Seelische Verwundungen: die posttraumatische Belastungsstörung und andere Traumafolgestörungen - die Wirksamkeit psychotherapeutischer Methoden im Vergleich - Oswald J. Klingler - E-Book

Seelische Verwundungen: die posttraumatische Belastungsstörung und andere Traumafolgestörungen - die Wirksamkeit psychotherapeutischer Methoden im Vergleich E-Book

Oswald J. Klingler

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Beschreibung

Für die psychotherapeutische Behandlung von Traumafolgestörungen stehen immer mehr Verfahren zur Verfügung, von denen überzeugende, signifikante oder zumindest ermutigende Ergebnisse aus der Forschung reklamiert werden. Da aus der Praxis aber nicht immer eine ausreichende Zufriedenheit berichtet wird, stellt sich die Frage, ob alle Methoden gleichwertig sind und ob immer nach den besten evidenzgestützten Methoden behandelt wird. Gültige und verlässliche Aussagen über Wirksamkeitsunterschiede lassen sich aber nur aus direkten Behandlungsvergleichen ableiten und das auch nur, wenn die verglichenen Behandlungen "bona fide" durchgeführt wurden, also mit gutem Glauben der Beteiligten an deren Wirksamkeit. Im Rahmen der hier durchgeführten Recherchen konnten insgesamt 123 Studien mit 149 Vergleichen psychotherapeutischer Behandlungen von Traumafolgestörungen aufgefunden werden, bei welchen die Durchführung der Behandlungen als bona fide einzustufen ist. Bei Auswertung deren Ergebnisse wurde dann nicht nur auf Wirksamkeitsunterschiede zwischen verschiedenen Behandlungsformen abgezielt, sondern auch darauf, in welchem Ausmaß diese von methodischen Merkmalen der Studien und der sogenannten Researcher-Allegiance abhängen, also von der als solche erkennbaren Verbundenheit der Autorinnen und Autoren mit einer der Behandlungen. Wirksamkeitsvergleiche zwischen spezifischen Behandlungsmethoden werden allerdings noch immer durch einen Mangel an methodisch hochwertigen Arbeiten eingeschränkt. Bei den allgemeineren Vergleichen zwischen den so zusammengefassten traumafokussierten und gegenwartsfokussierten Methoden ist allerdings ein deutlicher Einfluss der erfassten Researcher-Allegiance zu belegen. Hier zeigt sich aber auch konsistent eine Überlegenheit der traumafokussierten Behandlungsmethoden, welche noch deutlicher wird, wenn die Auswertung im Rahmen eines Modells der besten Vergleiche auf die methodisch höchstwertigen Arbeiten eingeschränkt wird, bei der keine einseitige Parteilichkeit der Autorinnen und Autoren zu erkennen ist.

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Seitenzahl: 237

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Einleitung

1 Kleine Geschichte der Psychotraumatologie: Stationen einer Entwicklung

1.1 Vor den Weltkriegen - frühe Beschreibungen von Traumafolgen

1.2 Die Weltkriege und der Kampf gegen Simulanten und Psychopathen

1.2.1 Erster Weltkrieg

1.2.2 Zwischenkriegszeit

1.2.3 Zweiter Weltkrieg

1.2.4 Die Folgen der Weltkriege

1.3 Vietnam und ein Aufbruch

1.4 Symptomwandel und die Erfindung der posttraumatischen Belastungsstörung

1.5 Neue therapeutische Ansätze

1.6 Die weitere Entwicklung der Diagnostik

1.7 Die Metaanalysen: ein Blick ins Füllhorn

1.8 Die Schatten der Vergangenheit

2 Kleine Geschichte der Therapieforschung: Sternstunden und Stolpersteine

2.1 Allgemeinklinische Wirksamkeitsforschung

2.2 Psychotherapeutisch-psychotraumatologische Wirksamkeitsforschung

3 Trauma-Folgestörungen: psychotherapeutische Methoden im Vergleich

3.1 Probleme und Zielsetzungen

3.2 Methoden

3.2.1 Recherche und Auswahl von Studien und Behandlungsvergleichen

3.2.2 Gruppierung der Behandlungsmethoden und -vergleiche

3.2.3 Kodierung der Researcher-Allegiance und der methodischen Qualität

3.2.4 Bestimmung von Beurteilungskriterien, Zielvariablen

3.2.5 Auswertung

3.3 Ergebnisse

3.3.1 Aufgefundene Studien und Behandlungsvergleiche

3.3.2 Vergleiche spezifischer Behandlungsmethoden

3.3.3 Vergleiche von gegenwartsfokussierten mit traumafokussierten Behandlungsmethoden

3.3.4 Der Einfluss von Researcher-Allegiance und Untersuchungsqualität

3.4 Diskussion, Schlussfolgerungen

3.5 Zusammenfassung

Literatur

(

einschließlich von allen in Review und Metaanalysen einbezogenen Arbeiten)

Autorenhinweis

Anhang mit Ergebnistabellen

(abzurufen unter

http://www.oswald-j-klingler.at/)

A.0: Legende

A.1: Vergleiche spezifischer Behandlungsmethoden

A.1.1: Tiefenpsychologisch/psychoanalytisch begründete Behandlungen

A.1.2: Gesprächspsychotherapeutische/klientenzentrierte Behandlungen

A.1.3: Gegenwartsfokussierte kognitive Verhaltenstherapie (KVT)

A.1.4: Traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie (KVT)

A.1.5: Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR)

A.1.6: Sonstige Behandlungsvergleiche

A.2: Vergleiche von gegenwartsfokussierten mit traumafokussierten Behandlungsmethoden

A.2.1: Überblick

A.2.2: Auswertungsprotokoll

Einleitung

Die Ressourcen werden weniger und die Kämpfe, die darum geführt werden, immer heftiger. Katastrophen erschüttern den Planeten, manche der Natur zugeschrieben, viele von Menschen gemacht. Immer mehr sind von den Folgen natürlicher, menschlicher und unmenschlicher Gewalt betroffen, Bedrohungen, Verwundungen, Verlusten. Das Trauma ist Teil des Alltags und wurde zu einem der meistverwendeten psychologischen Begriffe. Große Nachfrage ist gegeben: nach Behandlungsmöglichkeiten für Hilfesuchende und nach Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Therapeutinnen und Therapeuten. Wer „das Netz” fragt, findet eine schier unüberschaubare Fülle an Empfehlungen (Klingler, 2023b), deren Art und Umfang an einen heftig umkämpften Markt denken lässt. Zahlreiche Behandlungsmethoden werden angeboten, mehr als 12 beispielsweise von „therapie.de”, dort von kognitiver Verhaltenstherapie bis zu den sogenannten kreativen Verfahren. Aber nicht alle Behandlungsmethoden, für die von diversen Ausbildungsvereinen ausgebildet wird, scheinen den Versicherungsträgern förderungswürdig. Für eine kassenfinanzierte Behandlung zugelassen sind in Deutschland nach „therapie.de” (01.03.25) Verhaltenstherapie, psychodynamische Psychotherapie, systemische Therapie und zur Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen, auch das EMDR („Eye Movement Desensitization and Reprocessing”). In Österreich darf bei einer sehr viel größeren Zahl von Behandlungsmethoden mit einer Kassenunterstützung gerechnet werden, gemäß „psychotherapie.at“ (01.03.25) für 24 verschiedene Behandlungsmethoden von Analytischer Psychologie bis Verhaltenstherapie. Die Vielfalt der Möglichkeiten darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Versorgung als zum Teil sehr mangelhaft einzustufen ist. In Deutschland wie in Österreich bestehen regional unterschiedliche Einschränkungen der Therapieplätze und Kostenzuschüsse, was bei Betroffenen zu erheblichen Wartezeiten und Behandlungskosten führen kann. Damit wäre nochmals wünschenswerter, dass eine Behandlung auch den gewünschten Erfolg bringt.

Aber wohin sollte man sich nun wenden, wenn man Hilfe sucht oder eine Aus- oder Weiterbildung für eine wirksame Behandlungsmethode? Auch von vielen Fachleuten ist die Forschung nicht mehr zu überblicken. Für zahlreiche Behandlungen werden „hochsignifikante“, „überzeugende“ oder zumindest „ermutigende“ Ergebnisse reklamiert. Doch hochwertige Studien, in denen die Effizienz unterschiedlicher Behandlungen verglichen wird, sind eher in der Minderzahl. Und viele Therapeutinnen und Therapeuten werden nicht überprüfen können oder wollen, ob irgendwelche Verfahren zu bevorzugen wären. Gelegentlich wird hinsichtlich der Psychotherapie auch vertreten, dass ohnehin alle Methoden gleich wirksam wären. Man müsse nur jene Therapeutin oder jenen Therapeuten finden, die zu einem passt, bei der die Beziehung stimmt. Einfach probieren? Ein solches Glücksspiel könnte lange dauern. Denn - unabhängig von der Art der Behandlung - die erste, die in Anspruch genommen wird, wird von Hilfesuchenden eher selten als nützlich beurteilt: von nur etwa 24 Prozent bei einer posttraumatischen Belastungsstörung (Stein et al., 2020) und etwa 31 Prozent bei einer Depression (Harris et al., 2020). So aber können Jahre verloren gehen, mit einer weiteren Demoralisierung, Chronifizierung und Verschlimmerung des Leidens. Manche, wenn sie das so lange durchhalten, können eine zufriedenstellende Hilfe erst bei der 10. Behandlungsstation bekommen (Harris et al., 2020). Auch die Berichte von Betroffenen in der Praxis belegen, dass nicht jede Behandlung zu einem akzeptablen Ergebnis führt. Die Frage, welche Methoden am ehesten zu Erfolgen führen und deshalb gegenüber anderen zu bevorzugen wären, hat damit durchaus eine Berechtigung. Ihre Beantwortung scheint aber gar nicht ganz einfach und mit einer Reihe von weiteren Problemen verknüpft. Ein kleiner Exkurs durch die Geschichte von Psychotraumatologie und Therapieforschung könnte damit durchaus von Nutzen sein.

1 Kleine Geschichte der Psychotraumatologie - Stationen einer Entwicklung

1.1 Vor den Weltkriegen - frühe Beschreibungen von Traumafolgen

Seit der Antike werden Schäden durch traumatische Belastungen beschrieben, mit quälenden Erinnerungen, Angstzuständen, Albträumen und Persönlichkeitsveränderungen (Croq & Croq, 2000), und das, bis in heutige Zeiten, häufig als Folge von Kriegen und Gewalt:

„... many have fallen into vain toils, terrible sicknesses (nosoi), and hard to heal madnesses (maniai). Thus the sight inscribes in the mind images of objects seen. And the terrifying images often remain ... (Gorgias im 5. Jahrhundert vor Christus nach Ustinova & Cardeña, 2014, S. 740).

Schon früh entstanden auch schon bemerkenswerte psychotherapeutische Ansätze. Eine systematische Auseinandersetzung mit seelischen Verwundungen hat allerdings erst ab dem 19. Jahrhundert begonnen. Es war in den Napoleonischen Kriegen, dass in den Armeen, beginnend in der französischen Armee, Militärärzte etabliert wurden, naturgemäß vornehmlich im Sinne einer Erhaltung und Förderung der Verwendbarkeit der Soldaten. Von französischen Militärärzten wurde dann ein sogenanntes „vent du boulet“-Syndrom beschrieben, ein Syndrom also, das etwas abschätzig mit dem Wind der Kanonenkugeln in Verbindung gebracht wurde. Und nicht viel später folgten Berichte von "Nostalgia", dem "Soldiers Heart" und dem "Railway Spine", Störungen, welche auch in der aktuellen Literatur immer wieder als frühe Beschreibungen posttraumatischer Syndrome dargestellt werden.

Mit der Bezeichnung Nostalgia war das bekannte Heimweh schon 1688 durch den Schweizer Dissertanten Hofer in die Medizin eingeführt worden. Nostalgia galt dann in der Schweiz und in Österreich, später vor allem aber in den Napoleonischen Kriegen und im Amerikanischen Bürgerkrieg, als eine gefährliche, schier epidemisch auftretende Krankheit, welche für zahlreiche Todesfälle verantwortlich gemacht wurde. Hinsichtlich der Todesfälle könnten dabei aber manchmal auch seelische und körperliche Ursachen etwas vermischt worden sein. Denn die Nostalgia war häufig als eine schwer fieberhafte Erkrankung beschrieben worden, zu Zeiten als die unter Kriegsbedingungen wohl besonders gefährlichen Erreger von Typhus, Cholera und anderen Infektionskrankheiten allgemein noch gar nicht bekannt waren. Und dass mit den seelischen Belastungen von Krieg und Heimweh eine verstärkte Anfälligkeit für Infekte gegeben ist, ebenso wie bei körperlichen Erkrankungen ein noch sehnlicherer Wunsch nach dem Zuhause, muss wohl als sehr naheliegend gelten (vergl. Klingler, 2019).

Ebenfalls bei Soldaten des Amerikanischen Bürgerkrieges wurde 1871 als eine Folge psychischer Belastung von Da Costa ein als "irritable heart" beziehungsweise als „soldiers heart" bezeichneter Symptomkomplex beschrieben, mit Herzschmerzen, Herzrasen, Müdigkeit, Erschöpfung, Schwindel und Atemnot. Hinsichtlich dieses Störungsbildes wäre aber zu beachten, dass schon von Da Costa selbst ein bevorzugtes Auftreten der Symptome nach schweren Belastungen im Felde oder nach fiebrigen Infektionen, Durchfällen oder Verwundungen angegeben wurde. Auch in späteren Studien wären bei mit „irritable heart“ Betroffenen häufig vorangegangene Infekte festgestellt worden (vergleiche Oglesby, 1987). Wieder scheint damit eine Beteiligung körperlicher Einflüsse nicht unwahrscheinlich, körperliche Einflüsse, die ihre Wirkung natürlich umso eher bei seelisch belasteten Soldaten entfalten konnten.

Schon 1866 war durch den Chirurgen Erichsen eine als „railway spine" bezeichnete Störung beschrieben worden, die sich bei Opfern von Eisenbahnunfällen nach einer gewissen Latenzzeit durch Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, zahlreiche vegetative Störungen, aber auch durch Gedächtnis- und Denkstörungen und Störungen der Sinnesorgane ausgezeichnet habe. Auch ein ängstliches, verhärmtes Aussehen, Verstimmungen, Gedankenverwirrung, Schlafstörungen und schlechte Träume wären Merkmale der Störung gewesen. Manche der angeführten Symptome erinnern an jene eines Schleudertraumas oder eines postkontusionellen Syndroms. Von Erichsen wurde die Störung zunächst auf die Erschütterung des Rückenmarkes zurückgeführt, bald aber das Erleben von Angst und Schrecken als entscheidend hervorgehoben (nach Fischer-Homberger, 1970 und 1971b).

Besondere Aufmerksamkeit hatte das „railway spine" durch die Einführung von Schadenersatzverpflichtungen in England und später auch in Deutschland erfahren. Dass Schadenersatz-Forderungen auch für objektiv nur schwer belegbare Traumafolgen geltend gemacht werden könnten, hatte bei Bahngesellschaften und Versicherungen für einige Verunsicherung gesorgt. In der Folge wurde viel Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit der Simulation und eine wenig erfolgreiche Suche nach objektivierbaren körperlichen Traumaschäden gerichtet (vergl. Fischer-Homberger, 1970 und 1971b). Nicht verwunderlich auch, dass es gerade ein Eisenbahnarzt war (Rigler, 1879), der die möglichen Schädigungen abgeschwächt und von der Entlarvung von zahlreichen Simulanten berichtet hat.

Auch schon im 19. Jahrhundert wurde im medizinischen Kontext immer häufiger für seelische Verwundungen die Bezeichnung „Trauma“ verwendet. Mit Bezug auf Unfälle war 1889 von Oppenheim der vermutlich erste Gebrauch des Begriffs „traumatische Neurose" erfolgt. Er hatte bei den Opfern von Eisenbahn- und Arbeitsunfällen Desorientierung, Aphasie, Unfähigkeit zu stehen und verschiedene Schüttelzustände sowie Schlafstörungen festgestellt, für die er annahm, dass sie auf nicht sichtbare und behandelbare mikroskopische Veränderungen des Zentralnervensystems zurückzuführen wären, für die aber ähnlich wie schon bei Erichsen letztlich der Schreck als eine Erschütterung des Gemüts die Hauptrolle spiele (nach Lerner, 1997; Seidler, 2009).

Hinsichtlich der gegen Ende des 19. Jahrhunderts so beliebt gewordenen Diagnose der Hysterie wurden nun traumatisierende Ereignisse als entscheidend angesehen. Die Hysterie (von altgriechisch ὑστέρα, Gebärmutter) wurde als spezifisch weiblich beschrieben und als gekennzeichnet durch eine besondere emotionale Labilität. Zu den hysterischen Symptomen wurden als psychosomatisch beurteilte Störungen wie etwa Erbrechen, Migräne, Herzanfälle, Sinnes-, Empfindungs- und Bewegungsstörungen gezählt, aber auch solche Störungen des Bewusstseins und des Gedächtnisses, die eine Abspaltung von der bewussten Wahrnehmung und Kontrolle darstellen, sogenannte dissoziative Symptome. Von Charcot (1887) wurde vermutet, dass ein nervöser Schock durch einen hypnoiden Zustand der Autosuggestion in hysterische Attacken zum Schutz vor unerträglichen Erfahrungen und Erinnerungen führe (nach Fischer-Homberger, 1971a).

Auch für den Charcot-Schüler Janet (1889) sei die Entwicklung von dissoziativen Störungen die Intensität der erlebten Emotionen ausschlaggebend gewesen. Dies, weil durch die Gefühlsintensität eine Integration in ein narratives (chronologisch berichtendes) Gedächtnis verhindert und eine Phobie betreffend die Erinnerung aufrechterhalten werde (nach Fischer-Homberger, 1999; van der Kolk, 2007).

Von Freud, einem anderen Charcot-Schüler, wurden zunächst sexuelle Kindheitstraumata als bestimmend für die Ausbildung von hysterischen Symptomen angesehen. Er hatte auf Grundlage von Berichten von Kinderärzten und seiner eigenen Patientinnen die Vermutung geäußert, dass ein sexueller Missbrauch und damit sexuelle Traumatisierungen von Kindern sehr viel häufiger stattfänden als bekannt werde. So wären bei allen 18 von ihm behandelten Fällen von Hysterie sexuelle Traumatisierungen aufzudecken gewesen (Freud, 1896, S. 443ff).

1904 war von Kraepelin die „Schreckneurose" in seine einflussreiche Klassifikation und Beschreibung seelischer Störungen aufgenommen worden. Angeführt hat er die folgenden Merkmale dieser Störung (S. 721ff):

1) ihr Auftreten infolge von heftigen Gemütserschütterungen, plötzlichem Schreck, großer Angst im Rahmen eines Unfalles oder Katastrophenereignisses,

2) ein schleichender Beginn über Wochen oder Monate,

3) Traurigkeit, Ängste, die sich zu heftigen Ausbrüchen steigern können,

4) geringe Anteilnahme an der Umwelt, aber Beschäftigung mit quälenden Vorstellungen mit dem Geschehenen und dessen Folgen,

5) Angstträume, somatische Beschwerden, sensorische und motorische Störungen,

6) Erschöpfung und verminderte Leistungsfähigkeit.

Hinsichtlich der Hysterie aber wurde von Freud schon bald (1906) die Bedeutung tatsächlicher Traumata relativiert. Er habe die Erinnerungstäuschungen und Phantasien „der Hysterischen" nicht richtig erkannt und damit die Häufigkeit sexueller Traumatisierungen überschätzt (Freud, 1906, S. 229).

Eher ihre Traumatisierungen geglaubt hat dann Stierlin (1911) den Überlebenden von Erdbeben-, Bergwerks- und Eisenbahnkatastrophen. „Der heftige Schreck, teils in Verbindung mit körperlichen und anderen seelischen Insulten“, habe die folgenden Störungen verursacht:

1) Akute und chronisch verlaufende „Schreckpsychosen vom Charakter hysterischer oder epileptischer Dämmerzustände“.

2) Bei einer größeren Anzahl der Überlebenden in der ersten Zeit nach der Katastrophe ein „nervöser, vorwiegend vasomotorischer Symptomenkomplex“ mit Schlafstörungen und weiteren vegetativen Störungen. Diese Störungen, bei der die Stimmung der Betroffenen auffallend gut gewesen sei, wären zumeist restlos abgeklungen.

3) Nur bei einzelnen hätten sich daraus eigentliche Neurosen entwickelt. Und als eine für Katastrophen mehr oder weniger typische Neurosenform habe Stierlin die Angstneurose ausgemacht („nicht im Sinne Freuds“). Im Zentrum dieses anhaltenden Krankheitsbildes der traumatischen Neurosen würde „der Erinnerungsaffekt der Katastrophe“ stehen. Unter den acht Fällen solcher Neurosen nach einem Bahnunfall wären allerdings auch „zwei leichtere Unfallsneurosen mit Präokkupation durch Entschädigungsangelegenheiten (♀)“ festzustellen gewesen (S. 2035).

Eine Präokkupation durch Entschädigungsangelegenheiten war zu diesen Zeiten offenbar auch bei zahlreichen Psychiatern gegeben. Unter anderem wurde vorgeschlagen, anstatt von Unfallneurosen oder traumatischen Neurosen von hysterischen und neurasthenischen Zuständen nach Trauma mit einer sogenannten „Rentenhysterie“ zu sprechen (Rosenfeld, 1911). „Rentenhysterie“ und „Begehrungsvorstellungen“ wurden als Hauptursachen der traumatischen Neurose gesehen:

„Sicher hat es vor der Unfallgesetzgebung unanzweifelbare traumatische Neurosen gegeben; aber ihre auffallende Anhäufung seitdem, die verhältnismäßig schlechte Prognose derjenigen Fälle, die sich in einem Rentenverhältnisse befinden, und die relativ gute derjenigen, wo es sich um keine Rente, dagegen um Erhaltung von Karriere und Amt (Reiteroffiziere ...) handelt, weisen doch darauf hin, daß die Gewährung der Rente in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Erkrankung und ihrem Verlaufe steht ... Es handelt sich bei den traumatischen Neurosen um Krankheiten, bei denen Trauma, krankhafte psychische Veränderung und der Kampf um die Rente in einem gewissen … Zusammenhang miteinander stehen. Jedenfalls kann unter Umständen die Gewährung der Rente die Prognose erheblich verschlechtern, da durch sie der Antrieb zur Arbeit und damit zur Wiederherstellung der Psyche in Fortfall kommt“ (Ewald, 1914, S. 360).

Wie abzielend auf zukünftige Entschädigungsfragen wurde für die Entstehung und den Verlauf der Schreckneurose dann auch eine Disposition betont:

„Die Schreckneurose erfordert an sich keine besondere Disposition, doch besteht praktisch die grosse Mehrzahl der Schreckneurotiker aus schon vorher kranken, zum mindesten stark disponierten Individuen. Ausschlaggebend für den weiteren Verlauf der Schreckneurose ist einerseits die spezifische Disposition des Individuums, andererseits die Gestaltung der Entschädigungsfrage“ (Horn, 1915, S. 333).

Vielleicht fanden manche Ideen auch Nahrung durch Erfahrungen aus dem russischjapanischen Krieg (1904/1905), aus dem von einer großen Zahl an psychiatrisch bedingten Ausfällen und Entlassungen berichtet wurde. Nach Croq und Croq (2000) wären diese Kriegserfahrungen auch Anlass gewesen, den Begriff der Kriegsneurose zu prägen. Nicht unbedeutend für die weiteren diagnostischen und therapeutischen Entwicklungen der Psychotraumatologie war diese dann in der Folge durch Jahrzehnte vornehmlich mit Kriegstraumatisierungen befasst.

1.2 Die Weltkriege und der Kampf gegen Simulanten und Psychopathen

1.2.1 Erster Weltkrieg

Noch nie zuvor in der Geschichte war ein so massenhaftes Auftreten von psychischen Belastungsreaktionen berichtet worden wie in Folge des Ersten Weltkriegs. Zahlreiche Soldaten der deutschen und der allierten Streitkräfte wurden mit der Diagnose eines Da Costa's Syndroms („irritable heart") entlassen (Oglesby, 1987). Vom britischen Militärarzt Myers (1915) wurde der Begriff „shell-shock" geprägt. Er hatte bei einer großen Zahl von Soldaten, die ohne äußere Verletzungen Granatexplosionen überlebt hatten, sensorische und neurologische Symptome festgestellt - Störungen des Sehens, des Gehörs, des Geruchs- und Geschmackssinnes sowie der Erinnerung und vor allem des Schlafes. Noch häufiger aber wurden psychogene Bewegungsstörungen berichtet, mit Zittern, Krämpfen, Lähmungen - die „Kriegszitterer“ (https://www.youtube.com/watch?v=fE-CLofucRI, 05.01.22).

In den Lazaretten wurden die Belastungsreaktionen zumeist unter den Diagnosen „Hysterie“, „Neurasthenie“, „Neurose“, „Granatschock“ und „nervöses Leiden“ dokumentiert (Rauh & Prüll, 2015). Die Diagnose der („weiblichen“) Hysterie ist entsprechend dem damaligen Verständnis für Soldaten sehr abwertend gewesen. Die Neurasthenie als eine Störung wurde eher den Offizieren zugestanden über welche berichtet wurde, dass

„die dann fast stets das gleiche Bild eines nervösen Erschöpfungszustandes boten: allgemeine Energielosigkeit, Mangel an Dispositions- und Entschlußfähigkeit, Gefühl völligen körperlichen Zusammenbruchs und besonders eine starke Neigung zum Tränenvergießen, derart, daß oftmals selbst herkulisch gebaute Offiziere, die zahlreiche Gefechte ohne Wimpernzucken mitgemacht hatten, wie Kinder weinten“ (Birnbaum, 1915, S. 333).

Als eine eher kurzfristige, eventuell nur passagere Störung wurde von Kleist 1918 die schon von Stierlin (1911) berichtete sogenannte „Schreckpsychose“ eingehender untersucht. Diese sei gekennzeichnet durch erregte, läppische oder heitere Dämmerzustände, ängstliche Verwirrung (Delirien), Halluzinose, apathisch, ängstlich oder heiter erstarrte (stuporöse) Zustände, oft begleitet oder gefolgt von „körperlich-hysterischen Zeichen“. Dass diese Störung wenig Beachtung gefunden hat, liege nach Kleist an ihrem eher vorübergehenden Charakter, weshalb sie dann in den Heimatlazaretten kaum mehr beobachtbar gewesen sei. Als ein Fall einer Schreckpsychose in Form eines „ängstlichen Deliriums“ wurde der folgende beschrieben:

Fallbericht „Fall 7“ nach Kleist (1918, S. 444f):

„Fall 7. Inf. Unteroffizier Karl A. Beruf: Kaufmann. Geb. 11.6.91.

13.3.15 Aufgenommen ins Kriegslazarett in erregtem Zustande, Zittern am ganzen Körper, aufgeregte Ausrufe: „Hallunken, mein Gewehr. Alles haben sie mir genommen, alle Kameraden gefallen.“ Wälzt sich mit ängstlichen Gebärden hin und her. Nicht fixierbar. Gibt keine Antwort, folgt keiner Aufforderung, durch Zuspruch nur vorübergehend zu beruhigen, drängt nach Tür und Fenster, äußerst schreckhaft.

15.3. Unverändert, erregt, zitternd, ängstlich. Halluziniert Kriegserlebnisse.

17.3. Ruhiger, nur bei der ärztlichen Untersuchung zitternd und stöhnend. Orientiert sich in Zeit und Ort. Erinnerungsverlust für die letzten Tage. Kann keine Ursache für den Ausbruch der psychischen Störungen angeben. Allmählich sei ihm das Sterben der Kameraden zu nahe gegangen.

24.3. Psychisch frei. Erinnert sich jetzt eines Sturmangriffs der Engländer am 11.3., vorher 2 Tage ununterbrochenes Trommelfeuer. Beim Sturm drangen die Engländer in den Graben, die Grabenbesatzung ging zurück, wurde beim Rückzug von Granaten überschüttet, links und rechts fielen die Kameraden, dann wurde A. bewusstlos.

Klare Angaben über sein früheres Leben, war ein guter Schüler, während eines kaufmännischen Ausbildungskursus Überarbeitung mit Weinkrämpfen. 1910-11 aktiv gedient, später als Kaufmann viel gereist (Belgien, Frankreich, Holland, Orient). Am 2. August 1914 ins Feld, seit Weihnachten spürte er, daß ihn alles aufregte, Zittern am ganzen Körper, Kopfschmerzen. Anfang März 8 Tage Schonung, dann 2 Tage im Graben, darauf 4 Tage Ruhe. Am 4. Tag im Quartier alarmiert, das übrige wird wie früher angegeben. Über die Erlebnisse im Dämmerzustand macht A. genaue Angaben: er sah Engländer in schrecklicher Gespenstergestalt, grinsende Gerippe u. ä.

31.3. Mit Lazarettzug zurückbefördert in ein Heimatlazarett.

8.4. Aufnahme im Vereinslazarett B. Zuckungen am ganzen Körper, Aufgeregtheit, scheues Wesen. Am folgenden Tag nach einem Gewitter Dämmerzustand mit schwerer Erregung, glaubt sich in die Schlacht versetzt, sucht zu entfliehen, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. Nach 2 Stunden Beruhigung unter Hinterlassung von Amnesie.

28.4. Die Zuckungen bestehen weiter. Nach einem Tadel bekommt A. einen ähnlichen Erregungszustand wie am 9.4., ebenso am 13.5. gelegentlich einer Theatervorstellung, als hinter der Bühne Infanteriefeuer markiert wird.

Am 15.7. ein hysterischer Anfall mit tobsüchtiger Erregung nach Zurechtweisung durch den Arzt. A. ist dauernd sehr reizbar, schläft schlecht, im Halbschlaf Träume von Kriegserlebnissen, in denen er zeitweise erregt wird, das Zittern betrifft späterhin hauptsächlich den rechten Arm. In diesem Zustand am 29.10. kr. u. entlassen.

Nach schriftlicher Mitteilung des A. vom 21. Sept. 1917 übt er seine Berufstätigkeit wieder aus, doch habe er Tage, an denen er äußerst schwermütig sei, über Herzschmerzen klage, weine und zittere, doch habe sich alles sehr gebessert“.

Die Formen der Belastungsreaktionen waren sehr vielfältig. Ihnen gemeinsam war jedoch, dass sie Verwendbarkeit und Einsatzfähigkeit der Soldaten massiv verminderten. Das kam den Kriegsherren naturgemäß ungelegen. In Deutschland haben Psychiater ihre Fachkollegen aufgerufen, ihre Arbeit in den Dienst von Krieg und Vaterland zu stellen (vergleiche Brunner, 2000). Aber das war vermutlich bei allen Kriegsparteien ähnlich.

Die Folgen der Kriegsbelastungen wurden häufig als zweckgerichtete hysterische Symptome interpretiert. Oft wurde den Geschädigten ein mangelnder Wille unterstellt, zunehmend wurde von bewusster Simulation ausgegangen. Und natürlich wurde bei Betroffenen dann auch das Vorbestehen einer psychopathischen Konstitution angenommen (vergl. Fischer-Homberger, 1971a und b; Lerner, 1997; Brunner, 2000).

Gewiss war für manche Ärzte und Offiziere auch unverständlich, dass

a) vergleichbare Belastungen bei verschiedenen Personen zu ganz unterschiedlichen Reaktionen geführt haben,

b) Symptome oft auch schon nach äußerlich geringfügigen Belastungen und noch vor dem Einsatz an der Front zu beobachten waren,

c) Soldaten mit schweren körperlichen Verletzungen und Kriegsgefangene oft geringere Belastungsreaktionen gezeigt haben als solche, denen ein weiterer Kampfeinsatz gedroht hat.

Oft zielten die Behandlungsmethoden darauf ab, die Betroffenen zu bestrafen, abzuschrecken, beziehungsweise zurück an die Front zu zwingen. Dabei wurde von den Ärzten eine bemerkenswerte Kreativität entwickelt, beflügelt vielleicht durch Patriotismus, vielleicht aber auch durch die Sorge um das eigene Schicksal oder die Karriere.

Nach Nonne, der übrigens ebenfalls einige Wochen bei Charcot studiert hatte, müsse der Wille der Betroffenen gestärkt werden. Das ließe sich durch Hypnose erreichen. Damit habe er eine Vielzahl an Kriegsneurotikern erfolgreich behandelt, was er auch filmisch hat dokumentieren lassen (Nonne, 1917). Nach anderen Quellen habe Nonne empfohlen, die Betroffenen sich zur Behandlung nackt ausziehen zu lassen; das erhöhe das Gefühl des Ausgeliefertseins. Und wenn die Hypnose nicht ausreiche, dann solle der Wille durch schmerzhafte Elektroschocks unterstützt werden (nach Brunner, 2000).

Bekanntheit und Verbreitung hat auch die vom österreichischen Neurologen Kaufmann als "Überrumpelungsmethode" eingeführte Behandlung mit von Suggestionen begleiteten Elektroschocks gefunden. Sie „zwingt auch den Kranken, der nicht zur Heilung inkliniert, so gut wie immer in die Gesundheit hinein; denn der gewaltige Schmerzeindruck verdrängt alle negativen Begehrungsvorstellungen". In der Regel sei dadurch schon nach einer Sitzung eine „Heilung" zu erreichen gewesen. Kaufmann verwies auf zahlreiche Behandlungserfolge, allerdings musste er einräumen, dass sich die so Behandelten nicht mehr für einen Einsatz als Feldsoldaten eigneten (Kaufmann, 1916). Von anderen Militärärzten habe es Empfehlungen betreffend Zwangsexerzieren, Isolationshaft, Scheinoperationen und kalte Dauerbäder gegeben (Brunner, 2000).

Beginnend 1916 war Kritik gegen überharte Behandlungsmethoden geäußert worden. Diese sei auch im Reichstag und im Bayrischen Landtag diskutiert worden. Es habe auch der Eindruck bestanden, dass manche Ärzte ihre Behandlungen nach wirtschaftlichen Überlegungen gestalten, um die Kosten von Kriegspensionen einzudämmen. Ab 1917 wurde die Anwendung milderer Methoden behauptet, mit Erfolgen, die schier märchenhaft anmuten:

„Bemerkenswert ist ... vor allem die stärkere Betonung der milden Behandlungsweisen ... Für milde Wachsuggestivbehandlung tritt vor allem Oehmen ein, der an 100% hysterische Störungen (Reflexlähmungen aber nicht!) durch sie beseitigte. Ähnlich Schüller, der 99%, auch die ältesten und verschlepptesten Fälle, rasch, einfach und sicher innerhalb weniger Minuten heilte ... Ollendorf verwendete eine ähnliche Behandlung mit anschließenden planmäßigen Bewegungsübungen, und auch Mann betont den Wert dieser milden Suggestionsbehandlung. Von diesen milden Einzelsuggestiveinwirkungen ist dann schließlich nur noch ein Schritt zu den allgemeinen suggestiven Milieueinflüssen, wie denn auch Hirschfeld mit suggestiv wirkenden Demonstrationen besonderen Wert auf die Heilatmosphäre legt, die nach Kehrer den Charakter „gereinigter Kasernenluft und Lourdesstimmung“ haben muss. Kehrer empfiehlt als milde Behandlung die Kombination von Hypnose mit gelinder Gewaltexerzierkur, Kretschmer Dunkelzimmerbehandlung mit gelegentlichen suggestiven Bemerkungen. Kaufmann legt bei seiner Intensivbehandlung jetzt das Schwergewicht auf die militärische Willensüberwältigung durch kommandierte Übungen, und Nonne hat die Kaufmannsche Methode umgewandelt zu einer Persuasionsmethode mit Zuhilfenahme kurzdauernder elektrischer Reize (über 80% Heilungen). Forster legt entsprechend seiner Auffassung von dem simulatorischen Charakter der hysterischen Reaktionen den Hauptwert auf die erzieherische Beeinflussung durch Aufklärung über die schlechte Angewohnheit und energische Mahnung, die Täuschungsversuche zu unterlassen. Daß therapeutische Starkströme, insbesondere Sinusströme wegen ihres eventuell tödlichen Einflusses auf das Herz ... prinzipiell jetzt abgelehnt werden, sei in diesem Zusammenhange schließlich auch noch erwähnt“ (Birnbaum, 1917, S. 37f).

Eine Analyse von Lazarettdaten zeigt, dass die teilweise so eifrig befürworteten harten Methoden wahrscheinlich nicht immer die Standardbehandlung dargestellt haben. Bei 352 Fällen mit einer Diagnose, die einer Kriegsneurose zuzuordnen war, wären nur bei 24 Prozent die propagierten Suggestiv- und Elektrobehandlungen zur Anwendung gekommen. Im überwiegenden Ausmaß sei den Soldaten Ruhe, kräftigende Kost, Brom und Baldrian verschrieben worden und die mittlere Verweildauer im Lazarett habe etwa 2 Monate betragen. Nur 22 Prozent hätten direkt an die Front zurückkehren müssen, 15 Prozent wären als dienstunbrauchbar entlassen worden (Rauh & Prüll, 2015). Von den psychiatrischen Krankenhäusern des Hinterlandes mussten vermutlich noch weniger zurück an die Front. Bei einer Stichprobe von 100 an der psychiatrischen Abteilung der Berliner Charité behandelten Soldaten sind nur sechs zurück an die Front entlassen worden. 33 wurden als untauglich für jeden weiteren militärischen Dienst beurteilt, nur sieben allerdings mit einem Pensionsanspruch (Linden et al., 2012). Denn noch vor dem Kriegsende wandten sich namhafte Psychiater auch schon dem Kampf an der nächsten Front zu, an der es wieder um „Begehrungs- und Entschädigungsangelegenheiten“ gehen sollte: Nach Lerner (1997) sei für die Zeit nach dem Krieg eindringlich vor den „Rentenhysterikern“ und einer Epidemie von zu versorgenden Kriegsneurosen gewarnt worden.

Auch bei den britischen Streitkräften sind psychische Störungen durch Elektroschocks, aber auch durch „Diät“ und harte Arbeit behandelt worden (Bogacz, 1989; Jones & Wessely, 2003), in welchem Ausmaß ist allerdings nicht bekannt. Der Kampf gegen Kriegsschädigungen sei auch bei anderen Streitkräften zu einem Kampf gegen die Simulation verkommen (van der Kolk, 2007).

Aber es gab auch andere Ansätze. Es war der einflussreiche amerikanische Militärpsychiater Salmon (1917), der eingeräumt hat, dass es neben den sogenannten konstitutionellen Neurotikern, bei denen die psychische Erkrankung als eine Fluchtmöglichkeit genutzt werde, auch ursprünglich Gesunde gebe, die eine Kriegsneurose lediglich angesichts der schrecklichen Kriegserfahrungen entwickelt haben. Warnend hat Salmon auch auf Suizide verwiesen, welche bei „hysterics“ erfolgt wären, die man zu Unrecht der Simulation bezichtigt habe (S. 43).

Auf Grundlage der vorhandenen Erfahrungen, nach denen sich durch eine Behandlung in frontnahen militärischen Einrichtungen eher eine Rückkehr in den Einsatz erreichen habe lassen als bei einer Repatriierung und Behandlung in der Heimat, wurde bei den amerikanischen Streitkräften eine möglichst kurzfristige und einsatznahe Behandlung angestrebt. Im Rahmen einer solchen „forward"-Behandlung sollte eine konsequente Vermeidung von Krankheitsetiketten erfolgen und eine baldige Erholung mit Aussicht auf eine Rückkehr zu den Kameraden suggeriert werden. Als Inhalte der Behandlung wurden Beschäftigung, Arbeit, Psychoedukation, Suggestion und Hypnose angeführt. Hinsichtlich militärischer Zielsetzungen muten die so angestrebten Erfolge allerdings auch hier eher bescheiden an: Nur knapp 21 Prozent der Behandelten hätten wieder zurück an die Front entlassen werden können (Jones, 1995).

Emotionalen Reaktionen im engeren Sinne - etwa Angst, Furcht, Entsetzen – ist zu Zeiten des Ersten Weltkrieges allgemein weniger Aufmerksamkeit gewidmet worden als den damit verbundenen körperlichen Reaktionen. Das ist im Grunde wenig überraschend. Einerseits werden diese Gefühle auch von den Betroffenen nur selten an- oder ausgesprochen worden sein. Denn noch viel mehr als heute galten solche Zustände als unmännlich und unsoldatisch, und für Feigheit vor dem Feind drohte ja grundsätzlich auch die Todesstrafe. Und andererseits waren ja nach ihrem Verständnis von Naturwissenschaft auch die meisten Ärzte dieser Zeit viel mehr auf die Identifikation der körperlichen Ursachen und Erscheinungsformen von Krankheiten aus als auf die Erforschung der oft schwerer fassbaren und diffusen Gefühle.

Durch den britischen Arzt William Halse Rivers hingegen (1917) erfolgte aber eine bemerkenswerte Beschreibung der Belastungsreaktionen der Soldaten als Angstneurose, welche schon stark den späteren Beschreibungen der posttraumatischen Belastungsstörung entspricht. Es käme zu quälend wiederkehrenden Erinnerungen, Albträumen, Schlafstörungen und Angstzuständen, aber auch zu schweren depressiven und dissoziativen Zuständen. Als das wesentliche Bestimmungsstück der Störung werden die bewussten und unbewussten Bemühungen der Betroffenen beschrieben, die belastenden Erinnerungen zu unterdrücken beziehungsweise zu vermeiden, ähnlich der schon von Janet (1889) beschriebenen Phobie vor den Erinnerungen. Rivers (1918) sah in der Unterdrückung belastender Erinnerungen bei den Soldaten ein Sicherheitsrisiko. Weil es bei entsprechenden Auslösern im Gefecht zu deren unkontrollierten Reaktivierung und einem Zusammenbruch des Betroffenen kommen könne. Entsprechend wandte er sich gegen die damals gängige Empfehlung, Betroffene von den Erinnerungen an die belastenden Ereignisse fernzuhalten. Und hat im Gegensatz dazu ermutigt, über die Erfahrungen zu sprechen. In einem Fallbericht zeigt er, wie eine befreiende Umdeutung eines schrecklichen Erlebnisses gerade dadurch ermöglicht wurde, dass darüber auch gesprochen wurde.

Fallbericht „Der Offizier“ nach Rivers (1918), frei übersetzt durch den Autor:

Der betroffene Offizier war durch eine Granatexplosion verschüttet gewesen. Trotz Kopfschmerzen, Erbrechen und einer nicht weiter beschriebenen Störung der Ausscheidung hatte er weiter durch zwei Monate seinen Dienst verrichtet. Dann war es zu einem Zusammenbruch gekommen, nachdem er im Felde einen Offizierskameraden gesucht hatte und dessen Körper in Stücke zerrissen vorgefunden hatte, Kopf und Gliedmaßen vom Rumpf getrennt.

Von da an sei er nachts durch Bilder von seinem toten und verstümmelten Freund gequält worden. Im Schlaf habe er Albträume gehabt, in denen ihm sein Freund erschien, manchmal habe er ihn zerfleischt im Felde gesehen, manchmal seine Glieder von Lepra zerfressen. Dabei sei der verstümmelte oder lepröse Offizier seiner Träume immer näher und näher gekommen, bis er selbst zitternd und schweißgebadet erwacht sei. Er habe es gescheut, schlafen zu gehen, habe jeden Tag mit ängstlicher Erwartung der Nacht verbracht. Man hatte ihm geraten, alle Gedanken an den Krieg aus seinem Bewusstsein zu verbannen, aber seine Erfahrungen, die sich nächtens so oft wiederholten, waren so nachdrücklich, dass er sie nicht aus seinem Denken bringen konnte, so sehr er sich auch darum bemühte. Und je mehr er sich um eine Verbannung seiner Erinnerungen bemühte, umso stärker und furchterregender kamen diese im Schlaf zurück.