Envie - Jorn Straten - E-Book

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Jorn Straten

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Beschreibung

EINE SURREALE, ABSURDE REISE Tick tack, tick tack, tick. Paris im Sommer 1992. Jules, ein erfolgreicher Schriftsteller, wird vom Tod seiner Freundin Chloé aus der Bahn geworfen. Zu spät verdichten sich die Hinweise, dass es kein Unfall war, sondern Mord. Ihr letzter Brief gibt Jules Rätsel auf. Welche Rolle spielen Mondrian, ein Gedicht und die Geburt der Venus? Er begibt sich auf eine surreale, absurde Reise. FRANKREICH, IM SOMMER 1992 Seine Suche führt in den Untergrund von Paris, die sagenumwobene Bretagne und Provence. Gehetzt durch dunkle Gassen, gelangt Jules an zwielichtige Gestalten, in finstere Wälder, aber auch in die Arme von Loulou. Die Grenze zwischen Traum und Realität verschwimmt. Immer tiefer gerät er in einen Sumpf aus Geld, Macht und der Gier nach Leben. Alles dreht sich um die Zeit. Was wären wir ohne sie? Sie spielt mit uns, entscheidet über uns, rennt gnadenlos weiter. Wird Jules bekommen, was ihm genommen wurde?

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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JORN STRATEN

 

Roman

Wir werden gar nicht sterben.Aubrey de Grey, BioinformatikerFür sich selbst ist jeder unsterblich; er mag wissen, dass er sterben muss, aber er kann nie wissen, dass er tot ist.Samuel Butler

Inhalt

Wunden der Zeit

Unter der Erde

Anfang und Ende

Mehr als Worte

Katz und Maus

Pont-Aven

Brocéliande

Auf Gut und Böse

Wolken über Paris

Alles anders

Kurzes Glück

Loulou

Verstecktes Reich

Die Suche

Zweierlei Tod

Der Pakt

Banon

Andere Werke

Impressum

 

 

Wunden der Zeit

„Gleich hab’ ich dich!“, dachte Jules und rannte auf ihn los. Doch er begriff schnell, dass es nicht reichen würde. Der Dreckskerl steckte bereits bis zu den Schultern im Schacht. Jules’ plötzliches Auftauchen ließ ihn kalt. Mit einem arroganten Grinsen streckte er ihm seinen Mittelfinger entgegen und war im nächsten Augenblick verschwunden. »Scheiße!«, schrie Jules, kniete sich an das Loch des Schachtes und starrte in die Tiefe. Er konnte nichts sehen, außer Metallstufen, die nach ein paar Metern in der Dunkelheit verschwanden. Sie führten in ein anderes Reich, tief hinunter in die Eingeweide der Stadt.

Paris, im Sommer 1992. Während Nirvana, Keith Richards und Madonna die Metropole in ihren Bann zogen, hatte sich die Stadt der Liebe von Jules abgewandt. Er vermied Menschen genauso wie einen Blick auf die Titelseiten der Magazine, mit all ihren lachenden Stars wie Jane Birkin, Sophie Marceau und Aznavour. Es war die Zeit beschrifteter Kassetten, die Jules hörte, wenn er im Gras lag und im Himmel nach Antworten suchte. Mitten in Paris, der Stadt der Freiheit, die zu einem hungrigen Monster mit jeder Menge Verrückten im Geleit mutierte. Es war schon länger her, dass er um die Häuser gezogen war und die Nacht zum Tag hatte werden lassen. Allmählich vermisste Jules die Bars, den Rotwein und Pastis im Blut, während er, über einer Gauloises gebeugt, Luftschlösser gebaut hatte.

Er lag noch im Bett, als gleißende Sonnenstrahlen durch sein Dachfenster fielen. Im Halbschlaf hatte er den Krach der Müllabfuhr unten auf der Straße mitbekommen. Die schweren Rolltüren der Geschäfte, die aufgezogen wurden und laut krachend einrasteten, gaben ihm den Rest. Dabei wollte Jules eigentlich ausschlafen, schließlich hatte er bis spät in die Nacht an seinem Roman gearbeitet. Die tagsüber herrschende Hitze setzte ihm sehr zu und ließ seine Gedanken immer wieder abwandern. Seinen Verlag interessierte das wenig. Er lag ihm schon seit einigen Wochen wegen des Abgabetermins in den Ohren. Oft dachte Jules an die Bretagne, wo er normalerweise der Hitze des Sommers entflohen war. Er vermisste die frische Luft am Meer und die Spaziergänge am Strand. Hinzu kam, dass in seinem bretonischen Steinhaus immer angenehme Temperaturen herrschten. Es war nicht sehr groß, aber für ihn, Chloé und etwaigen Nachwuchs hätte es erst mal gereicht. Doch seit ihrem Tod hatte er das Haus in Pont-Aven nie mehr betreten.

Chloés weiche Lippen, ihre grünen Augen, der Duft ihrer hellen, makellosen Haut und ihre warme Stimme gehörten der Vergangenheit an. Insbesondere der Tag, als er zum ersten Mal in ihre Augen geblickt hatte und mit seinen Händen durch ihre roten, gelockten Haare gefahren war. Er war sprachlos gewesen, als er Chloé zum ersten Mal auf dem Karussell am Eiffelturm gesehen hatte. Das Karussell, das Universum drehte sich, während sie auf Holzpferden dem Sonnenuntergang entgegenritten. Chloé trug dieses enge, schwarze Kleid mit tiefem V-Ausschnitt und Jules verbrannte sich sofort die Finger an ihr. So war es kein Wunder, dass ihr erster Abend in seinem Bett endete. Die folgenden Tage und Wochen waren die schönste Zeit seines Lebens.Chloé arbeitete in Paris am Institut André Lwoff im Bereich der Molekularbiologie. Eines Tages, als er sie von der Arbeit abholen wollte, sprach er zufällig mit einer ihrer Mitarbeiterinnen. Sie stand nervös rauchend am Eingang. Jules hatte sie um Feuer gebeten und gefragt, ob alles in Ordnung sei. »In Ordnung? Nichts ist in Ordnung!«, fauchte sie ihn an. »Stress im Job?«, fragte Jules einfühlsam. »Es ist nicht die Arbeit. Es ist diese hinterhältige Schlampe. Die geht über Leichen! Karriere, Karriere! Was anderes interessiert die nicht. Chloé hier, Chloé da. Natürlich schaffen wir das! Wir sind doch ein Team«, fluchte sie lautstark.Sie bemerkte nicht, wie Jules zusammenzuckte, als er Chloés Namen hörte.»Tut mir leid, dass ich Sie damit belästige. Auf wen warten Sie denn?«»Auf Sandrine«, log Jules. »Sagt mir nichts, aber das Institut ist ja riesig. Wo genau arbeitet denn Ihre Sandrine?«»Also um ehrlich zu sein, das weiß ich auch nicht. Ich kenne sie erst seit Kurzem«, log er weiter. Die Dinge, die er über Chloé erfahren hatte, berührten ihn und er fühlte sich vor den Kopf gestoßen. Jules schaute nachdenklich ins Leere. Hatte er sich etwa so in Chloé getäuscht?»Ich muss wieder rein, sonst beschwert sich die schöne Hexe. Nachher kündigt die mich noch. Vor ein paar Tagen hat sie schon jemanden aus ihrem Team geworfen. Diese verdammte Schlampe!«, sprach sie aufgebracht, während sie ihre Zigarette quer über den Platz schnippte. Als sie ging, reichte sie ihm die Hand, hielt sie allerdings länger fest wie üblich und sagte: »Hat mich auf jeden Fall gefreut!«»Mich auch. Dann wünsche ich mal alles Gute«, antwortete Jules mit aufgesetztem Lächeln. Die Schilderungen der Arbeitskollegin passten überhaupt nicht in das Bild, was er von Chloé hatte. Jules wusste, dass sie sehr ehrgeizig war, konnte sich aber nicht vorstellen, dass sie über Leichen gehen würde. Wenn sie mal über die Arbeit sprach, blieb sie allgemein, war dabei allerdings etwas zu enthusiastisch, was Jules jedoch als übereifrig interpretierte. Nach ihrem Tod musste Jules sich eingestehen, dass er fast nichts über ihre Arbeit und ihre Freunde wusste. Genauso wenig über ihre Eltern, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Wenn er sie darauf ansprach, würgte sie ihn immer ab. Jules musste oft daran denken, was Chloé wohl durchgemacht hatte.Im Gegensatz zu ihr hatte er auf die Unterstützung seiner Eltern zählen können, auch wenn sie zu Beginn seinen Traum, Schriftsteller zu werden, nicht gerade guthießen. Als er nach dem Studium seinen Debüt-Roman veröffentlichen konnte, stieg dieser in Windeseile zum Bestseller auf. Über ihn wurde in zahlreichen Zeitungen berichtet, was seine Eltern mit Stolz erfüllte. Auch von Chloé waren sie hin und weg und begrüßten, dass er vorhatte, sie zu heiraten. Jules wollte eine gemeinsame Zukunft mit ihr. Er spürte, wie gut sie ihm tat.

Doch Chloés Unfall änderte alles, er riss Jules aus seinem Leben. Irgendein Schwein fuhr sie an und ließ sie einfach liegen. Aufgrund der schweren Verletzungen starb sie noch am Unfallort. Die Polizei konnte keinerlei Zeugen finden. Somit hatte der zuständige Commissaire Dubois nichts in der Hand, um den Täter zu ermitteln. Das in Paris, einer Metropole, in der man noch nicht einmal Abfall auf den Gehweg schmeißen konnte, ohne sich Beleidigungen in mehreren Sprachen anzuhören. Hinzu kam, dass sie nicht verheiratet waren. Somit durfte ihn die Polizei noch nicht einmal über den Stand der Ermittlungen auf dem Laufenden halten, was Jules schwer mitnahm.Chloé war als Waise aufgewachsen und daher konnte er bei der Polizei lediglich versuchen, Informationen zu erbetteln. Nach neun Monaten legten sie den Fall schließlich zu den Akten. Alle Ermittlungen, wenn man überhaupt davon sprechen konnte, waren ins Leere verlaufen. Der Fahrer, dieser Dreckskerl, konnte für seine feige Tat nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Jules’ Vorstellung von Gerechtigkeit geriet aus den Fugen. Er fühlte sich hilflos wie ein Stück Treibholz im Meer.

Nach dem Unfall kündigte er die gemeinsame Wohnung, da er es nicht mehr ertrug, in ihr zu leben. Doch in der neuen Wohnung ging das Drama weiter. Wie konnte man einen Menschen aus seinem Gedächtnis streichen? Das fragte er sich oft und suchte die Lösung im Alkohol. Es gestaltete sich einfach, denn in seinem Viertel Le Marais war er von etlichen Bars umgeben. Leider kam so seine Arbeit zum Erliegen und später kapselte er sich auch von seinen Freunden und der Außenwelt ab. Nur betäubt konnte er der Frage nach dem »Warum?« entkommen. Er wollte mit niemandem sprechen, niemanden mehr sehen. Noch nicht einmal seinen besten Freund Maxime. Jules wollte allein sein, sich in der Anonymität einer Großstadt verlieren. Er ließ sich treiben, war bereit unterzugehen, und fühlte, wie der Jules, der er einst war, langsam starb.Seine nächtlichen Eskapaden hinterließen ihre Spuren. Jules wurde zunehmend gereizter und es häuften sich Abende, die in Schlägereien endeten. Wenn er es schaffte, in seine Wohnung zurückzukehren, schlief er dort oft bis zum Nachmittag, bevor wieder alles von vorn losging. Am schlimmsten waren die Nächte, nach denen er im Treppenhaus seines Hauses erwachte. Er schämte sich sehr vor den Blicken seiner Nachbarn. Jules’ Wohnung sah damals aus, wie seine Seele – ein Chaos sondergleichen. Er hätte alles dafür gegeben, nie erfahren zu müssen, wie sich der Verlust eines Menschen anfühlte. Den Höhepunkt seiner Abstürze krönte ein Aufenthalt in der Notaufnahme. Erst dort wurde ihm bewusst, dass sich sein Leben ändern musste. Jules versuchte, nicht mehr an Chloé zu denken, wollte sie vergessen. Er begann, wie ein Eremit in seiner Wohnung zu leben. Alles, was er benötigte, ließ er sich kommen. Außerdem versuchte er, seinen Alkoholkonsum zu senken. Dem Alkohol ganz zu entsagen, schrieb er nie auf seine Fahne. Dafür trank er viel zu gerne und liebte besonders den leichten Rausch, der sich oft kreativ auf seine Arbeit auswirkte.Sein Plan funktionierte, auch wenn er sich oft leer fühlte. Nach einiger Zeit hatte er wieder begonnen, zu schreiben. Es war es ihm sogar gelungen, im Supermarkt einzukaufen. Allerdings hatte es sich fremd angefühlt, sich wieder unter Menschen zu bewegen. Vielleicht auch, weil er ihnen eine Mitschuld an Chloés Tod gab. Wenn ihr jemand geholfen hätte, wäre sie vielleicht noch am Leben.

Jules raffte sich auf, stieg aus dem Bett und ging zu seinem Schreibtisch am Fenster. Er blätterte durch die getippten Seiten der letzten Nacht. Sie lagen noch kreuz und quer auf einem Stapel neben der Schreibmaschine. Mit den Zeilen, die er las, war er zufrieden. Gestern war er sehr gut vorangekommen.Auf dem Tisch fiel ihm seine antike, goldene Taschenuhr ins Auge, ein Erbstück Chloés Onkel aus Avignon. Nachdenklich nahm er sie in die Hand und öffnete den Deckel. Auf der Innenseite befand sich ein Foto von Chloé. Sie hatte ihm die Uhr zum Geburtstag geschenkt. Es war das letzte Foto, das ihm von ihr blieb, alle anderen waren beim Umzug in die neue Wohnung verloren gegangen. Das Unternehmen hatte sich nicht erklären können, was mit der Umzugskiste passiert war. Er hatte zwar eine Entschädigung bekommen, aber kein Geld der Welt, nichts konnte diesen Verlust begleichen. Als er das Foto in der Uhr betrachtete, zehrte wieder alles an ihm. Aber Jules durfte nicht zulassen, sich erneut zu verlieren. Sanft klappte er die Taschenuhr wieder zu und legte sie zurück auf den Tisch.Jules ging ins Bad und nahm eine kalte Dusche. Als er sich einseifte, roch er den Duft von Verveine, der sich im ganzen Bad ausbreitete. Er hatte immer vermieden, dieses Duschgel zu benutzen, da es Erinnerungen an Chloé in ihm weckte. Augenblicklich kamen Bilder vom letzten gemeinsamen Urlaub am Meer, dem hervorragenden Wein und dem fantastischen Essen in ihm hoch. Jules zuckte leicht, als er in Gedanken Chloé vor sich sah. Sie lächelte ihn an, er roch ihre Haut und spürte ihre Lippen. Es waren genau diese Erinnerungen, die ihn aus dem Leben gerissen hatten, genau diese, die es galt zu vermeiden. Jules drehte die Dusche ab und sah zu, wie das Wasser im Abfluss verschwand. Er hoffte, dass seine Erinnerungen folgen würden. Als er sich abtrocknete und im Spiegel ansah, überlegte Jules, ob ihm etwas Ablenkung guttun würde. Vielleicht sollte er ausgehen, einfach mal abschalten, sich von seiner Arbeit befreien. Dabei musste Jules an ein kleines Bistro im Le Marais denken. Das wäre sicher ein sanfter Einstieg, wieder unter Leute zu kommen.

Plötzlich klopfte es an seine Haustür. Jules schlang sich ein Handtuch um und öffnete. Der Duft frischer Croissants erfüllte das ganze Treppenhaus. Zu seinen Füßen fand er eine hellbraune Papiertüte. Sie war von Claire, einer Rentnerin, die eine Etage unter ihm wohnte und sich um ihn kümmerte. Sie hatte ihn beim Einzug angesprochen und gefragt, ob er allein leben würde. Jules hatte ihr vom Unfall seiner Freundin erzählt, mit der Absicht, dass sie und die anderen Bewohner ihn in Ruhe lassen würden. So beschränkte sich der Kontakt darauf, dass Claire ihm Croissants, Desserts und manchmal sogar einen guten Tropfen Wein vor die Tür stellte. Für Jules war es jedes Mal ein Lichtblick. Scheinbar gab es noch gute Menschen. Es wäre schon längst an der Zeit, sich bei ihr zu bedanken.Er nahm die Tüte, schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf einen der Barhocker, die um den Monoblock seiner Küche herumstanden. In Ruhe aß er die Croissants und trank einen starken Espresso. Es war ein guter Start, um den Tag vor der Schreibmaschine zu verbringen. Jules spannte eine Seite ein und begann, nach ein paar Fingerbewegungen, die Maschine zu malträtierten. Sollte er wieder so gut vorankommen, so beschloss er, würde er abends, zum ersten Mal nach langer Zeit, ausgehen.

Es dunkelte schon ein, als er zufrieden das Papier aus der Schreibmaschine zog. Ihm war gar nicht aufgefallen, wie schnell die Zeit verflogen war. Jules hatte sich keine Pausen gegönnt und spürte, dass er sich dafür belohnen musste. Außerdem hatte er großen Hunger, da er das Mittagessen ausgelassen hatte.Die getippten Seiten legte Jules in eine dafür vorgesehene Ablage im Regal. Vor der Dusche, die er wirklich nötig hatte, legte er sich frische Sachen zusammen. Dazu gehörten Bargeld, sein Schlüsselbund, eine Schachtel Zigaretten, ein Feuerzeug und die antike, goldene Uhr von Chloé. Seit ihrem Tod war sie sein ständiger Begleiter. Im Bad rasierte er sich nass und duschte etwas länger wie üblich. Jules sah sich zufrieden im Spiegel an. War er das wirklich? Es war schon lange her, dass er ein Lächeln in seinem Gesicht gesehen hatte.

Als Jules die Straße betrat, schlug ihm die Hitze des Asphalts entgegen. Die Menschen um ihn herum wirkten gestresst und rastlos. Wie kleine Ameisen kamen sie aus ihrem Bau und suchten ihr Glück in den zahlreichen Bars und Restaurants. Es dauerte nicht lange, bis er vor seinem Lieblingsbistro Au Petit Fer à Chevalstand. Die Tische, die sich links und rechts vom Eingang befanden, waren bereits belegt. Jules trat ein und ging an dem ungewöhnlichen Tresen vorbei, der wie ein Hufeisen geformt war. Der Kellner begrüßte ihn mit einem flüchtigen Lächeln. Im hinteren Bereich des Bistros war es deutlich ruhiger und Jules fand noch einen freien Tisch. Mit Blick auf eine weiße Tür, in der sich eine Durchreiche zur Küche befand, saß Jules am liebsten. Von dort schaute er den Köchen zu, wie sie voller Hingabe ihre Gerichte kredenzten.Ein unglaublicher Duft von Rotwein, Rosmarin und Knoblauch stieg ihm in die Nase. Jules entschied sich für das Tagesgericht Steak Tartare, das mit Kreide auf einer Schiefertafel angepriesen wurde. Dazu bestellte er einen halben Liter Rotwein des Hauses. Er fühlte sich sehr entspannt, zündete eine Zigarette an, lehnte sich zurück und spürte, wie der Wein in seiner Kehle hinunterlief.Gelegentlich fiel sein Blick auf die große Uhr mit antiken Zeigern. Sie befand sich in Deckenhöhe, in Richtung Ausgang. Die Uhr in diesem Bistro war ganz nach seinem Geschmack, denn sie lief rückwärts. Für ihn hatte sie einen symbolischen Wert. Sobald er das Bistro betrat, befand er sich in der guten alten Zeit des Fin de Siècle. Schon immer fühlte er sich wohl hier, mochte das Essen, das Ambiente und die aufmerksamen Kellner. Warum er nie mit Chloé hier gewesen war, konnte er beim besten Willen nicht sagen. Aber eines konnte er sagen: Die Zeiger der Uhr hatten recht. Die Zeit lief hier langsamer, sie hielt fast an. Jules genoss, wie sich seine Gedanken in Raum und Zeit verloren.Das Steak Tartare war ein Traum. Ebenso das frische Baguette und der noch junge Wein, von dem Jules noch einen halben Liter nachbestellte. Er begann, sich in den Menschen zu verwandeln, der er einst gewesen war. So gut hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt. Zum obligatorischen Espresso und einem Armagnac zündete er sich genussvoll eine weitere Zigarette an. Wie lange er schon hier war? Jules konnte es nicht mehr sagen. Nur, dass seine Zeit hier zu den besten Stunden der letzten neun Monaten gehörte. Auf keinen Fall wollte er diesen Abend schon enden lassen. Diese Nacht roch nach mehr. Jules bezahlte beim Kellner und ließ ein großzügiges Trinkgeld auf dem Tisch liegen. Er verließ das Bistro durch die Schwingtür mit ihren alten, verzierten Glasscheiben, die ihn ein letztes Mal erinnerten, dass hinter ihnen ein anderes Jahrhundert lag.

Draußen war es noch immer warm. Das Stimmengewirr und Gelächter der Gäste aus den Bars und Bistros kamen ihm plötzlich übertrieben laut vor. Jules entschied sich nicht, wie sonst üblich, für die Bar Les Philosophes. Auch das Pick Clops ließ er aus, da ihm dort einfach zu viel los war. Außerdem waren alle Außentische belegt, dafür war er einfach zu spät dran. Aber noch längst nicht für den Abend, denn kurz nach neun fing hier das Nachtleben erst richtig an. Jules beschloss, zur Rue de Rivolizu gehen, um noch ein paar Gläser im Rivolux zu trinken. Er suchte Spaß und wusste von seinen früheren Besuchen, dass er dort an der richtigen Adresse war. Natürlich tummelten sich auch eine Menge schöner Frauen im Rivolux, dachte Jules und musste grinsen.Im Rivolux fand er einen guten Platz am Tresen. Loulou gehörte der Laden und das bedeutete, dass man sie fast immer hinter der Bar antraf. Als sie Jules erkannte, eilte sie sofort zu ihm. Sie trug ein enges, schwarzes Kleid mit weißem Kragen. Es kam ihm vor, als würde sie schweben. Ihr kurzer Pixiehaarschnitt passte gut zu ihren blonden Haaren. Der Hauch von Lila, vom Seitenscheitel abgehend, verliehen ihr etwas Freches. Loulous weiße Haut und der lilafarbene Lidschatten, ihr ganzes Erscheinungsbild ließ sie unnahbar wirken.»Mensch Jules! Willkommen im Rivolux. Lang’ nicht gesehen! Hast du die falsche Frau kennengelernt?«, fragte Loulou lächelnd. Sie wusste von nichts.»Ist ’ne schwierige Geschichte«, antwortete Jules.»Dann lass stecken. Schwierige Geschichten haben meist kein Happy End.«Wie recht Loulou doch hatte. Auf seinen Freund Maxime war wirklich Verlass. Er hatte Chloés Unfall anscheinend wirklich für sich behalten. Ohne Jules zu fragen, servierte Loulou ihm einen Wodka Lemon.An einem Abend im Herbst, kurz bevor er Chloé kennengelernt hatte, war er mit ihr im Bett gewesen. Es hatte zwischen ihnen gefunkt und fast wäre auch etwas gelaufen, doch dann waren sie sich einig gewesen, dass sie damit ihre Freundschaft aufs Spiel setzen würden. Das hatten sie auf keinen Fall riskieren wollen. Also war nichts passiert, außer dass sie Arm in Arm eingeschlafen waren.

So wie sie Jules mit ihren blauen Augen ansah, fühlte er, dass sich zwischen ihnen etwas geändert hatte. Lag es daran, dass er schon längere Zeit nicht mehr im Rivolux gewesen war?Er trank seinen Wodka, als er plötzlich eine große Hand auf seiner Schulter spürte.»Jules, bist du’s wirklich?«, rief jemand mit einer tiefen Männerstimme. Er drehte sich um und sah in das Gesicht seines besten Freundes. Maxime, eine treue Seele und erfolgreicher Galerist in Paris. Er hatte sich nicht verändert, war seinem Stil treu geblieben. Immer noch die gleichen kurzen, silbergrauen Haare, der streng getrimmte Vollbart und sein verschmitztes Grinsen, mit dem er ihn ansah. Jedes seiner Haare, jeder Bartstoppel war an seinem Platz. Wie immer wirkte er sehr gepflegt. Ein wenig erinnerte er Jules an Fotos von Modellen, die in Friseursalons an den Wänden hingen. Trotz der silbergrauen Haare wirkte sein Gesicht, seine ganze Ausstrahlung, jung. Seine Brille aus durchsichtigem Acryl verlieh ihm etwas Intelligentes, unterstrich seine Souveränität. Wenn er auf sein Alter angesprochen wurde, hielten alle seine 39 Jahre für einen Scherz. Maxime hatte keinen Grund, sich zu beschweren. Jules hatte ihn nach dem Unfall gebeten, ihn erst mal in Ruhe zu lassen. Maxime hatte sich daran gehalten. Jules schätze es sehr, ihn als Freund zu haben.

Eigentlich hätte sich Jules ja denken können, dass er Maxime im Rivolux treffen würde. Hier ging er ein und aus. Außerdem hatte er eine Verbindung zu Loulou. Als Galerist hatte er ihr Designer und Innenausstatter vermittelt, die dem Rivolux sein spezielles Flair gegeben hatten.»Bist du wieder im Rennen?«, fragte Maxime.»Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht. War ’ne lange Auszeit. Aber heute musste ich unter die Leute.«»Hmm, war da eine Frau im Spiel?«, fragte Loulou, die das Gespräch mitbekommen hatte. Jules winkte ab und machte beiden mit seiner Mimik klar, dass er nicht darüber reden wollte.»Aber jetzt bist du ja wieder da. Lass uns was trinken!« Maxime hob drei Finger in Loulous Richtung und zeigte auf Jules Glas. Sekunden später standen drei Wodka Lemon vor ihnen. Ihre Gläser knallten zusammen und sie grinsten sich an. Jules kam es vor, als wenn er nie weg gewesen wäre. Dann kümmerte sich Loulou erst mal um die anderen Gäste.

»Jules, hör zu. Letzte Woche hab’ ich ’ne kleine Schwarzhaarige im Pick Clops abgeschleppt.«»Ich dachte, du stehst nur auf Blondinen.«»Na ja, war wohl ’ne Ausnahme. Wird wohl auch eine bleiben.« »Wieso das denn?«, hakte Jules grinsend nach.»Na, es fing damit an, dass sie mir einen Wodka ausgegeben hatte. Das kommt nicht so oft vor, oder? Es machte Spaß, mit ihr zu quatschen, wir hatten einen tollen Abend, mit allem, was dazu gehört. Sie gab mir sogar ihre Nummer. Maë, so hieß sie, die war locker drauf. Vielleicht etwas zu locker für meinen Geschmack«, sagte Maxime. »Ach ja? Wieso? Erzähl mal.«»Sie hatte da so was wie ein Knast Tattoo. In Druckbuchstaben stand Yes Daddy auf ihrem Hals.«Jules grinste Maxim verschmitzt an.»Na ja. Wenigstens, nach ’ner Zeit fing sie zwischendurch an, merkwürdig schrill zu lachen und plötzlich knutschte sie wild mit mir rum. Die Gäste drehten sich schon alle nach uns um. Also fragte ich Maë, ob wir nicht besser gehen sollten. Sie sagte, das wäre cool und so verließen wir die Bar. Maë wohnte in der Nähe von Porte Saint-Denis.«»War sie ’ne Nutte?«»Nein, ich glaub’, sie hatte an dem Abend einfach zu viel intus. Sie sagte, sie würde Kunst im zweiten Anlauf studieren und als Aushilfe im Centre Pompidou arbeiten. Auf dem Weg zu ihr flüsterte sie mir ins Ohr, dass sie mit mir gerne in einen der Parks gehen würde. Es war stockdunkel und sie sah nicht aus, als ob sie Blumen pflücken wollte.«Jules fragte lachend: »Bis dahin hatte sie also dein Blümchen noch nicht gesehen?«»Mach dich nur lustig! Auf jeden Fall flüsterte sie mir ins Ohr, dass sie es mit mir gerne auf einem dieser Schaukelpferde mit den Stahlspiralen machen würde. Ich habe schon so einiges erlebt, aber so was? Irgendwie war das nichts für mich. Bin ich jetzt alt? Aber ich glaub’ auch, dass sie so was sonst nicht macht. Sie hatte ordentlich was geladen. Mal abgesehen davon, dass diese beschissenen Pferde ohnehin umgekippt wären. Das hätte nie im Leben geklappt und überhaupt passte mir das nicht. Stell dir mal die Schlagzeile vor: Exzesse – Nackter Galerist auf Schaukelpferd. Also machte ich ihr klar, dass so was nicht mein Ding sei, doch was tat sie?«Maxime nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette, bevor er sie im Aschenbecher ausdrückte. »Na los, spuck schon aus«, drängte Jules.»Die schreit mich an. Schreit laut rum, ich sei ein beschissener Langweiler. Ich sei ein Spießer! Ich meine, sieh mich an Jules. Sieh mich an! Sehe ich etwa aus wie ein Spießer?« Beide schauten in den Spiegel hinter der Bar und lachten. Verdammt, wie lange war es her, dass er so gelacht hatte, dachte Jules. Es tat ihm wirklich gut, wieder unter Menschen zu sein. Sie tranken ihre Gläser aus und bestellten weitere Getränke.

Im Laufe des Abends fielen Jules plötzlich zwei Typen auf, die überhaupt nicht in den Laden passten. Beide sahen aus wie kleine, dreckige Diebe. Ihre Klamotten waren schmutzig, sie stanken, trugen Gummistiefel, grüne Parkas und Rucksäcke. Einer von ihnen hatte einen Totenkopf mit den Zeigern einer Uhr auf seinem Handrücken tätowiert. Auch Loulou bemerkte die beiden und sie war nicht begeistert, diese Typen hier zu sehen. Sie standen die ganze Zeit hinter Jules und Maxime, quatschten und rauchten ihre billigen Zigaretten. Jules bekam einen Teil ihres Gesprächs mit. Einer von ihnen fragte den anderen, ob er heute wieder reingehen würde. »Ja, werd’ ich machen. Im Salle Z soll es zur Sache gehen«, antwortete dieser. Jules war immer gut im Bilde, aber von einer Bar mit dem Namen Salle Z hatte er noch nie etwas gehört. Aber Paris war groß und er war eine Zeit lang von der Bildfläche verschwunden gewesen.

Als sich der Alkohol bemerkbar machte, suchte Jules die Toilette auf. Auf dem Weg dorthin rempelte ihn der Typ mit dem Tattoo an, entschuldigte sich aber sofort. Von der Toilette zurück, setzte sich Jules wieder neben seinen Freund an den Tresen. Maxime war mit Loulou in ein Gespräch vertieft. Es klang so, als ob sich Maxime ein paar Tipps abholen wollte, was er mit dieser Maë nun machen sollte.Jules blickte sich in der Bar um und bekam mit, dass der Typ, der ihn angerempelt hatte, im Begriff war, das Rivolux zu verlassen. Er schaute ihm hinterher, bis der Kerl hinter dem Fenster der Bar stehen blieb. Scheinbar hatte er bemerkt, dass Jules ihn beobachtet hatte. Plötzlich grinste er ihn unverschämt an. Jules verstand nicht, was der Typ von ihm wollte. Vom Barhocker aus konnte er sehen, dass er etwas aus seinem Parka zog. Es war etwas Glänzendes, das an einer Kette hing. Demonstrativ ließ er den Gegenstand vor seinem arroganten Gesicht an der Kette hin und her schwingen, damit ihn Jules besser sehen konnte. Er erschrak, als er seine goldene Taschenuhr erkannte. Dieses verfluchte Arschloch musste sie ihm geklaut haben, als er ihn angerempelt hatte. Jules konnte sein unverschämtes Grinsen nicht ertragen. Gerade als er ihm hinterherschreien wollte, steckte der Kerl die Uhr wieder ein und war im nächsten Moment vom Fenster verschwunden.

Jules sprang vom Barhocker und kämpfte sich durch die Menschenmenge. Er schäumte vor Wut und wollte sich diesen Typen schnappen. Loulou und Maxime riefen hinter ihm her, aber er konnte sie nicht mehr verstehen. Er hatte nur noch eins im Sinn: sich diesen Kerl zu kaufen. Um alles in der Welt wollte er seine Uhr zurück. Er musste ihn einholen, koste es, was es wolle. Dafür war er bereit, alles auf eine Karte zu setzen. In der Uhr befand sich das letzte Foto von Chloé. Zu viel hatte man ihm genommen, das musste endlich aufhören. Das letzte Mal, als er solch einen Hass in sich gespürt hatte, war, als er vom Tod Chloés erfahren hatte. Der ganze Ärger kochte wieder in ihm hoch. Er würde diesen Kerl einholen und dann würde er für den Diebstahl bezahlen.Als Jules aus dem Rivolux stürmte, stolperte er und fiel auf den noch warmen Asphalt. Doch er rappelte sich sofort wieder auf und lief dem Typen hinterher. Erst jetzt bemerkte er den Alkohol in seinen Beinen.In einiger Entfernung entdeckte er den Dieb mit seinem grünen Parka und den Gummistiefeln. Er ging seelenruhig, als ob nichts passiert wäre, in Richtung Metro Châtelet. »Was für ein arrogantes Schwein«, dachte Jules. Dieser Dreckskerl rechnete noch nicht einmal damit, dass er ihn verfolgen würde.Allerdings war die Entfernung viel zu groß, um ihn im Sprint zu erreichen. Sollte er Jules bemerken, würde er sicher in eine der dunklen Seitengassen abbiegen und dann wäre alles verloren. Daher beschloss Jules, dem Typen unauffällig zu folgen und, wenn es passte, würde er ihn sich vorknöpfen. Die Rue de Rivoli war gut beleuchtet, was sein Vorhaben zwar vereinfachte, aber auch bedeutete, dass der Kerl ihn gut sehen konnte. Gut, dass noch einige Leute unterwegs waren, die er für seine Deckung hätte nutzen können. Doch was Jules befürchtete, trat nicht ein. Der Dieb fühlte sich so sicher, dass er nur ein einziges Mal zurückblickte, und zwar, als er die Treppe der Metro Châtelet erreichte. Jules musste nun unbedingt weiter aufschließen, sonst würde er ihn im dortigen Getümmel verlieren.

In der Metro-Station konnte sich Jules aufgrund der vielen Menschen nur schwer konzentrieren. Das Adrenalin pochte in seinen Adern. Erst im letzten Moment sah er, dass der Typ auf einen Bahnsteig der Linie 4 nach Porte d’Orleans abbog. Jules ließ ihn die lange Treppe zum Bahnsteig hinuntergehen und folgte mit großem Abstand. Auf der Hälfte der Treppe erschrak er, da bereits ein Zug auf dem Gleis stand und der dreckige Dieb dabei war, einzusteigen. Jules sprintete los und hätte fast zwei Passanten über den Haufen gerannt. Sie trugen schwarze, lange Gewänder und Pestmasken. Die Pariser Theater ließen sich immer neue Dinge einfallen, um auf sich aufmerksam zu machen, dachte Jules noch, als er den Signalton für die Abfahrt des Zuges hörte. In allerletzter Sekunde sprang er in den Zug, bevor sich hinter ihm die Tür schloss. Den gleichen Wagen des Zuges hatte er nicht mehr erreichen können, aber er war dem Dieb sehr nahegekommen. Jules holte kurz Luft und begann, sich zwischen den Fahrgästen durchzuquetschen. Die Wagen waren miteinander verbunden. Dies nutzte Jules, um zu dem Dieb aufzuschließen. Nach etlichen Entschuldigungen schaffte er es, sich einen Platz an einer der Ausgangstüren zu sichern. Von dort aus hatte er ihn voll im Blick.Schon nach den ersten zwei Stationen leerte sich der Zug. Die ganze Zeit spielte Wagners Tristan und Isolde aus den Deckenlautsprechern. Es verwirrte Jules, dass die verbliebenen Gäste auf der linken Seite überwiegend weiß und auf der rechten Seite eher schwarz gekleidet waren. Immer, wenn der Zug durch einen Tunnel fuhr, kam es ihm vor, als ob die ganze Beleuchtung flackerte. Jules machte den Alkohol dafür verantwortlich. Was nichts daran änderte, dass ihn das Licht nicht nur störte, es machte ihn auch zunehmend nervös.Der Typ im anderen Wagen hatte sich in der Zwischenzeit mit dem Rücken zu ihm gesetzt. Er sah nur seinen dreckigen, grünen Parka mit Kapuze. »Du wirst mich nicht los. Nie mehr!«, dachte Jules, als der Zug durch den Tunnel schoss.Ganze zwanzig Minuten fuhr er schon, als Jules beobachtete, wie der Typ die Riemen an seinem Rucksack festzog. Es sah aus, als ob er in der nächsten Station Vavin aussteigen würde. Wo wollte dieser Bastard nur hin? Jules machte sich bereit, ihm weiter zu folgen.Als der Zug hielt, stieg der Typ tatsächlich aus. Um unbemerkt zu bleiben, mischte sich Jules unter die aussteigende Menge. Sein Plan war, den Dieb an der Oberfläche zu überwältigen. Über eine steile Treppe folgte er ihm nach oben. Dabei musste er sehr vorsichtig sein, um nicht aufzufallen.Als er die Oberfläche der Metro-Station erreichte, konnte er ihn zu seinem Verdruss nirgends ausmachen. Jules bekam Panik. Er befürchtete, dass er den Kerl verloren hätte und, was noch viel schlimmer wäre, damit auch das letzte Foto von Chloé.Das laute Hupen eines Autos ließ ihn aufschrecken. Die Straße war gut beleuchtet und von dort, wo das Hupen herkam, konnte Jules den miesen Typen entdecken. Er sah, wie er einem Autofahrer den Mittelfinger zeigte und ihn anschrie. Jetzt musste sich Jules ranhalten, sonst würde er ihn für immer verlieren. Er beobachtete, wie der Dieb in Richtung Boulevard du Montparnasse ging. Jules begann, seine Schritte zu beschleunigen, um weiter aufzuschließen. Er war so fixiert, dass er beim Überqueren der Straße fast von einem Auto angefahren worden wäre. Nachdem er sich mit versöhnenden Gesten entschuldigt hatte, versuchte er, den Typen erneut ausfindig zu machen. Doch dieses Mal war er wie vom Erdboden verschluckt. Wie konnte das nur sein? Jules war nur ein paar Sekunden unaufmerksam und mit dem Autofahrer beschäftigt gewesen. Der Kerl konnte sich doch unmöglich in Luft aufgelöst haben. Es dauerte etwas, bis er ihn in kaum hundert Metern Entfernung entdeckte. Aber was machte der Typ da kniend? Er zog an einem Kanaldeckel, um diesen zu öffnen.

Gleich würde er ihn haben, dachte Jules und rannte auf ihn los. Der Dreckskerl steckte bereits bis zu den Schultern im offenen Schacht. Jules’ plötzliches Auftauchen ließ ihn kalt. Mit einem arroganten Grinsen streckte er ihm seinen Mittelfinger entgegen und war im nächsten Augenblick verschwunden.»Scheiße!«, schrie Jules, kniete sich an das Loch des Schachtes und starrte in die Tiefe. Er konnte nichts sehen, außer Metallstufen, die nach ein paar Metern in der Dunkelheit verschwanden. Sie führten in ein anderes Reich, tief hinunter in die Eingeweide der Stadt.

 

Unter der Erde

Es war kaum zwei Wochen her, da hatte Jules einen Artikel über eine eingeschworene Gruppe gelesen, die sich Cataphiles nannten. Sie hatten eigene Regeln und Gebräuche, denen sie folgten. Die Cataphiles liebten die Freiheit, die ihnen die Steinbrüche und ehemaligen, ausgelagerten Friedhöfe unter der Stadt boten. Sie trafen sich regelmäßig in den Pariser Katakomben, einem weitverzweigten Tunnelsystem.Die Gänge und Gewölbe befanden sich ganze 30 Meter unter den Straßen von Paris. Bei konstanten 14 Grad boten sie eine gute Alternative zum heißen Sommer an der Oberfläche. Fern ab von den Lichtern der Stadt entstand eine Parallelwelt voller Statuen, Malereien und Graffitis. In größeren Gewölben fanden sogar Partys statt. Auch von einem kleinen Kino, einem Schwimmbad und sogar einem Sandstrand war in dem Artikel die Rede gewesen.Der Aufenthalt in der Unterwelt kostete allerdings schon einige das Leben. Immer wieder kam es durch den porösen Untergrund in manchen Teilen der Katakomben zu Einstürzen. Regelmäßig holten Cataflics, die Polizei der Katakomben, Verletzte aus den Tunneln. In den Labyrinthen der unterirdischen Gänge, die teilweise sogar geflutet waren, kam es vor, dass die Besucher sogar durch enge Löcher kriechen mussten, um weiterzukommen.

Es half nichts, er musste hinunter, koste es, was es wolle, dachte Jules. Solche Typen durfte man nicht davonkommen lassen. Schließlich war der Dreckskerl im Besitz seiner Uhr mit dem letzten Foto von Chloé. Jules setzte sich neben das Loch und ließ seine Beine auf einen der eisernen Tritte, die in die Wand eingelassen waren, hinunter. Es war keine gute Idee, sich ohne Ausrüstung in die Katakomben zu begeben. Normalerweise trugen die Cataphiles Gummistiefel und Kopflampen, hatten Wasser, Verbandszeug, Batterien und vor allem eine Karte dabei. Jules hatte nichts dergleichen, außer seinen Schlüsselanhänger mit einer kleinen, eingebauten Lampe und ein Feuerzeug. Außerdem saß ihm die Zeit im Nacken. Der Kerl mit dem Totenkopf-Tattoo hatte seinen Vorsprung bestimmt nutzen können. Im Gegenteil zu ihm kannte sich der Typ in den Tunneln auch noch hervorragend aus. Vielleicht war er schon längst auf Nimmerwiedersehen in den Gängen verschwunden. Oder lauerte er Jules dort in der Dunkelheit auf?

Die Metallsprossen hinunterzuklettern war leichter, als er angenommen hatte. Allerdings wurde das Licht schon nach ein paar Metern spärlicher, bis er fast nichts mehr sehen konnte. Jules stoppte trotzdem nicht, kletterte blind weiter, bis sein Fuß plötzlich ins Leere trat. War er am Ende des Schachtes angekommen? Falls ja, wie viel Meter waren wohl zwischen ihm und dem Grund der Katakomben? Er holte seinen Schlüsselanhänger mit eingebauter Lampe heraus und leuchtete an seinen Füßen vorbei. Im schwachen Licht erkannte er den Boden des Ganges, der nur noch eine Schrittlänge entfernt war. Hatte Jules den schwierigsten Teil schon hinter sich oder wartete der noch auf ihn? Was würde passieren, wenn seine Lampe ausging? Es handelte sich schließlich nur um einen Schlüsselanhänger, der ihm Licht bot. Jules begriff, dass er eigentlich nichts hatte, um sich in dieser Umgebung gefahrenfrei zu bewegen. Er bekam Angst, beschloss aber, aller Vernunft zum Trotz, das Ganze durchzuziehen. Jules dachte, dass er es Chloé mehr oder weniger schuldig war. Das letzte Stück sprang er hinunter und fand sich in einem Gang wieder, in dem er aufrecht gehen konnte. Er war trocken und seine Wände wirkten fast glatt. Als Jules losging, begleiteten ihn noch Graffiti und einige Kunstgebilde an den Tunnelwänden. Später lag der Gang nur noch in einem monotonen Grau vor ihm. Jules war mittlerweile gute zehn Minuten gegangen, als er plötzlich Feuchtigkeit in seinen Schuhen spürte. Dieser Teil des Tunnels war mit Wasser vollgelaufen. Es stand so hoch, dass es fast seine Schuhe bedeckte. Jules hoffte, dass das Wasser nicht noch höher steigen würde.Glücklicherweise wurde der Tunnel nach einigen Metern wieder trockener und er erreichte eine Verzweigung. Sollte er nach rechts abbiegen, nach links oder vielleicht besser einfach geradeaus weitergehen? Als er versuchte, seine Möglichkeiten abzuwiegen, hörte er ein Geräusch neben sich. Es folgte ein stechender Schmerz am Kopf, der so stark war, dass er augenblicklich zusammenbrach. Der Tunnelboden, den er an seinem Gesicht spürte, war nass und kalt.

Als Jules wieder zu sich kam, dröhnte sein Schädel. Er wunderte sich, warum er nichts sehen konnte. Verwirrt fasste er sich an seine Augen. Erst jetzt kehrte seine Erinnerung zurück und er begriff, wo er sich befand. Jemand musste ihn niedergeschlagen haben. Das Letzte, was er mitbekommen hatte, war eine Mischung aus Alkohol, Zigaretten und Mundgeruch. Als sich Jules in die Haare fasste, spürte er etwas Nasses an seinen Fingern. Da er kein Licht hatte, konnte er nur mutmaßen, dass er am Kopf blutete.Wie lange hatte er wohl hier unten gelegen? Er wischte mit seiner Hand über den Boden und war außer sich vor Freude, als er seinen Schlüsselbund mit der kleinen Lampe ertastete. Jules drückte den Knopf der Lampe und erschrak, da ihr Licht schwächer war als zuvor. Lange würde es die Batterie bestimmt nicht mehr machen. Als er um sich herum leuchtete, stellte er fest, dass er sich noch an der Stelle befand, an der er niedergeschlagen wurde.Jules richtete sich auf, spürte das Pochen an seinem Kopf und versuchte, einen klaren Gedanken zu finden. In welche Richtung sollte er nun weitergehen? Schließlich entdeckte er Fußspuren, die in einen der Tunnel führten. Jules seufzte und entschied sich für diesen. Wie lange würde das Licht seiner Lampe wohl noch brennen? Waren seine Uhr und damit Chloés Foto schon längst verloren? Deprimiert folgte er dem Tunnel und erreichte nach ein paar Minuten eine weitere Verzweigung. An der Wand befanden sich handgemalte Buchstaben, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Straßenschildern hatten. Er konnte La Piscine lesen. Jules leuchtete in einen der Seitengänge und sah, wie das Licht seiner Lampe von einer Wasserfläche reflektiert wurde. Er ging ein paar Schritte hinein und konnte erkennen, dass es sich um eine Höhle handelte, die bis zum Rand des Tunneleingangs mit Wasser gefüllt war. Rechteckige Säulen ragten aus dem Wasser und endeten in der Decke. Führte der Weg etwa durch dieses unterirdische Becken? Verzweiflung stieg in ihm hoch und mischte sich mit seiner Erschöpfung.Er leuchtete in die andere Richtung und las an der Wand des Tunnels die Worte Porte Royal. Darunter befand sich ein gemalter Pfeil, der die Richtung vorgab. Jules beschloss, diesem Tunnel zu folgen. In dem Gang, der zum Pool führte, hatte er keine Fußspuren ausmachen können. Derjenige, der ihn niedergeschlagen hatte, war also mit hoher Wahrscheinlichkeit in Richtung Porte Royal verschwunden.Dieser Tunnel war trocken, doch wie vermutet, bahnte sich ein weiteres Problem an. Das Licht seiner Lampe fing an zu flackern. Jules wusste, dass ihn die Batterien demnächst im Stich lassen würden. Ohne Wasser, Essen und Licht würde er aus diesem Tunnelsystem wohl kaum lebend hinausfinden.In dem Artikel über die Cataphiles war auch von Löchern im Boden die Rede gewesen. Es handelte sich dabei um Schächte, die man angelegt hatte, um in tiefer gelegene Tunnel zu gelangen. Wie sollte er sich hier unten im Dunkeln einigermaßen sicher bewegen können? Jeder Schritt in absoluter Dunkelheit könnte einen Absturz und damit den Tod mit sich bringen. Jules fing an, zu schwitzen und fühlte, wie sich Panik in ihm ausbreitete. Worauf hatte er sich nur eingelassen? Chloé hätte niemals gewollt, dass er sich wegen eines Fotos in solche Gefahr begab. Aber diese Überlegungen kamen zu spät. Besser, er würde sich darauf konzentrieren, so schnell wie möglich aus den Katakomben zu kommen. Kaum hatte er sich etwas beruhigt, erlosch seine Lampe und er stand im Dunkeln. Wie versteinert hielt er inne.»Verdammt!«, schrie Jules in die Dunkelheit.Alles um ihn herum kam im plötzlich unglaublich still vor und er glaubte, sogar seinen Pulsschlag hören zu können. Er stand in völliger Dunkelheit, irgendwo am Arsch der Welt, dreißig Meter unter dem Asphalt von Paris. Das war sehr, sehr tief, viel tiefer, als man die Toten begrub. Obwohl das für die Katakomben nicht ganz zutraf, denn in einigen Tunneln lagen noch immer die Gebeine der Toten. Vielleicht würde ihn hier unten noch nicht einmal jemand finden. Aber wer sollte auch nach ihm suchen?»Ruhig bleiben, Jules, bleib ruhig. Du schaffst das hier«, sprach er wie ein Mantra vor sich hin. Aber es beruhigte ihn kaum. Als ihm einfiel, dass er in seiner Hose noch ein Feuerzeug hatte, konnte er sein Glück kaum fassen. Niemals hätte er gedacht, dass sich Rauchen eines Tages noch auszahlen würde. Jules hatte das Feuerzeug erst vor ein paar Tagen gekauft. Es sollte ihm weiterhelfen, wenn er es nicht durchgehend anließ, was aber ohnehin nicht funktionieren würde, da diese Einwegfeuerzeuge immer sehr heiß wurden.»Feuer, das ist Leben, Wärme – das ist Hoffnung. Aber auch Gewalt, Zerstörung und Tod«, dachte Jules. Er entschied sich für die Hoffnung und zündete das Feuerzeug an. Auch wenn das Licht spärlich war, beruhigte es ihn, wenigstens wieder etwas sehen zu können.Soweit es die Flamme zuließ, beschleunigte er seinen Schritt durch den Tunnel. Doch schon nach kurzer Zeit musste er seinen Finger vom Feuerzeug nehmen. Es war einfach zu heiß geworden. Wie schon zuvor stand er im Dunkeln und wartete. Dieses Mal konzentrierte er sich darauf, ruhig zu bleiben. Panik wäre in seiner Situation gefährlich, das wusste er.Kurz bevor die Flamme seines Feuerzeuges erloschen war, hatte er in einer Wandnische zwei lange Menschenknochen und die Reste einer Kerze bemerkt. Gänzlich blind, in vollkommener Schwärze, griff er mit seinen Händen in die Nische. Als er einen der Knochen zu greifen bekam, spürte er etwas Haariges über seine Hand laufen. Es folgte ein Fiepen, wie es für Ratten üblich war. Jules versuchte, ruckartige Bewegungen zu vermeiden und zog vorsichtig den Knochen heraus. Als er spürte, dass etwas über seine Schuhe lief, war er erleichtert. Es konnte sich dabei nur um die Ratte aus der Nische handeln. Zumindest lief er nicht mehr Gefahr, dass sie ihn beißen würde. Langsam griff er erneut in die Nische. Dieses Mal berührte er etwas Feuchtes und ekelte sich. Es konnte nur Rattenkot sein. Gleich dahinter ertastete er die Reste der Kerze und zog sie heraus.Jules kniete sich hin und legte Knochen und Kerzenreste vor sich ab. Anschließend zog er sein Hemd aus und begann, es in Bahnen zu reißen. Er war verwundert, wie gut er alles, trotz der Dunkelheit hinbekam. Behutsam zerbröselte er die Kerzenreste auf der Stoffbahn, rollte sie ein und wickelte alles fest um den Knochen.

---ENDE DER LESEPROBE---