Schattenzeit - Larissa Laurin - E-Book

Schattenzeit E-Book

Larissa Laurin

4,8

Beschreibung

Ich erzähle euch jetzt, warum ich ausgezogen bin, eine Hure zu werden. Wir brauchen nicht zu flüstern. Ich schäme mich nicht dafür. Es war der Weg, den ich zu gehen hatte, den ich noch immer gehe. Gerne gehe. Und voller Stolz. Wenn ich später dennoch leiser spreche, nehmt es als ärmlichen Tribut an die Tiefe der Schatten. Denn ich will nicht wagen, ihre Anmut zu zerbrechen. Noch später werdet ihr mich auch flüstern hören. Das ist der Moment, an dem ich mich schließlich doch ein wenig schäme. Nicht des verruchten Treibens wegen, nein. Ich schäme mich meiner Unsicherheiten, banger Ängstlichkeit und immer neuer Fragen. Als eigenwillige Formen eines Vertrauens, das bis an den Himmel reicht, blühen sie wie Lichtkerzen, sobald ich bei ihm bin. In seiner Hand bin ich immerfort ein Kind, das gerade laufen lernt. Er ist groß, während ich klein bin. Erst wenn wir unsere Körper durchschwimmen wie Flüsse, kehre ich heim zu meinem Erdkern und werde die, die ich bin. Er weiß das. Er weiß immer alles. Er, das ist der Mann, dem ich mich angeboten habe, der dunkle Zauberer, unergründlich und weit. Er hat mich ins Dunkel geführt, hat mich gelehrt, seine Sklavin zu sein und mir gezeigt, wo ich zu Hause bin. Er hat mir die Mitte der Welt geschenkt, meinen Erdkern.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 354

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (16 Bewertungen)
13
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zusammenklang

Im Tempel der Natur, in Säulengängen,

Durch die oft Worte hallen, fremd, verwirrt,

Der Mensch durch einen Wald von Zeichen irrt,

Die mit vertrauten Blicken ihn bedrängen

Wie weite Echo fern zusammenklingen

Zu einem einzgen feierlichen Schall,

Tief wie die Nacht, die Klarheit und das All,

So Düfte, Farben, Klänge sich verschlingen.

Denn es gibt Düfte, frisch wie Kinderwangen,

Süß wie Oboen, grün wie junges Laub,

Verderbte Düfte, üppige, voll Prangen,

Wie Weihrauch, Ambra, die zu uns im Staub

Den Atemzug des Unbegrenzten bringen

Und unsrer Seelen höchste Wonnen singen

Der Beginn

Ich erzähle euch jetzt, warum ich ausgezogen bin, eine Hure zu werden. Wir brauchen nicht zu flüstern. Ich schäme mich nicht dafür. Es war der Weg, den ich zu gehen hatte, den ich noch immer gehe. Gerne gehe. Und voller Stolz. Wenn ich später dennoch leiser spreche, nehmt es als ärmlichen Tribut an die Tiefe der Schatten. Denn ich will nicht wagen, ihre Anmut zu zerbrechen. Noch später werdet ihr mich auch flüstern hören. Das ist der Moment, an dem ich mich schließlich doch ein wenig schäme. Nicht des verruchten Treibens wegen, nein. Ich schäme mich meiner Unsicherheiten, banger Ängstlichkeit und immer neuer Fragen. Als eigenwillige Formen eines Vertrauens, das bis an den Himmel reicht, blühen sie wie Lichtkerzen, sobald ich bei ihm bin. In seiner Hand bin ich immerfort ein Kind, das gerade Laufen lernt. Er ist groß, während ich klein bin. Erst wenn wir unsere Körper durchschwimmen wie Flüsse, kehre ich heim zu meinem Erdkern und werde die, die ich bin. Er weiß das. Er weiß immer alles.

Er, das ist der Mann, dem ich mich angeboten habe, der dunkle Zauberer, unergründlich und weit. Er hat mich ins Dunkel geführt, hat mich gelehrt, seine Sklavin zu sein und mir gezeigt, wo ich zu Hause bin. Er hat mir die Mitte der Welt geschenkt, meinen Erdkern.

*

Die Mitte der Welt! Sie war der Anfang von allem. Ein Feuerherz im Urgrund meines Leibes, erhaben wie wilde Winternacht, fand einen eigenen Takt. Geborgen im Dickicht blauer Schatten erkannte ich nicht, daß es geheime Sinne mästete, Sinne, die zuchtlose Pläne zeugten. Erst als die fremde Schwerkraft fettgefüttert war, erwischte es mich mit voller Wucht. Unermeßliche Geilheit zerschlug alleszu Staub, ließ festen Boden zu Asche werden und säte Bitterkeit ins Blut vertrauter Sinnenfreude. Schließlich gab es nur noch Leere. Leere, die keinen Atem hat, Leere, in der ich ohne Halt zwischen gestern und morgen hing.

Es war ein unnatürliches Schweben. Weder leiser Daunenflug noch das sanfte Gleiten von Engeln glich es dem Sturz durch Flammenhimmel, blindem Rollen auf heißen Winden zu einem weit entfernten All! Wißt ihr, wie lange ein Tag in der Dunkelheit dauert? Ein Tag im Wahnsinn hungriger Geilheit, kämpfend mit einer Urkraft, die so hoch und tief reicht? Ich sage euch, es sind tausend Jahre! Tausend Jahre, die nicht enden wollen! Eine gefühlte Ewigkeit, verbracht in der Einsamkeit eines Waldmärchens, während das Geheimnis des Körpers nach Nahrung schreit.

Wie aber nährt man ein Geheimnis? Wie tränkt man Schatten, die im Schatten liegen? Und wie folgt man Rufen aus der Weite jenseits des Gehörs? Ein qualvolles Rätsel für mich, die Gejagte, die Gehetzte. Verkrochen in mir selbst vergaß ich, wie Frieden schmeckt, während die Suche nach dem Gesicht der schwarzen Schwere hoffnungslos blieb. Hatte sie überhaupt eines? Vielleicht war sie nur eine Chimäre, ein Trugbild, in deren Krallen ich lag. Aber nein! Ihr Gezerre war allzu körperlich, allzu spürbar der eiserne Druck aus der Tiefe. Und langsam fing ich an, mich zu beugen, fing an, dem Glutball geiler Not Gehorsam zu leisten. Doch ich zerschellte am Zweifel, dem Verräter, der Zaudern raunte. Zweifel aber wollte das Schicksal nicht dulden. Unerbittlich und streng forderte es, was sein war und sandte mir Beistand. Hoch, straff und lebensweit stand Mut mir jetzt zur Seite. Sein wilder Blick saugte den Eisgebissen der Leere die Luft weg und brachte die gläsernen Winterflügel meiner Sehnsüchte zum Klirren. Und so endete eine sternenlose Nacht. Den roten Mantel des Mutes um die Schultern zog ich endlich aus, die Türme der Finsternis zu bezwingen.

*

Da! Das war die richtige Ausfahrt! Jetzt noch einmal links, dann rechts. Und dort lag ganz richtig auch der Parkplatz, auf dem wir verabredet waren. Wahnsinn! Ich hatte es tatsächlich geschafft. Ein tiefer Seufzer entrang sich meiner Brust und mit dem Stein der Erleichterung fiel auch die Anspannung der Reise von mir ab. Sofort aber rückte nach, warum ich überhaupt hierhergefahren war. O Gott! Siedend heiß trat es in mein Bewußtsein, legte weiße Schleier auf mich und blindes Chaos stürzte herab. Es gelang mir gerade noch, das Auto vernünftig zu parken. Aber als ich das Handy zur Hand nahm, um meine Ankunft zu melden, schwamm ich bereits davon. Ich zitterte so stark, daß ich nicht einmal die richtigen Buchstaben traf. Immer wieder fing ich von vorne an. Die Tränen wollten mir schon kommen und ich wurde geradezu panisch. Verdammt, verdammt! Warum war das blöde Display auch so klein? Ein Flug zum Mond wäre leichter gewesen. Am Ende war ich schweißgebadet. Aber ich hatte es geschafft.

„Ich bin jetzt da!“

Nie haben Worte schwerer gewogen. Sie zu versenden, war ein letzter Akt glorreicher Selbstbeherrschung. Danach war ich völlig aufgelöst. Die Hände matt im Schoß wollte eben mein Kopf zurücksinken, als er schon wieder hochflog.

Seine Antwort ging ein. Und sie war wie ein krachender Schuß.

„In 10 Minuten bin ich bei dir.“

Das war’s. Meine Nerven zerrissen. Zerrissen von banger Ängstlichkeit, vor schäumender Freude und kaum noch bezwingbarer Sehnsucht. Es war soweit! In zehn Minuten würde ich dem Mann, der mein Sternensystem aus der Bahn geschleudert hatte, zum ersten Mal gegenüberstehen. Mein Herz begann schwer zu hämmern, feuchte Hände suchten Halt am Lenkrad. Zehn Minuten! Wie sollte ichdie überstehen? Geklammertan die Idee, daß zehn Minuten nur eine Reihe von Atemzügen seien? Alles Lüge! Die Welt drehte ja anders für mich, die ich ruderlos auf einem Ozean schlingerte. In solchen Momenten, das wußte ich, wurden Minuten zu Ewigkeiten, die zusammen genommen eine kleine Unendlichkeit ergeben. Was eben noch nah schien, rückt in die Ferne und man wandert, den Horizont im Auge, einer neuen Ferne entgegen, damit wieder Nähe werde. Ich seufzte. Heute, wo es endlich so weit war, hätte ich es gerne einfacher gehabt. Zehn Minuten! Über die mußte ich jetzt hinweg, das war das Ziel. Also. Raus aus dem Wagen! Ich brauchte dringend frische Luft!

Ein sonniger Märztag, kühlen Wind im Luftkleid, nahm mich in Empfang. Ich glaube sicher, daß er um den kritischen Ausnahmezustand dieser Minuten wußte. Sein Lächeln sprach davon, linde Finger und spielerische Leichtigkeit. Wenige Herzschläge später war die Glut meiner Wangen fortgenommen, meine Haut trocken geleckt. In dieser Berührung lag der Trost jener kostbaren Momente, in denen man nach innen blickt und verloren die Augen schließt. Rasten im Sturm! Warmes Mittagslicht malte Kreise auf meine Lider, farbige Sonnen, die hinter die Augen strebten, wo mein eigenes Licht eigene Kreise zog. Sprühende Sinnlichkeit brannte dort Löcher aus Angst und Gier in eine Spanne von zehn Minuten und der Wind sang Bernstein hinein. Der Moment verging so rasch, wie er gekommen war. Die Spur des Windes löste sich auf, verschwebte im Nichts und ich kam wieder zu mir. Die kleine Rast war zu Ende.

Keine zehn Minuten mehr! Zurück aus grüner Zuflucht bleckte Panik jetzt die Zähne. Plötzlich schwankte der Boden. In meinen Adern begann das Blut zu trommeln und Katarakte von Lampenfieber ergossen sich in jede Zelle. Die jähe Spannung zerbrach den gläsernen Frühlingstag in tausend Scherben. Ich war wieder alleine. Alleine mit eiskalten Händen und einer Zigarette, die sich kaum rauchen ließ, so eng schnürte die Aufregung mir die Kehle zu. Atme! Du mußt atmen! Meine Brust aber war zusammengepreßt, als sei sie in eine Klammer aus Stahl geschmiedet. Als ich sie mit Gewalt zu weiten versuchte, trugen eisige Schauer Frost in die Lungen. Nicht an primitivster Lebenserhaltung zu scheitern, war fast unmöglich.

Das konnte doch nicht wahr sein! Ich wurde wütend und ärgerte mich maßlos über mich selbst. Warum in aller Welt war ich nicht so gelassen, wie es meinem Alter entsprach? Ich war erwachsen! Sechsundfünfzig Jahre alt! Aber ich mußte hilflos zuschauen, wie meine vielgepriesene Haltung davon rann wie weiße Milch aus einem zerbrochenen Krug. Wo waren sie hin, jene stolzen Eigenschaften wie Disziplin oder Selbstbeherrschung, jetzt, da ich sie so dringend brauchte? Vergangen wie Asche in diesem furchtbaren Sturm. Wenn es doch aufhören wollte! Wie lange noch? Oh mein Gott! Keine zehn Minuten mehr!

Mein Bauch reagierte augenblicklich. Er krampfte, rollte sich zu einer Kugel zusammen und gebar einen Schmetterlingsschwarm, der mich im Nu in ein flimmerndes Etwas verwandelte. Und wieder spielten freudige Erwartung und Angst vor dem Kommenden ihr grausames Spiel. Es hätte einfacher sein sollen, heute, wo es endlich so weit war.

In ohnmächtiger Not begann ich langsam über den Parkplatz zu wandern, tat Schritte, die eine Andere machte. Eine Andere war es auch, die immer wieder gegen die Wände einer Blase rannte, als stecke sie in einem unsichtbaren Handschuh. Wie dumm sie war! Man mußte sich weiter zwingen, der aufgeregten Pein trotzen, rauchen. Wäre mein innerer Aufruhr weniger übermächtig gewesen, hätte diese Form von Selbstbeobachtung womöglich geholfen. Aber sie blieb nur Makulatur auf einer seligen Vision von Gleichmut und reifer Gelassenheit. Doch statt Reife zu zeigen, war ich seit meiner Ankunft zur Halbwüchsigen degeneriert und dem zunehmenden Verfall wehrlos ausgeliefert. War es nicht merkwürdig, wie man in Ausnahmesituationen wie diesen plötzlich rückwärts lebte? Als verkehre sich der Flug der Zeit oder als beginne das Herz in eben diesem Augenblick, den Takt zu suchen, der ihm von Anbeginn zugedacht war.

Diesem Gedanken hätte ich gerne noch nachgespürt, doch kaum gedacht, war er auch wieder verschwunden. Das tun sie immer, die Gedanken. Sie haben ihre eigene Dynamik, kommen ungebeten und gehen ohne Gruß auch wieder fort. Niemals aber nehmen sie deine Ängste mit. Oder Unsicherheiten. Vor allem nicht die einer wartenden Frau, die meint, das Schlimmste sei bald, gleich, in wenigen Minuten überstanden.

Wenige Minuten …. Wie der Flug eines Sonnenstrahls auf dem Flügel eines Fensters blitzte für eine Sekunde auf, was „wenige Minuten“ bedeutet und meine Haut überzog sich erschrocken mit Eis. Der neuerliche Kälteschauer weckte erneut meinStreben nach Selbsterhaltung. Selbsterhaltung aber hing in meinem Fall an einem Mann, den ich hungrigen Durstes erwartete. Ich begann um Erlösung zu flehen, inbrünstig, aus der Tiefe verzweifelter Sehnsucht.

Und eben jetzt, als ich mich suchend umschaute, fuhr wieder ein Wagen heran. Mein Atem stockte auf der Stelle, glühende Röte flog in mein Gesicht, der Puls galoppierte davon. War er das? Bitte, lieber Gott, hilf mir! Doch es war nur ein anderer Reisender, ein Fremder mit fremden Absichten.

Ich konnte nur den Kopf schütteln. Unglaublich. Frierend schlang ich die Arme um mich. Bescheidener Schutz für meinen bebenden Körper. Gegen Gedanken aber gibt es keinen Schutz. Sie behalten immer ihr eigenes kaltes Leben. Und mir war seit meiner Ankunft ein ganzes Knäuel angedachter Ideen und verwischter Impulse entstanden. Verworrene Fäden, in denen ich mich hoffnungslos verlaufen hatte.

Vor allem aber war ich indiesen Minuten äußerster Unruhe ein willkommenes Fressen für ein Heer von Fragen. Und jede einzelne war ein Stich in die dünne Haut meiner überreizten Nerven. Ob ich noch ganz bei Trost sei, wollten sie wissen. Worauf ich mich da einließ und ob mir überhaupt klar sei, was ich da tue? Das waren die Fragen, die ich beiseite warf. Sie waren ohnehin viel zu spät gestellt. Es gab andere, wichtigere, die mir auf der Seele brannten.

War er so wie das Bild, das ich mir von ihm gemacht hatte? Wie glänzte das Licht seiner Augen, was würde ich finden darin und wohin sollte meine Stimme fliehen? Eine weitere, feste Fragenburg war seine Dominanz. Kam ich damit zurecht oder überschätzte ich mich in diesem Punkt? Wenn ich ihr nun nicht gewachsen war? Ob er mir dann beistehen würde? Oder erstickte ich im irrwitzigen Kräftespiel unserer Anziehung und dem, was womöglich geschah? So viele offene Fragen ….

Sie hätten hier enden sollen. Es gab schon genug unkalkulierbare Faktoren, mit denen ich zu ringen hatte. Eine letzte Frage aber drängelte sich vor alle anderen, stieß sie beiseite und richtete sich auf, um mich unverwandt anzustarren. Es war die Frage aller Fragen, die schlimmste von allen, die quälendste, peinlichste, vor der ich am liebsten weggelaufen wäre. Es war die Frage, ob ich ihm auch ein bißchen gefiel. Hier glitt ein matter Seufzer von meinen Lippen, stürzte mir vor die Füße und blieb kraftlos liegen. Ach je … Wie unabsehbar das alles war.

In diesem Augenblick wurde mir schmerzlich bewußt, wie leicht die vergangenen Wochen waren. Hinter dem Schutz einer Tastatur gewählte Worte zu finden, war einfach gewesen. Großartig damit um sich werfen, ebenfalls. Ich hatte mich sicher gefühlt, Zeit gehabt, meine Gedanken zu ordnen und wohlbedachte Texte verschickt. Auch der frevlerische Mut zu kleinen Frechheiten war mir locker von der Hand gegangen und das kühne Wagnis der einen oder anderen Provokation hatte ich mir bedenkenlos erlaubt. Jetzt aber war ich ohne die sichere Deckung meiner Buchstabenburg und die vorlaute Teilnehmerin eines beispiellosen Schriftverkehrs verschwunden. Verschwunden auch das große Maul, das ich oft genug zu weit aufgerissen hatte.

Ich war selber schuld, wenn ich jetzt in der Tinte saß. Denn natürlich würde die Gegenwart eines Mannes, der bereits in digitaler Form wie eine Droge auf mich wirkte, meine Fähigkeit zu differenziertem Sprachgebrauch schwer unterlaufen. Geradeaus sprechen zu können, schien nicht nur zweifelhaft, sondern absolut unmöglich. An sicheres Auftreten brauchte ich also gar nicht erst zu denken. Es wäre dumm gewesen, sich dieser Tatsache nicht zu stellen. Viel realistischer war das Bild eines errötenden Schulmädchens, des klaren Denkens nicht mächtig und ständig auf der Suche nach verlorenen Worten. Damit prallte mediale Wirklichkeit auf real greifbare Fakten. Und das eine schien mit dem anderen nichts zu tun zu haben.

Eine schauderhafte Vorstellung, die mich furchtbar wütend machte. Der erste Blick in seine Augen stand mir erst noch bevor und ich war schon jetzt hoffnungslos zerfranst. Was sollte er von mir denken? Wie konnte er mich ernst nehmen, wenn ich mich aufführte wie ein pubertierender Backfisch? Mist! Es sollte einfacher sein, heute, wo es nach sieben unendlichen Wochen endlich so weit war.

Sieben Wochen! Mit diesen sieben Wochen lag eine Zeit von überwältigender

Intensität hinter uns. Angefangen bei vertrauter Nähe und unwiderstehlicher Anziehungskraft hatte unsere Reise über die Gipfel erotischen Verlangens geführt, in die Niederungen des Zorns und von dort weiter auf die Wasser von Zweifel und Unsicherheit. Wir hatten uns gewärmt in der Sonne der Fröhlichkeit und geweint im Mond der Traurigkeit, hatten den Regen unserer Zuneigung getrunken und vom Brot uralter Sehnsucht gegessen. Dabei waren wir immer nackt gewesen. Herz und Seele hatten ihre Kleider abgelegt.

Von der ersten Zeile an war das so gegangen. Die Gleichheit unserer Naturen hatte sich schnell gezeigt und aus der Annäherung aneinander war ein rasender Taumel geworden. Schon nach kurzer Zeit kannte einer die geheimsten Gedanken des anderen. Es war befreiend, die wenig gesellschaftsfähigen Seiten von sich zeigen zu können oder gar solche, die als verrucht oder moralisch fragwürdig gelten. Und mit jedem Tag waren unsere Reden ruchloser, der Ausdruck hemmungsloser, die Vertrautheit inniger geworden. Scham, Zurückhaltung oder verschwiegenes Zaudern fanden in der Freiheit dieses Umgangs keinen Platz mehr. Und so hatte sich unser Austausch zu einem Feuerwerk an Esprit und Wortakrobatik, sprühender Fantasie und sexuell unflätiger Ausdruckskraft entwickelt. Alles in allem führten wir einen entsetzlich sittenlosen, höchst unkeuschen Schriftverkehr, der uns bis zum heutigen Tag unendlich viel Freude machte.

Doch es hatte auch die andere Seite des Glücks gegeben, die dunkle Seite des Mondes. Ausschweifenden Höhenflügen waren Dramen, Verletzungen und Tränen auf dem Fuß gewesen, allesamt einer langjährigen Ehe würdig. Im Grunde hatten wir alles Aufreibende und Negative, das eine Affäre ausmacht, bereits in Schriftform voran genommen. Streit aber schien in unserem Fall eine besondere Form der Intimität zu sein, der das Band zwischen uns sonderbar gefestigt hatte. Ein merkwürdiges, aber prägnantes Merkmal dieser Verbindung.

Unsere Gemeinsamkeiten verzahnten sich aber nicht nur in sexueller Hinsicht. Sie gingen weit hinein in ein Begreifen, in dem jedem von uns das eigene Zuhause als unantastbar galt und die Ehe als unverrückbare Lebensbasis. Jeder von uns hatte sein soziales Umfeld, seine Wurzeln, seine Verpflichtungen und keiner von uns wollte daran rütteln. Und gerade so sollte es auch bleiben. Eine wichtige Voraussetzung in dieser Begegnung, deren äußere Umstände nur den passenden Rahmen für eine der Sichtbarkeit entzogene Wahrheit darstellten. Denn jenseits des Rationalen gehörte diese Begegnung zu den Gesegneten. Es war, als seien wir Zwillingssterne, die sich nach ungezählten Lichtjahren wiedergefunden hatten! Zwei Sterne, die sich nicht nur spiegelten und ergänzten, sondern auch ganz und gar vervollständigten.

Sie sollte einfach sein, diese erste Begegnung. Einfach und leicht. War sie aber nicht. Ich stand mit kalten Füssen im Wildwasser meiner Ängstlichkeit, fieberte wie eine Kranke und lebte rückwärts. Aber nicht nur mein Körper trudelte, auch mein Geist stolperte. In den Bodensatz verworrener Emotion filzten sich Ranken aus Erinnerung, von denen gerade jetzt eine herausfiel. Ihre laszive Besonderheit wehte ein Lächelnherbei, hellblau, federleicht, einLächeln, unter dem mir warm wurde.

„Liebes Saufotzenmädchen, ich werde dir den Verstand rauben und gerne würde ich dich nun leicht bestrafen: du auf den Knien, den Fickarsch weit rausgestreckt, eine Wange auf dem Boden oder dem Bett, die Beine leicht gespreizt, beide Arme nach vorne gestreckt. Dann einige leichte Hiebe mit der Hand, der Gerte, einem Ledergürtel oder der Peitsche. Nicht zu doll ... danach meine prüfende Hand, ob deine Hurenfotze dadurch nicht zu naß wurde .... hach …“.

Der lebendige Eindruck dieses Bildes brach meine Spannung entzwei. Viele Bilder und Eindrücke brachen jetzt die Spannung entzwei. Allein der Zauber des Anfangs …. Eine köstliche, trunkene Erinnerung, deren sanfter Strich heran hauchte, was sich nur als Andacht umschreiben läßt. Denn Andacht empfand ich jedes Mal, wenn ich an den Beginn unserer Geschichte dachte. Ich verlor mich dann in der Gewißheit, auf einzigartige Weise beschenkt worden zu sein. Und auch jetzt glitt ich unversehens hinüber in den Bauch der Tagträume und vergaß in der leisen Strömung meines Rückblicks sogar die Minuten zu zählen. Es war so unbeschreiblich schön gewesen, so rätselhaft und außergewöhnlich, damals, vor sieben Wochen, vor einem Lichtjahr, vor einer Ewigkeit ….

Begonnen hatte es mit dem schlichten Lesen eines Nicknamens, einer kleinen, harmlosen Silbenreihe. Die Macht aber, die sie in sich trug, führte zur Neuerschaffung meiner Welt. Ich fühlte wieder, wie alte Sterne stürzten, sah Planeten in fremde Bahnen gezwungen. Auch die unsichtbaren Hände, die mich damals führten, waren wieder da. Ihrer stummen Herrschaft hatte ich bis heute keinen Namen gegeben. Sie war viel zu umfassend, zu unbegreiflichin ihrer Art, wie sie mein Tun gelenkt und zum Sandkorn vor dem Wüstensturm gemacht hatte. Doch so klein ich in dieser Getriebenheit auch gewesen sein mochte, war ich nie in Kleinheit verloren. Tröstliche Gewißheit war mein Begleiter gewesen. Gewißheit um ein besonderes Geschenk, fleischgekleidet und nur wenigen Erdenkindern zugedacht. Heute, jetzt, war es gerade jene Gewißheit, die mich hier stehen, zittern und tausend Tode sterben ließ. Welche Ironie!

Oh, ich weiß genau, wie sich das alles anhört. Versponnen und irrational. Aber das ist mir, bei allem gebührendem Respekt, herzlich egal. Ich weiß, daß das Schicksal damals ein Urteil sprach. Ein unwiderrufliches, bindendes Urteil. Und da die Kraft dieses Urteils nicht alleinin jenem Namen, sondern auch in mir selbst wurzelte, gab es kein Entrinnen. Alles mußte geradeso kommen, wie es schließlichkam. Und so begann ich unaufhaltsam in die Schatten zu fallen. Schatten, denen ich heute erstmals in die Augen blicken sollte. Schatten in ihrer reinsten Form, verkörpert von einem Mann, der bereits auf dem Weg zu mir war.

Bei dieser Vorstellung überliefen mich Frost und Feuer gleichzeitig. Wieder wurde mir bewußt, daß ich heute nicht nur mit Buchstaben in Berührung kam. Wenn er genauso auf mich wirkte wie sie, dann Gnade mir Gott. Schon seine Mails ließen meine Brust sich schmerzlich zusammenkrampfen, meinen Unterleib kraftvoll ziehen. Dann stieg wie als Antwort ein heller Ruf aus der Mitte der Welt. Lockend wie eine Sirene, klebrig und süß, bäumte er sich auf - und zerfiel in einer Halle aus Dampf.

Jetzt, da ich auf ihn wartete, schien der magische Flug, der mich dem dunklen Zauberer in die Arme geschleudert hatte, eine Ewigkeit zurück zu liegen. Zu weit schon waren wir zusammengegangen, zu tief schon ineinander gesunken. Im Grunde, das wußte ich heute, hatte sein Schatten schon auf meinem Weg gelegen, als das Schicksal mich hinausschickte, eine Hure zu werden.

*

„Der Weg

ist lang und schwer, der aus der Hölle führt,

zum Licht empor aus unserer Kerkergruft.

Diese gewaltige Feuerkapsel schlingt

uns undurchdringlich neunfach ein.“

John Milton.

Der Weg zur Verruchtheit tat sich auf nach den leidigen Wechseljahren. Ich war verrannt in der kindlichen Vorstellung, die Menopause werde Beschaulichkeit und satte Ruhe in mein Leben bringen. Eine dumme Idee, die ich mir schnell aus dem Kopf schlagen mußte. Tatsächlich hätte ich es besser wissen sollen. Aber in Anbetracht der körperlichen Veränderungen hin zum Herbst des Lebens glaubte ich allen Ernstes, es sei fertig mit mir. Ich gedachte der Jahre, in denen das Verlangen nach sexuellen Eskapaden mein Gemüt nicht belastet und das Wolkending über mir Ruhe gehalten hatte.

Meine persönliche Wolke. Von der Wiege an begleitete sie mich schon. Wie ein Luftballon am Handgelenk eines Kindes war sie immer da und schwebte lautlos über mir. Niemand anderem sichtbar war sie der Taktgeber meiner Abenteuerlust. Meist war sie ein bauschiges, weißleuchtendes Himmelsschiff auf stiller See. Ich lebte unbeschwert unter blauer Leichtigkeit, zufrieden und ausgeglichen. Mein Alltag war verspieltes Murmeln, hell gelächelt vom freundlichen Gesicht meiner Begleiterin. Leider war sie auch eine Diva. Unberechenbar, launenhaft und höchst unbeständig.

Und so kam es ihr in schönster Regelmäßigkeit alle paar Jahre in den Sinn, ihre Gestalt zu verändern. Dann war es aus mit dem Gleichgewicht. Schon mit der ersten Verdunkelung fühlte ich zerrende Kräfte wirken. Und je mehr meine Wolke sich aufblähte, desto schlimmer wurden sie. Hing erst einmal eine schwangere, gefährlich brodelnde Mätresse über mir, war ich verloren. Heiße Winde fielen dann von ihren Säumen und ihr bis zum Platzen aufgedunsener Leib sank herab, als wolle er mich ersticken. Ihr Ziel aber waren meine Eingeweide. Dahinein spuckte sie alles, was sie in ihrem fetten Wanst gemästet und herangezogen hatte. Und jetzt, als sei Hefe angesetzt worden, begann es zu gären. Ich wurde unrastig und mein Inneres gurgelte von geilen Gespenstern, die sich ihr Leben ersaugten und immer noch mehr wollten. Spätestens an diesem Punkt war es aus mit häuslicher Ruhe.

Gestern noch in friedlichen Wassern schlingerte ich nun auf tückischen Strudeln und schaumgekrönten Wellen. Und während ich immer mehr zur Nußschale auf wildem Strom wurde, hörte man in der Ferne schon Wasserfälle brüllen und Stromschnellen kreischen. Voran gepeitscht von einer donnergrollenden Wolke und umgeben von Blitzen, die wie närrische Kobolde aufsprangen, wurde meine sexuelle Unrast unerträglich. War dieser Zustand erreicht, gab es keinen Ausweg mehr. Ich konnte nicht mehr anders. Es war wie ein Zwang. Ich mußte hinein in Stromschnellen und Wasserfälle, hatte keine Wahl, als mich todesmutig hineinstürzen.

Ich tat es ohne schlechtes Gewissen. Tat es im Bewußtsein dessen, daß jedes Ding in Gottes Schöpfung genauso sein mußte, wie es gedacht und erschaffen sei. Ein Löwe mußte ein Löwe sein und konnte nicht wie ein Adler durch die Lüfte fliegen. Er machte sich auch keine Gedanken darüber, sondern war einfach nur das, was er war – ein Löwe. Und so war auch ich in jenen Zeiten ganz und gar einig sowohl mit mir selbst als auch mit den kurzen Ausflügen in fremde Gegenden.

All das war lange her. Seit vielenJahren ungestört fühlte ich mich sicher wie nie und glaubte allen Ernstes, einer erheblichen Unruhequelle meines Lebens auf immer ledig zu sein. Was mir nach den beschwerlichen Wechseljahren mehr als recht war. Nun aber platzte meine verträumte Vorstellung vom ruhigen Alter mit einem lauten Knall, als ich ganz plötzlich wieder richtig Lust auf Sex bekam. Dieses Mal aber war alles. Ganz anders.

Meine Lust wehte mich nicht als laues Lüftchen an. So jedenfalls erschien mir, was ich schon kannte. Nein! Dieses Mal bekam ich echten Sturm zu spüren! Nach tausend Jahren Schlaf packte mich unaussprechliche, wild schäumende Gier und statt Herbst zog Frühling in mir ein. Ich hätte mich freuen können, ja. Sex war lange kein Thema mehr gewesen. Aber das Reich des Vergessens trägt seltsame Früchte. Früchte, die reiche Morgengabe in meinen Schoß träufelten. Und so erstand, Trompetenklang im Haar, eine Sinnenlust, die ich nie zuvor gekannt hatte. Hungernd nach Leben war sie schon über mich hergefallen, bevor ich überhaupt begriff, was geschah. Ihr wahres Ausmaß aber und welche Konsequenzen sie nach sich ziehen sollte, erfaßte ich bei Weitem nicht. Das dämmerte mir erst, als sie ihre Krallen in meine Sinne schlug und grenzenlose Lüsternheit hervor gequollen kam. Und diese Lüsternheit, einmal befreit, wölbte sich jetzt in Tag und Träume, räkelte sich in den Stunden der Nacht und aalte sich zügellos in unbewachten Momenten. Oh, sie war ein verschlagenes Ding. Läufig wie eine räudige Katze zerrte sie mit infernalischer Penetranz an meiner Sinnlichkeit, zupfte an geheimen Sehnsüchten oder tröpfelte mir wilde Fantasien ins Blut. Wahre Fluten farbgewaltiger Bilder steigerten meine sexuelle Spannung ins Unerträgliche. Und während das Untier in meinem Bauch boshaft lachte, wurde ich geradezu schandhaft geil.

Ich fand damals, dies alles sei schon genug entfesselte Erotik. Aber meine Meinung war unmaßgeblich für die Mächte der Natur. Sie bestanden auf das rauschende Fest, verlangten den Tanz der Sinne! Unzweifelhafte Absichten, die sie massiv zu untermauern wußten. Denn jetzt erhob sich, jeder Moral trotzend, Gesang unter meiner Haut. Chöre aus Schatten und Zwielicht sangen mit herrlich teuflischen Stimmen Lieder von Sünde und Laster, von Wollust und Ausschweifung. Und ihr Duft bedrängte mein Hier und Jetzt auf schamlose Weise. Doch so sehr diese Lieder auch quälten, so versessen saugte ich sie ein.

Natürlich zahlte ich dafür. Nicht nur mit Schlaf oder Schwindel. Ich verlor mein Gleichgewicht, wurde rast-und ruhelos und verwandelte mich zum Schrecken meines Umfelds in eine gereizte Kobra.

Ich nahm es billigend in Kauf. Ich hatte ohnehin keine Chance gegen die Allmacht dieser Kräfte. Dem Brand meines Körpers ohnmächtig ausgeliefert wuchs sich das Flammennest in meinem Leib zu einer Brutstätte finsterster Triebhaftigkeit aus. Zermürbt und müde war ich irgendwann nur noch Papier, in dem der Funke nistet. Ich brannte lichterloh, als die dunkle Flut sich über mir gebrochen hatte. Mehr war nicht mehr möglich. War mein Unterleib je ein ruhiges Meer aus Silber gewesen? Ein schläfriges Gewässer, träge und still? Ich erinnerte mich nicht mehr. Denn jetzt, auf dem Höhepunkt sexuellen Hungers, kreiste ein Rad aus Feuer in mir. Ohne je still zu stehen schleuderte es Flammen und Hitze hervor, bis sich die Glut wie ein Krake in jeden Winkel meines Körpers dehnte. Kaskaden schwarzer Tinte ergossen sich in jede meiner Poren, bis ich nur so sprühte von Geilheit und Gier.

Nie zuvor hatte ich, ein echtes Kind der Leidenschaft, etwas Vergleichbares erlebt. Wie hatte ich nur glauben können, dieses Fieber endgültig los zu sein, wenn es auch lange nicht zu spüren gewesen war? Aber der Versuchung, vom Brot der Selbsttäuschung zu essen, hatte ich nicht widerstanden. Nun bekam ich auch dafür die Rechnung. Es zeigte sich, daß ich durch und durch ausgehungert war und jeder Tag erwies sich als nicht enden wollender Zug durch die Wüste. Wer ermißt schon, wie qualvoll bebende Schenkel sind oder ungestilltes Ziehen im Unterleib? Wenn ich jetzt dachte, mit Sex sei alles erledigt, täuschte ich mich schon wieder. Nichts war erledigt. Es ließ sich nicht erledigen. Geilheit ist eine eigenlebige Urkraft und die Beben, die sie verursacht, reichen tief. So tief, daß man sich selbst ein Rätsel wird.

Auch ich war mir fremd geworden. Freude am Sex? Wo war sie? Verschwebt wie bleiche Gespensterfinger. Nur müde Wege waren geblieben, Wege, die mich bitter traurig stimmten. Einst leuchtende Blüten lockten mich nicht mehr und die Enden alter Pfade führten in leblose Leere. Es war trostlos. Da ich vom Verstehen der Zusammenhänge Meilen entfernt war, fühlte ich mich als Spielball einer Kraft, die sich scheinbar willkürlichan mir austobte. Ich war frustriert, zornig, schwermütig und wußte mir keinen Rat. Die Stimmen unter meiner Haut, die gleichbleibend hell das verlockende Lied der Sünde sangen, machten alles noch schlimmer. Unter diesem Dauerdruck machte sich etwas bemerkbar, das ich nicht kannte. Es hauchte mich nur an, eine Ahnung aus der leeren Weite meiner erotischen Nacht. Sich ihr zu entziehen, war unmöglich. Ihr spinnwebfeiner Duft war einfach zu süß, zu rührend auch die Art, wie sie um Aufmerksamkeit bettelte, als sie immer näher herandrängte. Etwas Wehmütiges haftete ihr an, etwas, das mich an die Schönheit einer Schwertlilie oder betauten Moosrasen erinnerte. Ihre Unnachgiebigkeit war fast zärtlich zu nennen und weckte unweigerlich den Wunsch, sie zu berühren oder gar ihrem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Denn daß in dieser Ahnung irgendein Geheimnis lag, verstand selbst ich, die Blinde, Ahnungslose, die sich quälte und nichts kapierte. Doch die Dinge sollten sich ändern.

Umschmeichelt vom Duft des fremden Zaubers nahm ein hoheitliches Gefühl Besitz von mir. Alt wie die Welt und groß wie ein Mond ergriff mich die Sehnsucht. Unbeschreibliche, grenzenlose Sehnsucht. Ihre Wucht schien bis an den Himmel zu reichen und immer weiter hinauf ins lichtlose Gewölbe des Alls. Sie stand so gewaltig in mir, so endlos und weit, daß sie mich schier zu ersticken drohte. Oft engte sie meine Brust bis zur Atemnot und in meinen Tränen schwamm das Fernweh des Zugvogels. In dieser Zeit weinte ich Ozeane aus Salz.

Und nun beherrschten mich beide. Sehnsucht und Feuer. Zwei Urkräfte, eine stärker als die andere. Die eine höhlte mich aus, die andere zerfraß mir den Verstand. Ihre Eisgebisse waren kaum zu ertragen, bis es irgendwann nur noch wehtat. Es tat weh, Tag um Tag zu brennen, es tat weh, auf und davon laufen zu wollen, es tat weh, seine eigene Gefangene zu sein. Als es ganz schlimm wurde, schrie ich meinen Kummer hinaus, dem Wind in die Arme. „Tragt mich fort, Vögel auf der Reise! Nehmt mich mit, egal wohin, nur hinaus aus diesem Teufelsrad verhungerter Triebe!“ Das war mein letzter Hilfeschrei.

Des Duldens müde hatte ich die Nase gestrichen voll. Ich hatte genug von der Hexenjagd auf meine Sinne, genug von unerbittlicher Herrschsucht, genug auch von nassen Blicken in einen schwarzen Himmel. So konnte es nicht weitergehen. Es reichte! Es mußte ein Ende haben mit meiner Tatenlosigkeit, es war höchste Zeit, etwas zu unternehmen. Ich würde nie Frieden haben, wenn ichnicht anfing, mich um meine Bedürfnisse zu kümmern. Wie das zu machen war? Ganz einfach.

Ich würde losziehen und herausfinden, wonach mein Körper so verzweifelt verlangte. Das konnte so schwer nicht sein. Ich hatte genug von der Welt gesehen, als daß ich mich vor den Wegen, die womöglich zu gehen waren, gefürchtet hätte. Im Gegenteil. Ich wollte auf Verruchtheit stoßen. Ich wollte Lasterhaftigkeit treffen und in sündige Abgründe blicken. Je mehr, desto besser. War ich erst dieser verfluchten, lähmenden Passivität entronnen, sollte mir alles recht sein. Ich würde auch die Tore der Hölle durchschreiten, falls ihre Teufel mir Erlösung versprachen. Die Hölle und ihre Schatten konnten mich gewiß nicht schrecken.

Bei diesem Gedanken erklang das Lied unter meiner Haut lauter als je zuvor. Ein Chor verwegener Stimmen stieg auf und schallte laut„ Die Hölle und ihre Schatten, die Hölle und ihre Schatten …“. Der unvermittelte Gesang schlug genau in meine Mitte. Und da, plötzlich, wußte ich es. Ich wußte, wo es mich mit aller Macht hinzog, wußte, wohin ich wollte! Es war die Dunkelheit! Und tiefe, schwarze Schatten! Ja! Da hinein und hinab und immer weiter bis an den Rand der Welt.

Meine Entscheidung war im Bruchteil einer Sekunde gefallen und im Bruchteil einer Sekunde fühlte ich mich frei. Licht flackerte am Ende des Tunnels, ein Stern in der Nacht. Ich hatte das bestimmte Gefühl, nur noch eben hinlaufen zu müssen und alles wäre gut. In diesen Momenten war mir zumute, als hätte sich ein schwerer Stein gelöst. Meine Brust füllte sich mitgeflügelter, bis zum Jubel wachsender Leichtigkeit. Mein Wille erstarkte wie die Faust des Schmieds und jede verbliebene Hemmung wurde mit einem Befreiungsschlag hinweggefegt.

Ja. Es stand unverrückbar fest. Ich würde ausziehen, eine Hure zu werden. Was man von mir denken mochte, war mir egal. Es interessierte mich nicht. Ich war ohnehin nie bestrebt gewesen, als achtbare Frau zu gelten und auch Konventionen hatten mich zu keiner Zeit davon abgehalten, meine ureigensten Straßen zu gehen. Ab sofort aber wollte ich auch keine sittlichen Regeln mehr anerkennen. Das mochten andere tun. Moral, das wußte ich, wäre nur hinderlich auf dem Weg, den ich jetzt zu gehen gedachte. Ich hatte meinen eigenen, unausweichlichen Pakt mit Kräften zu schließen, die jenseits von Sitte und Moral lagen.

Und nun - genug des Zögerns! Und wage keiner, mich aufzuhalten! Sollte das zügellose Spiel endlich beginnen!

*

Mein erster aktiver Schritt war die Anmeldung bei einem passenden Forum. Ich brauchte einen adäquaten Partner. Einen, dem ich mich nicht nur öffnen, sondern auch ganz und gar anvertrauen konnte, einen, der mich an die Hand nahm und sicher in den innersten Kern meines Schattenlandes führte. Wie genau das zu bewerkstelligen sei, wußte ich zwar noch nicht, aber das würde sich schon irgendwie finden. Ich kam weder auf die Idee, wie schwierig sich eine derartige Suche gestalten könnte noch durchschaute ich meine Naivität in dieser Sache. Für mich zählte, daß ich mich endlich aufgemacht hatte, der leeren Weite meiner erotischen Nacht zu trotzen. Steine sah ich nirgends auf diesem Weg. Und hätte ich sie gesehen, würde ich sie konsequent ignoriert haben.

Welche Gezeiten des Schicksals ab jetzt ihr Werk verrichteten, weiß ich nicht zu sagen. Es müssen weise Mächte gewesen sein. Denn alles, was nun geschah, war wie vorgezeichnet. Es gab kein Quentchen Zufall. Die Ereignisse waren so exakt ineinander gefügt wie das Räderwerk einer Uhr. Heute weiß ich, daß es die Schatten waren, die lange vor den Ereignissen um unsere Bestimmung wußten. Sie hatten schon angefangen, miteinander zu flüstern, bevor wir überhaupt in Kontakt gekommen waren. Und als es endlich soweit war und ich unversehens über seinen Nicknamen stolperte, waren es wieder die Schatten, die ihr Raunen erhoben und nach mir zu greifen schienen. Das Beben, das darauffolgte, verschob die Polachsen meines Universums. Mein Innerstes wurde nach außen gekehrt, Zeiten verloren sich und Räume verschwanden.

„Ungebügelt!“

Schon beim ersten Lesen dieses Namens gerietich in hellen Aufruhr. Meine Intuition war mit einem Schlag wach, die Zugkraft des Wortes schon im Dialog mit meinem Körper, bevor ich es ein zweites Mal lesen konnte. Ungebügelt! Vier Silben - und ich war eine Gefangene. Wie ein Pfeil, der sein Ziel findet, drang der Name in mich ein und wie ein Pfeil war er leichtfüßig, aber von tödlicher Sicherheit. Augenblicklich entdeckte er geheimste Wege, drang in verborgene Kammern und schreckte schlummernde Ecken auf. In meiner Brust fluteten Ströme von Hitze, deren Echo sich im ganzen Körper ausbreitete. Laut hallend fuhr es mitten in mein Herzund mit dem ersten Schlag der kleinen, silbernen Glocke war ich bereits eine andere geworden.

Ungebügelt! Meine Hände zitterten, eiskalter Schweiß stand auf der Haut, mein

Herz klopfte zum Zerspringen. Dann, ganz plötzlich, lagen Hände an meiner Kehle. Kalte, harte Hände, die Luft und Leben abzuwürgen drohten, Hände, aus denen zu gleicher Zeit pulsierendes Leben floß. In diesem verwunschenen Augenblick, einem Märchen jenseits der Sichtbarkeit, wurde um meinen Hals eine Fessel geschmiedet. Ich stolperte, verlor den Halt, fiel. Mit dieser schäumenden Flut kam ich den Schatten meiner Mitte näher als je zuvor, während sich die Kompaßnadel meiner Geilheit schwindelerregend drehte. Die kleine silberne Glocke verwandelte sich dabei in einen tiefen, schweren Gong. Ungebügelt!

Die Eindringlichkeit dieses Erlebens ist mir bis heute im Gedächtnis, eingegraben in jede Faser. Derartige Dinge sind ja nicht Sache des Intellekts. Sie brennen sich in andere Sinne, geschehen in Regionen, die nicht rational erklärbar sind. Der Verstand kann dabei nur hilflos zusehen. Und auch mein Verstand war für diese wenigen Sekunden nur ein Knecht ohne Dienstherr. Erst als ich langsam wieder zu mir kam, nahm der kühle Schnitter seine Sense wieder auf und schwang sie nun auf einem neuen Acker. Denn meine Welt hatte sich von Grund auf verändert. Es kam mir vor, als sei ich alle Wege, die ich bis eben noch vor mir geglaubt hatte, schon gegangen. Wege, die ich seit Urzeiten kannte, Wege, die nur vom Moos des Alters befreit zu werden brauchten. In der tiefsten Seele berührt flog mich die Frage an, ob der Beginn meiner Reise vielleicht auch schon ihr Endpunkt sei. Und wenn es so war, mußte der Ungebügelte Anfang und Ende gleichermaßen sein. Wie anders war meine intensive Reaktion auf einen bloßen Namen sonst zu erklären? Das war nicht irgendein Sturm. Das war ein Inferno und es wirbelte mich auf bis ins Mark. Dabei hatte ich noch nicht einmal das Profil des Mannes geprüft. Ich hatte michin diesem Forum ja eben erst angemeldet. Keine 15 Minuten war das her. 15 Minuten! Mein Gott ….

In diesem Moment erfaßte ich mit nachtwandlerischer Sicherheit das Unausweichliche eines Zusammenpralles, der erst noch folgen sollte. Ich begriff sogar das Ausmaß dieser schicksalhaften Fügung, deren Ziel ich geworden war. Innerhalb von fünfzehn Minuten hatte sie mich auf den Scheitelpunkt eines Berges gesetzt, den ich schon jetzt mit rasender Geschwindigkeit hinab schlitterte. Und diesem steilen Hang, das wußte ichinstinktiv, würde ich vor Erreichen der Talsohle niemals entkommen. Denn als ich jetzt das Profil des Ungebügelten las, heulte mir der Wind schon um die Ohren. Daß er sich in kürzester Zeit zum Orkan steigern sollte, war dem Brüllen aus der Ferne deutlich zu entnehmen. Wie zügellos dieser Wirbelsturm wirklich werden würde, ahnte ich nicht einmal im Ansatz. Und hätte ich es geahnt, wäre es jenseits meiner Vorstellungskraft gewesen. Für diesen Augenblick hing ich erst einmal an den Worten eines Mannes, von dem ich bislang nur einen Nickname kannte.

„Auch wenn das Kleid des Körpers schon ein wenig faltig ist, braucht Frau nicht auf das Schöne im Leben zu verzichten, zumal ich ein Faltenkleid sehr anziehend finde.“

Nach der vernichtenden Wirkung, die schon sein Name gehabt hatte, waren diese Worte wie eine Faust. Ein Schlag traf mitten ins Herz, ein zweiter prallte mit voller Wucht in meinen Unterleib, der dritte schleuderte mich an die Ufer des Fernwehs. Streifen von Licht zogen auf. Atmete ich noch?

Ungebügelt! Was immer dieser Name mit mir anstellte – ich hatte ihm nichts entgegen zu setzen. Auf endloser Ebene stand ich nackt und ungeschützt einem neuen Element gegenüber, während eine silberne Glocke so hoch und weit schwang wie das Blau des Himmels über einem endlosen Meer. Ich meinte nur noch die Flügel ausbreiten zu müssen, damit ich davongetragen werde. Es war ein Gefühl von unbeschreiblicher Erhabenheit, intensiv, ergreifend, unwirklich und es führte mich unweigerlich zu dem Schluß, daß der Mann hinter diesem Profil verhext sein mußte.

War ich verrückt geworden? Was waren das für Sachen, die da wie bunte Murmelndurch meinen Kopf rollten. Verhext! Also bitte. Trotzdem hielt ich inne. Ich zögerte, grübelte. Sollte das wirklich möglich sein? Oder schrammte ich gerade hart an der Lächerlichkeit vorbei? Nein! Ich schüttelte wild den Kopf. Alles war möglich! Mit diesem Zugeständnis andie Welt des Irrationalenwurde der zweite Schlüssel zu mir selbst umgedreht. Und was nun freigesetzt wurde, ließ mich erstarren.

Nennt mich meinetwegen geisteskrank, aber in diesem Moment, glaubt es mir, strichen nachtgeschwärzte Hände sanft über mein Haar! Ob es mein eigenes Geheimnis war, das sich ins Spürbare schob oder das des Ungebügelten, ist schwer zu sagen. Vermutlich war es unser beider verborgener Kern, der in diesem magischen Augenblick ins Leben rückte. Für mich aber war diese unsichtbare Berührung das letzte Puzzlestück, das den Profiltext dieses Mannes zu meinem eigenen machte. Ich war sicher, daß jedes seiner Worte für mich geschrieben war. Sogar mein Körper nahm diesen Eindruck auf. Das unmerkliche Straffen der Schultern, das Strecken des Rückens, der kühle Ring um meinen Hals. Es war eigenartig, aber die Worte des Ungebügelten gaben mir nicht nur eine neue Haltung, sondern auch eine nie gekannte Würde. Und so sehr sie mich eben noch aufgewühlt hatten – nach der Berührung durch gesichtslose Hände beruhigten sie mich jetzt. Ich war in sicherer Obhut, beschützt und geborgen. Ich hatte nichts zu befürchten. Und im Gefühl dieser Sicherheit fand ich mich nun in der Lage, das unheimliche Profil des Ungebügelten ein zweites Mal zu lesen. Ich tat es stolz und hoch erhobenen Hauptes.

„Auch wenn das Kleid des Körpers schon ein wenig faltig ist, braucht Frau nicht auf das Schöne im Leben zu

verzichten, zumal ich ein Faltenkleid sehr anziehend finde.“ Ich war der Welt verloren. Schon lange. Schon 15 Minuten, fünfzehntausend Jahre, seit einer Ewigkeit. Jetzt aber, beim Lesen dieser Worte, verlor ich michauch selbst. Ich war wie betäubt und konnte nur noch staunen. Wie geschickt dieser Mann formulierte. Die Bereitschaft, weiblicher Leidenschaft Raum und Leben zu geben, hätte man besser nicht ausdrücken können. Seine Worte entfalteten einen Resonanzraum in mir, in dessen Weite ich förmlich hineintreten konnte - und meine Seele begann zu flattern wie ein gefangener

Vogel. Ich war tief beeindruckt. Ohne jeden Zweifel waren hier Intelligenz und Fantasie am Werk, zwei höchst erregende Attribute von bestechender Anziehungskraft. Intelligenz hatte schon immer eine unwiderstehliche Wirkung auf mich und Fantasie, das lehrte mich die Erfahrung, war ohne Intelligenz undenkbar. Ich hatte es hier mit einer Paarung zu tun, die tödlich auf mich wirkte. Wer sich so ausdrücken konnte, das wußte ich, hatte die Gabe, Wesentliches präzise auf einen Punkt zu bringen und dabei trotzdem Raum zu lassen für die Farben der Vorstellungskraft.

Was aber genauso wichtig war – der Ungebügelte hatte nicht nur eine Vorliebe für reife Frauen, er fand sie sogar anziehend. Die logische Konsequenz daraus mußte sein, daß er auch Verständnis für ihre Not hatte. Meiner Not, der Not des schrecklichen Feuerrades, das in mir kreiste und weder Rast noch Ruhe kannte. Ich konnte es nicht fassen. Sollte es das wirklich geben? Verständnis für meine Not? Angesichts dieser Möglichkeit drohte ich nun wirklich auseinander zu fallen und uralte, ungeweinte Tränen bewegten sich in ihrem Grab. Doch sie zu weinen, war jetzt nicht die Zeit. Stattdessen sprudelte etwas Anderes hervor. Aus dem Herzen meines Erdkerns löste sich ein warmes Gefühl und im Bewußtsein dieser besonderen Wärme wurde aus Ahnung plötzlich Sicherheit! Ja! Es stimmte! Was ichhier erlebte, war ohne jeden Zweifel das Ende einer Reise, die eben erst begonnen hatte.

Und wieder legte mein Verstand die Arbeit nieder. Für ihn, den vernunftorientierten Rationalisten, war nicht faßbar,