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Kurz nachdem die Ex-Polizistin Kate Marshall und ihr Partner Tristan Harper ihre eigene Detektei gegründet haben, fordert ein Cold Case ihre ganze Aufmerksamkeit: Vor zwölf Jahren verschwand die junge Journalistin Joanna Duncan aus einem Parkhaus in der Nähe ihres Arbeitsplatzes und wurde anschließend nie wieder gesehen. In ihren Aufzeichnungen stoßen die beiden Detektive auf die Namen zweier junger Männer, die wie Joanna eines Tages ganz plötzlich verschwanden. Ihre Spur führt zu einer rätselhaften Kommune - und zu einem Serienkiller, der seine Opfer auf brillante Weise täuscht und mit akribischer Perfektion tötet ...
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Seitenzahl: 427
Veröffentlichungsjahr: 2022
Kurz nachdem die Ex-Polizistin Kate Marshall und ihr Partner Tristan Harper ihre eigene Detektei gegründet haben, fordert ein Cold Case ihre ganze Aufmerksamkeit: Vor zwölf Jahren verschwand die junge Journalistin Joanna Duncan aus einem Parkhaus in der Nähe ihres Arbeitsplatzes und wurde anschließend nie wieder gesehen. In ihren Aufzeichnungen stoßen die beiden Detektive auf die Namen zweier junger Männer, die wie Joanna eines Tages ganz plötzlich verschwanden. Ihre Spur führt zu einer rätselhaften Kommune – und zu einem Serienkiller, der seine Opfer auf brillante Weise täuscht und mit akribischer Perfektion tötet …
Robert Bryndza wollte schon als kleiner Junge Autor werden. Da er sich aber nicht vorstellen konnte, wie er davon leben sollte, hat er den Plan nach der Schule erst einmal auf Eis gelegt, ging zur Schauspielschule und wurde Schauspieler. Heute sind seine Bücher Bestseller und wurden in 29 Sprachen übersetzt. Der Brite lebt mit seinem Ehemann in der Slowakei.
Aus dem Englischen vonMichael Krug
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2021 by Raven Street Ltd
Titel der englischen Originalausgabe: »Darkness Falls«
Originalverlag: Thomas & Mercer, Seattle
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Ann-Catherine Geuder, Lübeck
Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung von Illustrationen von © shutterstock: Attitude | Lynne Nicholson | George Fairbairn | Paul Stapleton
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-2855-3
luebbe.de
lesejury.de
Für Nanna May
Joanna Duncan verließ das Bürogebäude und überquerte die Straße, den Kopf gegen den Regen gesenkt. Der Mann, der sie aus einem Auto beobachtete, fand den Regen gut. Mit eingezogenen Köpfen und aufgespannten Regenschirmen bekamen die Menschen weniger von ihrer Umgebung mit.
Joanna bewegte sich mit schnellen Schritten auf das alte, mehrgeschossige Parkhaus Deansgate zu. Sie war zierlich, hatte gewelltes, schulterlanges blondes Haar und markante, beinah gnomenhafte Gesichtszüge, trotzdem alles andere als hässlich. Vielmehr besaß sie die kantige Schönheit einer Kriegergöttin und trug einen langen schwarzen Mantel zu braunen Cowboystiefeln aus Leder. Er wartete einen vorbeifahrenden Bus ab, bevor er aus seiner Parklücke lenkte. Der Bus spritzte schmutziges Wasser auf, wodurch der Mann Joanna vorübergehend aus den Augen verlor. Er schaltete die Scheibenwischer ein. Sie befand sich in der Nähe der Bushaltestelle, an der bereits eine Menschentraube wartete.
Um 17:40 Uhr ließ das hektische Treiben der Stadt allmählich nach. Kunden verließen die demnächst schließenden Geschäfte und traten den Heimweg an. Der Bus erreichte die Haltestelle und blieb stehen. Als Joanna dahinter die Straße überquerte, beschleunigte er an ihr vorbei und ließ sich vom Bus abschirmen.
Der graue Betonklotz der Parkgarage sollte in wenigen Monaten abgerissen werden. Joanna gehörte zu den Letzten, die ihr Auto noch dort abstellten. Das Parkhaus lag in der Nähe des Büros, in dem sie arbeitete, und sie war stur. Diese Sturheit kam ihm beim Umsetzen seines Plans zugute.
Als er nach rechts in die Einfahrt zum Parkhaus einbog, sah er Joanna am Bus vorbeigehen. Die Rampe schraubte sich nach oben. Leicht schwindlig vom Fahren in Kreisen traf er in der dritten Etage ein. Joannas blauer Ford Sierra parkte als einziges Fahrzeug auf der Ebene in der Mitte einer leeren Reihe. Das schwach beleuchtete Parkhaus wies in regelmäßigen Abständen breite, unverglaste Fensteröffnungen ins Freie auf. Im schwindenden Licht fand leichter Sprühregen den Weg herein und verdunkelte den bereits feuchten Beton.
Er parkte links neben dem Aufzugschacht und dem Treppenhaus. Da die Fahrstühle nicht funktionierten, würde sie über die Treppe kommen. Nachdem er den Motor ausgeschaltet hatte, stieg er aus und eilte zu einem der Fenster mit Blick auf die Hauptstraße. Er sah gerade noch ihren Kopf, als sie die Straße zum Parkhaus überquerte. Mit schnellen Schritten kehrte er zum Auto zurück, lehnte sich hinein und öffnete den Kofferraum. Er holte eine kleine Tüte aus dickem schwarzem Plastik heraus.
Joanna erwies sich als schnell, denn er hatte die Tüte kaum vorbereitet, als er bereits das Schrammen ihrer Schuhe im Treppenhaus hörte. Es verlief nicht wie geplant, also musste er spontan sein. Am Eingang zum Treppenhaus ging er in Stellung. Sobald Joanna oben ankam und heraustrat, zog er ihr die Tüte über den Kopf, riss sie nach hinten und benutzte die Griffe, um den Kunststoff um ihren Hals festzuziehen.
Joanna schrie auf, taumelte und ließ ihre große Handtasche fallen. Er zog die Tüte enger. Das Plastik lag bündig über ihrem Schädel an und wölbte sich an Mund und Nase, während sie krampfhaft zu atmen versuchte.
Er packte ihr Haar und die Plastiktüte zusammen, zog fester, und sie ließ ein ersticktes Stöhnen vernehmen.
Von den Fenstern wehte eine kalte Brise herüber, er spürte Regen in den Augen. Joanna fuchtelte mit den Händen und röchelte, während sie versuchte, an dem dicken Plastik zu kratzen. Obwohl er wesentlich größer war, kostete es ihn alle Kraft, sie unter Kontrolle zu behalten und nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Ihn erstaunte immer wieder, wie lang es dauerte, bis ein Mensch erstickte. Für Fernsehdramen war der wahre Lebenswille zu zeitraubend. Nachdem Joanna eine Minute lang vergeblich an dem glatten Kunststoff über ihrem Kopf gekratzt hatte, wechselte sie die Taktik und ging zum Angriff über. Sie landete zwei kräftige Schläge in seine Rippen und zielte mit einem Tritt, dem er ausweichen konnte, auf seinen Schritt.
Er schwitzte vor Anstrengung, als er eine Hand von der Plastiktüte löste, um Joanna herumgriff und sie so vorn an der Kehle packte, dass die Tüte zu einer Schlinge wurde, die ihren Tod beschleunigte.
Joanna strampelte in der Luft, bevor sie ein schreckliches, rasselndes Stöhnen vernehmen ließ, als würde sich ihr Körper abschalten. Nach einem letzten Schaudern erschlaffte sie. Einen Moment lang baumelte sie noch in seinem Griff, dann ließ er sie los. Ihr Körper landete mit einem widerlich dumpfen Aufprall auf dem Betonboden. Schweißgebadet rang er nach Luft. Als er hustete, hallte das Geräusch in dem riesigen leeren Raum wider. Im Parkhaus stank es nach Urin und Feuchtigkeit. Er spürte die kalte Luft auf der Haut und sah sich um. Schließlich kniete er sich hin, verknotete die Plastiktüte an Joannas Genickansatz und schleifte ihren Körper zu seinem Auto hinüber. Dort legte er sie in die Lücke zwischen seinem Wagen und der Außenwand des Aufzugsschachts. Er öffnete den Kofferraum und hob ihren schlaffen Körper auf, indem er einen Arm unter ihre Beine schob, den anderen unter ihre Schultern. Beinah wie ein Bräutigam, der seine Frischangetraute über die Schwelle trug. Nachdem er sie in den Kofferraum gelegt hatte, verhüllte er sie mit einer Decke und schloss den Deckel. Mit einem Anflug von Panik stellte er fest, dass ihre Handtasche noch auf dem Boden neben der Treppe lag. Er schnappte sie sich und kehrte zum Auto zurück. Die Tasche enthielt ihren Laptop, ein Notizbuch und ihr Mobiltelefon. Er überprüfte die Anrufliste und die Textnachrichten des Handys, bevor er es ausschaltete und gründlich mit einem Tuch abwischte. Dann eilte er zu Joannas Fahrzeug und legte das Telefon darunter.
Eine Minute lang untersuchte er mit einer Taschenlampe sorgfältig die Stelle, an der er Joanna gepackt hatte, um nachzusehen, ob sie irgendetwas fallen lassen hatte, doch er entdeckte nichts.
Anschließend stieg er in sein Auto und saß einige Momente lang in der Stille da.
Was jetzt? Sie muss verschwinden. Ihr Körper. Ihr Computer. Sämtliche DNA-Beweise müssen vernichtet werden.
Ihm kam eine Idee. Sie schien gewagt zu sein, riskant. Aber wenn es funktionierte … Er ließ den Motor an und fuhr davon.
»Wie teuer wird die Reparatur?«, fragte Kate Marshall und beobachtete, wie Derek, der betagte Handwerker, gemächlich den kaputten Fensterrahmen ausmaß. Sie standen neben einem Wohnwagen des Typs Airstream, Baujahr 1950. Die Vormittagssonne schimmerte auf der gekrümmten Dachkante. Kate kniff die Augen zusammen und schob die Sonnenbrille runter.
»Wir reden hier von runden Scheiben«, erklärte Derek in seinem breiigen kornischen Akzent. Er tippte mit der Kante seines Maßbands auf den Rahmen. »Die Reparatur wird teuer.«
»Wie teuer?«
Kurz schwieg er und atmete tief durch den Mund ein. Derek schien außerstande zu sein, irgendeine Frage ohne eine nervtötend lange Pause zu beantworten. Er spielte mit dem oberen Gebiss in seinem Mund. »Fünfhundert.«
»Myra haben Sie für die Reparatur eines dieser runden Fenster zweihundert Pfund berechnet«, sagte Kate.
»Sie hat damals mit ihrem Krebs eine schwere Zeit durchgemacht. Rundes Glas ist nun mal mehr Arbeit für einen Glaser. Der Griff ist ins Glas eingelassen.«
Myra war neun Jahre lang mit Kate befreundet gewesen. Sie hatten sich nahegestanden. Ihr plötzlicher Tod vor achtzehn Monaten war ein Schock gewesen.
»Sehr löblich, dass Sie Myra entgegengekommen sind, aber fünfhundert Pfund sind entschieden zu viel. Ich kann auch woanders hingehen.«
Derek verschob erneut das Gebiss im Mund. Flüchtig zeichnete sich der rosa Zahnfleischrand der Prothese zwischen seinen Lippen ab. Kate nahm die Sonnenbrille ab, sah ihm in die Augen und schaute nicht mehr weg.
»Wird zwar eine Woche dauern, weil das Glas speziell geschnitten werden muss und so, aber sagen wir zweihundertfünfzig.«
»Danke.«
Derek hob seine Werkzeugtasche auf, und sie kehrten zusammen den Hang hinunter über den Wohnwagenplatz zurück zur Straße. Gleichmäßig über das Gelände verteilt standen acht Einheiten unterschiedlicher Bauart, vom modernen weißen Modell aus Kunststoff bis hin zum ältesten, einem Holzwohnwagen mit ausgebleichtem Anstrich in Rot und Grün. Die Wohnwagen wurden an Leute vermietet, die zum Wandern oder Surfen herkamen. Jeder wartete mit mehreren Zimmern und einer kleinen Küche auf, einige der neueren besaßen sogar ein Bad. Der Campingplatz rangierte zwar am unteren Ende der Komfortskala, dennoch erfreute er sich vor allem bei Surfern großer Beliebtheit, weil er als preiswerte Unterkunft nur einen kurzen Spaziergang vom Strand entfernt lag, der zu den besten Surfplätzen in Devon und Cornwall zählte. In einer Woche standen die Ferien vor der Tür, und es fühlte sich an, als würde der Frühling Einzug halten. An den Bäumen der Umgebung sprossen Blätter, der Himmel präsentierte sich strahlend blau.
Sie erreichten die kurze Betontreppe hinunter zur Straße. Kate bot Derek den Arm als Stütze an, aber er ignorierte sie und quälte sich lieber langsam die Stufen hinunter. Kate begleitete ihn zu seinem Auto. Schweigend öffnete er den Kofferraum und hievte seine Werkzeugtasche hinein. Dann schaute er zu ihr auf. So trüb seine blauen Augen sein mochten, sein Blick wirkte durchdringend.
»War wohl ’ne ziemliche Überraschung, dass Myra Ihnen ihr Haus und ihr Geschäft vermacht hat, könnte ich mir vorstellen.«
»Ja.«
»Und ihrem Sohn hat sie nichts vermacht …« Derek gab einen tadelnden Laut von sich und schüttelte den Kopf. »Ich weiß, sie haben sich nicht nahegestanden, aber wie ich immer sage: Blut ist dicker als Wasser.«
Kate war völlig davon überrumpelt worden, dass Myra alles ihr hinterlassen hatte. Bei Myras Sohn und dessen Frau hatte es für Zorn gesorgt, in der Gegend für eine Menge Klatsch und abfällige Bemerkungen.
»Sie haben ja meine Nummer. Geben Sie mir Bescheid, wenn die Scheibe fertig ist«, sagte Kate, die keine Lust hatte, das Gespräch fortzusetzen.
Derek wirkte verärgert darüber, dass Kate ihm nicht mehr zugestehen wollte.
Er nickte knapp, stieg in sein Auto, fuhr davon und ließ sie in einer schwarzen Rauchwolke zurück.
Hustend wischte sie sich über die Augen, bevor sie das leise Klingeln ihres Handys hörte. Sie eilte über die Straße zu einem gedrungenen quadratischen Gebäude. Das Erdgeschoss beherbergte den noch über den Winter geschlossenen Laden des Campingplatzes. Kate stieg eine Treppe an der Seite des Gebäudes hinauf in den ersten Stock und betrat die kleine Wohnung, in der Myra gelebt hatte. Mittlerweile nutzte Kate sie als Büro.
Entlang der Rückseite des Gebäudes erstreckte sich eine Fensterreihe mit Blick auf den Strand. Die gerade herrschende Ebbe hatte schwarze, algenbewachsene Felsen freigelegt. Rechts bildete eine Reihe von aufragenden Klippen den Rand der Bucht. Dahinter lag das Universitätsstädtchen Ashdean, das man an diesem klaren, sonnigen Tag deutlich ausmachen konnte. Als Kate den Schreibtisch erreichte, verstummte das Telefon.
Der verpasste Anruf stammte von einer Festnetznummer mit einer Vorwahl, die sie nicht kannte. Sie wollte gerade zurückrufen, als eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter erschien. Kate hörte sie ab. Eine ältere Frau mit kornischem Akzent hatte sie hinterlassen. Sie klang nervös und sprach stockend.
»Hallo … Ich habe Ihre Nummer online gefunden … Also, ich hab gesehen, dass Sie gerade Ihre eigene Privatdetektei eröffnet haben … Mein Name ist Bev Ellis. Ich rufe wegen meiner Tochter an, Joanna Duncan. Sie war Journalistin und wird seit fast dreizehn Jahren vermisst … Sie ist einfach verschwunden. Die Polizei hat nie herausgefunden, was mit ihr passiert ist, aber sie ist verschwunden. Nicht durchgebrannt oder so … Dazu hatte sie keinen Grund, bei ihr ist alles wunderbar gelaufen. Ich möchte jemanden engagieren, der herausfinden kann, was mit ihr passiert ist. Was aus ihrer Leiche geworden ist.« An der Stelle wurde die Stimme brüchig. Die Frau verstummte kurz, holte tief Luft und schluckte laut. »Bitte rufen Sie mich zurück.«
Kate hörte sich die Nachricht erneut an. So, wie die Stimme der Frau klang, hatte sie der Anruf offenbar eine Menge Überwindung gekostet. Kate öffnete ihren Laptop, um den Fall zu googeln. Dann zögerte sie. Es erschien ihr besser, diese Frau sofort zurückrufen. In der Nähe von Exeter gab es zwei alteingesessene Detekteien mit schicken Websites und Büros, an die sie sich ebenfalls wenden könnte.
Bevs Stimme klang immer noch zittrig, als sie ans Telefon ging. Kate entschuldigte sich dafür, dass sie den Anruf verpasst hatte, und sprach der Frau ihr Beileid zum Verlust ihrer Tochter aus.
»Danke«, sagte Bev.
»Wohnen Sie in der Gegend?«, erkundigte sich Kate, während sie nach »Joanna Duncan vermisst« googelte.
»Wir sind in Salcombe. Etwa eine Stunde entfernt.«
»Salcombe ist wirklich schön«, meinte Kate, während sie die Suchergebnisse überflog, die auf dem Bildschirm erschienen waren. Zwei Artikel vom September 2002 in den West Country News verkündeten:
Verzweifelter Aufruf einer Mutter nach Zeugen bezüglich des Verschwindens ihrer Tochter, der Lokaljournalistin Joanna Duncan, in der Nähe des Zentrums von Exeter.
Wo ist Jo?
Telefon beim Auto im Parkhaus Deansgate gefunden
In einem anderen Artikel der Sun hieß es:
Lokaljournalistin aus West Country verschwunden
»Ich wohne hier bei meinem Lebensgefährten Bill«, erklärte Bev. »Wir sind schon seit Jahren zusammen, aber ich bin erst vor Kurzem bei ihm eingezogen. Vorher hab ich in der Moorside-Siedlung am Stadtrand von Exeter gewohnt … Ist völlig anders dort.«
Eine weitere Schlagzeile vom 1. Dezember 2002, in der erwähnt wurde, dass Joanna seit fast drei Monaten als vermisst galt, erregte Kates Aufmerksamkeit.
Fast alle Artikel benutzten das gleiche Foto von Joanna Duncan, das sie am Strand vor blauem Himmel und makellos weißem Sand zeigte. Sie hatte strahlend blaue Augen, hohe Wangenknochen, eine ausdrucksstarke Nase und leicht vorstehende Schneidezähne. Auf dem Foto lächelte sie. Hinter ihrem linken Ohr steckte eine große rote Nelke, in der Hand hielt sie eine halbierte Kokosnuss mit einem Cocktailschirm darin.
»Joanna war also Journalistin?«, fragte Kate.
»Ja. Für die West Country News. Sie war auf dem Weg nach oben. Wollte nach London ziehen und für eine der Boulevardzeitungen arbeiten. Sie hat ihre Arbeit geliebt. Hatte eben erst geheiratet. Jo und ihr Mann Fred wollten Kinder … Sie ist am Samstag, dem 7. September, verschwunden. Davor war sie in Exeter bei der Arbeit. Gegen halb sechs ist sie gegangen. Einer ihrer Kollegen hat gesehen, wie sie das Gebäude verlassen hat. Von dort sind es höchstens fünfhundert Meter bis zum Parkhaus. Aber irgendwo auf dem Weg dorthin ist etwas passiert. Sie hat sich einfach in Luft aufgelöst … Ihr Auto haben wir im Parkhaus gefunden. Ihr Telefon hat darunter gelegen. Die Polizei hat gar nichts. Keine Verdächtigen. Fast dreizehn Jahre lang haben die Behörden weiß Gott was gemacht. Und dann hat man mir letzte Woche telefonisch mitgeteilt, dass der Fall nach zwölf Jahren jetzt zu den Akten gelegt wird. Die haben den Versuch aufgegeben, Jo zu finden. Aber ich muss wissen, was mit ihr passiert ist. Mir ist bewusst, dass sie wahrscheinlich tot ist. Trotzdem will ich sie finden und ordentlich bestatten. Ich habe im National Geographic einen Artikel darüber gelesen, wie Sie die Leiche einer jungen Frau gefunden haben, die vor zwanzig Jahren verschwunden ist … Dann habe ich Sie gegoogelt und gesehen, dass Sie gerade Ihre eigene Detektei eröffnet haben. Ist das richtig?«
»Ja«, bestätigte Kate.
»Mir gefällt, dass Sie eine Frau sind. Ich habe mich so viele Jahre mit Polizisten herumgeschlagen, die mich von oben herab behandelt haben«, sagte Bev. Ihre Stimme schwoll dabei trotzig an. »Können wir uns treffen? Ich kann zu Ihnen ins Büro kommen.«
Kate warf einen Blick auf das, was als ihr »Büro« herhalten musste. Der dafür genutzte Raum war Myras Wohnzimmer gewesen. Den Boden bedeckte noch der alte gemusterte Teppich aus den 1970er Jahren, als Schreibtisch diente ein ausgeklappter Esstisch. An einer Wand standen Flaschen mit Desinfektionsmittel für Urinale und Packungen mit Papierhandtüchern für den Campingplatz. Oben an einer großen Korktafel an der Wand hing ein Zettel mit der Aufschrift Aktive Fälle, ansonsten war die Tafel leer. Seit dem Abschluss des letzten Auftrags, einer Überprüfung des Hintergrunds eines jungen Mannes für seine künftige Arbeitgeberin, hatte die Detektei nichts zu tun gehabt. Myra hatte Kate ihren Besitz mit der Auflage vermacht, dass sie ihren Job aufgeben und ihr Ziel verfolgen musste, eine eigene Detektei zu gründen. Mittlerweile waren sie seit neun Monaten im Geschäft, doch es erwies sich als schwierig, den Betrieb zu einem gewinnbringenden Unterfangen auszubauen.
»Was halten Sie davon, wenn ich mit meinem Kollegen Tristan Harper zu Ihnen komme?«, schlug Kate vor.
Tristan war Kates Partner bei der Detektei. Heute ging er seinem anderen Job nach. Drei Tage die Woche arbeitete er an der Ashdean University als Forschungsassistent.
»Richtig. Ich erinnere mich an Tristan aus dem Artikel im National Geographic … Also, ich hätte morgen Zeit. Aber wahrscheinlich sind Sie da schon hoffnungslos ausgebucht.«
»Lassen Sie mich nur eben mit Tristan sprechen und unseren Terminkalender überprüfen. Danach rufe ich Sie gleich zurück«, versprach Kate.
Als sie nach dem Gespräch den Hörer auflegte, pochte ihr Herz vor Aufregung wild.
Als Kate ihr Telefonat beendete, saß Tristan Harper gerade in dem kleinen verglasten Büro seiner Schwester bei der Barclays Bank in der Hauptstraße von Ashdean.
»Na schön. Bringen wir’s hinter uns«, sagte er und schob die Plastikmappe mit seinem Hypothekenantrag über den Schreibtisch. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen.
»Was meinst du?«
»Dein Verhör über meine Finanzen.«
»Wärst du auch so angezogen, wenn ich eine Fremde wäre, mit der du über einen neuen Hypothekenantrag redest?«, fragte Sarah, schlug die Mappe auf und sah ihren Bruder über den Schreibtisch hinweg an.
»Das ist meine Arbeitskleidung«, erwiderte Tristan und blickte auf sein schickes weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt, seine Jeans und seine Turnschuhe hinab.
»Bisschen leger für ein wichtiges Gespräch bei einer Bank«, meinte sie tadelnd und rückte ihre graue Jacke und die blaue Bluse zurecht. Sarah war achtundzwanzig, drei Jahre älter als Tristan, aber manchmal kam es ihm vor, als müsste der Altersunterschied mindestens zwanzig Jahre betragen.
»Also, beim Reinkommen sind mir nicht allzu viele Leute im dreiteiligen Anzug in der Schlange zum Geldabheben aufgefallen. Außerdem sind die Turnschuhe ’ne limitierte Auflage von Adidas.«
»Und wie viel haben sie gekostet?«
»Genug. Die waren eine Investition. Sind sie nicht umwerfend?«, fragte er grinsend.
Sarah verdrehte die Augen und nickte. »Ja, sie sind ziemlich cool.«
Tristan war groß und besaß eine schlanke, muskulöse Statur. Tätowierungen bedeckten seine Unterarme. Durch den V-Ausschnitt seines T-Shirts lugte der Kopf des Adlers auf seiner Brust heraus. Bruder und Schwester sahen sich ähnlich, besaßen dieselben sanften braunen Augen. Tristan trug das kastanienbraune, gelockte Haar mittlerweile schulterlang und zerzaust. Sarah hingegen band ihr Haar stets streng zurück und bändigte es adrett mit einem Glätteisen.
Es klopfte an der Glastür, und ein kleiner Mann mit beginnender Glatze betrat in Anzug und Krawatte das Büro.
»Hat sie schon mit dem Verhör begonnen?«, erkundigte er sich. »Sie wollte extra eine Lampe mitbringen und auf den Schreibtisch stellen, damit sie dir ins Gesicht leuchten kann!«
Es war Gary, Sarahs Ehemann und Leiter der Bankfiliale. Tristan stand auf und umarmte seinen Schwager.
»Gary! Jetzt sei nicht so albern«, sagte Sarah, stimmte aber in das Grinsen der beiden Männer mit ein. »Ich stelle dieselben Fragen wie bei jedem anderen Hypothekenbewerber.«
»Jetzt sieh sich einer an, wie lang dein Haar ist. Ich wünschte, meines würde noch so wachsen«, sagte Gary und tätschelte seine wachsende kahle Stelle.
»Mir gefällt er mit kurzen Haaren viel besser«, merkte Sarah an.
»Willst du einen Kaffee, Tris?«
»Bitte.«
»Schwarz wäre wunderbar, danke, Gary«, sagte Sarah. Als er das Büro wieder verließ, holte sie den Hypothekenantrag heraus, überflog ihn, blätterte um und seufzte.
»Was ist?«, fragte Tristan.
»Ich sehe nur gerade den Hungerlohn, den du bei deinem Teilzeitjob an der Universität verdienst.« Sarah schüttelte den Kopf.
»Ich hab meinen Vertrag mit der Detektei und den mit meinem neuen Mieter«, sagte Tristan. Sarah spähte in den Plastikordner, zog die beiden Dokumente heraus und blätterte sie mit skeptischer Miene durch.
»Wie viel Arbeit hat Kate für dich?«
Tristan entging keineswegs, dass seine Schwester Kates Namen immer mit einem missbilligenden Tonfall aussprach.
»Ich habe als Partner in die Detektei investiert«, erwiderte Tristan irritiert. »Die Detektei zahlt an uns beide einen Pauschalbetrag, unabhängig von der Arbeit. Steht alles im Vertrag.«
»Und hat die Detektei derzeit Aufträge?«, fragte sie und schaute zu ihm auf.
Tristan zögerte. »Nein.«
Sarah zog die Augenbrauen hoch, bevor sie wieder in den Unterlagen las. Tristan hätte sich gern gerechtfertigt, aber er wollte keinen weiteren Streit vom Zaun brechen. In den neun Monaten seit der Gründung der Detektei mit Kate hatten sie vier Fälle übernommen. Zwei Frauen hatten sie damit beauftragt, Beweise für die Untreue ihrer Ehemänner zu sammeln. Der Besitzer eines Büromateriallieferanten in Exeter hatte sie ersucht herauszufinden, ob eine seiner Angestellten Ware aus dem Lager stahl und verkaufte, was die Frau tat. Und sie hatten für eine Geschäftsfrau aus der Gegend eine ausführliche Hintergrundprüfung eines jungen Mannes durchgeführt, den sie einstellen wollte.
Gary erschien mit einem kleinen Tablett voller Kaffeebecher aus Plastik an der Tür und stützte den Ellbogen auf die Klinke. Tristan stand auf und öffnete die Tür.
»Die Detektei hat unregelmäßige Einnahmen, und du hast noch keine Steuererklärung abgegeben«, sagte Sarah. Dabei hielt sie den Vertrag der Detektei Kate Marshall zwischen Daumen und Zeigefinger, als wäre er eine schmutzige Unterhose. Gary stellte die Becher mit dampfendem Kaffee auf den Schreibtisch.
»Außerdem bezieht die Detektei Einnahmen aus dem Campingplatz«, sagte Tristan.
»Also lässt Kate dich Bettwäsche wechseln und chemische Toiletten leeren, wenn in der Detektei nicht viel zu tun ist?«
»Wir haben zusammen ein Unternehmen gegründet, Sarah. Es braucht seine Zeit, so was aufzubauen. Kates Sohn Jake kommt in ein paar Wochen von der Uni. Über den Sommer hilft er uns, den Wohnwagenplatz zu betreiben.«
Sarah schüttelte den Kopf. Ihre Einstellung gegenüber Kate war schon immer feindselig gewesen, aber seit Tristan seinen Job an der Universität auf Teilzeit zurückgeschraubt hatte, um in der frischgebackenen Detektei zu arbeiten, hatte sich Sarahs Abneigung noch gesteigert. In ihren Augen brachte Kate ihren Bruder um einen sicheren Arbeitsplatz mit guten Sozialleistungen. Er wünschte, Sarah würde Kate als seine Freundin und Geschäftspartnerin akzeptieren. Kate war klug und verlor nie ein abfälliges Wort über Sarah – die umgekehrt keine Gelegenheit ausließ, um über Kate und ihre zahlreichen Unzulänglichkeiten herzuziehen. Tristan konnte den Beschützerinstinkt seiner Schwester nachvollziehen. Ihr Vater hatte die Familie verlassen, als sie noch klein waren, und beim Tod ihrer Mutter war Sarah achtzehn gewesen, Tristan fünfzehn. Deshalb hatte Sarah bereits in sehr jungen Jahren die Rolle der Ernährerin und Mutter übernehmen müssen.
»Tristan hat jetzt ’nen Untermieter. Nicht wahr, Tris?«, sagte Gary, um die Stimmung aufzulockern. »Das ist ein feines Zusatzeinkommen.«
»Ja. Der Mietvertrag ist da drin«, bestätigte Tristan.
»Wie läuft’s mit dem Yeti?«, erkundigte sich Gary. Tristan lächelte. Bei seinem neuen Untermieter Glenn bedeckte dunkle Behaarung jede sichtbare Hautpartie, zusätzlich zu einem dichten, buschigen Bart.
»Er ist ein anständiger Kerl. Sehr ordentlich. Die meiste Zeit bleibt er in seinem Zimmer. Er redet nicht viel«, antwortete Tristan.
»Also nicht dein Typ?«
»Nein, ich mag Kerle mit zwei Augenbrauen.«
Gary lachte. Sarah schaute von den Unterlagen auf.
»Gary. Da er seine Vollzeitstelle an der Universität aufgegeben hat, wird’s schwierig, mit seinem Einkommen eine neue Hypothek für die Wohnung zu bewilligen …«
Gary ging um den Schreibtisch herum und berührte sanft die Schultern seiner Frau.
»Lass uns mal sehen. Weißt du, mit ein bisschen Gary-Magie ist alles machbar«, sagte er. Sie stand auf und überließ ihm den Platz auf dem Stuhl. Er rief den Hypothekenantrag auf seinem Bildschirm auf.
»Hast Glück, dass dein Schwager Filialleiter bei einer Bank ist«, merkte Sarah an. Tristans Handy klingelte in seiner Tasche, und er holte es heraus. Das Display zeigte Kates Namen. »Wer ist es? Das hier ist wichtig.«
»Es ist Kate. Ich mach’s kurz.« Damit stand Tristan auf und verließ das kleine Büro.
Als er den Korridor hinunterging, hörte er Sarahs Stimme sagen: »Bei Kate sieht’s gut aus. Sie hat zumindest keine Hypothek auf ihr Haus …«
»Hallo«, meldete sich Tristan am Telefon. »Warte kurz. Ich bin in der Bank.« Er ging an der Warteschlange vor den Kassenschaltern vorbei durchs Foyer und hinaus auf den Bürgersteig.
»Ist alles gut gelaufen?«, erkundigte sich Kate.
»Sarah und Gary sehen sich gerade alles an.«
»Soll ich später anrufen?«
»Nein. Passt schon.«
Kate klang aufgeregt, als sie ihm von ihrem Telefonat mit Bev Ellis erzählte.
»Könnte es ein hochkarätiger ungeklärter Fall sein?«, fragte Tristan.
»Ja. Sieht allerdings kompliziert aus. Über Joanna Duncans Verschwinden wurde in Crimewatch berichtet, und die Polizei hat nach zwölf Jahren immer noch kaum Anhaltspunkte.«
»Glaubst du, die Frau kann sich längere Ermittlungen leisten?«
»Keine Ahnung. Ich hab gegoogelt. Die Presse hat Bev als alleinerziehende Mutter mit geringem Einkommen hingestellt.«
»Verstehe.«
»Aber du weißt ja, wie gern die Presse die Tatsachen verdreht oder aufbauscht. Sie ist unlängst nach Salcombe gezogen, zu ihrem langjährigen Lebensgefährten. Ihre Adresse liegt in der Millionärsgegend. Ich würde morgen gern hinfahren und mich mit ihnen treffen. Bist du dabei?«
»Klar.«
Tristan beendete das Telefonat und verspürte vor Aufregung ein Kribbeln. Als er sich umdrehte, sah er Sarah durch den Vordereingang der Bank herauskommen.
»Du schuldest Gary ein Bier«, verkündete sie und verschränkte die Arme über der blauen Bluse, um sich gegen den Wind zu schützen. »Er hat deine Umschuldung bewilligt und dir einen viel besseren Festzinssatz für fünf Jahre gegeben. So sparst du achtzig Pfund im Monat.«
»Das ist super«, erwiderte er und umarmte sie erleichtert. »Danke, Schwesterherz.«
»Was hat Kate gewollt?«
»Könnte sein, dass wir einen neuen Auftrag haben. Ein Vermisstenfall. Morgen treffen wir uns mit der Klientin.«
Sarah nickte und lächelte. »Das ist gut. Weißt du, Tris, es macht mir keinen Spaß, streng zu dir zu sein. Ich will nur, dass es dir gut geht. Immerhin hab ich Ma versprochen, dass ich mich um dich kümmern werde. Und als ich diese Wohnung gekauft habe, hat zum ersten Mal jemandem aus unserer Familie etwas gehört. Du musst dafür sorgen, dass du die Hypothek weiterhin zahlen kannst.«
»Ich weiß, und das werde ich«, beteuerte er.
»Irgendwann, wenn du alles abbezahlt hast, gehört die Wohnung dir, dann bist du gut versorgt.«
»Oder ich lerne einen umwerfenden Millionär kennen, der mich im Sturm erobert«, scherzte Tristan.
Sarah sah die Hauptstraße suchend in beide Richtungen entlang und betrachtete die umherlaufenden, armselig wirkenden Einheimischen. »Siehst du irgendwelche Millionäre in Ashdean?«
»Exeter ist ja nicht weit …«
Sarah verdrehte die Augen und lachte. »Wo trefft ihr euch mit dieser neuen Klientin?«
»In Salcombe. Sie wohnt dort in einem großen Haus mit Blick auf die Bucht.«
»Tja. Löst den Fall mal lieber nicht zu schnell, wenn sie euch stundenweise bezahlt.«
Kate schlief in jener Nacht nicht gut. Das bevorstehende Treffen ging ihr nicht aus dem Kopf. Hatte Bev Ellis noch andere Privatdetektive kontaktiert? Wie viel genau hatte sie im Internet über Kate herausgefunden? Es war alles öffentlich zugänglich. Ein Mausklick, und die Google-Suchergebnisse sprachen für sich selbst.
Sie wälzte sich im Bett hin und her, während ihr all ihre Tiefschläge aus der Vergangenheit im Kopf herumspukten. Kate war eine junge Beamtin bei der Polizei in London gewesen, als sie herausgefunden hatte, dass ihr hochrangiger Kollege Peter Conway für die Vergewaltigung und Ermordung von vier jungen Frauen im Großraum London verantwortlich zeichnete. Zu allem Überfluss hatte sie eine Affäre mit Peter gehabt und war von ihm schwanger gewesen, als sie den Fall geknackt hatte. Die Berichte der Boulevardpresse waren damals reißerisch und unter der Gürtellinie. Der Skandal hatte ihrer Karriere bei der Polizei ein Ende bereitet. Danach hatte sie mit Alkoholsucht zu kämpfen gehabt. Was letztlich dazu geführt hatte, dass ihre Eltern das Sorgerecht für Kates und Peters Sohn Jake erhielten, als der Junge sechs Jahre alt war.
Kate war an die Südküste gezogen, um ihr Leben neu zu ordnen. Die vergangenen elf Jahre hatte sie als Dozentin für Kriminologie an der Ashdean University gearbeitet.
Während jener Zeit war Myra ihr Fels in der Brandung gewesen, eine gute Freundin und ihre Sponsorin bei den Anonymen Alkoholikern. Kate fand, sie war es sich selbst und Myra schuldig, die Detektei zum Erfolg zu führen.
Um fünf Uhr morgens stand Kate auf und ging zum täglichen Frühschwimmen im Meer. Es beruhigte sie, durch das stille Wasser zu gleiten, während weit und breit nur ein paar Möwen in der Ferne krächzten. Und als die Morgendämmerung einsetzte, schillerte der Himmel in Blau-, Rosa- und Goldtönen.
Kate wartete vor dem Haus, als Tristan mit seinem blauen Mini Cooper vorfuhr.
»Morgen. Hab dir Kaffee mitgebracht.« Er hielt ihr einen Becher von Starbucks hin, als sie die Beifahrertür öffnete und einstieg.
»Wunderbar. Doppelter Espresso?«, fragte sie und genoss die vom Becher abstrahlende Wärme an den kalten Händen.
»Dreifacher. Ich hab nicht allzu gut geschlafen.«
Er trug einen dunkelblauen Anzug mit weißem, am Kragen offenem Hemd, und Kate ging durch den Kopf, wie gut er aussah. Sie hatte sich Gedanken darüber gemacht, was sie anziehen sollte, und sich für eine dunkle Jeans mit weißer Bluse sowie eine elegante königsblaue Jacke aus leichter Wolle entschieden. Kate trank einen Schluck Kaffee und genoss die Wirkung des Koffeins.
»Prima. Ich hab nämlich auch nicht gut geschlafen.«
»Bei dem Fall bin ich nervös«, gestand Tristan, als sie am Wohnwagenplatz vorbeifuhren. »Ich komme mir immer noch wie ein Grünschnabel vor.«
»Das musst du nicht. Bev Ellis will unbedingt herausfinden, was mit ihrer Tochter passiert ist. Und wir sind diejenigen, die sie aufspüren können. Richtig?«
Tristan nickte. »Ja.«
»Also, dann gibt es keinen Grund, nervös zu sein«, sagte Kate. Das hatte sie sich selbst beim Schwimmen und beim Vorbereiten auf das Treffen eingetrichtert, und sie stand kurz davor, es zu glauben.
»Hast du Joanna Duncan im Internet recherchiert?«, fragte Tristan. »Niemand hat eine Ahnung, was mit ihr passiert ist. Sie ist am späten Nachmittag an einem belebten Samstag aus dem Parkhaus in der High Street von Exeter verschwunden. Ist irgendwie unheimlich. Dass sie sich praktisch in Luft aufgelöst hat.«
»Nachdem ich mich durch die Artikel über ihr Verschwinden gearbeitet hatte, bin ich auf interessante Informationen über ihre Karriere als Enthüllungsjournalistin gestoßen«, erwiderte Kate. »Sie hat einen Artikel über den damaligen örtlichen Parlamentsabgeordneten Noah Huntley veröffentlicht. Er hat Bestechungsgelder für die Vergabe von Aufträgen der Stadtverwaltung angenommen. Die Boulevardpresse hat die Story landesweit aufgegriffen. Das hat eine Nachwahl ausgelöst, bei der er schließlich seinen Sitz verloren hat.«
»Wann war das?«, fragte Tristan.
»Sechs Monate vor ihrem Verschwinden, im März 2002. Wird interessant, von Bev zu erfahren, an welchen anderen Storys ihre Tochter damals gearbeitet hat.«
Der Tag wurde rasch wärmer, und zum ersten Mal in diesem Jahr brauchten sie die Autoheizung nicht. Sie fuhren einige Kilometer die atemberaubend schöne Juraküste entlang. Kate betrachtete das nie als selbstverständlich. Im Vergleich zum Rest von Großbritannien mutete die Gegend beinah wie Kalifornien an. Schließlich fuhren sie auf die Autobahn auf, der sie die nächsten vierzig Minuten lang folgten, bevor sie die Ausfahrt für Salcombe nahmen und wieder zur Küste gelangten. Die Straße schlängelte sich zur Bucht hinunter, und die Häuser wurden zunehmend prächtiger. Fischerboote und Jachten lagen im ruhigen, glasklaren Meer, in dem sich die Sonne und der blaue Himmel spiegelten.
Tristans Navi zeigte an, dass sie nach rechts auf eine schmale Privatstraße abbiegen sollten. Die Bäume lichteten sich, und sie erreichten eine hohe weiße Mauer mit einem Tor. Tristan ließ das Fenster auf seiner Seite runter und drückte einen Knopf an einer Gegensprechanlage.
»Was hat sie gesagt, womit Bill die Brötchen verdient?«, fragte er.
»Hat sie nicht erwähnt. Muss wohl was Lukratives sein, würde ich sagen«, erwiderte Kate.
»Und er legt Wert auf Privatsphäre. Sieh dir nur die riesigen Bäume an.« Er zeigte auf eine Reihe mächtiger Tannen hinter der Mauer. Ein Knistern drang aus der Gegensprechanlage.
»Hallo. Ich kann Sie sehen. Kommen Sie rein«, sagte Bevs Stimme über den Lautsprecher. Das Tor öffnete sich, indem es lautlos nach rechts glitt. Kate schaute auf und erblickte eine in eine Glaskuppel an einem der Torpfeiler eingebaute Überwachungskamera. Sie folgten einer gewundenen, gepflasterten Zufahrt, die leicht bergauf durch einen gepflegten Garten mit Palmen, Feigenbäumen und verschiedenen immergrünen Gewächsen führte. Den Weg säumten Beete mit gleichmäßig gepflanzten Tulpen in Rot, Weiß, Gelb und Violett, alle kurz vor dem Erblühen. Die Zufahrt verlief an der Hausseite entlang, bevor sie scharf nach links abbog und in einen gepflasterten Parkplatz mündete. Aus der Nähe glich die Rückseite des Gebäudes einem riesigen minimalistischen weißen Kasten. Hinten gab es keine Fenster, nur eine kleine Tür aus Eichenholz.
Kaum waren Tristan und Kate ausgestiegen, öffnete sich die Tür. Bev Ellis erschien mit einem sehr großen Mann. Kate fiel auf, dass er den 1,80 Meter großen Tristan um einen halben Kopf überragte. Bev reichte ihm kaum bis zur Schulter. Die Frau wies eine starke Ähnlichkeit mit ihrer Tochter auf. Wie Joanna war sie gertenschlank und besaß dieselbe ausdrucksstarke Nase, volle Lippen, markante Wangenknochen und blaue Augen. Allerdings war Bevs Haut blass und rau, und sie hatte ausgeprägte Tränensäcke. Der kurze, etwas zu dunkel gefärbte Bubikopf betonte ihre abstehenden Ohren. Sie trug rosa Crocs, eine Jeans und eine speckige grüne Fleecejacke. Womit sie an dem Ort völlig fehl am Platz wirkte, wie eine Lottogewinnerin oder eine arme Verwandte auf Besuch. Kate verbannte den unfreundlichen Gedanken rasch aus dem Kopf.
Bill sah jünger aus als Bev, schlank und muskulös, mit dichtem grauem, zu einem Bürstenschnitt gestutztem Haar. Er trug ein ausgebleichtes Rolling-Stones-T-Shirt mit einer goldenen Halskette darüber, dazu verwaschene Jeans mit zerrissenen Knien. Unten lugten nackte Füße aus der Hose. Sein freundliches Gesicht mit rötlichem Teint zierten wunderschöne grüne Augen.
»Hallo«, grüßte Bev. Sie streckte Kate eine zittrige Hand entgegen. »Das ist Bill. Ich würde ihn ja gern als meinen festen Freund bezeichnen, aber darüber sind wir wohl hinaus, ha-ha. Wir sind schon ewig zusammen.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Kate, und Sie auch, Tristan«, sagte Bill und schüttelte ihnen nacheinander die Hand. Im Vergleich zu Bev wirkte er ruhig. Kates verbliebene Befürchtungen, vorverurteilt zu werden, lösten sich in Luft auf.
»Ich hoffe, Sie haben problemlos hergefunden.« Bevor Kate etwas erwidern konnte, fuhr Bev fort: »Aber natürlich haben Sie das. Sie sind ja hier! Kommen Sie rein.«
Die Eingangstür führte geradewegs in einen großen offenen Wohnbereich. Eine raumhohe Glasfront verlief entlang der Vorderseite und bot eine Aussicht auf eine Terrasse und die Bucht. Die Böden bestanden aus weißem Marmor mit zarten goldenen und schwarzen Einschlüssen. Nur wenige Möbel verteilten sich über den großflächigen Raum. Auf der linken Seite befand sich ein großer Betonkamin. Ein langes weißes Ledersofa stand auf einem weißen Teppich vor einem Flachbildfernseher über dem Kamin.
Rechts schloss eine geräumige minimalistische Küche an, ganz in Weiß und ohne irgendetwas auf den Arbeitsflächen. Kate fragte sich, wie lange Bev schon hier lebte. Sie schien eine plapperhafte, nervöse Person zu sein. Kates Erfahrung nach stopften plapperhafte, nervöse Menschen ihren Wohnraum gern mit Möbeln und Nippes voll, was ihr Bedürfnis widerspiegelte, Stille auszufüllen.
»Verdammt, was für eine Aussicht!«, rief Tristan begeistert aus und trat näher zur Fensterfront. Der weitläufige Panoramablick über die Bucht und das Meer wurde von keinem anderen Haus unterbrochen. In der Ferne erstreckten sich die hügeligen Felsen der Juraküste in blauen Dunst hinein. »Tut mir leid. Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise.«
»Schon gut, mein Lieber. Ich glaube, meine ersten Worte, als ich’s zum ersten Mal gesehen habe, waren ›heilige Scheiße!‹«, verriet Bev. Als betretene Stille eintrat, errötete Bev. »Setzen Sie sich. Ich mache Tee und Kaffee«, fügte sie hinzu und deutete aufs Sofa.
Kate und Tristan ließen sich nieder und beobachteten, wie Bill und Bev alles vorbereiteten. Bev hatte Mühe, die weißen Schranktüren zu öffnen, die bündig abschlossen und keine Griffe besaßen. Und zweimal verwechselte sie eine Tür mit dem Kühlschrank.
»Wie lange wohnt sie schon hier?«, murmelte Tristan. Kate schüttelte den Kopf und beschäftigte sich damit, ihr Notizbuch und ihren Stift herauszuholen.
Wenige Minuten später brachten Bill und Bev eine große Pressfilterkanne und eine dreistöckige Etagere mit Muffins und Keksen. Bill setzte sich mit dem Rücken zum Kamin auf den Boden. Bev ließ sich auf der Armlehne eines Sessels neben ihm nieder.
»Macht’s Ihnen was aus, wenn wir mitschreiben?«, erkundigte sich Kate und deutete auf ihr Notizbuch. »Nur, damit uns nichts entgeht.«
»Nein, nur zu«, antwortete Bill. Bev drückte den Stempel der Filterkanne nach unten und schenkte den Kaffee ein. Plötzlich herrschte im Raum schwere Stille. Bevs Hände zitterten so heftig, dass Bill übernehmen und Kate und Tristan ihre Tassen reichen musste.
»Schon gut«, sagte er beschwichtigend, beugte sich vor und streichelte Bevs Bein. Sie ergriff seine Hand. Im Vergleich zu seiner nahm sich ihre winzig und vogelartig aus.
»Tut mir leid. Mir graut davor, darüber zu reden«, erklärte sie, zog die Hand zurück und wischte sie sich an der Hose ab. »Ich weiß nicht mal, wo ich anfangen soll.«
»Erzählen Sie uns einfach erst mal von Joanna«, schlug Kate vor. »Wie war sie so?«
»Ich habe sie immer Jo genannt.« Bev wirkte überrascht, dass ihr eine so simple Frage gestellt wurde. »Sie war ein wunderbares Baby. Ich hatte eine einfache Schwangerschaft. Auch eine schnelle Geburt. Und sie war so brav und ruhig. Ihr Vater war ein älterer Mann, mit dem ich eine Zeit lang zusammen war. Er war sechsundzwanzig, ich siebzehn. Als Jo zwei war, ist er gestorben. Herzinfarkt. Ungewöhnlich für einen so jungen Kerl. Er hatte einen Herzfehler, von dem er nichts wusste. Wir hatten nicht geheiratet, und Jo hat ihn nie wirklich kennengelernt. Ich hab sie allein aufgezogen. Wir haben uns sehr nahegestanden. Als sie älter wurde, waren wir eigentlich eher wie Freundinnen.«
»Welchen Job hatten Sie?«, fragte Kate.
»Ich war Reinigungskraft bei Reed, der Firma, die Büros vermietet. Die hatten zwei große Anlagen in Exeter und Exmouth … Ich hatte jahrelang eine Sozialwohnung auf dem Moorside Estate. Dann hab ich eine Wohnung näher bei der Stadt gemietet. Hier bin ich erst vor zwei Monaten eingezogen. Da hat mir mein Vermieter nämlich mitgeteilt, dass er meine Wohnung verkauft. Das hier gehört alles Bill.«
Er schaute auf und lächelte sie an. »Es ist jetzt genauso sehr dein Zuhause wie meins.«
Bev nickte, zog ein zerfleddertes Taschentuch aus ihrem Ärmel und wischte sich die Augen ab.
»Wie lange sind Sie beide schon zusammen?«, erkundigte sich Tristan.
»Meine Güte. Mit Unterbrechungen … wie lange? Dreißig Jahre? Wir haben nie geheiratet. Hat uns gefallen, unsere Freiräume zu haben«, antwortete Bev. Bill nickte. Sie errötete wieder, und Kate fand, dass die Äußerung hohl klang. Einstudiert.
»Wollte Jo schon immer Journalistin werden?«, fragte sie.
»Ja. Als sie elf war, gab’s so eine spezielle Schreibmaschine für Kinder. Die Petite 990. Hat wie eine richtige funktioniert. Erinnern Sie sich an die Werbung? Darin hat dieses kleine wie Dolly Parton angezogene Mädchen darauf getippt, während dazu der Song ›9 to 5‹ gedudelt hat.«
»Ich erinnere mich daran«, sagte Kate. »Wann war das?«
»1985.«
Kate stellte eine schnelle Berechnung an. Wenn Joanna 1985 elf Jahre alt war, musste sie 1974 geboren sein. Was bedeutete, dass sie achtundzwanzig war, als sie 2002 verschwand.
»Das war ja vier Jahre vor meiner Geburt«, warf Tristan ein und hob die Hand. Alle lachten, und die Spannung im Raum ließ ein wenig nach.
»Kaum hatte Jo die Werbung gesehen, wollte sie die Schreibmaschine unbedingt zu Weihnachten haben, nur war der Preis damals für mich ein Vermögen – dreißig Pfund! Ich hab zu ihr gesagt: ›Wozu willst du denn eine Schreibmaschine? Die endet ja doch schon nach ein paar Tagen im Schrank und setzt Staub an.‹ Und Jo hat geantwortet: ›Ich kann damit Zeitungsreporterin werden.‹ Also hab ich die dreißig Pfund zusammengekratzt, hab gebettelt und geborgt, hauptsächlich von Bill …«
Er lächelte bei der Erinnerung und nickte.
»Ich habe Jo die Schreibmaschine zu Weihnachten geschenkt. Und sie hat Wort gehalten. Jede Woche hat sie ein Mitteilungsblatt getippt, mit lauter albernen Belanglosigkeiten, die uns passiert sind oder die sich in der Schule zugetragen haben. Sie hat nie aufgehört zu schreiben und Fragen zu stellen … Jo war klug. Hat die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium bestanden. Danach hat sie Journalismus an der Exeter University studiert und als Reporterin bei der West Country News angefangen. Damals hat die Zeitung noch eine halbe Million Exemplare täglich verkauft … Sie hatte sich in London bei einer der überregionalen Zeitungen beworben und sogar ein Vorstellungsgespräch bekommen …« Bev verstummte kurz. »Und dann ist sie verschwunden.«
»Hatte sich Joannas Verhalten in den Monaten oder Wochen vor ihrem Verschwinden verändert? War sie deprimiert oder wegen irgendetwas besorgt?«
»Nein. Sie war rundum glücklich.«
»Und Sie haben sie zu der Zeit oft gesehen?«
»Mehrmals die Woche. An den meisten Tagen haben wir mehr als einmal telefoniert. Sie hatte gerade mit ihrem Mann Fred ein Haus in Upton Pyne gekauft, einem kleinen Dorf am Stadtrand von Exeter.«
»Was haben Sie von Fred gehalten?«
»Fred war – ist – ein bezaubernder Bursche. Er war es nicht«, sagte Bev sofort. »Er war den ganzen Tag zu Hause. Dafür gibt es eine Menge Zeugen. Er hat ihr Haus gestrichen, hat auf einer Leiter gestanden … Viele Leute im Dorf haben ihn dabei gesehen und ihm ein wasserdichtes Alibi gegeben.«
»Ist im Vorfeld ihres Verschwindens irgendetwas Ungewöhnliches passiert?«, hakte Kate nach.
»Nein.«
»Woran hat sie zu der Zeit gearbeitet? Ich hab gelesen, dass sie Enthüllungsjournalistin war.«
»Sie hat an vielen Storys gearbeitet«, antwortete Bev und sah Bill an.
»Aber an nichts, weswegen sie jemand umbringen oder entführen würde«, sagte er.
»Sie ist am Samstag, dem 7. September, zur Arbeit gegangen und hat das Büro gegen halb sechs verlassen. Es war nur ein kurzer Fußmarsch zu ihrem Auto, aber irgendwo unterwegs ist sie verschwunden. Bill und ich waren an dem Tag in Killerton, ungefähr eine Autostunde entfernt. Am Nachmittag sind wir zurückgekommen. Bill hat noch bei dem Bürogebäude in Exeter vorbeigeschaut, das seine Firma zu der Zeit umgebaut hat. Ich bin nach Hause. Gegen sieben hat mich dann Fred angerufen und gesagt, dass Jo noch nicht nach Hause gekommen sei. Wir haben herumtelefoniert. Niemand wusste, wo sie sein könnte. Schließlich hat Fred mich abgeholt, und wir haben angefangen, nach ihr zu suchen. Die Polizei wollte sie in den ersten vierundzwanzig Stunden nicht als Vermisste behandeln, also haben wir die Krankenhäuser in der Gegend abgeklappert und das Parkhaus in der Nähe ihres Büros überprüft. Ihr Auto war noch dort. Ihr Mobiltelefon haben wir ausgeschaltet unter dem Wagen gefunden. Es waren keine Fingerabdrücke drauf. Nicht mal ihre. Deshalb ging die Polizei davon aus, dass ihr Entführer das Gerät ausgeschaltet und die Fingerabdrücke abgewischt hat.«
»War es das Parkhaus Deansgate, das man einige Monate später abgerissen hat?«, fragte Tristan dazwischen.
»Ja. Dort sind jetzt Wohnungen«, sagte Bev.
»Joanna – Jo – hat als Enthüllungsjournalistin dabei mitgeholfen, einen örtlichen Abgeordneten, Noah Huntley, des Betrugs zu überführen. Das war im März 2002, sechs Monate vor ihrem Verschwinden, richtig?«, ergriff Kate das Wort.
»Ja. Jos Story wurde von den nationalen Zeitungen aufgegriffen. Das hat eine Nachwahl ausgelöst, und Noah Huntley hat seinen Sitz verloren. Aber das war im Mai, vier Monate, bevor Joanna verschwunden ist.«
»Und nach dem Verlust seines Mandats hat er sich einen Job in der Privatwirtschaft geangelt, bei dem er wesentlich mehr verdient hat, als er als Abgeordneter je bekommen hätte«, sagte Bill und schüttelte angewidert den Kopf.
»Hat Joanna an einer anderen Story gearbeitet, die sie in Gefahr gebracht haben könnte?«, fragte Kate.
»Nein, das glauben wir nicht«, erwiderte Bev und schaute zu Bill. Er schüttelte den Kopf. Bev fuhr fort. »Jo hat zwar nicht viel über die Storys erzählt, an denen sie gearbeitet hat, aber es war nichts darunter, worüber ihr Redakteur besorgt gewesen wäre … Mit diesem Noah Huntley hat die Polizei geredet. Ich glaube, es war eher ein Akt der Verzweiflung, weil man sonst keine Verdächtigen hatte. Aber nach dem Erscheinen des Artikels hatte er kein Motiv dafür, Jo etwas anzutun, außerdem hatte er ein Alibi.«
»Gab es viele Zeugen, die Jo vor ihrem Verschwinden noch gesehen haben?«, fragte Kate.
»Ein paar Leute haben sich gemeldet und ausgesagt, sie hätten sie aus dem Gebäude der Zeitung kommen gesehen. Eine alte Dame erinnert sich, dass sie an der Bushaltestelle in Richtung Deansgate vorbeigegangen ist. Die Polizei hat ein Foto einer Überwachungskamera an der Hauptstraße sichergestellt, an der sie an dem Abend gegen zwanzig vor sechs vorbeigekommen ist, aber es weist vom Parkhaus weg. Niemand weiß, was danach passiert ist. Es ist, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.«
In der längeren Stille, die eintrat, bemerkte Kate zum ersten Mal das Ticken einer Uhr im Hintergrund. Bill stellte seine Tasse auf dem Tisch ab.
»Hören Sie. Bev bedeutet mir alles«, begann er. »Ich sehe sie schon viel zu lange leiden. Natürlich kann ich nichts tun, um Jo zu ersetzen. Aber falls sie ermordet wurde, will ich dabei helfen, sie zu finden, damit Bev sie bestatten kann …« Bev blickte auf das Taschentuch hinab, das sie auf dem Schoß knotete. Tränen liefen ihr über die faltigen Wangen. »Mir ist klar, dass Ihre Ermittlungen nicht nur ein paar Stunden dauern werden, falls ich Sie beauftrage. Ich bin bereit, für Ihre Zeit zu bezahlen, aber ich stelle Ihnen nicht einfach einen Blankoscheck aus. Sind wir uns da einig?«
»Natürlich«, gab Kate zurück. »Wir geben nie falsche Versprechungen ab, aber bisher haben wir noch jeden Fall gelöst, den wir übernommen haben.«
Bill nickte, dann stand er auf. »Kommen Sie bitte mit, ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Hinter der makellos weißen, kahlen Küche folgte ein breiter Flur mit fünf Türen. Alle waren geschlossen. In dem Gang herrschte schwache Beleuchtung.
Sechs oder sieben gerahmte Schwarz-Weiß-Fotos nackter Frauen säumten die Wände. Tristan war nicht prüde, trotzdem fand er die Aufnahmen auf dem Weg durch den Korridor recht schockierend. Bill ging voraus, gefolgt von Bev, dann Tristan und Kate. Die Models waren kunstvoll in Szene gesetzt, aber es handelte sich um überaus freizügige Fotos. Eines zeigte eine Nahaufnahme einer Vagina, daneben die Hand eines Mannes, die eine ungeschälte Banane hielt.
Tristan drehte sich fragend zu Kate um. Sie zog eine Augenbraue hoch. Als er sich wieder nach vorn drehte, stellte er fest, dass Bev ihren Blickwechsel bemerkt hatte. Sie lachte nervös.
»Bill ist Kunstsammler«, erklärte sie. »Das sind alles limitierte Drucke. Eine Menge Geld wert. Von einem sehr renommierten Künstler. Wie heißt er noch mal?«
Bev schien sehr daran gelegen zu sein, dass sie die Bilder an der Wand für Kunst und nicht für Pornografie hielten. Tristan fragte sich, ob Bev bei ihrem Einzug dagegen protestiert hatte, dass sie an den Wänden hingen.
»Arata Hayashi. Ein überaus innovativer bildender Künstler aus Japan. Ich wurde zu einer seiner Ausstellungen eingeladen, als ich letztes Jahr geschäftlich dort war«, erklärte Bill.
»In welcher Branche sind Sie?«, erkundigte sich Tristan.
»Bauwesen. Angefangen habe ich mit Bürogebäuden. In letzter Zeit sind wir zu Straßenbau übergegangen. Mir gehört eine Firma, die alle möglichen Materialien für große Autobahnbauprojekte liefert.«
»Bills Firma hat erst neulich die M4 neu asphaltiert«, warf Bev stolz ein.
Tristan überlegte, wie lang sich die M4 erstreckte – über etwa dreihundert Kilometer, von London bis nach Südwales. Dafür brauchte es eine Menge Zement und Asphalt.
Bill öffnete die Tür am Ende des Korridors. Sie führte zu seinem Arbeitszimmer. Im Vergleich zum restlichen Haus wirkte es dunkel, wies viele schwere Holzmöbel und Bücherregale auf, außerdem an einer Wand einen Waffenschrank mit einer Reihe von Schrotflinten hinter der polierten Glastür.
Über dem Schreibtisch hing ein großer Hirschkopf. Tristan verspürte beim Anblick des offenen Mauls und der kläglichen Augen einen Anflug von Traurigkeit. Er wollte Bill gerade fragen, ob er jagte, als er Pappkartons mit polizeilichen Beweismitteln bemerkte, die sich neben einem schwarzen Marmorkamin stapelten. Jeder wies ein Etikett mit der Aufschrift Fallakte Joanna Duncan und einer Nummer auf.
»Sind das offizielle Akten der Polizei?«, fragte Kate und ging zu dem Stapel hinüber.
»Ja«, bestätigte Bill.
Tristan sah, wie Kate die Stirn runzelte.
»Bill hat sie für mich besorgt«, warf Bev ein, als hätte er sie einfach online für sie bestellt.
»Mir ist schon untergekommen, dass die Polizei den Angehörigen eines Opfers erlaubt, Teile einer Fallakte einzusehen. Unter Aufsicht im Revier … Aber ich hab noch nie erlebt, dass Fallakten … was? Verliehen werden?« Fragend sah Kate mit hochgezogener Augenbraue Bill an.
»Ja. Ich habe sie für drei Monate«, erwiderte er.
»Offiziell?«
Bill ging zum Schreibtisch, ergriff davon einen Zettel und reichte ihn Kate. Tristan trat neben sie und stellte fest, dass es sich um einen offiziellen Brief von Superintendent Allen Cowen von der für Devon und Cornwall zuständigen Polizei handelte. In dem Schriftstück wurde Bill für sein Schreiben und seine Spenden an einen Wohltätigkeitsfonds der Polizei namens Golden Lantern gedankt. Außerdem stand darin, dass ihm als Anerkennung für seine Unterstützung der Familien gefallener Polizeibeamter Zugriff auf die Akten des ungeklärten Falls Joanna Duncan gewährt wurde, um sie für zivile Ermittlungen zu nutzen.
»Mittlerweile wird der Fall nicht mehr bearbeitet und gilt als ungeklärt. Das Schreiben bestätigt die Einwilligung der Polizei zur Einsichtnahme in die Akten«, kommentierte Bill.
Tristan ging zu den Kisten hinüber. Er zählte zwanzig.
»Haben Sie die Akten schon durchgesehen?«, fragte er.
»Ja«, antwortete Bill.
»Hat die Polizei Jos Laptop und ihre Unterlagen von der Arbeit mitgenommen?«, fragte Kate.
»Nein. Wir glauben, dass Jo ihren Laptop und ihre Notizbücher bei sich hatte, als sie verschwunden ist«, sagte Bev. »Man hat die Sachen nie gefunden.«
»Die Polizei hat ein paar andere Arbeitsunterlagen und Dokumente mitgenommen, die Jo auf ihrem Schreibtisch hatte. Sie befinden sich in den Akten. Sind aber nur vage Notizen über Storys, an denen sie gearbeitet hat«, fügte Bill hinzu.
Abermals trat ausgedehnte Stille ein. Im Arbeitszimmer war es warm und stickig, außerdem ging vom Hirschkopf ein Wildaroma aus, von dem Tristan flau im Magen wurde.