Schönhauser Allee - Wladimir Kaminer - E-Book

Schönhauser Allee E-Book

Wladimir Kaminer

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Beschreibung

Deutschland – ein Russen-Märchen: Niemandem gelingt es besser als Wladimir Kaminer, uns das eigene Land wie ein Panoptikum bemerkenswerter Menschen, merkwürdiger Schicksale und unerhörter Begebenheiten erscheinen zu lassen. Wer hätte beispielsweise vermutet, dass Einkaufen zum Abenteuer werden kann? Auf der Schönhauser Allee kann es das, dank einiger Vietnamesen, die ohne Sprachkenntnisse und Zählvermögen den „Laden Lebensmittel“ betreiben. Hier wird die Ware ungeachtet ihres Inhalts nach Verpackung sortiert und der Preis nach Größe festgelegt. Sollte den Besitzern bei dieser Methode einmal das Geld ausgehen, können sie ja im Spielsalon „Pure Freude“, der von Erik betrieben wird, ihr Glück versuchen. Erik stammt aus Baku, war im früheren Leben Musiker und spielte in der ersten und letzten Heavy Metal Band der aserbeidschanischen Hauptstadt. Doch nicht nur im Spielsalon, überall kann man hier den unverhofften Glückstreffer landen. Ein überfüllter Müllcontainer entpuppt sich als letzte Ruhestätte einer Bibliothek, aus der es wahre Schätze zu bergen gilt. Vielleicht nicht den Ratgeber „Woher die kleinen Kinder kommen“, ist es doch interessanter zu erfahren, wo die kleinen Kinder hingehen, wenn sie größer werden. Bedenkenswert sind allerdings die „Stilistischen Grundtendenzen in Lenins Sprache“, die Seite an Seite mit der „Blechtrommel“ und dem bang fragenden „Bin ich ein Verfassungsfeind?“ zwischen Spinatresten verfallen. Ganz zu schweigen von russischer Lyrik inklusive Kriegspoem – guter Soldat, hübsche Strophen, alles gereimt. Wäre doch schade drum. Schade übrigens auch um das Restaurant, das bei dem Versuch, gebratenes Sushi zu kreieren, in Asche gelegt wurde. So ist eben immer etwas geboten auf den Straßen Berlins ...

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Seitenzahl: 186

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Wladimir Kaminer

Schönhauser Allee

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Copyright © 2001 by Wladimir Kaminer

Copyright © dieser Ausgabe 2001 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: Design Team

Umschlagfoto: © Getty Images/Jorg Greuel

ISBN 978-3-89480-660-6 V004

www.goldmann-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Blut auf der Schönhauser AlleeHändler auf der Schönhauser AlleeFrühstückEin Stern namens LarissaJunggesellen und FamilienwirtschaftBerühmte Persönlichkeiten auf der Schönhauser Allee: Charles BukowskiBücher aus dem MülleimerEin Ausflug von der Schönhauser AlleeDas Geschäftsleben auf der Schönhauser AlleeDie Macht des EntertainmentsAlles wird andersSchlaflos auf der Schönhauser AlleeBerühmte Persönlichkeiten auf der Schönhauser Allee: Albert Einstein und Niels BohrHerbst der SpioneDer Erste Mai auf der Schönhauser AlleeNeulich in den »Schönhauser Arcaden«Schönhauser Allee im RegenIntegration auf der Schönhauser AlleeDas WasserbettSommerkulturKomm in den KindergartenBerühmte Persönlichkeiten auf der Schönhauser Allee: Elvis PresleyMultihausMarinas GeburtstagKannibalismusKriminelle Aktivitäten auf dem U-Bahnhof Schönhauser AlleeAuf der kurzen WelleDas Leben als VerlustDer RadiojuristBerühmte Persönlichkeiten auf der Schönhauser Allee: Bill ClintonTrainspotting in BerlinDie Vertreibung aus dem ParadiesBücher aus dem ContainerHexen auf der Schönhauser AlleeDas Internet auf der Schönhauser AlleeMädchen aufreißen in Schwäbisch HallKleine kostenlose FreundeMeine Tante auf der Schönhauser AlleeDie großen Brände auf der Schönhauser AlleeBerühmte Persönlichkeiten auf der Schönhauser Allee: Mickey RourkeMeine Schwiegermutter besucht uns auf der Schönhauser AlleeKneipen auf der Schönhauser AlleeWir und andere MusikantenAltbauten und NeubautenBerühmte Persönlichkeiten auf der Schönhauser Allee: Carlos CastanedaDas Wetter auf der Schönhauser AlleeUnsere NachbarnBerühmte Persönlichkeiten auf der Schönhauser Allee: John MalkovichNachwortÜber das BuchÜber den AutorCopyright

Blut auf der Schönhauser Allee

Mein Freund und Namensvetter Wladimir wohnt mit seiner Familie genau gegenüber auf der anderen Seite der Schönhauser Allee. Manchmal scheint er ein richtiger Doppelgänger von mir zu sein, oder ich von ihm. Er ist so alt wie ich, trägt denselben Namen wie ich, dieselben Klamotten, und er hat ebenfalls eine Frau und zwei Kinder. Auch seine Wohnung ist ganz ähnlich, er raucht dieselbe Zigarettenmarke und kauft dieselben Lebensmittel immer zur gleichen Zeit im gleichen Supermarkt wie ich. Das Einzige, was uns unterscheidet, ist die Tatsache, dass seine Frau eindeutig brünett ist, meine aber nicht. Neulich beim Einkaufen bemerkte ich noch einen Unterschied: Wladimir war offenbar plötzlich Vegetarier. Er kaufte Unmengen von gefrorenem Gemüse, sah dabei jedoch ganz unglücklich aus. »Ich kann kein Fleisch mehr sehen«, gestand er mir in der Schlange vor der Kasse. Auf dem Rückweg nach Hause erzählte er, wie es dazu gekommen war.

Vor ungefähr einer Woche fand er auf der Autobahn ein überfahrenes Wildschwein. Siebzig Kilo Fleisch lagen auf der Straße – einfach so. »Ein Geschenk des Himmels«, dachte Wladimir und zerrte das tote Tier in den Kofferraum seines alten Mazda. Er hatte sich gerade am Vormittag mit seiner Frau verkracht, weil sie morgens immer so missgelaunt war, und wollte ihr nun das Wildschwein als eine Art Wiedergutmachung mitbringen: »Ein Geschenk für dich, Liebling!«, so ungefähr stellte er sich das vor. Die Sau blutete ihm sofort den ganzen Kofferraum voll. Als Wladimir an einer Raststätte anhielt, um zu tanken, bemerkte der Wirt: »Da tropft Blut aus Ihrem Kofferraum, vielleicht sollten Sie mal nachschauen.«»Danke, ist schon gut, ich weiß Bescheid«, antwortete Wladimir und lächelte freundlich. Der Mann sagte nichts mehr und wollte von Wladimir auch kein Geld mehr für Benzin haben.

Als er in der Schönhauser Allee ankam, war es schon spät. Er musste das Wildschwein allein in den vierten Stock zerren. Dabei rutschte ihm das Tier mehrere Male die Treppe runter. Oben angekommen war er fix und fertig. Die Treppe und seine Klamotten waren voller Blut. Dazu kamen ihm die ersten Zweifel: Vielleicht war das Wildschwein doch keine so gute Geschenkidee? Nun war es jedoch zu spät. Er konnte den Kadaver unmöglich entsorgen. Seine Frau war nicht zu Hause, die Kinder bereits im Bett. Wladimir legte das Schwein in die Badewanne, nahm alle Waschlappen, die er in der Wohnung finden konnte, und ging ins Treppenhaus, um aufzuwischen.

Inzwischen hatten seine Nachbarn die Polizei alarmiert. Sie hatten den Streit am Morgen mitbekommen und waren nun fest davon überzeugt, dass Wladimir seine Frau umgebracht hatte. Als die LKA-Einheit ankam und die Blutspritzer vor dem Haus sah, forderte sie sofort Verstärkung an. Bis an die Zähne bewaffnet stürmten die Beamten das Haus und fanden Wladimir auf der Treppe mit einem Eimer Wasser und einem Waschlappen in der Hand, wie er das Blut wegwischte. »Ich mache alles wieder gut«, versprach Wladimir den Polizisten. Sie legten ihm dennoch Handschellen an und betäubten ihn ein wenig – zur Sicherheit. Danach folgten die Polizisten den Blutspuren nach oben und entdeckten im Waschraum das Wildschwein.

»Das ist aber nicht Ihre Frau«, wunderten sie sich.

»Nein«, erwiderte Wladimir, »meine Frau ist brünett.«

»Und wo ist sie jetzt?«

»Ich weiß nicht«, sagte Wladimir wahrheitsgemäß.

Die Polizisten zerrten das tote Tier zu viert nach unten. Mein Doppelgänger musste natürlich als mutmaßlicher Täter mit aufs Revier. Ein Selbstmord kam nicht in Frage. Im Grunde ist Wladimir dann doch noch verhältnismäßig heil aus der Geschichte herausgekommen: mit zweitausend Mark Strafe. Aber jetzt kann er kein Fleisch mehr sehen und ist insofern auch kein Doppelgänger mehr von mir. Nun muss ich ganz alleine im Supermarkt an der Fleischtheke anstehen.

Händler auf der Schönhauser Allee

Merkwürdige Dinge ereignen sich in Berlin. Nach einer langen Pause breitet sich die vietnamesische Handelskette »Lebensmittel« im Ostteil der Hauptstadt weiter aus. Auch bei uns im Haus an der Schönhauser Allee. Nachdem das »Kinderparadies« wegen Konsumentenverachtung endgültig schließen musste, hing ein großer Zettel am Schaufenster: »Hier eröffnet demnächst Laden Lebensmittel.« Schon am ersten Tag lernte ich die fünf Vietnamesen kennen, die den Laden betrieben: vier Männer und eine Frau. Alles mutige Händler. Trotz völligen Fehlens von Sprachkenntnissen und großer Zählunfähigkeit – oder gerade deswegen – war der Laden immer voll. Denn jeder Kunde brauchte mindestens eine halbe Stunde, um seinen Kauf zu tätigen. »Ich wollte ja nur wissen, was diese Pilze kosten!«, jammert ein junger Mann mit Pilzkorb in der Hand zum fünfzehnten Mal. Doch die beiden an der Kasse stehenden Vietnamesen, die Kassiererin und ihr junger freundlicher Zahlenübersetzer, lassen sich von der Kundschaft nicht provozieren und schweigen weiterhin würdevoll. Der dritte Verkäufer ist vor dem Geschäft mit Gemüse beschäftigt. Dabei kommt er mit einem einzigen Satz gegenüber der Kundschaft aus: »Vielleicht lieber das?« Das passt immer, weil die meisten Deutschen so verdammt wählerisch sind und sich nie zwischen zwei Äpfeln entscheiden können.

Jedes Mal, wenn ich einkaufen gehe, freue ich mich auf die Vietnamesen. Sie bringen in die prosaische Pflichthandlung »Besorgungen erledigen« ein spielerisches Element, man muss sich als Kunde immer etwas einfallen lassen und auf alles gefasst sein. Das Warensortiment wird von zwei weiteren Vietnamesen aufgefüllt, die fünfmal am Tag schwere Kisten in den Laden tragen. Die meisten Lebensmittel sind den Betreibern unbekannt, denn sie selbst essen etwas völlig anderes. Man riecht es jeden Tag in ihrer Mittagspause im Hausflur. Diese exotischen Gerüche, die unser Haus erfüllen, sind schwer zu beschreiben. Ich stelle mir dabei einen frittierten Hund mit Ananas vor.

Die meisten Produkte werden im Laden scheinbar wirr ausgelegt, doch schnell habe ich in diesem Durcheinander ein System entdeckt. Die Vietnamesen ordnen die Dinge nicht nach dem oft unklaren Inhalt, sondern nach ihrem Äußeren. So kommt alles, was Büchse ist, in das eine Regal, alles, was Flasche ist, in das andere und alles, was in Folie oder Papier eingewickelt wird, in ein drittes Regal. Wenn sie die richtigen Preise nicht wissen, schätzen sie den Wert der Ware nach ihrer Größe. Auf der irischen Butter, die ich einmal zwischen Seife und Butterkeksen fand, stand ein Preis von 0,37 DM, dafür waren die Butterkekse wegen ihrer Größe eindeutig überteuert. Die Flasche mit fragwürdigem Mango-Mandarinen-Fruchtsaft-Diätgetränk musste, nach ihrem Preis zu urteilen, mindestens zehn Jahre mit Jack Daniels in einem Fass gereift sein.

Mittlerweile ist es mir zu einem Bedürfnis geworden, im Vietnamesen-Laden einzukaufen. Es ist auch sehr praktisch, weil dort zu jeder Tageszeit jemand da ist: wenn nicht vorne, dann im Hinterzimmer, wo es nach dem süßen Hund riecht. Die Vietnamesen kennen mich auch bereits, und ich darf ausnahmsweise selbst auf den Kassenknopf drücken. Um so größer war meine Enttäuschung, als ich neulich den Laden geschlossen fand. Im Schaufenster hing ein Zettel: »Wegen Urlaub ist der Laden vom 30. 6. bis 1. 7. geschlossen.«»Das sind wirklich Arbeitstiere!«, rief die Verkäuferin aus dem Jeansladen nebenan entsetzt, »einen Tag Urlaub machen!« Schade eigentlich, dass wir keine gemeinsame Sprache haben, sonst könnten sie mir morgen ihre Urlaubsabenteuer erzählen, dachte ich und ging an diesem Tag woanders einkaufen.

Frühstück

Jeden Tag nach dem Frühstück mache ich meinen Rundfunkempfänger an und lausche den Nachrichten aus meiner Heimat. Von besonderem Interesse ist für mich zur Zeit, ob die sibirischen Bewohner, die vor zwei Monaten in Hungerstreik traten, noch am Leben sind. Sie hatten in Krasnojarsk aus Protest gegen die Kälte den Hungerstreik angekündigt, und danach habe ich nichts mehr von ihnen gehört. Dieses Gebiet wird seit November vorigen Jahres nicht mehr mit Strom versorgt, weil die Regierung die Stromrechnungen nicht bezahlt hatte. Der Gouverneur General Lebed sagte daraufhin dem Frost und der Kälte den totalen Kampf an und startete eine Kampagne für gesünderes Leben. Er selbst ging als gutes Beispiel voran, indem er jeden Tag öffentlich auf dem Eis joggte – bis der letzte Fernseher ausging.

Heute Morgen kam wieder mal etwas Neues über ihn im Radio. Ein bisschen Strom haben sie also doch noch, sonst würde ich die Stimme des Generals im Rundfunk gar nicht hören können. »Ich werde persönlich dafür sorgen«, sagte der General, »dass die Wärme in unserem Gebiet in kürzester Zeit wiederhergestellt wird.« Das hat er schön ausgedrückt. Mit »Wärme« meint der General natürlich nicht die Stromversorgung, sondern den Sommer. Er spielt ein Spiel, das man gar nicht verlieren kann. Ende April waren die Menschen in Sibirien schon immer gespannt – alles dreht sich nur noch um das eine: Kommt nun der Sommer oder nicht?

Sollte dies der Fall sein und der Sommer wirklich kommen, dann wird der General sagen: »Seht ihr, das ist für mich nicht leicht gewesen, aber was tut man nicht alles für sein Volk«. Wenn aber der Sommer dieses Jahr Sibirien meidet, wird der General sagen: »Die Kräfte der Natur sind stärker als die Gesetze der Wirtschaft und der Politik, wir müssen vor diesen Kräften den Hut ziehen.« Er ist ein weitsichtiger Politiker.

Lebed hat +4 Dioptrien. Doch eine Brille zu tragen, kommt für den General nicht in Frage, und Kontaktlinsen halten in der sibirischen Kälte nicht lange. Deswegen hat er sich in seinen BMW +4-Dioptrien-Glasscheiben einbauen lassen. Ein Bekannter meines Vaters, ein Offizier, der einmal im Auto des Generals saß, erzählte: Für einen Menschen mit normaler Sehkraft ist das derart unerträglich, dass er schon nach zehn Minuten kotzen muss. Ein Glück, dass ich nicht in Sibirien lebe! Bei uns in der Schönhauser Allee ist das ganze Jahr über schönes Wetter angesagt, die vielen Autos, die Tag und Nacht auf der Allee fahren, erhöhen die Außentemperatur erheblich, und die U-Bahnen bremsen den Wind. Und auch sonst ist hier einiges anders als in Sibirien. An jeder Ecke werden bei uns Kuchen gebacken und verkauft, im »Ostrowski« sogar am Sonntag, und nachts kann man sich im Burger King schräg gegenüber von unserem Haus ernähren. Dieses Gefühl kennt man in Sibirien gar nicht: Plötzlich wachst du um drei Uhr nachts mit einem Hungergefühl auf und gehst einfach auf einen Snack rüber ins Schnellrestaurant.

Die ganze Brigade stand vor der Tür, als ich letzte Nacht dort aufkreuzte: »Guten Morgen, möchten Sie vielleicht ein paar Cheeseburger kaufen, ganz frisch, zum halben Preis? Oder fünf Stück für fünf Mark, was halten Sie davon?« Ich wurde angesichts solch ungewöhnlich hoher Aufmerksamkeit verlegen. Der King macht doch sonst nie Sonderangebote. Vielleicht hielten sie mich für einen anderen. »Wieso?«, fragte ich, »was ist denn los?«

»Eine typische Geschichte für diese Gegend, eigentlich nichts Besonderes, aber ich erzähle sie Ihnen, damit Sie sich nicht verarscht fühlen«, sagte die Chefin. »Die Burger sind nämlich wirklich frisch. Vor einer halben Stunde riefen uns irgendwelche Jungs an und bestellten 100 Cheeseburger für eine Party. Kurz vor Ihnen kamen sie, um alles abzuholen und wollten mit einem falschen 500-DM-Schein zahlen, da habe ich sie wieder weggeschickt.«

»Na gut«, sagte ich. »Fünf Cheeseburger zum Mitnehmen, aber bitte ohne Käse, den mag ich nämlich nicht.«

»Den Käse machen wir Ihnen gerne weg«, freute sich die Brigade.

Ein Stern namens Larissa

Das Leben auf der Schönhauser Allee gleicht oft einem Film, einer Gegenwartsfiktion mit großen Produktionskosten und unzähligen Statisten. Kaum geht man aus dem Haus, schon steckt man in einer aufregenden Episode: die Flugzeuge, Straßenbahnen, Züge, Autos und Radfahrer sorgen für große Turbulenzen und verschaffen einem so die Illusion ewiger Bewegung. Alles dreht sich um dich. Auch viele Liebesgeschichten, die sich in unserer Gegend abspielen, haben inzwischen etwas Cinematographisches an sich. Zum Beispiel die von Erik und Larissa.

Erik ist Besitzer des Spielsalons »Pure Freude« und stammt ursprünglich aus Baku. Er entwickelte sich erst in Deutschland zu einem Spielkasinobesitzer, in seinem früheren Leben war er Musiker und spielte Heavymetal. Seine Band hieß»Black Town«, und war vor zehn Jahren die erste und anscheinend auch die letzte Heavymetal Band der aserbeidschanischen Hauptstadt Baku.

Damals hatte Erik kein Geld, dafür aber lange Haare und viele Freunde. An jedem Wochenende spielte »Black Town« ihren Heavymetal im Restaurant »Ölarbeiter« auf dem Lenin-Boulevard und hatte sogar schon fast einen Plattenvertrag in Saudi-Arabien in der Tasche, da brach plötzlich ein großes Massaker in der Stadt aus: Die Perser gingen auf die Armenier los, und Erik, als Armenier, musste über Nacht abtauchen. Irgendwie gelangte er dann nach Deutschland –»mit dem Zug«, wie er selbst erzählte. Drei Jahre spielte er danach in Deutschland auf der Straße Geige, ohne jegliche Perspektive. Bis er endlich politisches Asyl bekam, sich die Haare schnitt und zum Besitzer eines Spielkasinos wurde. Das Geld dafür liehen ihm ein paar reiche Armenier, und seine ersten sieben Glücksspielautomaten schraubte er sich eigenhändig aus dem Müll zusammen. Auf der Schönhauser Allee fanden sich genug Kunden, die seine Maschinen regelmäßig mit ihrem Geld fütterten. Eriks Traum vom Wohlstand ging langsam in Erfüllung, doch nun litt er verstärkt unter Einsamkeit.

Jedes Mal, wenn er bei uns vorbeischaute, beklagte er sich über sein ödes Privatleben.

»Ich finde nie eine richtige Frau!«, seufzte er.

»In den ‘Schönhauser Arcaden’ findest du alles«, antwortete ich automatisch. Das ist eigentlich ein Werbespruch des Kaufhauses: »Bei uns finden Sie alles«, steht auf dem großen Plakat, auf dem ein Mann mit einer zu ihm passenden Frau und zwei Kindern – einem großen Jungen und einer kleinen Tochter – glücklich lächelt. Das Bild lässt vermuten, dass der Mann seine wunderbare Familie, ebenso wie sein ganzes Outfit gerade in den Arcaden erworben hat und deswegen vor Freude strahlt. Doch sicher nicht wegen ein Paar Schuhen. Jedes Mal, wenn ich gefragt werde, wo findet man dies oder das, sage ich, ohne nachzudenken: »In den Arcaden.« Dieses Kaufhaus ist die Zaubermuschel des Bezirks.

Erik lacht aber nur über meinen Einkaufstipp.

Zwei Wochen später, wie es in einem Film üblich ist, traf ihn der Schicksalsschlag: Er verliebte sich unsterblich in die Parfümverkäuferin Larissa aus der »Douglas»-Parfümeriefiliale – in den »Schönhauser Arcaden«. Jeden Tag ging er nun hin, um ein wenig mit der Frau zu plaudern und ein paar kleine Parfümartikel zu kaufen. Das war ein teurer Spaß! Larissa erwies sich als eine sehr verwöhnte Frau und erwartete von Erik ganz besondere Geschenke: Parfüm, Kleider und Schmuck fand sie banal.

»Sie will mit mir nicht mal ins Kino gehen«, beschwerte sich Erik.

»Ihr müsst nicht ins Kino, ihr seid selbst großes Kino«, unterstützte ich Larissa.

»Ich muss mir etwas Besonderes einfallen lassen«, meinte Erik.

Er überlegte nicht lange, schraubte eines Tages seine Automaten auseinander, nahm das Geld heraus und fuhr nach Moskau. Dort kauft er für Larissa in einem Observatorium einen Stern im Wert von 500,– Dollar. Das war ein unsichtbarer Stern, ein sichtbarer war erst ab 3000,– Dollar zu haben. Dafür bekam Erik ein richtiges Zertifikat, dass er der einzige Besitzer und Herrscher eines kleinen Sternes im Sternbild der Waage war, mit dem er nun machen konnte, was er wollte. Rein theoretisch natürlich. Er konnte diesem Stern selbst einen Namen geben, ihn jemandem schenken oder ihn weiterverkaufen. Nur ankucken konnte er ihn nicht, weil es eben ein unsichtbarer Stern war.

Erik nannte seinen Stern Larissa und schenkte das Zertikat der Parfümverkäuferin von »Douglas«. Solch einer romantischen Geste konnte Larissa nicht widerstehen und ging mit Erik ins Kino. »Hast du eigentlich noch etwas Geld übrig?«, fragte sie ihn besorgt, »wir müssen nämlich ein Teleskop kaufen.«

»Das brauchen wir nicht«, erwiderte Erik, »du bist mein Stern, und ich möchte, dass du immer neben mir leuchtest.«

Sie schwiegen und schauten auf die Leinwand des Colosseum-Kinos Nummer 9, wo gerade »Star Wars – Die dunkle Bedrohung« lief.

Junggesellen und Familienwirtschaft

Drei große Familien leben in unserem Haus an der Schönhauser Allee: eine vietnamesische Familie mit drei Kindern und einer Oma, eine moderne islamische mit drei Frauen und einem Mann und eine russische – meine. Die drei weiteren rein deutschen Haushalte bestehen aus Junggesellen. Direkt unter uns wohnt Hans, ein Mann Ende vierzig; uns gegenüber eine junge sportlich-disziplinierte Frau; ein Stockwerk höher eine junge lässige.

Der alte Junggeselle Hans gibt viel Geld für die Einrichtung seiner Wohnung aus. Er hat einen modernen Tisch mit einem Loch in der Mitte, aus dem eine große Pflanze herauswächst, außerdem mehrere Lavalampen, ein Futonbett und ein Riesenaquarium mit Umwälzpumpe und allem was dazugehört. Er ist ein offener Mensch und interessiert sich für die schönen Künste. Neulich erwarb er für viertausend Mark ein abstraktes Gemälde, Öl auf Leinwand, das er im Fernsehen gesehen hatte. Es erinnerte ihn an seine Ex-Freundin. Ansonsten ist er sehr sparsam. Hans hat mehrere Liebesgeschichten auf Lager, alle mit tragischem Ausgang: Entweder wurde die Frau verrückt, oder sie wanderte nach Amerika aus, fiel unter die Straßenbahn, heiratete einen Schwarzen in Stettin oder verschwand auf andere Art aus seinem Leben. Seine Wohnung riecht leicht nach Benzin und frischen Zeitungen. Hans hat viel für fremde Kinder übrig, seine Liebe zu ihnen ist die eines Weihnachtsmanns. Immer findet er irgendwelche Süßigkeiten in seinen Taschen. Bei den vietnamesischen Kindern ist der »gute Onkel von oben« bereits eine Legende. Zu seinen eigenen Kindern, die aus seinen tragischen Liebesgeschichten entstanden sind, hat er aus unerfindlichen Gründen keinen Kontakt.

Bei den Vietnamesen hat man das Gefühl, dass dort ununterbrochen gewaschen und gekocht wird. Der süßfleischige Geruch, der sich bei uns im Treppenhaus verbreitet, lässt mich an so exotische Sachen denken, wie gebratener Hund mit Ananas oder geräucherte, in Honig eingelegte Tauben. Ich habe bereits mehrere Telekomrechnungen für diese Familie übersetzt, und weiß dank meiner Besuche in ihrer Wohnung, dass ein Großfamilienleben von weitem viel schlimmer aussieht als in Wirklichkeit. Es ist, als würde man einen Krieg im Fernsehen verfolgen. Auf dem Bildschirm sieht alles komplett zerstört aus, die Bomben haben ihre Ziele erreicht, Rauchwolken ziehen vorüber, nichts als Schutt und Asche überall. Man denkt, da unten läuft gar nichts mehr. Doch wenn man da ist, erkennt man: das Leben brummt, viele Unverletzte springen herum.

Die junge Alleinstehende aus der Wohnung gegenüber lässt sich ihre Haare kurz schneiden und joggt jeden Tag im Morgengrauen die Schönhauser Allee auf und ab. Sie bekommt regelmäßig einen Spezialkatalog für Sportwaffen und -klamotten zugesandt, der in keinen Briefkasten passt. Die Frau fährt ein Motorrad und wird uns bestimmt beschützen, falls Außerirdische unser Haus angreifen.

Die moderne islamische Familie direkt über uns besteht ebenfalls aus lauter Sportsfreunden und macht den meisten Krach. Was genau diese merkwürdigen Geräusche verursacht, ist immer noch ein Rätsel für uns. Im Laufe des letzten Jahres gelangte ich durch ständiges ungewolltes Zuhören zu der Überzeugung, dass sie aufeinander reiten. Am Nachmittag wird so etwas Ähnliches wie Fußball gespielt. Mit vielen Toren. Ab 20.00 Uhr ist Rennen angesagt. Eine Runde – eine Stunde. Danach werden anscheinend die Pferde ausgewechselt, und es geht wieder von vorne los. Um Mitternacht werden die Gewinner ermittelt und die Preise ausgehändigt.

Die lässige Junggesellin im ersten Stock scheint eine Schauspielerin oder Künstlerin zu sein. Sie trägt schwarze Kleider und raucht lange dünne Zigaretten. Sie genießt ihr freies Leben und befindet sich permanent in fröhlicher Geschäftigkeit, als würde sie andauernd eine Feier oder eine Party vorbereiten, die immer wieder aufgeschoben wird. Wenn sie mir oder einem anderen auf der Treppe begegnet, macht sie gern ein bisschen Theater. Doch das Leben lässt sich nie ganz in ein Theater umwandeln, deswegen kriegt die Frau ab und zu Depressionen. Besonders wenn ihre Mutter zu Besuch kommt, eine ältere, gut aussehende Dame, die ebenfalls schwarze Kleider trägt und lange dünne Zigaretten raucht, was irgendwie rührend wirkt.

Als der Winter richtig losging und die CDU-Spendenaffäre eskalierte, veränderte sich auch das Leben in unserem Haus rasant. Oben wurde nun viel weniger geritten, es klang eher nach einem Schachspiel. Der alte Junggeselle Hans legte sich eine gelbe Krawatte zu, wechselte die Sommerreifen an seinem Polo aus und ging auf Reisen. Die Vietnamesen trugen zu acht eine neue Waschmaschine in ihre Wohnung, und die Sportsfrau rutschte beim Joggen auf dem Glatteis aus, wobei sie sich zwei Rippen brach.

Berühmte Persönlichkeiten auf der Schönhauser Allee: Charles Bukowski

»Gehen Sie bitte raus, wir machen zu!«, sagte der freundliche Schwarzenegger, der in den »Schönhauser Arcaden« für die Sicherheit zuständig ist. Er stand gerade vor uns, die Beine breit, die Hände hinter dem Rücken – so bildete der Mann selbst eine Arkade. Mein Freund Juri und ich liefen ohne Anstrengung zwischen seinen Beine hindurch an die frische Luft.