst, als sich der Laden leerte, konnte ich Zoé hinter dem Tresen entdecken. Ich stand vom Tisch auf und ging zu ihr.»Das war klasse, wirklich!«»Ich geb’ mein Bestes.«»Das sieht man, ich meine, das merkt man.«Wirklich im Griff hatte ich mich wohl nicht mehr. Aber das war auch kein Wunder. Ihre weiße Haut, ihr rosafarbenes Haar und, als ob das noch nicht reichen würde, ihr süßes Lächeln. Sie warf mich aus der Bahn.»Machst du mir noch einen Kaffee?«»Klar«, sagte sie nickend, während sie ihre Mundwinkel leicht nach oben zog. Schließlich drehte sie sich zur Espresso-Maschine. Erst in diesem Moment fiel mir ihr Hintern in einer verdammt engen Hose auf. Ich hoffte nur, dass sie im Spiegel der Bar nicht mein Gesicht gesehen hatte.Sie stellte den Espresso vor mir auf den Tresen und gab mir die Rechnung, die ich großzügig aufrundete.»Suchst du noch was zum Schlafen?«Ich zuckte zusammen und verschüttete etwas Kaffee.»Keine Angst. Nicht bei mir, nur so überhaupt. Du siehst aus, als ob du auf der Durchreise wärst.«»Du kennst dich mit Menschen aus«, antwortete ich, »Ja, ich such noch was zum Schlafen.«»Ich hab’ jetzt Feierabend, oder?«, rief sie ihrem Vater, der daraufhin griesgrämig nickte. Sie warf ihre Schürze auf einen Hocker und im nächsten Moment stand sie schon neben mir.»Komm! Wenn du mich mitnimmst, zeig ich dir deine Unterkunft. Mit einer richtig guten Bar für lange Abende!«Sie nahm ihre Tasche, ihr Handy und zog mich am Arm hinter sich her. Schon standen wir vor dem Bistro, gewöhnten uns an das grelle Licht und gingen auf den Parkplatz zu. Mein Auto war das einzige, das dort allein stand.»Das ist dein Auto? Wie geil!«Sie war hin und weg von meinem Peugeot 504. Die alte Coupé-Version mit hellgrünem metallic Lack war nur noch schwer zu bekommen. Bei mir war es reine Glückssache gewesen damals – ein Scheunenfund. Wir stiegen ein und Zoé schaute sich völlig begeistert im Auto um.Kaum fuhren wir auf der Straße um den See, stellte sie das Radio an. Die Ramones gaben mit „I want you around“ ihr Bestes. Zoé hielt während der Fahrt ihren Kopf aus dem Fenster und genoss den Song. Dieser rosafarbene Wirbelwind spielte sogar Luftgitarre dazu. Als der Song verstummte, spielte „Moins joli“ von Iliona und Zoé fing an zu singen. Sie hatte eine unglaublich schöne Stimme.

Nach einer knapp halbstündigen Fahrt hatten wir einen Ort namens Artignosc erreicht. Die Straße führte uns direkt auf den Marktplatz, auf dem ein alter Brunnen stand. Dort befand sich eine Bar im traditionellen französischen Stil. Ein paar Senioren spielten Pétanque unter den Platanen, das Klicken der Kugeln war deutlich zu hören. Von Touristen fehlte glücklicherweise auch hier jede Spur.»Die Bar hat zwei Gästezimmer. Die sind einfach eingerichtet, aber dafür ist ihr Bistro echt gut«, erklärte Zoé und fragte, »Kannst du mich vielleicht zu Hause absetzen?«»Na klar. Wo lang denn?«Sie lotste mich durch den Ort, bis wir auf eine kleine Straße gelangten, die in eine Schotterpiste überging. Kaum lag der Ort hinter uns, befanden wir uns mitten im Grünen.»Hier rechts, geradeaus und wieder links«, sagte sie ruhig und spielte dabei an ihrem Handy. Die Strecke ging leicht bergauf und als ich abgebogen war, tat sich vor uns eine kleine Ebene auf. Zoé deutete mir, nach der Kurve einfach über den Rasen zu fahren.»Da sind wir schon«, sagte sie erfreut.Wir standen vor einem wunderschönen, alten Cabanon mit blauen Fensterläden.»Treffen wir uns in der Bar? Vielleicht gegen acht?«»Das würd’ mich freuen«, antworte ich ihr.Zoé stieg aus und sperrte den Fensterladen ihrer Tür auf. Sie drehte sich noch einmal um, grinste mich an und war verschwunden. Ich legte den ersten Gang ein und machte mich auf den Weg zurück zur Bar. Die Inhaber waren sehr freundlich und tatsächlich hatten sie noch ein Zimmer frei. Ich schloss das Geld und das Bild im Tresor ein und ging duschen. Aus meiner Tasche holte ich eine Jeans und ein schwarzes T-Shirt heraus. Das sollte gut für den Abend passen.

Gegen acht ging ich die Treppe zur Bar hinunter. Es war luftig, denn nur ein Teil der Bar war überdacht. Mir gefiel die Musik und auch gegen die Leute hatte ich nichts einzuwenden. Gerade, als ich mir etwas bestellen wollte, sah ich Zoé mit einem alten, schwarzen Hollandrad vorfahren. Sie lehnte es gegen eine Laterne, die zwischen den Platanen der Pétanquespieler stand und kam leichten Fußes in die Bar.Als sie mich am Ende des Tresens entdeckte, winkte sie mir lachend zu. Zur Begrüßung küsste sie mich auf meine Wange. Ihre Haut roch leicht nach Pfirsich.»Was möchtest du trinken, Zoé?«»Wie wär’s mit Rotwein?«Ich nickte und bat sie, eine Flasche ihres Lieblingsweins zu bestellen.»Wie heißt du eigentlich?«»Antoine, ich heiße Antoine.«»Santé, Antoine. Danke für die Einladung!« Zoé schaute mir tief in die Augen.Mir gefiel, dass sie so unkompliziert war. Wir bestellten uns eine große Pizza, die wir uns gleich am Tresen teilten. Wahrscheinlich hätte ich tagelang dort sitzen können, um ihr zuzuhören. Es war lange her, dass ich mich so gut unterhalten hatte. Ihr Lachen, es war ihr Lachen, dass alles ins Rutschen brachte, meinen Blick von ihrem Mund zu ihren grünen Augen wandern ließ. Es war wie ein Sog, in den ich mich, in den wir uns fallen ließen. Bis wir uns nach der dritten Flasche in den Armen lagen und ich ihren Körper roch. Sie fühlte sich so leicht, so frisch, so frei an. Fast so wie mein neues Leben.

Als die Bar schließen wollte, bat ich Zoé, nicht mit dem Fahrrad nach Hause zu fahren. Es war ja nicht gerade unüblich, dass hier auf dem Land der eine oder andere völlig betrunken nach Hause fuhr.»Bitte bleib Zoé! Ich schlafe auch auf dem Boden«, sprach ich, bettelte sie an, bis sie mir antwortete:»Ich bleibe nur, wenn du im Bett schläfst. Und zwar mit mir.«

Sie nahm meine Hand und zog mich hinter ihr her. Im Zimmer angekommen, umschlang sie mich sofort und wir drehten uns wie im Tanz. Wir fielen übereinander her, als wenn das jüngste Gericht auf uns warten würde. Wie im Taumel, im freien Fall, fielen wir auf das Bett. Es war der beste Sex meines Lebens.Als ich aus der Dusche kam, war das Feuer in uns noch nicht erloschen. Sie hatte vor mir geduscht und stand nackt, vom Wasser tropfend am geöffneten Fenster. Ein kühler Wind zog herein und ich sah, wie sich ihre feinen Härchen am Körper aufstellten. Ich strich durch ihre nassen Haare, hob sanft ihr Bein und drückte sie gegen die Fensterbank. Dort liebten wir uns ein weiteres Mal. Sie schrie so laut, dass ich ihr kurz den Mund zuhalten musste.Später lachten wir über uns, rauchten eine Zigarette am Fenster und sahen dem alten 2CV eines Bäckers hinterher, der langsam durch die dunkle Gasse fuhr. Zoé streichelte über meine Schläfe, ließ ab von mir und ging zum Bett. Einige Zeit lagen wir noch nackt auf der Decke und blickten wortlos in die Dunkelheit. Über uns drehte sich der Ventilator und zeichnete Bilder aus Schatten und dem Licht einer Straßenlaterne an die Decke. Wir hielten uns an der Hand und spürten eine leichte Brise auf unserer Haut. Durch das Fenster drang das Geräusch des Windes, der leise sang, uns einlullte und mitnahm, ins Reich der Träume.

Es war hell, als ich aufwachte und Zoé beim Schlafen zusah. Erste Sonnenstrahlen fielen auf ihr Gesicht und ich konnte mein Glück kaum fassen. Als es an der Tür klopfte, wickelte ich mir ein Handtuch um und öffnete. Auf dem Boden stand ein Tablett mit Croissants, O-Saft und Café. Ich nahm es ins Zimmer und stellte es an das Fußende unseres Bettes. Vorsichtig legte ich mich neben Zoé. Sie wirkte so unschuldig, so rein und als sie ihre Augen öffnete, verlor ich mich wieder in deren Grün.

Nach dem Frühstück duschten wir, dann packte ich meine Sachen und zahlte die Rechnung an der Bar. Zoé hatte darauf bestanden, dass ich alle weiteren Tage mit ihr im Cabanon verbringen solle. Ihr Vater, der allein in Bauduen lebte, hatte ihr eine Woche freigegeben. Wir verbrachten unsere Zeit damit, hinter dem Haus im Grünen zu sitzen, etwas zu essen und so oft, wie nur möglich, miteinander zu schlafen. Es war mit Abstand die schönste Zeit meines Lebens. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute genoss ich mit ihr. Ich dachte weder an das Bild noch an das Geld in meiner Tasche. Bis zu dem einen Tag, an dem meine Stimmung von Euphorie in Melancholie kippte. Hing es etwa mit dem Bild zusammen? Es war ein bewölkter Tag, an dem Zoé nach dem Essen mit dem Fahrrad aufbrach, um im Ort ein paar Dinge zu kaufen. Etwas zog an mir und so beschloss ich, einen Blick auf das Bild zu werfen.

Meine Befürchtungen waren leider wahr. Es zeigte nicht mehr die Brücke am Lac de Sainte-Croix an. Vielmehr sah ich ein altes, prunkvolles Gebäude, mit einer Uhr in der Mitte, deren Zeiger auf elf Uhr standen. Es handelte sich um einen Platz in der Nacht, der von einem warmen, gelblichen Licht verschiedener Laternen illuminiert wurde. In der Mitte dieses Platzes stand ein düsterer, schwarz gekleideter Mann. Sein Gesicht wirkte faltig und aschfahl. Seine Kleidung bestand aus einem alten Wrack und einem Zylinder. An den Händen trug er schwere, silberne Ringe, während er sich mit seiner rechten Hand auf einem, mit Ornamenten versehenen, Gehstock abstützte. War das, was dort an seinem Ärmel herausschaute, etwa der Kopf einer Schlange? Diesen Typen einzuordnen, fiel mir schwer. Er lag irgendwo zwischen Totengräber in Rente, Ausgeburt der Hölle und einem egozentrischen Drogendealer. Zumindest war er einer dieser Typen, denen man tunlichst aus dem Weg gehen sollte, es sei denn, man hängt nicht mehr allzu sehr an seinem Leben.Dieses Mal erkannte ich sofort den Ort des Bildes. Es war das Capitol, das Wahrzeichen der Ville Rose, besser bekannt als Toulouse.

Als ich hörte, wie die Haustür aufgeschlossen wurde, legte ich das Bild wieder zurück in die Schatulle. Meinen melancholischen Gemütszustand führte ich tatsächlich auf das Bild zurück. Mir wurde klar, dass es Zeit war, aufzubrechen. Ob ich wollte oder nicht, ich hatte dem Bild zu folgen.Zoé kam ins Zimmer und sah mich nachdenklich auf dem Bett sitzen. Sie hatte heute Morgen schon bemerkt, dass etwas mit mir nicht stimmte. Mein Gemüt hatte sich verändert. Ich war launisch, aggressiv und schaute oft melancholisch aus dem Fenster.»Was ist nur los mit dir?«, fragte Zoé aufgeregt.Ich antwortete ihr nicht, sondern winkte ab. Sie ließ sich das natürlich nicht bieten und fing an, mich an den Schultern zu rütteln. Schließlich gab ich nach.»Ich muss nach Toulouse, Zoé«, antwortete ich traurig.»Du musst? Warum denn?«, wollte sie genervt wissen.»Das kann ich dir nicht sagen.«»Ich kann es dir nicht sagen«, äffte mich Zoé nach.»In höchstens zwei Tagen bin ich zurück.«Zoé sah mich ärgerlich an und schrie mir ins Gesicht: »Verpiss dich doch! Geh, geh doch! Jetzt, sofort!«Schließlich riss sie meine Tasche aus dem Schrank und warf sie mir vor die Füße.»Zoé, bitte, ich kann …«, aber sie ließ mich nicht mehr ausreden. Sie schlug die Tür so stark zu, dass ein paar Andenken im Wandregal umfielen. Ich schnappte meine Tasche und folgte ihr ins Wohnzimmer, in das sie sich verzogen hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---