Schulaufgaben - Jutta Allmendinger - E-Book

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Jutta Allmendinger

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  • Herausgeber: Pantheon
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Was sich ändern muss, damit die Schule jedem Kind gerecht wird

Auch nach etlichen Reformen gelingt es den Schulen nicht, Kinder nach ihrer jeweiligen Leistungsfähigkeit zu fördern. Statt Schülern Raum zu geben, um sich in ihrem eigenen Tempo Wissen zu erwerben, werden sie schon früh in starre Lehr- und Zeitpläne gezwungen. Vor allem leistungsschwächere Schüler und Kinder aus nicht privilegierten Elternhäusern werden so rasch abgehängt und ausgesiebt.

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Seitenzahl: 382

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Inhaltsverzeichnis

EinleitungBildungsketten
KAPITEL 1 - Aller Anfang braucht mehr als Zeit
Die Zielgröße: Reichen Kitas für jedes dritte Kind unter drei Jahren?Die Umsetzung: Schafft man den Ausbau in fünf Jahren?Die Qualitätssicherung: Was macht den Wert guter Kindertagesstätten aus?Die Kosten: Können und wollen sich Eltern Kindertagesstätten leisten?Angebot oder Pflicht: Müssen Eltern ihre Kinder außerhäuslich betreuen lassen?
Copyright

Einleitung

Dieses Buch verfolgt den Werdegang von vier Kindern, die soeben volljährig geworden sind. Einst waren sie die besten Freunde, heute haben sie sich nichts mehr zu sagen. Aus dem mit Stöcken und Plastikschwertern beschworenen »Einer für alle, alle für einen« wurde ein gleichgültiges Schulterzucken. Die Spuren dieser zerbrochenen Freundschaft führen schnurstracks zu den Eltern, in die Schulen und Nachbarschaften zurück. Sie zeigen unser aller Mangel an Geld, Zeit, Geduld und Kraft. Und damit die verführerische Macht, alles beim Alten zu lassen.

Die Freundschaft der vier begann im Alter von drei Jahren. In einem Kindergarten, der gezielt Kinder aus ganz unterschiedlichen sozialen Kreisen zusammenbringen wollte, fanden sie gut Platz: Alexander, genannt Alex, das Kind zweier Akademiker, Erkan, der Sohn türkischer Händler, Jenny, deren alleinerziehende Mutter arbeitslos war, und Laura, das leicht behinderte Kind eines Künstlers und einer Friseurin.

Die vier Kinder erwartete eine schöne Zeit. Viele Geburtstage, viele Wochenenden, viele Ausflüge verbrachten sie gemeinsam und mit ihnen die Eltern. Jenny siegte stets beim Memory-Spiel, Erkan rechnete blitzsauber für alle die Bonbons zusammen, Laura malte die wunderbarsten Bilder, und von Alex lernten sie Großmut und Deutsch. Nach drei Jahren wurden die Freunde getrennt. War der Kindergarten für die meisten noch frei wählbar, so wurde die Schule durch den Wohnbezirk fest zugewiesen. Jenny und Erkan kamen auf Grundschulen, die in unmittelbarer Nähe zu ihrer Wohnung lagen. Alex besuchte die gutbürgerliche Schule in seinem Stadtteil. Laura dagegen blieb ein Jahr länger im Kindergarten, kam dann auf eine Grundschule und wurde bald auf eine Förderschule geschickt, die eben nicht mehr integrativ war.

Einige Jahre hielt die Freundschaft, insbesondere die Eltern von Alex kümmerten sich darum. Zuerst riss das Band zu Laura. Die neuen Freunde von Alex, Erkan und Jenny konnten mit ihr nichts anfangen, hänselten und gängelten sie. Den dreien fehlte der Mut zu widersprechen. Und die Eltern konnten nicht mehr helfen. Nach der vierten Klasse standen weitere Schulwechsel an. Würden die drei jetzt eine gemeinsame Schule besuchen? Alle hofften es, doch daraus wurde nichts. Die Noten von Jenny reichten gerade so für die Realschule, bald jedoch rutschte sie auf die Hauptschule ab. Ihre Mutter regte sich nicht. Die Eltern von Erkan wünschten sich den höchstmöglichen Bildungsabschluss für ihren Sohn. Er kam auf eine Realschule. Bei Alex dagegen stand das Gymnasium von Geburt an fest. Sein Klassenlehrer wörtlich: »Deine Noten sind nicht besonders. Aber das wird schon. Bei deinen Eltern braucht man sich keine Sorgen zu machen.« Noch hatten die drei sich fest im Blick. Geburtstage feierten sie gemeinsam, überreichten sich Geschenke, krakelig beschriftet: »Von Deinem besten Kumpel.«

Doch die Fäden lösten sich unaufhaltsam. Die Schule, die Freunde, das Leben unterschieden sich und damit die Interessen, der Sport, die Musik, die Urlaube, die Sprache. Bald weigerte sich Alex, seine Kumpels einzuladen, er schämte sich. Erkan traute sich nicht mehr, einfach bei seinen alten Freunden anzurufen, sie waren ihm fremd geworden. Jenny fand die anderen nur noch uncool. Und Laura suchte von sich aus sowieso nicht den Kontakt. Heute, mit achtzehn Jahren, fehlt ihnen jeder Kitt.

Laura, Erkan, Alex und Jenny sind meine Freunde. Es gibt sie wirklich. Meine Schilderungen folgen ihrem Leben. Persönlich wollen sie nicht erkannt werden. Das respektiere ich. In dem Buch ändere ich daher ihre Namen und die Lebensräume, vernachlässige einige Details und überziehe andere deutlich.

Eigentlich braucht es nur diese vier Leben und achtzehn Jahre, um zu zeigen, wie unser Bildungswesen funktioniert, wie es führt und verführt, wie es solange rüttelt und schüttelt, bis wir wieder dort angelangt sind, wo wir begonnen haben. Dies schlicht zu behaupten, wäre freilich billig. Also illustriere und belege ich die vier Bildungsverläufe mit Daten und Fakten. Das macht aus diesem Buch kein akademisches Werk, aber doch eine Darstellung, der die Forschung und die wissenschaftliche Verankerung nicht fehlen.

Anprangern will ich mit diesem Buch nicht. Schwarzmalerei und Larmoyanz sind mir fremd. Ich will beschreiben, warum es so gekommen ist. Begreifen, wo wir einhaken können. Die Bildungsverläufe dieser vier Kinder und die Forschung zeigen uns im Kleinen wie im Großen, wie Deutschland zu einer Bildungsrepublik werden kann. Noch sind wir das nicht. Die Bildung der Kinder hängt jenseits ihrer Fähigkeiten und Potenziale zu stark von ihren Elternhäusern ab. Gerade für die vielen neugierigen Kinder mit Einwanderungsstatus ist das besonders hart. Die Unterschiede zwischen den Bundesländern sind so ausgeprägt, dass daraus ungleiche Lebenschancen für die Kinder entstehen. Den Anspruch auf Bildung als Bürgerrecht verwirklichen wir nicht.

Warum eigentlich? Wir wissen, was zu tun ist. Wir sehen die Erfolge im Ausland, sehen viele wunderbare Schulen bei uns um die Ecke. Schulen, die Eltern mit ins Boot holen. Schulen, die mit kleinen Klassen, guten Lehrern und Sozialpädagogen die Schülerinnen und Schüler mitnehmen, die sie in ihrem Ehrgeiz piksen und sie motivieren. Wir stellen uns vor: Gemeinden lassen Schulen, Schüler, Lehrer und Eltern einen Pakt auf die Zukunft schließen. Sie ziehen an einem Strang und erzeugen das, was für sie und die Gesellschaft das Wichtigste ist: Unabhängigkeit, Selbstverwirklichung, ein gutes Leben. Auch davon handeln die folgenden Seiten.

Gewidmet ist dieses Buch meiner Mutter, die sich über meine Frauenbücher immer gefreut hat, ein Bildungsbuch aber stets wichtiger fand. Nun ist es da, ohne dass sie es noch lesen und mir in zarten Nebensätzen deutlich kommentieren kann.

Jutta Allmendinger

Berlin, im August 2012

Bildungsketten

KAPITEL 1

Aller Anfang braucht mehr als Zeit

Die Prägung der ersten Lebensjahre

1994, Mitte April. Ein sonniger Nachmittag in Norddeutschland. Im Stundentakt sieht man Frauen, teilweise begleitet von ihren Männern, ein schönes Einfamilienhaus betreten und wieder verlassen. Geöffnet wird die Tür von einer blonden Frau in Jeans und mit lustigem Pferdeschwanz, manchmal auch von einem großen, fast schlaksigen Mann. Um was es geht, erschließt sich dem Beobachter von außen nicht.

Meine Freunde Susanne und Michael erwarten im August ihr erstes Kind. Schon lange steht fest, es wird mein Patenkind sein: das Kind, welches ich hoffentlich über Jahrzehnte begleiten würde. Auch deshalb bin ich heute dabei. Die zukünftigen Eltern hatten eine Anzeige in die Zeitung gesetzt: Wir suchen eine Kinderfrau. Aus den vielen Zuschriften wählten sie mühsam fünf Bewerbungen aus. Die Frauen stellen sich heute vor. Eine skurrile Situation. Die Schwangerschaft sieht man Susanne kaum an. In der Wohnung deutet nichts darauf hin, dass hier bald ein Kind leben wird. Fachzeitschriften für Architektur und Design stapeln sich auf den Tischen. Nüchtern und irgendwie provisorisch ist alles eingerichtet, fast wie eine zu groß geratene Studentenbude.

Wir sitzen am Küchentisch und befragen die fremden Frauen, wie sie ein Kind erziehen würden. Wie würden sie es versorgen und betreuen? Welche Erziehungsstile würden sie wohl anwenden? Nur Michael und ich fragen, einen vorbereiteten Bogen mit Stichpunkten in der Hand. Susanne wirkt ungewohnt reserviert, fast in sich gekehrt. Die Bewerberinnen antworten, manche lassen ihre Männer für sich sprechen, es fehlt ihnen das nötige Deutsch. Ganz unterschiedliche Menschen haben wir zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Ältere Damen, junge Studentinnen, politische Flüchtlinge, die in Deutschland nur schwer Fuß fassen dürfen. Alle haben Erfahrungen mit Kindern, eine Ausbildung als Erzieherin und entsprechende Abschlüsse kann keine vorweisen.

Meine Freunde benötigen eine Kinderfrau ab Oktober, unmittelbar nach dem Mutterschutz von Susanne. Michael, ein Architekt, macht allemal keine Babypause. Er ist in mehrere Großprojekte eingebunden. Susanne, eine Innenarchitektin, will zügig zurück ins Büro. Sie möchte sich auf Lichtdesign spezialisieren und dann ihr eigenes Design-Büro gründen. Die Kinderfrau soll zunächst ganztags und flexibel betreuen, je nach Arbeitspensum der Eltern. Wenn das Kind sechs Monate alt ist, kann sie ihre Arbeitszeit etwas verringern, dann darf das Kind in eine Krippe. Dort ist es bereits seit letztem Jahr angemeldet, als Susanne und Michael entschieden, endlich eine Familie zu gründen. Es ist die einzige Krippe für unter Einjährige in der norddeutschen Stadt. Es ist eine private Einrichtung. Für meine gut verdienenden Freunde kostet sie, was sie wert ist: 1400 DM im Monat. Die Kinderfrau brauchen sie trotzdem. Die Kita richtet sich nicht nach den Projektterminen der Eltern, nicht nach den Dienstreisen des Vaters und den Prüfungen der Mutter, abends und an den Wochenenden bleibt sie geschlossen. Susanne und Michael rechnen mit Kosten von 3500 DM im Monat. Das ist etwas mehr, als Susanne zu dieser Zeit verdient. Wer kann sich das schon leisten.

Michael hatte die Idee und ergriff die Initiative. Er schlug vor, das Kind in der Kita anzumelden, bevor es überhaupt gezeugt war, und eine Kinderfrau auszuwählen, vier Monate vor der Geburt. Susanne macht das Angst. Sie will das alles anders. Nein, mit dem Kind zu Hause bleiben möchte sie nicht. Keinesfalls. Das sagt sie auch Michael. Sie will wieder an den Schreibtisch, arbeiten und ihre beruflichen Pläne verwirklichen. Doch dieses Treffen am Küchentisch? Das Kind soll erst einmal da sein, gesund, quietschend und froh. Sie will es sehen, erst dann die Kinderfrau und die Kita suchen. Wie soll man jetzt wissen, was passt?

Mit 36 Jahren gilt Susanne als Risikomutter. Sie muss häufiger zum Arzt als jüngere Frauen, mehr Vorsorgetests werden ihr empfohlen. Sie wartet wochenlang auf die Ergebnisse, ein wichtiges steht noch aus. Das macht sie unsicher. Mittelfristige Planungen sind in ihrem Beruf ganz normal, in diesem intimen Bereich empfindet sie das aber als anmaßend. Susanne braucht ihren gesamten Verstand, um die Betreuungsfrage so früh zu klären. Sie will das Ganze schnell hinter sich bringen. Bereits an diesem Nachmittag fällt die Entscheidung. Maria wird eingestellt, eine spanische Frau mittleren Alters. Selbst kinderlos traf sie mit ihrem Mann gerade in Deutschland ein, als Lehrerin ohne Aussicht auf eine Anstellung in deutschen Schulen. Er mit passablem Deutsch, sie holpert noch und muss lernen. Maria kam auf Empfehlung, sie ist eine entfernte Bekannte. Das war der ausschlaggebende Grund. Man kann sich auch vorstellen, Maria langfristig zu beschäftigen, denn meine Freunde wollen gerne ein zweites und drittes Kind.

Alexander kam im August zur Welt. Ein Wonnebrocken glücklicher Eltern. Maria half viel früher als geplant, wo sie nur konnte. Susanne war froh darüber. So fiel ihr die Rückkehr in den Beruf leicht. Das Kind war an Maria gewöhnt und nach sechs Monaten auch schnell an die Krippe. Mit den Eltern verbrachte Alex täglich wertvolle Stunden. Eine traute Familie war entstanden. Zwei Jahre später bestand Susanne ihre Prüfung. Alle Planungen hatten sich umsetzen lassen. Der hohe finanzielle Einsatz hatte sich gelohnt. Sie erwartete ihr zweites Kind.

Erkan, Jenny und Laura, die drei anderen Kinder dieser Geschichte, wurden im selben Jahr in derselben norddeutschen Stadt geboren. Doch 1994 kannte ich sie noch nicht. In den ersten drei Jahren wuchsen sie zu Hause auf.

Die Eltern von Erkan wollten das so. Erkans Mutter war allemal zu Hause und kümmerte sich mit ihrer Mutter um die große türkische Familie. Eine Krippe für Erkan kam ihnen nicht in den Sinn. Es ging ihm gut zu Hause. Seine Geschwister und die Erwachsenen spornten ihn an und brachten ihm vieles bei. Eine gute Bildung war den Eltern wichtig. Doch Erkan sprach nur Türkisch. Deutsche Kinder kannte er nicht. Der Einstieg in die Schule würde ihm später schwerfallen. Der Kinderarzt empfahl den Eltern daher dringend, Erkan zumindest für einige Stunden am Tag in einen Kindergarten zu geben. Da war Erkan schon drei.

Bei Jenny war es anders. Ihre Mutter war seit der Geburt ihres älteren Halbbruders arbeitslos, wollte arbeiten und litt sehr darunter, nur zu Hause zu sein. Sie wollte raus aus ihrer Wohnung, aus dem Viertel mit so vielen Sozialwohnungen. Sie wehrte sich dagegen, langsam unterzugehen, sich anzupassen an diese Gegend ohne Hoffnung. Der Vater ihres Sohnes hatte Wert darauf gelegt, dass sie sich nur um das Kind kümmert. Von seinem Lohn konnte die Familie leben. Dabei wäre die Mutter gern erwerbstätig gewesen. Ihr Realschulabschluss war nicht schlecht. Ihre Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau hatte vielversprechend begonnen. Dann wurde sie schwanger und brach die Ausbildung ab. Als der Vater ihres Sohnes sie später verließ, rutschte sie schnell in die Sozialhilfe. Die zweite Schwangerschaft folgte, Jenny wurde geboren. Der leibliche Vater erkannte seine Tochter zwar an, aber die Eltern wollten nicht zusammenleben. Jennys Mutter war also alleinerziehend. Solange eine Kinderbetreuung für die unter dreijährige Jenny fehlte, konnte die Mutter nicht erwerbstätig sein. Deshalb drängten Sozial- und Arbeitsamt sie nicht. Sie förderten auch nicht. Die junge, gescheite Frau verlor mehr und mehr den Halt. Die Antriebskraft verebbte, Hoffnung und Mut schwanden. So verstrichen die ersten Lebensjahre von Jenny.

Laura und ihre Familie hatten die unruhigsten ersten drei Jahre. Rasch nach der Geburt befürchtete ihre Mutter, dass mit ihrer Tochter irgendetwas nicht stimmen könnte. Laura erschien ihr kraftloser als andere Kinder. Der Kinderarzt versuchte sie zu beruhigen und verwies darauf, dass jedes Kind sein eigenes Tempo hat. Doch bis zur nächsten Vorsorgeuntersuchung hatte sich Lauras Zustand nicht verbessert. Sie zeigte zu wenig Muskelspannung für ihr Alter. Der Kinderarzt überwies sie ans Sozialpädiatrische Zentrum. In dieser Kinderklinik arbeiten Ärzte und Therapeuten unterschiedlicher Disziplinen unter einem Dach zusammen. Sie kümmern sich um Kinder, die sich auffällig entwickeln. Die Ärzte untersuchten Laura, führten spezielle Tests durch. Schließlich stellte sich heraus, dass Laura eine zentrale Bewegungskoordinationsstörung hat, mittelschwer, therapierbar. Die Ärzte empfahlen verschiedene Therapieformen und setzten ihre ganze Maschinerie in Gang. Laura wurde nach dem Bobath-Konzept behandelt, erhielt Cranio-Sacral-Therapie, ihre Mutter recherchierte nächtelang im Internet und übte mit Laura stundenlang nach dem Vojta-Prinzip. In regelmäßigen Abständen begutachteten die Ärzte, ob sich bei Laura Fortschritte zeigen, denn das war keineswegs sicher. Mit ihnen wartete Lauras Mutter. Sie wartete auf kleine Erfolge, eine gewisse Entwicklung. Keiner konnte ihr sagen, wann diese einsetzen, ob sie überhaupt kommen würde. Diese Unsicherheit nagte an ihr. Mit ihrem Mann konnte sie darüber nicht sprechen. Er ging anders mit der Situation um, räumte der Krankheit seiner Tochter nicht so viel Raum ein, vertraute ganz stark seinem Kind.

So suchte die Mutter den Rat einer Therapeutin in dem Sozialpädiatrischen Zentrum. Etwa ein Jahr lang sprach sie dort einmal in der Woche über ihre Ängste und ihre Trauer. Die Therapeutin half ihr, selbstbewusster mit der Krankheit von Laura umzugehen. Die unterschiedlichen Therapien und die Termine wurden ihr bald zu viel. Sie suchte eine andere Kinderärztin auf, zumal bei Laura zusätzlich eine sensorische Integrationsstörung diagnostiziert worden war. Die neue Kinderärztin war eher ganzheitlich orientiert und empfahl eine Einrichtung, die nach dem Pikler-Prinzip arbeitet. Pädagogen, Psychologen und Familientherapeuten unterstützen gemeinsam Eltern und Kinder. Dort fühlten sich Laura und ihre Mutter erst einmal gut aufgehoben.

Gut eineinhalb Jahrzehnte liegen diese frühen Lebensjahre der vier Kinder jetzt zurück. Damals mussten sich die Eltern schwierigen Entscheidungen stellen: Kann ich Erwerbstätigkeit mit Familie in Einklang bringen? Steht eine Infrastruktur zur Verfügung, die beiden Eltern oder Alleinerziehenden eine Erwerbstätigkeit und damit finanzielle Unabhängigkeit ermöglicht? Das sind keine individuellen Fragen, so unterschiedlich die Situation jeder Familie im Einzelnen auch aussehen mag. Es sind Fragen an unser Gemeinwesen. Was wird gefördert, welche Anreize gibt es, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen? Wen begünstigt das Steuersystem, diejenigen, die ohnehin schon besser dastehen, oder jene, die wenig haben, auch wenig Spielraum für freie Entscheidungen? Es sind auch Fragen an das Bildungssystem. Wird Kindern, in deren Familie nicht Deutsch gesprochen wird, außerhalb des Elternhauses nahe gelegt, die Sprache der neuen Heimat früh zu lernen? Werden Potenziale der Kinder erkannt und wird ihnen geholfen, Stärken zu nutzen und Schwächen zu überwinden oder zu kompensieren?

Zufriedenstellende Antworten und kluge politische Lösungen für diese Fragen an den Sozialstaat, an die Bildungsrepublik, an uns alle gab es Mitte der 1990er Jahre nicht. Die Dringlichkeit dieser Probleme, die damals offenkundig wurden, hat seitdem noch zugenommen. Heute sehen wir den demografischen Wandel mit allen Konsequenzen. Der Wirtschaft dämmert, dass die ungenutzten Potenziale für den Arbeitsmarkt zwingend ausgeschöpft werden müssen. Heute weiß die Forschung, wie entscheidend die Förderung gerade der Kleinsten aus armen und zugewanderten Familien ist, damit sie früh den Anschluss an das Niveau der Kinder finden können, die in einer günstigeren Situation aufwachsen. Hat die Politik seit den ersten Jahren von Alex, Erkan, Jenny und Laura gehandelt, wird es Eltern und Kindern heute leichter gemacht?

In Maßen. Die Politik schlingert. Sie verwirrt und verirrt sich in den Kategorien Kinder, Ehe, Frauen. Die unterschiedlichen Anreizstrukturen unserer Steuer- und Beitragssysteme belegen das glasklar. Die Ehe führt zum Ehegattensplitting und, wenn man gut verdient und die Spielregeln beherrscht, zu richtig viel Geld. Kinder führen zu Steuerfreibeträgen, das ist vergleichsweise wenig Geld. Im deutschen Transfersystem erhalten  – bei gleicher Einkommenssituation – die Paarhaushalte mit einem Kind höhere Transferzahlungen als Alleinerziehende mit einem Kind. Betrachten wir Maßnahmen, die besonders eng mit der Bildung sehr kleiner Kinder verbunden sind: das Erziehungsgeld, das Elterngeld und den Ausbau der außerhäuslichen Betreuung.

Zwischen 1986 und 2006 gab es neben dem Kindergeld das Erziehungsgeld für bedürftige Eltern.1 Im Fachjargon bezeichnet man diese Transferzahlung als kindbezogene kompensatorische Leistung. Sie änderte sich ständig. Man spielte mit ihr und wollte zunehmend neben den Kindern auch ihre Eltern erziehen. Zunächst lagen die Leistungen bei 600 DM (300 Euro), und sie wurden für zehn Monate gewährt. 1988 erhöhte man auf zwölf Monate und bald auf 24 Monate. 2003 wurde es raffiniert: Eltern konnten wählen zwischen 307 Euro für 24 Monate und dem »budgetierten Erziehungsgeld« von 460 Euro für zwölf Monate. Der Gesamtbetrag lag zwar bei einer längeren Erwerbsunterbrechung höher als bei einer kürzeren Bezugsdauer, doch die Umsteuerung von »lang und niedrig« zu »kurz und hoch« zeigte sich deutlich. Man wollte wegkommen von der Mütterfalle, weg von Anreizen für zu lange Erwerbsunterbrechungen, nach denen Frauen nur schwer in ihre Berufe zurückfinden.

Eingeführt von Familienministerin Renate Schmidt, die das Amt von 2002 bis 2005 innehatte, bereiteten die kürzeren Laufzeiten bei höheren Beträgen maßgeblich das spätere Elterngeld vor. Als erste Ministerin arbeitete Renate Schmidt offensiv mit den drei Dimensionen Zeit, Geld und Infrastruktur. Denn nach dem budgetierten Erziehungsgeld brachte sie das Kindertagesbetreuungsausbaugesetz auf den Weg. Es wurde 2005 verabschiedet und sah vor, bis 2010 insgesamt 230 000 neue Betreuungsplätze für unter Dreijährige zu schaffen. Zudem formulierte es erstmals klare Standards für die Qualität der frühkindlichen Betreuung. Ursula von der Leyen, Familienministerin von 2005 bis 2009, arbeitete mit diesen Ansätzen entschlossen und mutig weiter. Zeit, Geld und Infrastruktur waren auch ihre Themen: Das Bundeselterngeld und das Elternzeitgesetz wurden 2006 eingeführt, das Kinderförderungsgesetz mit seinem Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ab dem ersten Geburtstag folgte wenig später.

Bei dem heutigen Elterngeld handelt es sich um eine elternbezogene Entgeltersatzleistung. Das erste Lebensjahr von Kindern wird ähnlich wie ein Jahr in der Arbeitslosigkeit behandelt. Das Konstruktionsprinzip des Elterngelds entspricht dem des Arbeitslosengelds I (ALG I), das seit 2005 gezahlt wird. Beide Sozialleistungen werden für zwölf Monate gewährt, die Höhe richtet sich jeweils nach dem letzten Nettoeinkommen des Antragstellers.2 Damit setzen beide Leistungen darauf, den vorherigen Status des Antragstellers zu erhalten. Nur die zwei Partnermonate, die gezahlt werden, wenn der andere Elternteil, meist der Vater, zu Hause bleibt und sich um die Erziehung der Kinder kümmert, kennt man beim Arbeitslosengeld nicht.

So nachvollziehbar diese – nun von Kindern ausgelöste – uralte Logik eines Wohlfahrtsstaats erscheint, so verheerend sind einige Folgen dieses Vorgehens. Die Sozialleistungen bewahren zwar die wirtschaftliche Situation der Familie, eröffnen jedoch keine neuen Chancen. Kinder werden von Geburt an ungleich alimentiert – und zwar nicht entgegen dem Einkommen ihrer Eltern, um so einen vertikalen Ausgleich zwischen den sozialen Schichten zu schaffen, sondern entsprechend dem Einkommen der Eltern. Kurz gesagt: Die Kinder sozial schwacher Eltern bekommen weniger, die Kinder gut situierter Eltern mehr. Dies ist die klare Konsequenz der nun auf Eltern bezogenen Leistungen.

Aus diesem Ansatz einer Entgeltersatzleistung leiten sich weitere Folgen ab: Gegenüber dem Erziehungsgeld wurden die Gesamtleistungen bei nicht erwerbstätigen oder arbeitslosen Eltern drastisch vermindert. Zwar ist das Elterngeld nach unten bei 300 Euro gedeckelt, aber es wird nun für zwölf statt zuvor für 24 Monate gezahlt. Die Leistungen wurden damit halbiert. Eltern, die aus der Arbeitslosigkeit heraus Kinder bekommen, beziehen seit dem 1. Januar 2011 gar kein Elterngeld: Da sie ja zuvor kein Arbeitseinkommen hatten, kann es auch keine Entgeltersatzleistung geben. Ihr Unterhalt wird durch das pauschalierte Arbeitslosengeld II (ALG II) abgegolten.

Wie passt diese Entwicklung in der Familienpolitik zu den Erkenntnissen, wonach Kinder unter der Armut ihrer Eltern ganz besonders leiden? Müssten nicht gerade Kinder aus sozial schwachen Familien und von Alleinerziehenden zielgenau unterstützt werden? Dies ist nicht der Fall. Heute wird mit über 4 Milliarden Euro für das Elterngeld mehr ausgegeben als für das Erziehungsgeld, das mit 2,9 Milliarden Euro budgetiert war. Von diesen 4 Milliarden Euro wird nur ein Drittel für Sozialleistungen aufgewendet, also für Eltern, deren Einkommen so gering ist, dass sie unter dem Sockelbetrag von 300 Euro bleiben würden. Merkwürdig ist auch, dass das Elterngeld aus Steuern erstattet wird. Einkommensabhängige Leistungen werden in der Systematik des deutschen Sozialstaats sonst über Beiträge finanziert. In dieser Hinsicht erscheint die Konstruktion des beitragsfinanzierten Arbeitslosengelds I und des steuerfinanzierten, pauschalierten Arbeitslosengelds II weit fairer.

Wie ist diese Wende in der Familienpolitik zu verstehen? Die Antwort ist einfach. Man setzte nicht auf Armutsprävention, sondern auf eine »qualitative Bevölkerungspolitik«, möchte also insbesondere Gutverdienenden Anreize für die Familienbildung bieten.3 Kinder zu haben soll nicht mit Einschnitten in den Lebensstandard verbunden sein. Sie sollen nicht zu langen Erwerbsunterbrechungen führen oder einseitig zu Lasten weiblicher Erwerbsbiografien gehen. Vätern werden Anreize gegeben, sich mehr für ihre Kinder zu engagieren. All das sind wichtige und richtige Ziele.

Bezieht man diese Leistungen aber auf die Lebensverläufe von Eltern aus unterschiedlichen Schichten, erkennt man leicht, dass die neue Familienpolitik die armen Familien vergisst. Frauen ohne Einkommen erhalten Hartz IV und sonst nichts. Sie verlieren damit 300 Euro im Monat, da das frühere Erziehungsgeld zusätzlich zu Hartz IV gewährt wurde. Bei Frauen mit niedrigem Einkommen ändert sich nichts an der Höhe der monatlichen Transfers. Deren Dauer ist aber auf ein Jahr beschränkt worden und legt damit eine wesentlich frühere Rückkehr in den Arbeitsmarkt nahe. Frauen mit mittlerem bis höherem Einkommen gewinnen Geld und Zeit. Hatten sie vor 2007 keine Ansprüche, so beziehen sie jetzt bis zu 1800 Euro im Monat für ein ganzes Jahr. Da beide Eltern das Elterngeld auch gleichzeitig bekommen können, eröffnen sich damit gemeinsame Korridore an Zeit und Geld: Bis zu sieben Monate bei bis zu 3600 Euro können die Eltern gemeinsam in Elternzeit gehen. Das ist viel Geld. Mit einer vorbeugenden Familienpolitik für alle verträgt sich das (noch) nicht. Es muss nachgebessert werden.

Wie steht es um das dritte Element der Familienpolitik, die Infrastruktur? In der Systematik familienpolitischer Maßnahmen ist der Ausbau einer guten Infrastruktur für Kinder sicherlich das bedeutsamste und teuerste Projekt. Das Kinderförderungsgesetz wurde 2008 vom Bundestag und vom Bundesrat, also der Länderkammer, verabschiedet. Hiernach soll das Betreuungsangebot für Kleinkinder bis August 2013 so weit ausgebaut werden, dass für jedes dritte Kind im Alter zwischen einem und drei Jahren ein Platz bei einer Tagesmutter oder in einer Kindertagesstätte bereitsteht. Damit gilt ein Rechtsanspruch für Kinderbetreuung bereits vom ersten Geburtstag des Kindes an. Die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen hat also ein ehrgeiziges Ziel festgeschrieben und die Vorgabe ihrer Vorgängerin Renate Schmidt nochmals deutlich erhöht. Zwischen 2008 und 2013 soll sich die Zahl der Betreuungsplätze für kleine Kinder auf insgesamt 750 000 verdreifachen. Das neue Gesetz kostet nicht weniger als 12 Milliarden Euro, also das Dreifache des Elterngeldes, und wird von Bund, Ländern und Gemeinden zu je einem Drittel getragen. Darüber hinaus beteiligt sich der Bund ab 2014 an den Betriebskosten mit jährlich 770 Millionen Euro.4

Von Anfang an wurde das Gesetz hochgelobt und gleichermaßen kritisiert. Für mich, wie für viele andere, ist es die passende Ergänzung und zugleich ein Korrektiv zum Elterngeld. Denn es sieht vor, dass jedes Kind einen Platz in einer Kindertagesstätte haben soll, ganz gleich aus welchem Elternhaus es stammt. In vielen Bundesländern und Gemeinden werden Kinder aus sozial schwachen Familien und von Alleinerziehenden zudem bevorzugt aufgenommen. Damit könnte die Bundesagentur für Arbeit endlich ihre bereits 2005 erlassenen Beschlüsse zum Fordern und Fördern bei den Müttern zumindest ansatzweise umsetzen. In den Gesetzen für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, landläufig als Hartz-Gesetze bekannt, heißt es, die Bundesagentur für Arbeit müsse sich um entsprechende Kinderbetreuungsangebote kümmern. So sollen insbesondere junge arbeitslose Mütter schnell zurück ins Erwerbsleben finden. Doch wo es keine Infrastruktur für die Kinderbetreuung gibt, können auch Arbeitsagenturen nicht helfen.

Die Kritik am Kinderförderungsgesetz umfasst viele bis heute offene Punkte und Fragen. Wie steht es um die Zielgröße: Reicht das Angebot, wenn wir für (nur) jedes dritte Kind im Alter zwischen einem und drei Jahren einen Kitaplatz vorhalten? Wie sieht es mit der Umsetzung aus: Schafft man den Ausbau in fünf Jahren? Wie sichert man die Qualität: Wie muss eine gute Betreuung aussehen? Was ist mit den Gebühren: Können sich Eltern die Betreuung leisten? Wie fasst man den Grad der Verpflichtung: Müssen Eltern ihre Kinder außerhäuslich betreuen lassen? Wie geht man damit um, dass nur ein Teil der Eltern die Leistungen abruft: Stehen Nicht-Nutzern dann Ersatzleistungen, wie etwa das Betreuungsgeld, zu?

Diese Punkte sind mehr als nur klitzekleine Fragen. Sie betreffen das Wohl von Kindern, Eltern und Familien. Sie stehen für unser Verständnis von Chancengleichheit, von Zukunftsfähigkeit und nachhaltiger Familienpolitik. Es lohnt sich, über jede einzelne Frage zu streiten. Ein Rückzug in alte ideologische Gräben oder der Glaube an die kraftvoll ordnende Hand des Marktes empfehlen sich dagegen nicht. Auch nicht für Kristina Schröder, unsere Familienministerin seit 2009.

Die Zielgröße:Reichen Kitas für jedes dritte Kind unter drei Jahren?

Fragt man Eltern, ob sie eine Kita für ihre kleinen Kinder nutzen würden, läuft man unweigerlich in ein Erhebungsproblem: Wie soll man eine Meinung zu etwas äußern, das man nicht oder kaum kennt? In den alten Bundesländern trifft dies für die Betreuung von Kindern unter drei Jahren unweigerlich zu. Die Betreuungsquote von unter Einjährigen liegt hier bei 2 Prozent, von Einjährigen bei 15 Prozent und von Zweijährigen bei 35 Prozent. Eltern kennen bei dieser geringen Quote kaum andere Eltern, die über ihre Erfahrungen berichten könnten. In den neuen Bundesländern ist das anders: Zwar gehen hier die Betreuungszahlen der unter Einjährigen rasant zurück. 2010 lag die Quote bei 5 Prozent. Doch von den einjährigen Kindern werden 55 Prozent und von den Zweijährigen 80 Prozent außerhäuslich betreut. In den neuen Bundesländern können die Eltern auf die Erfahrung, das Vertrauen und das Wissen zurückgreifen, dass eine außerhäusliche Erziehung weder Kindern noch Eltern schadet.

Wie viele Eltern wünschen sich also eine Betreuung für ihre Kinder? Befragt man Eltern mit mindestens einem Kind unter vier Jahren, so würden im Bundesdurchschnitt 39 Prozent der Eltern ihr Kind in eine außerhäusliche Betreuung geben.5 In Westdeutschland sind es 37 Prozent und in Ostdeutschland 51 Prozent. Insbesondere gut qualifizierte Eltern und Alleinerziehende sprechen sich für eine frühe Kinderbetreuung aus. Diese Eltern würden ihre Kinder übrigens auch deutlich länger am Tag betreuen lassen. Eltern von älteren Kindern gaben hier weniger Stunden täglich an. Sie sind wesentlich häufiger in Teilzeit erwerbstätig.

Diese Zahlen, die inzwischen drei Jahre alt sind, legen es nahe, dass die Vorgabe des Gesetzes, im Bundesdurchschnitt für jedes dritte Kind eine Tagesbetreuung vorzuhalten, knapp auf Kante gerechnet ist. Mit dieser Zielsetzung lässt sich in den neuen Bundesländern kein Rechtsanspruch unterlegen. Die alten Bundesländer hinken noch hinterher. Doch auch der Blick ins Ausland zeigt, wie viel sich bei der Kinderbetreuung innerhalb kurzer Zeit bewegt. Es wird nicht lange dauern, bis wir mehr Plätze brauchen.

Bleibt die Frage nach der Betreuung von Kindern, die jünger als ein Jahr sind. Das Kinderförderungsgesetz gilt für diese Kinder nicht. Um die ganz Kleinen sollen sich die Eltern kümmern. Dafür wird ihnen das Elterngeld ein Jahr lang gezahlt. Für viele, vielleicht sogar die meisten Familien erscheint diese Konstruktion durchaus sinnvoll. Die Forschung ermittelte, dass unter Einjährige, die frei von Risikolagen heranwachsen, nicht von einer außerhäuslichen Betreuung profitieren. Bei mittleren und höheren Einkommen stimmt der finanzielle Rahmen. Wenn sich Eltern die Betreuung teilen, unterbrechen beide ihre Erwerbstätigkeit weit weniger als ein Jahr, sodass auch hier keine Verluste entstehen. Zudem wäre eine qualitativ hochwertige, außerhäusliche Betreuung so kleiner Kinder sehr teuer. Bei ihnen darf die Gruppe nur sehr klein und der Betreuungsschlüssel niedrig sein. Problematisch wird es jedoch, wenn Risikofaktoren in der Familie vorliegen, etwa Armut herrscht, Sorgfalt und Perspektiven fehlen. In diesen Familien richten die 300 Euro Elterngeld nichts aus, wenn sie überhaupt gezahlt und nicht mit dem Arbeitslosengeld II verrechnet werden. Denken wir nur an das erste Jahr von Jenny. Hier besteht Handlungsbedarf. Diese Familien müssen nicht nur besser finanziell unterstützt werden. Insbesondere sollten diese Kinder bevorzugt eine kostenfreie außerhäusliche Betreuung erhalten.6

Die Umsetzung:Schafft man den Ausbau in fünf Jahren?

Von Beginn an wurde heiß diskutiert, ob der Bund beim Ausbau der Kinderbetreuung nicht mehr als ein Drittel der Kosten übernehmen müsste. Denn vielerorts scheitert der Ausbau an den hohen finanziellen Beiträgen, die Bundesländer und insbesondere die Gemeinden aufzubringen haben.  Die Diskussion gewann an Fahrt, als Bundestag und Bundesrat 2009 die Schuldenbremse verabschiedeten und das Grundgesetz entsprechend geändert wurde. Woher sollen verschuldete Gemeinden denn nun die Mittel für den Ausbau der Kinderbetreuung nehmen? Das Mantra einer Bildungsrepublik Deutschland unterstreicht die Verantwortung des Bundes.

Betrachtet man die Dynamik und den heutigen Stand beim Ausbau von Kindertagesstätten und Kindertagespflege, sind große Zweifel angebracht, ob das gesetzte Ziel in der Frist überhaupt erreicht werden kann.7 Im März 2010 waren in ganz Deutschland 23 Prozent der unter Dreijährigen in Tagesbetreuung. In Westdeutschland nahmen 17 Prozent einen Kitaplatz in Anspruch, in Ostdeutschland 48 Prozent.8 Zusätzlich unterscheiden sich die Betreuungsquoten je nach Bundesland sowie zwischen Stadt und Land. In Kernstädten und im dicht besiedelten Umland liegt die Betreuungsdichte wesentlich höher als im ländlichen Raum.9

Diese Zahlen zeichnen ein deutliches Bild. Zunächst scheint unsicher, ob der Zielwert überhaupt erreicht wird. Sollte dies tatsächlich gelingen, müssen wir uns dennoch im Klaren darüber sein, dass sich hinter einem bundesdeutschen Durchschnitt sehr große Unterschiede in den Betreuungsquoten verbergen. Die sozialräumliche Betrachtung verdeutlicht, wie diese Unterschiede bis heute strukturiert sind: Kinder, die ohnehin in privilegierten Kreisen leben, werden durch die dortigen Angebote weiter begünstigt. Dies müsste genau umgekehrt sein. Gerade benachteiligte Sozialräume brauchen hervorragende Angebote, die vorbeugend und ausgleichend wirken.

Die Qualitätssicherung:Was macht den Wert guter Kindertagesstätten aus?

Eine frühe außerhäusliche Betreuung von Kindern kann sich nur dann positiv auf den gesamten Lebensverlauf auswirken, wenn die Qualität stimmt.10 Doch wie bestimmt man Qualität? Die American Academy of Pediatrics definiert Qualität über den Betreuungsschlüssel, die Gruppengröße und die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher.11 Der Betreuungsschlüssel und die empfohlene Gruppengröße bemessen sich nach dem Alter der Kinder. Je jünger die Kinder sind, desto niedriger sollten der Betreuungsschlüssel und die Gruppengröße sein. Auch die Ausbildung und die Fähigkeiten der Betreuerinnen und Betreuer entscheiden über die Qualität einer Kita. Sie sollten über Kenntnisse auf so anspruchsvollen Gebieten wie Entwicklungsdiagnostik, frühkindliche Lernpsychologie, Didaktik und Methodik, Medienpädagogik, Kinder- und Jugendliteratur, Umwelt- und Gesundheitserziehung, Spielpädagogik und Kunst verfügen. Untersuchungen zeigen: Erzieherinnen und Erzieher mit mindestens Fachschulausbildung fördern die kognitive Entwicklung der Kinder stärker als Erziehende mit einem niedrigeren Ausbildungsniveau.12 Sie sind anders ausgebildet und werden besser bezahlt.

Setzen unsere Kindertagesstätten und Krippen nun Qualitätsstandards? Für den Betreuungsschlüssel gilt das schon.13 In den meisten alten Bundesländern liegt er zwischen eins zu drei und eins zu fünf. In den neuen Bundesländern beträgt er im Durchschnitt eins zu sechs.14 Doch bei der Gruppengröße fehlen einheitliche Standards, entsprechend gibt es zwischen den Kitas enorme Unterschiede. Im Schnitt werden zwölf bis vierzehn Kinder pro Gruppe betreut.15 Die Qualifikation der Erzieherinnen und Erzieher verbessert sich. Im Jahre 2010 besaßen drei von vier Fachkräften einen Fachschulabschluss.16 Absolventen fachspezifischer Studiengänge findet man dagegen selten, bundesweit liegt ihr Anteil bei weniger als 5 Prozent. 17 Ebenso trifft man in Kitas und Krippen nur wenige Fachkräfte mit Migrationshintergrund. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts 2008 waren es gerade einmal 9 Prozent. Um aus dem Ausland zugewanderte Eltern anzusprechen, reicht das nicht aus. Wollen wir ihnen den Zugang zu Kitas und Krippen erleichtern und sie ermutigen, ihre Kinder außerhäuslich betreuen zu lassen, so müssen wir um mehr Fachkräfte mit Migrationshintergrund werben.

Besorgniserregend ist auch, dass für junge Menschen der Beruf einer Erzieherin oder eines Erziehers an Attraktivität zu verlieren scheint. Der Anteil von jungen Berufsanfängern nimmt absolut und prozentual stetig ab. Frauen wechseln in akademische Berufe, und Männer können es sich nach wie vor schwer vorstellen, Erziehung zu ihrem Beruf zu machen.18 Die Arbeitsbedingungen spielen hier eine besondere Rolle. Pädagogische Fachkräfte in Krippen und Kitas werden schlecht bezahlt, ihre Aufstiegsmöglichkeiten sind nur begrenzt. Um die Qualität unserer Kindererziehung zu sichern, muss auch an dieser Stelle deutlich nachgebessert werden.

Die Kosten:Können und wollen sich Eltern Kindertagesstätten leisten?

Krippen sind teuer. Von Bund, Ländern und Gemeinden werden sie hoch subventioniert. Die Eltern zahlen dafür je nach Dauer der täglichen Betreuung ihres Kindes, nach Haushaltszusammensetzung, Einkommen und Region unterschiedliche Beträge. Statistiken findet man darüber kaum, Studien weisen meist nur die Gesamtausgaben für Kinder aus. Nach Lage der Dinge scheinen aber weniger die Kosten – teilweise sind sie exorbitant – als vielmehr die geringe Zahl an freien Plätzen und die fehlende soziale und kulturelle Nähe das Problem zu sein. Gerade für Familien mit Migrationshintergrund und auch für viele Geringverdiener bestehen oft große Hürden, ihr Kind außerhäuslich betreuen zu lassen.

Wenn ich an die Krippe von Alex denke, leuchtet mir das ein. Wie hätten sich Jennys Mutter und die Eltern von Erkan wohl dort gefühlt? Umgeben von Müttern, die gerade von ihrer Arbeit kommen, mit eigenem Auto und eigenem Geld? Von Eltern, die ihre kleinen Kinder bereits in Musikschulen schicken, in Sprachklassen und teure Sportstunden? Für viele Eltern ist dies eine fremde und finanziell unerreichbare, elitäre Welt.

Natürlich müssen wir uns um die Kosten kümmern: Für Kinder aus sozial schwachen Elternhäusern sollten sie vollständig von der öffentlichen Hand übernommen werden. Der Schlüssel liegt in mehr Krippen, aber auch in den offenen Armen. Der so oft geäußerte Vorwurf »Aber die wollen das doch gar nicht« ist paternalistisch und damit billig. Er unterstellt die Nähe, das Wissen, das Vertrauen – häufig auch schlicht das Sprachvermögen. Doch vieles davon fehlt den Eltern und ihren Kindern.

Angebot oder Pflicht:Müssen Eltern ihre Kinder außerhäuslich betreuen lassen?

Im Durchschnitt aller westdeutschen Kitas haben 11 Prozent der Kinder unter drei Jahren einen Migrationshintergrund, in ostdeutschen Kitas sind es gerade 1 Prozent. Schaut man

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Erste Auflage September 2012

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Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München Lektorat: Jana Schrewe, Berlin Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

eISBN 978-3-641-08284-0

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