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Dieses einzigartige Werk entführt den Leser in die bewegten Jahre 1933 bis 1939, eine Zeit voller Umbrüche, Leid und verborgener Leidenschaften. Als Co-Autor habe ich das Werk des verstorbenen Autors unverändert gelassen und lediglich unübliche Redewendungen berichtigt. Im Mittelpunkt stehen zwei Frauen, deren Liebe und Sehnsüchte sich auf unkonventionelle Weise entfalten. Obwohl sie lesbisch lieben, sind sie auch ihren Männern zugetan – jede auf ihre eigene Art. Einvernehmlicher Partnertausch und die Suche nach emotionaler Erfüllung prägen ihre Beziehungen. Während diese intimen Erzählungen das Leben würzen, entgleist die Erzählung nie, sondern fügen sich authentisch in die damalige Zeit ein. Doch nicht nur Liebe und Leidenschaft bestimmen das Schicksal der Protagonisten. Die Schatten der Nazi-Diktatur legen sich über ihr Leben, und der Umgang mit jüdischen Mitbürgern sowie die menschenverachtende Ideologie jener Zeit bilden einen bedrückenden, aber wichtigen Nebenschauplatz. Die Gefahr, die Angst vor Verfolgung und Diskriminierung durchziehen das gesamte Werk und spiegeln die Realität einer Epoche wider, in der LGBTQ+ Menschen keinen Platz in der Gesellschaft hatten. Der verstorbene Autor bewies Mut, diese Geschichte kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zu schreiben – doch er wagte es nicht, sie zu veröffentlichen, denn die Abkürzung LGBTQ + Community gab es noch nicht. Im Gegenteil, auch in Deutschland war kein Platz für schwule, lesbische, bisexuelle, Transgender- und queere Menschen. Sie wurden verfolgt. So ist es bis heute in einigen Ländern geblieben. Seine Erben holen dies nun nach und tragen damit zu einer Aufarbeitung eines Stücks Zeitgeschichte bei, das von Liebe, Leid, Nazi-Verfolgung und dem unbändigen Willen zu leben erzählt. Ein intensives, bewegendes und zugleich provokantes Werk, das die menschliche Natur in all ihren Facetten beleuchtet. Eine einmaliges Werk welches so noch nicht erschienen ist!
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Die Bekanntschaft
Lebensgeschichte von Ruth und Heinz
Schmerz und Testament
Rausschmiss und Geständnis
Erikas Botschaft
Nachklang italienischer Romanze
Wellengang
Tod der Frau Spöttele
Hochzeit Yasmin und Heinz
Galerievorhaben gewinnt Gestalt
Der Hammer
Verhinderte Rückreise
Impressum
Schattenliebe
unter dem
Hakenkreuz
Heinz Cooper
Ausgabe 1.1 2025
Dieses eindringliche Werk, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg verfasst und nun erstmals von dem Erben des verstorbenen Autors ans Licht gebracht, versetzt den Leser in die turbulenten Jahre 1933 bis 1939 – die unruhige Nazi-Zeit vor dem Ausbruch des großen Krieges. Co-Autor Heinz Cooper hat das Manuskript behutsam bearbeitet, indem er lediglich veraltete Ausdrücke angepasst hat, um die Geschichte für heutige Leser zugänglich zu machen, ohne ihren ursprünglichen Charakter zu verändern.
Die Handlung erzählt von zwei lesbischen Frauen, die in einer Ära der Unterdrückung und gesellschaftlichen Enge ihre Liebe zueinander und zu ihren Männern auf unkonventionelle Weise leben. Mit einer Mischung aus tiefer Leidenschaft, gelegentlichem Partnertausch und intensiven erotischen Momenten zeichnet das Buch ein fesselndes Porträt von Begehrenden in einer unbarmherzigen Zeit. Denn in der Ära des Nationalsozialismus war für Menschen, die von der Norm abwichen, kein Platz – die LGBTQ+-Gemeinschaft, damals noch ohne diesen Namen, wurde brutal verfolgt.
Buchauszug:Heinz stöhnte. «Sie verführt Dich, du bist zu schwach, um Widerstand zu leisten«.
«…Verführung«, prüfte Ruth, "na, das ist nicht ganz richtig. Ich betreibe lesbische Liebe mehr oder minder freiwillig. Ich muss eingestehen, dass ich dadurch in acht Jahren Mannersatz kompensiert habe, Was hätte ich ohne sexuelles Gegengewicht bei meiner Schwäche tun sollen? …«Einverstanden«, frohlockte Heinz. «Yasmin muss in der Ehe, ohnehin eine Geliebte dulden. Dann doch besser Dich. Das verlange ich vor der Heirat von ihr schwarz auf weiß. Ansonsten trete ich, obwohl sie schwanger ist, in letzter Minute von der Heirat zurück«.
…«Liebt ihr Euch regelmäßig?« «Öfter pausiert er« meinte Yasmin. «Er zeugt für Hitler Kinder, kriegt dafür Geld, das er durchbringt. Oft muss ich ihm mit eigenem Geld aushelfen. Dafür liebt er mich tüchtig. So liegen die Dinge. Oder er kriegt mal Gefühle und ich muss ran«.
Der Autor hat Mut bewiesen, diese Geschichte kurz nach dem zweiten Weltkrieg zu schreiben – aber keinen, sie zu veröffentlichen (stand unter Strafe). Seine Erben wollen dieses nachholen und klären damit auch ein Stück Zeitgeschichte, die teilweise ausführlich erlebt wird.
Die Nazi-Zeit und der Umgang mit den Juden ist ein Nebenschauplatz. Ein Auszug gibt Einblick in die damalige Stimmung:
Neben der Lok diskutierten drei SS-Chargen miteinander und mit dem Lokomotivführer über den voraussichtlichen Verbleib des «Menschenmaterials«.
«Reiche und Arme Hunde«, rekognoszierte während der Unterhaltung einer. «Dreck am Stecken haben sie jedoch alle, die Christenausbeuter.«
«Alle kannst Du nicht über einen Kamm scheren Karl«, entschuldigte ein älterer. Es gibt rühmliche Ausnahmen«.
«Die magst Du aber man mit der Lupe suchen, Peter. In der Regel hauen dich die Juden elegant übers Ohr. Betrug liegt ihnen im Blut. Es ist schon O.K., wenn ihnen eine Lektion verpasst wird«.
Ein intensiver, einmaliger und zugleich Historischer Roman, der diese brutale Zeit, sowie die menschliche Natur in all ihren Facetten beleuchtet.
Ein bewegendes Buch welches so noch nicht erschienen ist!
Der Co-Autor Heinz Cooper
Der Autor †
Das Thema Liebe ist ein Kapitel für sich. Es ist auf Anhieb für den Verlauf und Ausgang einer Beziehung nicht berechenbar. Es kredenzt sich nach anfänglichen Schwierigkeiten locker, dennoch variantenreich, beruhigend oder abenteuerlich und vielgestaltig. Die Verhaltensweisen der Betroffenen und Liebenden gleichen sich von Fall zu Fall den Bedürfnissen des verheirateten oder unehelichen Partners an, sie richten sich nicht zuletzt nach dominierenden eigenen Vorstellungen, die aus Veranlagung und erworbener Neigung bisweilen heftig schwanken. Stimmungen und Vollzugsgedanken prägen nämlich in der Partnerschaft ein «Eigenleben« von vielfach fiktiv vorgegebenen Berührungs- und Orientierungspunkten.
Alle Faktoren zusammen resultieren in einer geistig seelischen Zuwendung wie im erotischen und sexuellen Gefühlsmoment.
Der oder die Liebessuchende und -findende durchlebt das Stadium der Hochpotenz, sobald die eigenen Gefühle partnerlich mittels Wort und Vereinigung harmonisch geordnet und ausgetauscht werden können.
Darin ist partnerliches Glückserlebnis in einer Beziehung zu erblicken.
Leider sind Gefühl und Glück untereinander nicht auf ewig verschmolzen.
Menschliche Unzulänglichkeiten und Einflüsse der Umwelt, die im geistigen und materiellen Potenzial, aber auch durch persönliche Erlebnisfähigkeit zustande kommen können, finden Berücksichtigung im subjektiven Vermögen oder Unvermögen einer einst auf «ewig« untermauerten Liebe. Liebesausdruck möchte sich gern über seinen Träger zugunsten des Beschenkten sublimieren, Liebeserfüllung beim andern in noch kostbarerer Form genießen. Um dies Ziel zu erreichen, werden Stützpfeiler der Liebe oft eigenmächtig und einseitig versetzt, abgerissen und auf egoistischem Fundament gegründet. Missverständnisse und Falschbeurteilungen sind dann nicht zu umgehen.
Die Menschen in der vorliegenden Geschichte haben alle Bedürfnisse und Gefühle gehabt, die sie nicht ohne weiteres haben ausleben können. Die leiblichen und geistigen Wünsche lassen sich sinnvoll oder vollkommen überzeugend keineswegs im ersten Versuch aufeinander abstimmen. Geistige, irdische, hochgeschraubte wie profane dingliche und sexuelle Wünsche können nach Veranlagung und Erfahrung nicht immer auf ein Echo hoffen. Einige mögen auf den ersten Blick abartig erscheinen. Egoistische und selbstlose Verhaltensweisen wetteifern abwechselnd und zeichnen weniger Stärken als Schwächen der Helden auf. Das rein «Menschliche« erhält dadurch sein ihm gebührendes Licht.
Als Heinz mit der hübschen Siebenundzwanzigjährigen in Jüterbog eine halbe Tanznacht verbracht hatte, empfanden beide mehr als Sympathie füreinander. Fortan besuchten sie öfter ein Tanzlokal, suchten eine Konditorei heim, bummelten zielbewusst oder vergnügten sich einfach wahllos wie genügsam mit alltäglichen, teils musischen Dingen des Lebens, und zwar im Rahmen der zu Gebote stehenden Freizeit.
Dass er nicht unbeschränkt über zusammenhängendes Stundenpotential verfügte, lag an seiner kasernischen Bindung in der Flämingstadt Jüterbog. Er leistete dort seinen Verpflichtungsdienst als Soldat auf Zeit ab und strebte alsbald die Unteroffiziers-, und bei gehörigem Glück, später die Offizierslaufbahn an.
So gesehen stellte er in jungen Jahren, er hatte die Einundzwanzig 1933 erreicht, einen gehobenen Anspruch an das Leben. Eine sorgsame Partnerwahl wollte er zu gegebener Zeit treffen. Doch hatte es mit dem Knackpunkt keine Eile. Die Angebetete sollte auf alle Fälle äußeren und inneren Ansprüchen persönlich und gesellschaftlich genügen. Konnte Ruth, die Tanzpartnerin, auf Grund ihrer Bildung die Erwartungen erfüllen? Heinz bekam heraus, dass sie Abiturientin gewesen war. Insofern schien alles im Lot zu sein. Er hätte nach angenehmen Stunden des Kennenlernens bedenkenlos zugestimmt, wäre da gefühlsmäßig nicht ein Zweifel über eine dunkle Seite ihres Vorlebens aufgekommen. Sie hielt, meinte er, ein Geheimnis vor ihm verborgen. Welches? Hing es mit ihrem Alter zusammen? Dass sie sechs Jahre älter als er war, was er ermittelt hatte, sorgte ihn nicht. Eine ältere Frau konnte wegen ihrer Reife und Erfahrenheit für einen jüngeren Mann ein Juwel sein. Ruth, der er sich glückhaft verbunden fühlte, und deren geistige und körperliche Ausstrahlungskraft ihn magisch fesselte, trug, ungeachtet jenes bestehenden Missbehagens, ihm nach kurzer Bekanntschaft die Freundschaft an. Das geschah eben heute.
Heinz quittierte die Freundschaftsofferte, weil er sie mochte. Über die enge Freundschaftsbindung hinaus beabsichtigte er eine tragbare Brücke nicht nur zur geistigen Übereinkunft, sondern zugleich zum Eros und zur harmonisierenden Beziehung zu schlagen. Zu Ruth erwähnte er das mit keinem Wort, obwohl sein junger Körper nach fraulicher Zuwendung lechzte. Er konnte und wollte die Bedürfnisse des Leibes nicht leugnen, allein verwalten. Ruth, der gegenüber er das Thema zwei Tage später vage ansprach, erfasste sofort seine Situation.
«Sie muss intuitiv meine Gedanken angezapft haben«, dachte er.
«Heinz«, warf sie ein, «der geistige Faden und Deine Liebessehnsucht sind miteinander verschlungen. Wir sind uns ähnlich. Ich könnte mir gut vorstellen, Dich eines Tages zu lieben, wenn Du für mich Verständnis und Toleranz in einer nebenherlaufenden Beziehung aufbrächtest. Ich bin nicht sicher, ob Dir das gelingt. Doch prüfe, ob Du unsere Altersschranke tolerieren kannst. Meine 27 erfahrenen Lenze sollen Dir nicht zum Nachteil gereichen. Ich vermag Reife und Lebenskenntnis nebst Erfahrung in Daseinskontakte einzuschleusen. An meiner Liebeszuwendung soll es Dir nicht mangeln. Das glaube mir. Wenn Du mein «Doppelleben« nicht gutheißt, was ich auch verstünde, ist es besser, die eben angetragene Freundschaft gleich aufzukündigen. Im Klartext, verschiedene Gründe sprechen dafür, dass ich mich in eine Nebenrolle, wenn Du das so sehen kannst, lesbisch einzufügen habe.«
Heinz war nach diesem Bekenntnis wie vor den Kopf geschlagen. Ruth hüllte sich in Schweigen. Sie nickten lediglich einander zu. Er ahnte, dass er «Verdauungszeit« benötigen würde. Er ging grußlos und traurig ohne ein klärendes Wort an sie gerichtet zu haben. Wozu auch?
Den Rückweg zur Kaserne bewältigte er wie im Traum. Er konnte das Gehörte nicht nachvollziehen. Weder Logik noch Gefühlseinlassung erklärten ihm das Unfassbare. Er war drauf und dran gewesen, zu glauben, mit dieser Frau einmal im siebenten Himmel schweben zu können, doch sie schien keinen Sinn für Partnertreue aufzubringen, ja sie wünschte einen Freibrief für ein Liebesdoppelleben, mit dem er keineswegs einverstanden sein konnte!
Tage anstrengenden Militärdienstes auf dem Kasernenhof und im Schulungsraum beim Planspiel forderten ihn und zwangen ihm gewissermaßen Umsicht bzw. innere Ruhe auf, so dass er bereits dachte, Ruth sei ihm gleichgültig geworden. Im Dienst beging er trotzdem viele Fehler und dingliche Verwechslungen.
Einmal schrie ihn in einer Instruktionsstunde ein Oberleutnant an «Bogener, was ist mit Ihnen los?« Erschreckt fuhr er hoch. Da war sein Name gefallen. «Mensch, sie bauen Mist. Leben sie auf dem Mond? Glauben sie bereits General zu sein? Wie lange noch wollen sie mich verscheißern, mir und allen grüblerisch und mit Fehlverhalten begegnen?« Er sprang dienstbeflissen auf. Herr Oberleutnant! «Setzen sie sich. Folgen sie dem Unterricht. Er tat es.
So durfte es nicht weitergehen. Weder im Dienst noch mit seiner Bekanntschaft. War es nur eine abgestufte? Er fühlte es im Herzen. Es war mehr. Er liebte das Mädchen Ruth. Warum? Er wusste es nicht zu sagen. Es zog ihn zu ihr. Er wollte vernünftig mit ihr reden. Gleich nach dem Unterricht rief er in ihrer Firma an, einer Seifen und Kosmetikfabrik, wo Ruth im Kontor meistens halbtags arbeitete.
Es meldete sich auf Anhieb eine Frau Lahner, die ihn wunschgemäß mit Fräulein Wilkenstein verband. Sie verabredeten für den folgenden Tag um 15.00 Uhr in der Konditorei Schnee eine Zusammenkunft. Er würde für viele Stunden Ausgehurlaub mitbringen.
Noch nie hatte er einem Soldatenausgehgang mehr entgegengefiebert, als diesem. Zwanzig Minuten vor der verabredeten Zeit tummelte er sich bereits im Café. In Muße suchte und fand er einen Ecktisch für zwei Personen vor einer Fensternische, wo er etwas steif Platz nahm. Die wenigen Gäste, die um die frühe Nachmittagsstunde zugegen waren, musterten ihn nur kurz. Dann widmeten sie sich wieder ungestört der Unterhaltung oder dem Genuss.
Dem blutjungen schmächtigen Serviermädchen mit der drollig langen Schürze, die an den Tisch getreten war, bedeutete er, dass er in Kürze Besuch erwarte. Daher würde er zunächst nur um einen Weinbrand bitten. Das Mädchen neigte verständnisvoll den Kopf, brachte bald das Bestellte. Jetzt hätte er Gelegenheit gehabt, sich auf die Begegnung mit Ruth und auf Fragekomplexe zu konzentrieren. Allein, der Versuch wollte nicht gelingen. Wie hypnotisiert starrte er auf die breite Türportiere mit den zwei schweren dunkelbraunen Stores, die alle Ankömmlinge seitlich flankierten. Fünf bange Minuten nach 15.00 Uhr waren verstrichen. Seine nervliche Anspannung löste sich.
Ruth stand im Vestibül der Konditorei, musterte die Sessel und Stuhlgruppierungen, die unterschiedlich gedeckten Tische. Mehr mechanisch als aufmerksam hob Heinz, ihr leicht zuwinkend, die Rechte. Sein Herz schlug einen Purzelbaum. Ruth sah hinreißend aus.
Sie trug ein überknielanges, dünnes, geblümtes Kleid mit wenigen großen, teils kleinen roten, blauen, ockergelben und grasgrünen Kreistupfen. Der gewagt spitzangesetzte Halsausschnitt gewährte nur knapp einen knappen Brusteinblick, wo eine überdimensionale Bernsteinkette versteckt baumelte. Ihr Kopf mit dem pechschwarz getönten und aufgesteckten Haar schien beim Wiegegang über dem weinrotflauschigen Teppich am gedämpften Rhythmus des forschen Beingangs einen Anteil zu haben. Die Gehrichtung schlug Ruth zielgekonnt und zwanglos ein, so als zöge eine behutsam entspannte Feder sie weich zu ihm, wenn es eine solche Feder gäbe.
Er hatte sich erhoben, war Ruth entgegengetreten. Ihm kam der Eindruck, dass sie gern im schicken Staat bewundert werden wollte. Sie schritt wie auf einem Laufsteg bei einer Modenschau, kokettierte mit den Damen und Herren.
Sein Augenpaar kroch in ihr braunes Gestirn. Scheu und devot verfolgten ihre Kulleraugen seinen sehnsüchtigen Blick zu den Beinen. Sie fixierte hinter halbgeschlossenen Lidern eine traumhafte Ferne, in der verborgene Gesprächsgedanken zu ruhen schienen, um später gezielt mit der weiblichen Anmut auszustrahlen.
Ruth ließ erkennen, dass sein ergründendes Auge auf ihre samtweich fließenden Formen unter dem engtaillierten Kleid ihr letztendlich wohltat. Sie wollte auch Fraulichkeit offenbaren. Die Stilaugen von Heinz fing sie auf wie einen Schmetterball, der im Ziel, in ihrem Charme, landete. Vielsagend lächelte sie, fragte: «Was denkst Du, Heinz?« «Wir sitzen halbverloren«, parierte er, angestrengt bemüht, ein halbwegs vernünftiges Gespräch zustande zu bringen, ihr charmantes Lächeln zu erwidern. Er verhielt sich jedoch unglaubwürdig. Und wie war es mit Ruth bestellt? Aufmerksamer als vorhin verfolgte er ihre nervös rudernde Hand auf der Tischplatte. Ruth war keineswegs so überlegen, wie sie vortäuschte.
Am liebsten hätte er seine Hand auf ihre gelegt, hätte sie gestreichelt; denn ihm war sonnenklar, dass er Ruth mehr liebte als die abendlichen Gestirne des Himmels. Sollte sie ihn, so viel sie wünschte, getrost mit der lesbischen‘ Version nerven, ihn demütigen. Eines Tages würde alles, wie eine Seifenblase, vorbei sein.
Ruth fingerte ziellos am Handtäschchen, das neben der Serviette lag, so dass diese zu Boden rutschte. Auf dem Damast Bezug des Marmortisches bewegte sich die Handasche in geschlängelten Liliputbewegungen hin und her.
Schließlich sagte Ruth leise, aber vernehmlich: «Wir haben uns Tage nicht gesprochen, guter Heinz. Ist bei meiner lesbischen Neigung in Dir ein Entschluss gereift?«
«Ich denke, es ist nicht Deine Schuld, dass Du heterogen bist«, entgegnete er. Ruth errötete. «Ja und nein, ich falle nicht aus der Rolle. Ich bin normal veranlagt, wie Du. Ich bin nicht frigide. Ich könnte jedem Mann Geliebte sein, wenn ich jemals wollte.
Der heutige Tag wird Klarheit bringen, ob eine Beziehung zwischen uns Sinn macht. Verstehe zu lernen, weshalb ich «normal und lesbisch« angehaucht bin. Hätte es genügt, wenn wir ein Faible füreinander gehabt hätten? Derzeit bin ich dem Lesbischen mitverhaftet, weil ich außer Dir keinen männlichen Liebhaber kenne.
Zu Dir könnte ich womöglich nach und nach eine intime Beziehung aufbauen. Ich brauche einen Gebieter, und sie senkte, wie einstudiert, das wuschelige Haupt, der mir was bedeutet, und zwar nötiger als Du dummer Mann denken kannst.
Momentan, ganz platt gesprochen, wissen wir voneinander nicht mehr, als dass Du Heinz Bogener heißt, der mit der um der um sechs Jahre älteren Gans Ruth Wilkenstein ein Verhältnis anstrebt. Natürlich kann ich nicht voraussagen, inwieweit meine natürliche Veranlagung bei Dir «aufblüht, gedeiht«, wenn statt der Freundin Du Liebe in mich pflanzen tätest.
Darf ich im positiven Fall einige Knospen der Freundin schenken, mein Bester? Gestatte es mir. Entscheide Dich weise, ob Du bei mir bleibst.«
Er schaute Ruth durchdringend, fragend an, als solle nicht er, sondern sie die passende Antwort liefern. «Ich will Dich« flüsterte er. «Ich liebe Dich. Alles andere wird sich finden.«
Auf Spötteles langovalem Wohnzimmertisch prangte ein wunderschöner Frühlingsstrauß. Er erinnerte duftend an die bevorstehende Zeit himmlischer Geschenke an das keimende Leben auf der Erde. Dabei schrieb man nach dem Kalender erst Ende Januar 1932. Das wunderschöne Blumengebinde stammte aus dem Treibhaus. Es beanspruchte als farbenfrohes Mitbringsel von Yasmin Lahner, einer Angestellten von Herrn Spöttele, die in dessen Haus ab und an freundschaftlich verkehrte, in den Abendstunden beschauliche Beachtung. Das Lampenlicht brach und schlängelte sich stärker oder schwächer um die voluminöse Vase, in die der Hausherr den herrlichen Strauß getan hatte. Gern hätte dies die Hausfrau übernommen, wenn sie gekonnt hätte, um die einzelnen Blumen zueinander ein wenig anders zu arrangieren.
Indes lag sie umgebettet im Raum auf einer Ottomane begnügte sich, nach der Begrüßung von Yasmin mit der Rolle der Betrachterin und Zuhörerin einem Krebsleiden, das nach 1ängerer Bettlägerigkeit die Gliedmaßen ungelenkig gemacht hatte. Frau Spötteles Lebenskraft hatte erheblich gelitten. Sie konnte, das wusste Yasmin bereits, ihrem Mann seit vielen Jahren ehelich im wahrsten Sinne des Worts nicht genügen, wozu eine gesunde Frau in einer Liebesbeziehung sonst selbst Verlangen verspürte. Das Verhältnis zwischen den Eheleuten war trotzdem gut. Es fand auch heute beim Gespräch einen fürsorglichen Nachhall. Frau Spöttele, die Liebeswünsche ihres Mannes aus erwähnten Gründen nicht zu akzeptieren vermochte, hätte, wenn bangend, es gern gesehen‚ wenn die junge, kräftige und durch eine frühere Ehe erfahrene Frau Yasmin mit ihrem Mann ab und zu intim geworden wäre. Die Liebe von Frau Spöttele zu ihrem Mann war rührend, ja großzügig, so dass sie die «Kleinigkeit des Ausleihens« ihrem Mann zuliebe durchaus toleriert hätte. Frau Lahner wusste es.
Sie hatte ohne sein Wissen mit ihr vor gut zwei Monaten ein eindeutiges Gespräch geführt. Yasmin Lahner hätte Frau Spotteies Wunsch erfüllt, wenn ihr lesbischer Liebeskreis sie daran nicht gehindert hätte. Das wussten mittlerweile beide Spöttele. «Was für Neuigkeiten hast Du« sagte Frau Spöttele aufschauend zu Yasmin, «privat und dienstlich auf dem Herzen? Oder herrscht bei Dir eitel Sonnenschein?«
«Keineswegs. Alles nicht der Rede wert. Wetterwolken kommen und gehen. Sie sehen in der Bedrohlichkeit sogar interessant aus, beflügeln in der Gestaltungsform die Phantasie. Die bedrückende Stimmung ist noch nicht abgezogen. Momentan spielt seit Tagen der Magen verrückt. Vielleicht eine Übersäuerung, vielleicht ein Essfehler oder ich konsumiere zu viel Nikotin, Koffein und Alkohol und reagiere auf diese Reizstoffe.
«Müsstest mal den Arzt aufsuchen«, warf Frau Spöttele ein.
«Auf jeden Fall sollte ich daheim gründlich kauen und beim Futtern mehr nachdenken.
«Nur so werde ich dicker werden.«
«Würde Dir, Yasmin, nicht übel stehen. Bist fast eine Bohnenstange. Und, fügte er hinzu, in meinem Betrieb, in dem Du zum Glück arbeitest, könntest Du gewichtiger auftreten. Ernsthaft verdeutlichte er: «Regelmäßige über den Tag verteilte kleinere Mahlzeiten, möglichst nicht spät abends, brächten für den gestressten Magen eine wichtige Entlastung.«
«Als hätte sie die Bemerkung überhört, setzte sie nach: «Auch dürfte ich nicht bis nach Mitternacht Abenteuerromane verschlingen und mein Nervensystem schädigen. Leider lasse ich mich von Helden, mit denen ich mich geistig verbünde, in der Psyche beeindrucken.«
Beide Spöttele lächelten.
Yasmin kam, während er, Spöttele, noch über die Bohnenstange nachdachte und sich vorstellte, wie schön es wäre, eine solche warme in den Armen zu halten, über ein Schmunzeln nicht hinaus.
Sie sagte, dass auch Herzklopfen und Atemnot, sie öfter ängstigten. Insofern sei es gut, fuhr Frau Lahner fort, dass sie hier liebevolle Begegnung erfahre.
«Der Mensch«, nahm Frau Spöttele den Faden auf, ist ein respektables, wenn auch eigenwilliges Wesen, das einer bestimmten Betätigungsform nachhängt, meistens den Eigeninteressen verbunden bleibt«. Sie legte bewusst eine Pause ein, in der sie Mann und Yasmin auf eine verschwommene Ebene ihrer Betrachtung stellte. «Schließlich schmückt sich der Mensch entsprechend seiner Erscheinungsform mit oft äußerlichem Beiwerk.«
«Gewiss«, ergänzte Jasmin, «aber ist es nicht so, dass Bekanntschaft, Aussehen und Ansehen eines Erdenbürgers eigentlich seine Visitenkarte sind, mit der er sich Zugang zu den Stätten seiner Wahl verschafft? Der Strebende nicht zwangsläufig erworbene Register, um möglichst achtbaren Klang und Namen zu erlangen im Regionalorchester dieser Welt.«
Herr Spöttele brachte seine Gedanken, die wie vorhin um die Liebe kreisten, ein.« Ich finde, dass auch der Höhepunkt des Menschen eine Würdigung erfahren sollte«. Der Höhepunkt beinhaltet intime Bindung in glücklichster Form« sagte er mit Seitenhieb auf seine Frau. Er verstand sich genau zum Gegenteil dessen, was eingeschränkt als unglücklicher Gedanke im Lebensraum kreiste.
«Auf dem Höhepunkt schwingt er, der Mensch, über sich hinaus. Er erfährt Selbstfindung im andern Geschlecht, zu dem ihn Liebe beflügelt und wo er, wenn er vermag, eine eheliche oder harmonisierende Beziehung zu einem gleichdenkenden Lebensgefährten einzugehen trachtet.«
Das hatte Spöttele, der manchmal bitter sein konnte, auf seine Verhältnisse zugeschnitten.
«Übliche oder Liebe auf besondere Art«, betonte Yasmin, und sie vergegenwärtigte sich ihrer lesbischen Besonderheit, «ist vielgestaltig sie kann den geistigen, seelischen oder körperlichen Bereich eines Menschen tangieren. Oft wirken mehrere Bereiche gleichzeitig. Jeder Mensch ist«, sie blickte zum Hausherrn, «nach verdrängtem oder nicht verdrängtem Gefühlsleben von mangelnder oder erhaltener Liebe beseelt, die er gern weitergeben möchte, damit der Partner gleiches Glück erfahren kann. Liebe begnügt sich, da wir einmal von ihr sprechen, nicht damit, einen Interessenbereich zu sichern und nicht damit, nur eine lockere Partnerkette zu spannen. Äußere Schranken sollten nie unübersteigbar bleiben. Zugang zur befreienden Liebe ist eine der Voraussetzungen für gegenseitige gedeihliche Beziehung.« Obwohl es nicht ganz stimmte, ergänzte sie, weil sie es so empfand: «Einschränkungen sollten nicht vorherrschen, sondern können mur als gegeben hingenommen werden. Liebesverlangen muss allein entstehen, sich frei äußern und entfalten, um aus geistigem Schwung Freude und Kraft zur Liebe für das eigene Herz zu erreichen.«
Frau Spöttele bemerkte:« Legt die erste Begegnung von Mann und Frau auf einer der angesprochenen Ebenen zwangsläufig und schwerpunktartig über alle äußeren Merkmale hinaus nicht innere Werte des Partners und der Partnerin frei wie vor einem Spiegel, der das Echte, wenn auch umgekehrt, vermittelt? Der Betrachtungssockel, wenn man von einem solchen sprechen will, wäre Maßstab für unterschiedliche Werthöhen«.
Die Gesprächsführenden erörterten noch dieses und jenes, um dann bei Belanglosigkeiten zu enden. Es war auch schon spät.
«Und was war oder ist betrieblich?«, hakte Erich Spöttele nach, der im Betrieb nicht so gut informiert war, wie Yasmin bzw. die Damen seines Waschmittelbetriebs.
«Ja«, sagte Yasmin, «der Betrieb sollte besser laufen. Die große Waschmittelmaschine setzt bei der Produktion zeitweise aus und der Parfümerieabsatz stagniert in der NS-Ära. Sie müssten, Chef, mal eine Umgestaltung vornehmen«.
Ruth stand vor dem Spiegel und beseitigte die Spuren der vergangenen Nacht. Auf die dunklen Augenränder tupfte sie mit einem Wattestäbchen leichthaftendes Puder und rieb leicht eine geschmeidige Tagescreme auf. Wangen und Lippen erhielten ein herausforderndes kräftiges Rot, das sie zum Teil wieder entfernte, um einen dezenten Schminkton zu erreichen.
Die Sonne lachte bereits aus allen Löchern. Das war gut. Heinz hatte sie für Sonnabend/Sonntag zu einer Bahnfahrt nach Berlin und Umgebung eingeladen. Ruth sollte wegen des zu erwartenden anstrengenden Tages so lange wie möglich schlafen. Heinz wollte daher früher als sie am Bahnhof sein, um die nötigen Tickets ruhig lösen und Fahrverbindungen erfragen und notieren zu können. Um 8:00 Uhr wollten sie sich auf dem Bahnhof treffen.
Ruth schaute auf ihre Armbanduhr, sputete sich, schlupfte der warmen Endfebruarsonne wegen in einen dünnen Mantel, setzte eine schicken Filzhut auf, den sie vom Garderobenhaken nahm.
Schon startbereit, tat sie in ein kleines Töpfchen ein von ihr hergestelltes Kartoffel-Zucchini-Gericht, und schmierte für Heinz und sich noch einen kleinen Berg Brote, den sie einwickelte und in einem Einkaufsnetz verstaute. Als die Wohnungstür ins Schloss fiel, war sie heilfroh und marschierte leichtfüßig zum Ziel.
Unterwegs musste sie an Heinz, ihren vorausgeeilten Glückspilz, denken. Der Leichtfuß hatte in der dritten Klasse der Norddeutschen Klassenlotterie auf ein Achtellos vor Tagen, wie sie von ihm erfahren hatte, sage und schreibe, runde 2006 RM gewonnen, wovon er einen Teil des Geldes heute und morgen mit ihr versilbern wollte. Genau genommen, waren bereits 90 RM weg. Er hatte sich einen schicken Anzug geleistet, den er heute trug, 55 RM, und ihr war von ihm, ein neuer Rock und eine für die Jahreszeit zu dünne Bluse in Oliv für 35 RM verehrt worden.
Stolz sah sie Heinz vorm Bahnhof winken. Sie legte im Schritt einen drauf. «Morgen, Leichtfuß«, rief sie fröhlich. Wir können durch die Sperre.« Heinz küsste und geleitete sie, die Fahrscheine in der Hand, zum Bahnsteig, wo kurz darauf der Zug schnaufend einlief.
Der Zug verließ nach vielem Rufen und Abklopfen von diversen Maschinenteilen der Lok, Jüterbog in Richtung Luckenwalde. Er begann zusehends, rasch große Fahrt aufzunehmen. Die beiden saßen allein in einem Holzabteil dritter Klasse, wo Heinz seinen Arm um Ruth zu legen versuchte.
«Bitte nicht«, flüsterte sie und entzog sich ihm. Sie ergriff seine schwielige Hand, tat beider Hände auf ihren Rock. Ihre weiche, warme Hand lag zuunterst. Sag mal«, begann sie, «wie bist Du auf die Idee gekommen, in der Lotterie zu spielen? Hattest Du schon früher Lose gekauft? Möglicherweise hast Du bereits irgendwo Reichtümer gehortet«.
Heinz lachte. «Ja, ich versuchte, wie bei Dir, es schon öfter mal, aber Fortuna war mir, bis auf jetzt, nie hold«. «Jetzt allerdings genießen wir schöne Gemeinsamkeit«, argumentierte Ruth, wobei sie schelmisch aufblickte. «Was erwartest Du von mir «?
«Viel und doch zunächst nichts, wie Du magst«.
«Gib mir ein bisschen Zeit«, räusperte sich Ruth. «Vielleicht kannst Du dann sogar alles kriegen«, jetzt war sie es, die seinen Arm betulich um sich schlang, Seitenberührungskontakt zu seinem Körper aufnahm. Das schnaubende Vehikel hatte mehrmals über die Dampfsirene gebrüllt, rollte gegenwärtig über die Vorsignale dem nahen Luckenwalde zu.
«Kennst Du Luckenwalde«? fragte Heinz. «Bin noch nicht dort hingekommen, obwohl die Stadt quasi vor der Jüterboger Haustür ist«.
«Ich zeige Dir Luckenwalde gelegentlich« bemerkte er. «Luckenwalde ist eine kleine Industriestadt, hauptsächlich durch Tuchweberei, am Ufer der Nuthe. Sehenswert wäre ihre spätgotische Johanniskirche mit dem freistehenden Glockenturm«.
«Wir reisen wirklich nach Berlin«? fragte Ruth nach. Was wollen wir in Berlin, lieber Heinz «?
«Uns umsehen, was entdecken, ich habe grob vorgeplant, so dass wir nicht ganz ziellos irren, dann wollen wir natürlich den Wintersonnentag genießen«.
«Wenn die Stunden des Tages in Berlin ausreichen, machen wir vielleicht noch einen Abstecher nach Potsdam, das nur 30 km entfernt ist«. Abends ab 20.00 Uhr wird aber im Friedrichstadt-Palast in der Metropole ein erkleckliches Unterhaltungsprogramm abgespult, hernach müssen wir im Hotel Berolina nächtigen, um uns anderntags hoffentlich frisch und frohgemut, wieder unter die Menschheit zu mischen«.
«Und wo würde diese Menschheit am Sonntag rumlaufen«, fragte sie, neugierig geworden«.
Weniger rumlaufen als rumschwimmen. Wir beide wollen uns ebenso verhalten«.
Sie verstand nicht, guckte ihn reichlich verdutzt an.
«Pass auf, die Jahreszeit ist nicht gerade für ein luftiges Unternehmen geeignet. Dennoch möchte ich mit Dir am Sonntag in den Spreewald und Dich zu einer Kahnfahrt einladen. Da die Witterung offen und ungewöhnlich mild ist, wittern die Bootsverleiher bereits Geschäfte, wie mir zu Ohren gekommen ist. Möchtest Du also im Spreewald Kahn fahren«?
«Ja, Heinz, ich mache alles mit«.
«Von hier aus, von der Fahrtrichtung nach rechts gesehen, in einer Luftlinie etwa 40 km entfernt, würde man auf Lübbenau im südlichen Spreewald stoßen. Lübbenau ist ein Zentrum der Gemüseverarbeitung. Die Bewohner leben von der Bierbrauerei und Leinweberei. Die einstige Wasserburg ist in ein klassizistisches Schloss umgebaut worden. Der Ort beherbergt ein Spreewaldmuseum«.
«Ruth, was befindet sich in Deinem Netz«, fragte er unvermittelt.
«Brote und Mittagessen für uns beide«.
«Das wäre nicht nötig gewesen. Na, vielleicht kriegen wir Hunger. Ich verspüre Lust auf eine Tasse Kaffee und Du vermutlich auch. Lass uns den Speisewagen aufsuchen. Der Zug führt einen, weil er von Dresden kommt«.
Den Speisewagen fanden sie in der Mitte des Zuges. Sie hielten sich in ihm nicht lange auf. Bald saßen sie wieder im Abteil, Ruth gab ihm einen dicken Kuss. «Das ist der Nachtisch«, bemerkte sie schlicht.
In einem der vielen Berliner Bahnhöfe, dem in Berlin Wannsee, Zoologischer Garten in Charlottenburg, Friedrichstrasse, Berlin-Mitte, Berlin-Hauptbahnhof, Friedrichshain, Karlshorst, Lichtenberg oder Schönefeld kamen sie nach abwechslungsreicher Fahrt vormittags an. Heinz zeigte keine Lust, den Namen des Bahnhofs zu ergründen. Er begab sich mit Ruth sogleich in die nahe U-Bahn-Station und löste für beide ein Rundumticket. Hier erfuhr er am Schalter den Namen ihrer Station, so dass er die Weiterfahrt mit der jeweiligen Linie planen konnte. Doch zunächst setzten sich beide auf eine Riesenbank des Bahnsteigs. Sie verzehrten kurz entschlossen alle Brote aus dem Netz. Heinz erläuterte: «Ohne Planung wären wir in der Metropole mutterseelenallein, müssten ziellos herumstrolchen. So aber kann ich dir dank meiner Vorkenntnisse und der Tatsache, dass ein Onkel in Berlin Tegel wohnt, der mir Besichtigungstips vermittelt hat, dir in kurzer Zeit verhältnismäßig viel bieten und was wichtig ist, auch halbwegs erklären. Ich weiß selbst einiges, werde mich jedoch auf schriftliche Informationen stützen. Heinz zog aus der Jackettasche des neuen Anzugs, der ihm vortrefflich stand, zwei vollbekritzelte Seiten mit Notizen.
Sie starteten die Berlinentdeckung, mal hier, mal dort. Sie schnupperten kurz in Museen und Galerien, die am Wege lagen. Hierbei durchmaßen sie Berlins markanteste Verkehrsknotenpunkte, den Alexanderplatz, den Kurfürstendamm, das Brandenburger Tor, das Nikolaiviertel, Unter den Linden, den Savignyplatz, das Forum Fridericianum, den Lustgarten, das Scheunenviertel und viele andere Stätten. Ruth und Heinz verschafften sich sogar grünen Einblick in den Tiergarten. Als sie das in etwa vorgenommene Programm, das sie um ein vielfaches hätten erweitern können, abgespult hatten, rasteten sie erschöpft für eine lange Weile am Prenzlauer Berg in der Kaffee und Teestube Kiryl, deren Wände mit Buchgraphik von Penck und Lyrik von Kirsch eindrucksvoll geschmückt waren. Heinz lud Ruth zu Kaffee und Sahnetorte ein.
Ruth nahm dankbar an. Ihr Auge sah zugleich müde und unternehmungslustig auf den charmanten Begleiter. Müde, weil die Anstrengungen des Vor- und Nachmittags nachwirkten; unternehmungslustig, weil die Freude über den wunderschönen Tag, der in die frühen Abendstunden übergeglitten war, in ihr eine seelische Bereicherung gesetzt hatte. Sie streckte die brennenden Füße wohlig unter den Marmortisch.
«Hast du für den langen Abend im Friedrichsstadtpalast Kraft für Revue und Shows aufgespart «? fragte Heinz. «Wir wandern heute nicht mehr. Das Potsdamer Vorhaben streichen wir oder verschieben es auf morgen«.
Beides bejahte Tischdame Ruth, die ihren Heinz vielsagend anlächelte. «Zwei Stunden Ruhezeit im Café werden unsere Lebensgeister bis zum Varieté aufpolieren. Ich könnte Dir weiter meine oder Du mir deine Lebensgeschichte weitererzählen, doch tuen wir das mal lieber daheim in gemütlicher Runde. Gib mir stattdessen Erklärungen zum heute Gesehenen in der Spreehauptstadt«.
«Natürlich«. Er blickte auf das verpackte Mittagessen im Netz, das sie mangels Gelegenheit, noch nicht konsumiert hatten. «Verdrücken wir es morgen«, sagte Ruth. Dann folgte sie gespannt der Reisebeschreibung gehabter Ziele.
«Im edelsten Barockbau der Stadt sahst Du das Museum für Deutsche Geschichte. Von 1695 bis 1708 diente es als Zeughaus.
Die Galerie der Romantik beeindruckte dich, wie mir nicht entgangen war, weil der glanzvolle Kern der Sammlung dem Preußischen Königshaus entlehnt gewesen war. Galerien verschiedener Zwecke hat Berlin übrigens wie Sand am Meer.
Der Alexanderplatz wiederum als Verkehrsader mitten im Herzen Berlins dürfte Dein Interesse wegen der imposanten Weltzeituhr von Erich John und dem Neptunbrunnen geweckt haben. Der Alex war zuvor zuerst Viehmarkt, dann Exerzierplatz.
Er trägt seinen Namen nach Zar Alexander I. Im Schutz seiner Hochhauskulissen bemerktest Du bestimmt die mittelalterliche Marienkirche.
Du flaniertest gern auf dem breiten Kurfürstendamm mit Einkaufsgelegenheiten, wenn auch teuren, und der vielseitigen Begegnung von Leuten aus aller Welt.
Gleiches galt und gilt für das Brandenburger Tor mit der Quadriga, dem Wahrzeichen der Stadt, die übrigens den Bär als Wappen hat. Die Quadriga schuf Schadow. Napoleon entführte das Vierergespann 1807 nach Paris. Nach den Befreiungskriegen fand sie jedoch den Rückweg zu erwähnter Stelle. Erst vor wenigen Wochen, am 30o. Januar 1933, dem Tag der Machtergreifung Hitlers, marschierte die SA hindurch.
Das Nikolaiviertel wurde nach der ältesten Pfarrkirche benannt. Rund um die Kirche sind gemütliche Lokale, wo Du mit mir einen hättest zischen können, meinetwegen eine Berliner Weiße mit Schuss. Bei solcher Molle handelt es sich um Weizenbier mit zugegebenem Himbeer- oder Waldmeistersirup.
Ob unter den Linden nur Lindenbäume stehen, glaube ich nicht. Ich weiß lediglich, dass die feudale Prachtstraße Schloss und Brandenburger Tor verbindet. Denkmäler und ein Meer repräsentativer Bauten wären gewiss, so man überall dürfte, einer Besichtigung wert.
Kneipen am Savignyplatz haben ein oft schräges Publikum. Durstige Seelen erquicken sich hier jedenfalls zur Tag und Nachtzeit.
Ein kurfürstliches Edikt vor etwa 300 Jahren auferlegte den Ackereigentümern, ihre Scheunen wegen Brandgefahr vor die Stadtmauer zu verlegen. Im 19, Jahrhundert entstanden zusätzlich arme Wohnbezirke, in denen auch Künstler ein zuhause fanden«.
Heinz sah auf vom Blatt, aus dem er seine Weisheit bezogen hatte. «Erwähnen sollte ich außer der schon genannten «Berliner Weiße« vielleicht noch, falls Du darauf Wert legst, die typischen Gerichte der Stadtbewohner.
Es wären: Gefüllte Pfannkuchen (heißen nur auswärts «Berliner«), Löffelerbsen mit Schweineohr, Eisbein und Redensarten, wie «Mal kieken, wie se kieken«, «Auf die Pauke hau’n«, «Du kannst mir mal«.
«Du mir auch. Doch im Ernst, Dank für alles. Du hast mir viel geschenkt,« entgegnete Ruth.
«Ein wenig Zeit steht uns noch zur Verfügung. Er bestellte.
Ruth ein weiteres Cremstück, dann meinte er: «Lass uns noch Potsdam und den Spreewald abhandeln. Wie ich Dich kenne, wirst Du morgen gern dort sein. Also:«.
«Moment, bremse den Tatendrang«, ließ sich Ruth lautbetont vernehmen, «ich bin nicht ganz doof. Außer genauen Daten vermag ich wenigstens zur Story über Potsdam beizutragen. Warum willst Du allein glänzen, Du Märchenkünstler? Schone die angekratzt Stimme für den Kasernenhof. Sie kramte in der Erinnerung, bohrte Schulwissen an. «Potsdam ist, wie jedes Kind weiß, eine Garnisonstadt gewesen, belehrte sie. Der eigentliche Ursprung basiert auf eine slawische Siedlung etwa um 900«.
«Urkundlich 993 genau« korrigierte Heinz laut Merkblatt., in das er sich wieder vertieft hatte.
«Gut. Die deutsche Besiedlung setzte jedenfalls zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts ein«, vervollständigte sie. «Aus einer Residenz wurde eine Festungsstadt. Das Antlitz Potsdams ist beachtlich durch Schloss und Park Sanssouci geprägt. Damit wollte Friedrich der Große damals mit dem Versailles des französischen Sonnenkönigs konkurrieren, was ihm wohl gelang. Das Schloss wird von Bildergalerie und Neuen Kammern flankiert. Im Schloss selbst gibt es prächtiges zu sehen, was ich im Detail nicht zu beschreiben vermag. Werden wir Sanssouci morgen besichtigen?«
«Ich glaube bestimmt nein«, antwortete Heinz, «wir wollen morgen ja nicht wild gegen Zeitnot ankämpfen.«
«Einblicke in den herrlichen Park, deckten barocken Prunk, klassizistische Strenge und verspieltes Rokoko auf. Das chinesische Teehaus im Park kannst Du als eine besondere Kostbarkeit ansehen. Betrachte die frühen bunten Blumen des Frühlings. Eine andere Farbenpracht, musst Du Dir für den Herbst vorstellen. Jetzt im Februar ist jeder auf seine Phantasie angewiesen.
Doch Phantasie wird Dir, liebe Ruth, nicht schwerfallen. Du hast sie immer gehabt oder entwickelt, auch in unserer Beziehung.« Seine Augen durchdrangen sie. Doch sie hielt seinem Blick abwägend stand, ließ es bei der einseitigen Feststellung ohne Zusatzkommentar bewenden.
Konkretes war nicht vorzubringen. Er hatte ihre freien, schlanken Hände ergriffen, schaukelte mit ihnen. Das Leuchten seines Auges übertrug sich auf das ihre. Die Stille, die sich beruhigend auftat, wirkte wie Balsam auf Körper und Seele. Sie waren beieinander, wohnten zwar in gegenseitigen Welten, schlugen aber tragbare, vorstellbare Gefühlsbrücken in individueller Inspiration.
«Wollen wir langsam«? flüsterte sie zaghaft. Rede und Flüsterton entsprachen der andächtigen Situation. Er bezahlte die Kuchengedecke, half Ruth in den Mantel.
«Gehen wir, fahren wir.« Sie benutzten schweigend, wie ein altes Ehepaar, die U-/S-Bahn in Richtung Friedrichstrasse, von wo aus sie es nicht weit bis zur Revuestätte hatten. Im Foyer des Hauses kaufte er ihr für zwanzig Pfennig eine bebilderte Darbietung, die sie in fast hinterster Sitzreihe nacheinander einträchtig studierten. Mitunter tippten sie mit ungeduldigen Zeigefingern auf ausgedruckte, für sie bemerkenswerte Programmzeilen. Gern informierten sie sich verstohlen ein zweites und womöglich drittes Mal, ehe der Vorhang im vollbesetzen Saal bei lauter und schmissiger Musik rauschend hochging«.
Ruth hatte Heinzens Hand in die ihre auf ihren Schoss genommen, streichelte die verlangende Hand behutsam ab und zu …
«Das sind die Hiller-Girls« flüsterte sie zu Heinz. Sieh nur!«
Heinz sah, hätte gern tiefere Einblicke genommen. Was da vor sich ging, faszinierte ihn als Mann besonders. «Donnerwetter!« Was warfen die Puppen die Beine. Das war ’ne Nummer. Er zählte. Zwei Mädchenreihen. In jeder Reihe schwangen zwanzig rassige überlange Beinpaare im Rhythmus auf und nieder. Das geschah so exakt, dass man hätte meinen können, sie gehörten einem einzigen Paar. Die ineinander eingehakten Girls, mit den gleichmütigen entspannt wirkenden Gesichtern, warfen die wuscheligen Köpfe synchron wie auf Kommando bald nach links, bald nach rechts. Das Ganze wirkte, weil beide Damenreihen entgegentanzten, wie ein Spielball im Aufwärtsflug.
Auch Ruth war angetan, wenn als Frau auch auf andere Weise. Sie achtete mehr auf gestaltenden Ablauf, z.B. mehr auf wechselnde Formationen in der Revue, weniger auf den körperlichen Reiz der gut geformten Beine der Tänzerinnen. Immerhin! Das war, wie sie gelesen hatte, nicht der Höhepunkt. Eine Kopfstandparade dieser Girls zum Ende der Vorstellung war für einen Mann natürlich ein Leckerbissen und machte ihn scharf…
«Aha!« Heinz schaute gerade mit knallroten Ohren ins Programm. Sie las angestrengt über seinen Kopf mit:
Februar-Monatsprogramm im Friedrichstadt-Palast
. Die Hillergirls mit ihrem süßen Geheimnis
. Zauberer Kungfu, der sich selbst verschwinden lässt
. Jonglierakt mit achtzehn Tassen und Springbällen auf vier Hochrädern
. Die Wahrsagerin Mediu wird fragen: Wie alt sind Sie?
. Dolly, die Bauchrednerin, die sich selbst belügt
. Tanzstepp pas deux im Konfettireigen
. Stimmenimitator Voice, anders herum
. Zwei Eheleute ohne Rückgrat, die Anschmiegsamen im Schaukelakt ohne Netz
. Kopfstand aller Hillergirls mit rotem Kopf zum Ende der Nachtvorstellung (was man nicht zeigen kann)
Sie klatschten, schoben, drängten sich zum Ausgang, standen endlich auf der kalten Straße. Es wehte ein heftiger schneidender Wind. Ruth zog den Mantel fester an sich, kuschelte sich, soweit es möglich war, an Heinz, nahm seinen Arm, hakte sich bei ihm wohlig unter. «Das war eine schöne Vorstellung« sagte sie. «Schade, dass sie zu Ende ist. Doch es ist auch gut so. Ich bin müde und möchte schlafen.«
«Ja, die Vorstellung war beachtlich und ungern sah ich ihr Ende«. War die Vorstellung wirklich zu Ende? Er dachte an Motel und Ruth und sortierte allerlei Gedächtnisvorstellungen in seinem Kopf. Ob Ruth, so wie er ein Verlangen spürte? Er wollte es glauben, es würde sich im Hotel ergeben. Allein, hatte sie nicht deutlich von Müdigkeit gesprochen? Ihr aufgenommenes Streicheln unterwegs ließ ihn Mut schöpfen.
«Heinz«, sagte sie, streichst Du mir zuliebe morgen die Spreewaldkahntour? Potsdam kannst Du mir etwas später zeigen. Ich könnte dadurch mit Dir im Hotel länger schlafen, und wir könnten nach der Besichtigung in Potsdam oder meinetwegen anderswo spazieren gehen oder einfach früher als vorgesehen in meine, in unsere Leihbehausung nach Jüterbog, zurückkehren, wo wir dann unsere Lebenserinnerungen weiter austauschen könnten. Letzteres ist insofern günstig, als wir uns sonst in der Woche nicht sehen werden. Ich vergaß Dir nämlich zu sagen, dass ich ab Dienstag oder Mittwoch für drei bis vier Tage meinen Chef, Herrn Spöttele, nach Hagen in Westfalen aus betrieblichem Grund begleiten muss. Er will dort neue Maschinen für Waschmittelerzeugnisse einkaufen, und ich kenne mich auf dem Gebiet gut aus.«
Sie hakte sich bei ihm noch einfühlsamer unter, wendete ihren Kopf zu ihm, gab ihm vor der U-Bahnstation einen innigen Kuss, der ihn erschaudern ließ«. «Ja Ruth«, hauchte Heinz. «Morgen Potsdam und dann Jüterbog. Der Spreewald bleibt uns für ein anderes Mal erhalten. Jetzt ins Hotel!«
Im Hotel angekommen, fragte sie auf dem Flur im ersten Stock «Hast Du zwei Zimmer gebucht«?
«Natürlich«, sagte er. «Hier ist Deines. Tritt ein«. Er ging mit. Ihr Raum war eiskalt. Sie schnatterte. «Heinz, drehe bitte den Heizkörper auf volle Pulle«.
«So, dann will ich mal gehen, und das Gleiche in meiner Behausung tun. Ich denke, Du kommst allein zurecht, Ruth«. «Du würdest mich natürlich am besten wärmen. Aber es ist besser so. Ich werde, wenn Du nebenan pennst, einfach an Dich denken, und Du darfst mit Deinen Gedanken auch meine Wenigkeit beehren«. Sie lachte, er stimmte ein.
«Hilfst Du mir wenigstens aus dem Mantel und der unbequemen Oberbekleidung«? Sie legte mit Hand an. «Das war’s, nun verschwinde. Halt, hier ist Dein Schlafanzug«, den sie ihrer Reisetasche zuoberst entnahm.
Ruth sah Heinz etwas traurig an. Dann sagte sie zu ihm mit gefestigter Stimme: «Du, das mit den zwei Zimmern rechne ich Dir hoch an. Dafür belohne ich Dich gelegentlich. Ich werde bestimmt gleich pennen. Du wirst ebenfalls müde sein«.
Heinz konnte trotz seiner Müdigkeit nebenan nicht einschlafen, seine Gedanken waren zu aufgewühlt. Als ihn die Müdigkeit doch überwältigte, begleitete er im Traum Ruth zum Zug. Er blieb, so träumte er, zurück, doch plötzlich war er vor ihr am Ziel. Er lauschte den eigenen Atemzügen. Oder war es eine Lokomotive, die aus weiter Ferne kam«? War er das Ziel? Er stieg zu, entdeckte Ruth im Schlafwagen, und fuhr mit ihr in die finstere Nacht. Bilder des Tages huschten vorbei, wurden undeutlich. «Mitreisende nicht vorhanden, verhackstückte er. Wie schön. Was war schön«?
Als er in der Nacht kurz vor seinem nächsten Schlaf erwachte, führte er träumend mit ihr eine Unterhaltung. Er offenbarte ihr sein Herz. Wo hielt sie die Bernsteinkette versteckt? Durfte er sie suchen?
«Willst Du was von mir«? fragte seine Traumfrau.
Er ruderte mit den Armen, suchte, suchte, suchte. Er fand die Kette nicht, doch er fand zwangsläufig in die Gegenwart zurück. Er rieb sich am Morgen erstaunt den Schlaf aus den Augen.
Der Sonntag nach dem Berlinaufenthalt verlief wie Heinz und Ruth es am Sonnabend vorgesehen hatten. Nachdem sie nach einem delikaten Frühstück aus der Hotelbequemlichkeit aufgebrochen waren, machten sie den Abstecher nach Potsdam, inspizierten die Parkanlage mit Brunnen und Skulpturen innerhalb von etwa zweieinhalb Stunden. Eine gute Stunde mussten sie zwecks Heimreise auf dem Bahnhof draufgeben. Dann konnten beide mit dem Zug nach Jüterbog zurückfahren. Am frühen Nachmittag saßen sie bereits in Ruths Domizil. Beide waren froh, die Reise auf Ruths Vorschlag in Potsdam abgebrochen zu haben. Ruth sah Heinz verliebt an. Sie war ihm nach der Berlinnacht hold. Sie wollte, musste ihn fortan besitzen. «Übermorgen ziehst Du hierher, kannst alle Bequemlichkeit kriegen. Den Weg zur Kaserne kann ich dir allerdings nicht abnehmen. Dafür.......« Sie sprach nicht weiter. Es waren Gedanken, die im Herzen besser bewahrt blieben.
Heinz hing eigenen Überlegungen nach, er grübelte, was er beim Umzug aus dem überladenen Spind beim Umzug nach hier schaffen sollte, inwieweit dies zweckmäßig erschien. Am Tag darauf, also Dienstag, würde er Unteroffizier werden, in der Kaserne ein wenig feiern und abends bei Ruth aufkreuzen, Um ... Jetzt war er es, der seine Gedanken mit Süße belud. Nun ja, er würde mit Ruth morgen Abend ein intimes Wiedersehen kriegen, zuvor seine Beförderung mit ihr begießen.
Sie besprachen noch allerlei, tranken genüsslich ein Glas Himbeerlimonade, spielten zweimal Mensch ärgere Dich Nicht und ein Halma. Alle Partien gewann Ruth. «Du hast eine glückliche Hand«, sagte er, «ich gratuliere. Du bist anderswie erfolgreich. Ein anderes Mal werde ich Dir unterlegen sein. Dann kannst Du triumphieren«.
Sie führten noch ein Gespräch über Kunst und den Wert der Musik, hörten etliche Schell-Lackplatten und beschlossen, weil beiden die Müdigkeit im Gesicht geschrieben stand die restlichen Stunden in häuslicher bzw. kasernlicher Ruhe zu verbringen.
Er verabschiedete sich zärtlich von Ruth bis auf morgen Abend.
Im Laufe des Montages dachte Ruth oft an Heinz. Würde er heute Unteroffizier werden? Sie hoffte es, er war sich dessen gewiss. Unwillkürlich kam es ihr vor, als ob Unteroffizier werden so Wehen-belastet war wie die Geburt eines Kindes. Ruth Wilkenstein hatte das Ereignis von Heinz vorbereitet. Gegen 16.30 Uhr, unmittelbar nach Ende der Büroarbeit stieg sie in die Badewanne, seifte den Körper, balsamierte ihn hinterher mit Wohlgerüchen. Sie schlüpfte in ein Rüschen okkupiertes Netzbandmieder mit sparsamen Schoss und verstellbarem Gummizug vorn. Abgestuft im Farbton zum Unterrock zog sie ein dunkelrot und hellrotfarbig durchwebtes Strickkleid an, auf dem eine aufgestickte Rose blühte. Den Halsbereich schmückte eine goldgelbe Bernsteinkette, die Heinz gern mochte. Der untere Kettenbogen berührte beinahe den Bauchnabel. Ein Ohrgehänge in kompakter Tropfenform aus imitiertem gelbem Pyrit, verlieh äußere Eleganz. Das Haar frisierte sie locker. Die Lippen bekamen ein kussfestes, kräftiges kirschrot. Das unten weite Strickkleid stieg, als sie vorm Spiegel eine Pirouette vollzog, zur Glockenform, wodurch die strammen Oberschenkel sichtbar wurden. Ruth lächelte zufrieden. Der Rundtisch im Wohnzimmer erhielt frische Tischblumen. Zuvor hatte Ruth die allerbeste Damast Tischdecke aufgespannt, beladen mit zwei leckeren Kuchenplatten, Kuchengabeln und Kaffeegeschirr mit Goldrand. Kaffee würde sie bedarfsweise aufbrühen. Würde das Kaffeestündchen anregend verlaufen? Sie hatte sich angekleidet. Nachdem sie Finger und Fußnägel einer Inspektion unterzogen hatte, fühlte sie sich der abendlichen Situation gewachsen. Kurz vor 20.00 Uhr fiel ihr schlagartig ein, auf jeden Fall noch das gewisse Etwas gegen ein schräggeschnittenes dünnes Utensil zu tauschen. Sie trat aus ihm. Eine solche Beinhose trug sie damals beim «Empfang« von Eduard. Die hatte ihr Pfiff verliehen. Wo lag sie nur? Sie kramte in den Fächern des Wäscheschranks. Als sie das Beinkleid schließlich fand, stellte sie fest, dass ihr das Teil nach zehn Jahren zu eng geworden war. «Ich bin jetzt molliger«, seufzte sie. Just als sie einen Entschluss fassen wollte, läutete es ungestüm. Sie eilte mit «unten ohne« zur Wohnungstür, öffnete. «Heinz«!
Es bedurfte keiner Frage. Sie sah es. Ihr Blick streifte über blankeingefasste Schulterstücke, zwei imponierende Kragenspiegel. «Herr Unteroffizier, ich gratuliere. Was befehlen Sie«?
«Stehen Sie stramm«, entgegnete Heinz, «legen Sie die Hände an die Hosennaht.« «Ich trage keine Hose« lachte Ruth lauthals. Schlagartig wurde ihr die Peinlichkeit der Situation bewusst. Sie wurde puterrot. «Natürlich ja«, stotterte sie, «Du kannst das natürlich nicht sehen«.
«Soll ich nachschauen«? scherzte Heinz.
«Untersteh’ Dich, Du Sexbold«. Sie gab ihm einen empfindlichen Klaps auf die Pfoten.
«Glaub, was Du magst«, parierte Ruth.
«Darf ich mich rühren?«
«Steh’ leger, ja«, ich befehle es.
«Ich freue mich, dass Du die Beförderungsleiter erklimmst«, stahl Ruth sich aus dem heiklen Thema. «Wie geht es weiter?«
«Zwei freie Tage habe ich eingeheimst. Nach einem Elitelehrgang wäre es möglich, Offizier zu werden«.
«Aha«. Ihre Freude besiegelte Ruth mit einem Kuss. Er musste ins Wohnzimmer treten.
«Jetzt wird erst gegrast«, versetzte sie locker. «Ich muss mich um Dich kümmern. Übrigens bleibst Du fortan nachts bei mir« betonte sie schelmisch, aber ernsthaft. «Fortan nachts«, unterstrich sie suggestiv. «Wir können nachts meinetwegen Pferde stehlen, wenn Dir nichts Besseres einfällt, es uns auf vielfache Art gemütlich — machen oder…« Hier versiegte die mutig angesetzte Rede.
Heinz entging nicht ihr topfeines Aussehen. Ruth wäre ihm auch in einfacher Aufmachung aufgefallen. Sie war ihm bereits im Berliner Hotel nobel begegnet.
Ruth stolzierte geschäftig auf und ab, vom Zimmer in die Küche, von der Küche ins Wohnzimmer. Sie versorgte ihren Gast mit heißem Kaffee und leckeren Kuchenteilen. Endlich saß sie an seiner Seite, ermunterte ihn: «Erzähle. Wie verlief die Chose in der Kaserne «?
Heinz rang nach Luft, als hätte er nie geatmet. Er schnaufte vernehmlich, räusperte sich: «Der Beförderung ging eine Ansprache des Hauptmanns voraus, der die Pflichten des Soldatenberufs aus der Sicht eines Vorgesetzen herunterleierte.
Er ermahnte uns, die Aufgabe, die gegenüber den Soldaten ein gehöriges Maß an Einfühlsamkeit und Unparteilichkeit erfordere, sowie deren Fürsorge, verdammt ernst zu nehmen. Das zu wissen wäre für die Nachgeordneten wichtig. Das informativ eingebundene Gespräch klang nachmittags gesellschaftlich im gemütlichen Rahmen aus. Dabei wurden meine Persönlichkeit und die meiner aufgestiegenen Kameraden gewürdigt.«
Nachdem Ruth zu der Beförderung belanglose Fragen gestellt hatte, machte sie zu Freund Heinz Anspielungen auf die gute Bewohnbarkeit des Hauses. Sie informierte ihn offen und ehrlich darüber, dass Eduard Breit sein Erscheinen in Jüterbog schriftlich für August 1933 vermeldet habe. Es sei sein ausdrücklicher Wunsch, dass jeder im Hause bleiben solle. «Ich denke, auch für Herrn Heinz Bogener bleibt in meinem Haus genug Lebensraum«.
Zur lesbischen Freundin Yasmin gedachte Ruth, wie sie durchblicken ließ, ein distanziertes Verhältnis zu entwickeln. «Heinz, könntest Du mich trotzdem lieben, wenn ich Yasmin ab und zu nur hörig wäre«? schwang es nach wie ein Hammer.
Eben noch erleichtert gewesen, musste Heinz fest schlucken. Er nickte dennoch verdrossen, dachte an die günstigen häuslichen Gelegenheiten, mit denen Ruth ihn entschädigen würde.
Ruth deutete auf die zu entkorkende Sektflasche, meinte: «Lass uns süffeln.« Ihr Auge malte auf dem Boden imaginäre Kreise, die sie sie in der Vorstellung sprunghaft betrat. Heinz fixierte ihr hochgerutschtes Kleid. Er versagte es sich, sie amoralisch zu berühren.
«Kannst Du die Knopfhaken am Rücken des Strickkleides sprengen, damit ich Luft kriege? Mir wird zusehends wärmer. Die angehockten Füße ersehnen ebenso Freiheit.« Sie stand auf, schritt zur niedrigen Sitzbank vor dem hohen Blumenkübel, stellte abgespreizt den rechten Fuß auf ihn, so dass ihre Oberschenkel sichtbar wurden. «Danke, lieber Heinz«.
Heinz holte sich Appetit.
«Bemächtige Dich nun meiner Strümpfe. Man los. Nicht so ängstlich «!
Heinz sah sie fragend an.
«Ach so, ich verstehe. Doch es geht ja nicht anders. Du darfst unter mein Kleid langen«. Sie reichte Heinz, dann sich, ein dreiviertelvolles Sektglas. Ihre durstigen Lippen berührten einander, erst sich, dann den fülligen Sekt… Wünsche nahmen Gestalt an. Seine kühle Hand profitierte von ihrer Körperwärme. Er zog Ruth die Strümpfe knietief.
«Nicht hier, Liebster«, überlegte Ruth. Folge ins Schlafgemach«.
Mit geübtem Griff entledigte sie sich der Strümpfe vollends. Nacktsohlig marschierte sie mit ihm über den Flur zu ihrem Schlafzimmer.
Auf dem Tisch grüßte ein buntes Blumengebinde. Glimmerlicht begünstigte abgeschirmte Atmosphäre. Über beiden Betten thronte ein Riesenschokoladenherz (von Ruth). «Willst Du mir Süßes erweisen, vernasche mich ganz«. Kannst Du warten, Armer? Sie stand mit dem Rücken an der Tapetenwand, sah was er vorhatte. «Lass’«, sagte sie, «brauchst Du nicht. Ich richte mich nach dem Kalender.«
Sie hielt die Augen geschlossen. Heinz legte seine Sachen ab. Er küsste ihren Mund, entblätterte sie. «Heinz «!
Er streichelte Kopfhaar, Wangenknochen, den aalglatten Halsbereich. Seine nervigen Finger bürsteten das spärliche Nackenhaar, sie glitten über die Nasenspitze, rutschten wie auf einem Schlitten zurück auf die verführerischen Lippen, die im Rouge Ton schwammen. Sie glänzten. Er fuhr in ihr Brusttal, wo er herrliches Gold des Bernsteins förderte. Er tat die Bernsteinkette in ihre aufgehaltene Hand, bestaunte den pechschwarzen Verlauf der Venusberge, die Geheimnis verhüllten. Es musste, wie er wusste, in etwa ihrer Mundlinie entsprechen.
Vor ihm tat sich auf das weiterschlossene Tor, durch das er langsam schritt wie in eine neuentstandene Zeit. Es war die Zeit der Liebe. Sie versank mit ihm, machte vor Tabus nicht halt, nur vor dem Schweigen selbsterwählten Tuns. Er stockte, sie sah auf. «Komm schnell ins Bett«. Sie sprang in es. Er bemerkte auf ihrem Po frische Striemen, alte Narben. «Yasmin«? «Von Yasmin«.
Ruth blickte in zwei Augensterne. Sie tanzten ihren Reigen. Geborgensein ergriff beide. Sie übergaben sich der Nacht.
Zu später Stunde dachte Ruth irgendwann an Eduard. Warum? Hatte sie vor vielen Augenblicken, ohne es mit dem Gefühl (oder Verstand??) zu wissen, ebenbürtig für Eduard empfunden? Wieso stieg plötzlich Eduards Bild mal überdeutlich, mal verschwommen, in ihr Wachbewusstsein auf? Liebte sie womöglich den Mann in venezolanischer Ferne? Liebte oder würde sie ihn hier ebenbürtig lieben können, ebenso oder gar mehr als Heinz, von dem sie einen fraulichen Anspruch an ein sexuelles Betätigungsfeld der Frau einheimste?
Etwas, dessen wurde Ruth sich bewusst, hatte sie jedenfalls für Edi aus alter Zeit übrig, und wenn sie gründlich analysierte, sogar recht viel.
Es erschien ihr angezeigt, Heinz bei jeder passenden Gelegenheit, momentan schlief er selig und süß, immer wieder auf das auf ihn zurollende Ereignis ins Bild zu setzen. Edis Anreisetermin bis Augustmitte 1933 kam rasant.
Edi könnte durchaus darauf pochen, mit ihr in sexuellen Kontakt zu treten. Zwangsläufig hätte sie nachts eine Wahl zwischen zwei Männern, die ihr was bedeuteten, zu treffen. Für sie wäre das keineswegs günstig, sondern eher hart.
Und wie würden die Männer selbst unter einem Dach es verkraften? War Streit zu erwarten, Eifersucht? Nicht auszudenken.
Zu unterschätzen war nicht die um Liebe ringende oder flehende Yasmin, die wie eine Klette, die Ruth nicht loswerden konnte, unbarmherzig hing.
Unentwirrbar spannen sich für Ruth im Schlaf Beziehungsfäden. Sie hatte Liebeswünsche gutgeheißen, programmiert. Weshalb? Sie wollte doch reine Liebe geben, nehmen, ohne ein Bereicherungsmotiv. Mithin dürfte niemand sie je zur Edelhure abstempeln. Irgendwie fühlte die Müde, dass sie solcher Rollenzuweisung nie gewachsen sein würde. Im Traum schrie sie auf, erwachte schweißgebadet. Heinz neben ihr stöhnte leicht, schlief jedoch friedlich weiter. Er drehte sich einfach auf die andere Körperseite.
Anderntags nach dem Aufstehen, die aufgegangene Märzsonne versprach einen wunderschönen Tag, suchte sie mit Heinz die Kaserne auf, wo beide einen sperrigen Teil des Inhalts vom Stubenschrank auf den mitgenommenen Handwagen aufluden. Wie zwei Pferde kutschierten sie mit Hü und Hott lachend zurück zum breitschen Haus. Das Gepäck bestand aus frischer und gebrauchter Wäsche, für deren Instandhaltung Ruth künftig sorgen wollte, mehreren mittelgroßen Bücherkartons, Zukunft- und etlichen Liebesromanen, Lexika, ferner gerahmten Erinnerungsbildern, die alle nebst Heinz bei Ruth auf Bleibe hofften.
Im Nachhinein, in dem Ruth überlassenen Haus, das Heinz künftig mitbewohnen würde, staunten beide über die gute Auslastung des Transport Wägelchens Ruth und Heinz strahlten, Jubilierten. Er ordnete im zugewiesenen Zimmer die abgeholten Gegenstände und überprüfte sorgsam Zweckmäßigkeit und Daseinsberechtigung aller Sachen. Er war just fertig geworden, wollte mit Ruth ein wenig plaudern oder ihr bei der Hausarbeit helfen, als es klingelte. Ruth war ihm zuvorgekommen und hatte geöffnet.
«Du, Yasmin« hörte er Ruth sagen. «Tritt näher, ich habe zwar Besuch aber ich kann ihn Dir gleich vorstellen«. Heinz war hinzugetreten, hob die Arme. «Muss sie eben mal abspülen gehen. Ich hatte ein Bücherregal zu befestigen gehabt«. Ruth war verlegen geworden. Einerseits war es ihr nicht recht, Yasmin von seinem Umzug zu informieren, andererseits war Yasmin bestimmt nicht zum Plaudern aufgekreuzt. Ein Gespräch musste jetzt als Notanker herhalten. Die Situation ließ keine andere Wahl.
Alle nahmen nach gegenseitiger Begrüßung brav im Wohnzimmer Platz und setzten zwangsläufig ein konventionelles Lächeln. auf. Jeder kramte nach Höflichkeitsfloskeln. Bald hatte die wechselnde Unterredung über Gott und die Welt die übliche Darstellungsbreite überschritten. Das Gespräch floss jetzt in spezielle Betrachtungen über den Lebenszweck des Menschen. Yasmin selbst hatte den Gesprächsfaden entsprechend geknüpft, um bei der Gelegenheit die eigene Lebensart in ein verständliches Licht zu rücken.
«Herr Bogener«, brachte Yasmin hervor, «wir wollen uns gegenseitig nichts vormachen. Sie lieben Ruth, die meine Freundin ist. Ich liebe sie allerdings auch. Auf meine Weise, versteht sich. Sie wird Ihnen vermutlich bereits Einzelheiten unserer Bekanntschaft, die bis auf die Jugendzeit zurückgeht, mitgeteilt haben. Wenn Ruth in ihrem Bericht mich geschont haben sollte, muss sie das nicht mehr.
Schon jetzt sind Sie im Bilde, wie es um mich bestellt ist. Ich muss mich nehmen, wie ich bin. Es wäre mir lieb, wenn ich eine normale Veranlagung hätte. Dann könnte ein Mann das Erosventil öffnen. So muss es Ruth gelegentlich tun«.
Heinz wollte was einwenden, doch Yasmin winkte ab. «Sparen Sie Ihren Einwand«, erwiderte sie. Sie verstehen mich vielleicht, vielleicht auch nur und sind dennoch aufgebracht. Gestatten Sie, dass ich Grundsätzliches erwähne, um die Prämisse der Leidenschaft verständlich zu machen. Aus ihm können sie einen besseren Rückschluss auf meine Person ziehen. Indem ich die Variante meiner Liebesneigung und unter den Lesben gibt es viele verdeutliche, finden Sie zur Basis grundsätzlicher Überlegungen Zugleich beschäftigen Sie sich, Herr Bogener, mal mit Sigmund Freuds Schriften. Er hat Abhandlungen über die Liebe, auch über meine abwegige, verfasst«.
Unbeirrt fuhr Yasmin, mal zu Heinz, mal zu Ruth gewandt, fort: «Die gleichgeschlechtliche Liebe ist angeboren oder im Verlauf der Jugend zur Gewohnheit geworden, wie bei mir. Wodurch? Was weiß ich. Obwohl ich begütert bin, stamme ich aus einfachen Verhältnissen. Mein verstorbener Vater trank viel. Ich hätte Grund gehabt, ihn zu hassen. Nicht weil er dem Alkohol erlegen war, sondern weil er Mutter und meine Schwester tyrannisierte. Er schlug mich besonders gern, ich wusste anfangs nicht wieso. Doch seine Mimik hatte sadistische Züge, wenn er mich züchtigte, wie ich später als reifes Kind besser erkannte«.
«Ich musste im Schlafzimmer vor Vater den Rock heben, mich über die niedrige Stuhllehne beugen, um wegen einer geringfügigen Übertretung das Weidenrohr zu schmecken. Das wiederholte sich, bis ich zwölf Jahre alt war. Warum er dann von mir abließ, weiß ich nicht«.
«Das klingt ja furchtbar« bemerkte Heinz. Er wollte mehr ausführen, doch Yasmin kam ihm mit einer wegwischenden Handbewegung zuvor:
«Die Schläge hatten mich in den ersten Jahren jedes Mal geschmerzt, später erzeugten sie sogar Lust. Meine Geschlechtsempfindsamkeit begann sich langsam, aber sicher zu verschieben. Als ich keine Prügel mehr erhielt, entbehrte sie der im Wachstum begriffene Körper. Das klingt vielleicht verschroben, ist aber so. Ich gierte nach Ausgleich. Doch bei wem sollte ich mir Körperstreiche verschaffen?
Ich unterhielt Kontakt zu artbetonten Schulgespielinnen. In der Schule scheute sich ein junger Lehrer, der meine abartige Erbötigkeit herausgefunden hatte, nicht, mir bei einem strafwürdigen Anlass möglichst gern unbemerkt nach der Pausenklingel Handklapse aufs Gesäß zu verpassen. Oder er griff gern zur Bakel, dem Schulmeisterstock, um mir mehr Schmerz und seiner Lust mehr Wonne zu verschaffen«.
«Du, Ruth«, die Angesprochene wurde rot, sah zur ‚einstigen Schulfreundin verständnisvoll auf, «wurdest zum Glück meine letzte rettende Auffangstation«.
«Bitte, Herr Bogener, vereinnahmen Sie Ruth deshalb nicht total, gönnen Sie mir ab und zu von ihr ein wenig. Ihre Liebesbeziehung zu ihr wird nicht leiden. Das verspreche ich. Eine Frau wie ich, findet nicht von heute auf morgen eine Ersatzgefährtin. Mich befriedigt übrigens nicht allein das feminine Verhältnis, sondern die Wandelbarkeit der Partnerin zu meiner Liebespraktik, die von der männlichen Bindung gravierend abweicht«. «Nochmals: Ich werbe ihnen trotz dieser Feststellung Ruth nie ab. Keineswegs«.
«Eine Liebesbeziehung das analysiert Freud, bildet sich in einem von Körper und Geist durchdrungenem Wesen, das zu seiner Sexualität will, wie ich zu Ruth. Sie zielt, was meine Art betrifft, nicht unbedingt auf Verführung, selbst wenn eine Frau in dieser Liebe ab und an schwerpunktmäßig den Männerpart übernimmt«.
«Die homosexuelle Frau lebt laut Freud in der Vorstellung, dass ihr Triebbedürfnis so gesund und natürlich ist, wie ihr Verlangen, Hunger, Durst und Schlafbedürfnis zu stillen. Dieses Triebschicksal ist unausweichlich; es wird als sexuelle Identität schon im frühen Alter fixiert. Das Tun und Trachten des heranwachsenden Menschen erfährt vom eigentlichen Liebesalter an durch erworbenes sexuelles Streben seine Realität. Diese Ansicht teilt Herr Freud mit Schopenhauer«.
«Ihr unruhiger Blick« sagte Yasmin gelassen, indem Sie ihre Augen auf Heinz heftete, verrät, dass Sie irgendwelche Zweifel an meiner Aussage hegen, sie aber höflicherweise nicht äußern mögen. Ich verstehe Sie gut und ich begreife auch Ruth, die mit mancher Ansicht von mir nicht mehr übereinstimmt, obgleich Sie mich recht lange kennt. Das hängt mit der Wandelbarkeit des menschlichen Geistes im fortschreitenden Lebensalter zusammen. Das hatten wir vorhin flüchtig tangiert Nun,« fuhr Yasmin nach einer Aufhorchpause, die still blieb, fort « ich werde versuchen, weitere Überzeugungskraft, falls ich sie aufbringe, in meine Worte über die lesbische Liebe bzw. was in diese Richtung führt, zu legen.
Für den mehrfach angesprochenen sexuellen Leibhunger, nicht nur wie ich ihn habe, sondern wie ihn sich jeder Mensch nach eigenem Erlebnismodus wünscht, steht das wissenschaftliche Wort «Libido«. Die Libido kommt sozusagen über Nacht mit dem Reifungsprozess der Pubertät. Der Normalfall ist Dir, liebe Ruth, und Ihnen, sehr geehrter Herr, am besten geläufig. Für mich bedeutet das Wort «Libido« Hinwendung im Trachten und in der Vereinigung zum eigenen Geschlecht«.
«Das akzeptiere ich«, warf Heinz ein und wie zur Unterstreichung seiner Worte nickten er und Ruth zugleich.
«Eine Person meiner Geschlechtsneigung, wodurch sie entstanden ist, hatte ich anfangs erzählt, gilt nach Sigmund Freud als Konträr sexuale, volksgeläufig als Invertierte.
Ich, Yasmin Lahner, bin also eine Invertierte, die zahllosen Leidens oder besser, Freudens-Genossinnen auf der Welt um sich versammelt weiß, und das ist tröstend, ein Glück Vielleicht sollte ich herausstellen, dass das andere Geschlecht niemals Gegenstand der geschlechtlichen Sehnsucht sein kann. Ich bin allerdings psychosexuell-hermaphroditisch orientiert, dass mein Sexualobjekt könnte dem gleichen wie dem anderen Geschlecht angehören, obwohl ich das, wie erwähnt, nach meinem Mannverlust nicht mehr für möglich halte. Theoretisch betrachtet, könnte ich eines Tages noch normal werden!
Wenn nicht, bin ich zufrieden; denn die Invertierte ist nicht regeneriert. Unter den alten Völkern beispielsweise, war die Inversion eine häufige Erscheinung. Diese Völker verfügten über eine beachtliche Kultur. Sogar bei wilden und primitiven Volksstämmen hatte die Inversion eine ebenbürtige Daseinsberechtigung. Hatten die Angehörigen solcher Völker irgendwie unter sexuellen Druck gestanden, der sie überwiegend gleichgeschlechtlich empfinden ließ? Bei sehr vielen Invertierten ist nämlich ein frühzeitig im Leben einwirkender sexueller Eindruck Auslöser der homosexuellen Neigung gewesen.
Bei mir fand er, wie vernommen, damals durch den schlagenden Vater statt.
Doch kehren wir dem heiklen Thema noch nicht den Rücken. Es ist gar nicht mal so heikel, wie es den Anschein hat. Die psychoanalytische Forschung hat herausgefunden, dass wirklich grundsätzlich alle Menschen einer gleichgeschlechtlichen Objektwahl fähig wären und diese Mitunter im Unterbewusstsein, vielleicht im Traum, vollziehen.
Die Sexualziele der Invertierten sind mannigfaltig. Sie berühren sich am liebsten mit der Mund- bzw. Lippenschleimhaut. Natürlich gibt es im lesbischen Personenkreis, wie anderswo, Abirrungen. Sie gelten als pervers. Hierzu gehört bereits der Gebrauch des Mundes als Sexualorgan.
Ansonsten wird der lesbisch veranlagte Frauenleib zwecks Aufbau eines Lusteffekts gern betrachtet und betastet. Die Berührungsempfindungen und die optischen Eindrücke gelten als die mildeste und schmackhafteste Form eines gegenseitigen Umgangs. Ob unter der invertierten Frau das manuelle Berühren des eigenen und des fremden Anus und das Masturbieren, das dem Vernehmen nach häufig vorkommt, abartig ist, lasse ich mal dahingestellt. Selbst Frauenfuß und lockendes, duftiges Haar, haben einen sexuellen, nicht unterschätzbaren Stellenwert.