Selbstverständlich schwul - Manuel Sandrino - E-Book

Selbstverständlich schwul E-Book

Manuel Sandrino

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Beschreibung

Timmy wird an seinem 20. Geburtstag von einem Freund in ein Geheimnis eingeweiht, das mit einer Schule in San Francisco zu tun hat, deren Motto Selbstverständlich schwul! lautet. 'Timmy, wenn du wissen willst, wer du wirklich bist, und wenn du Freunde fürs Leben suchst - dann musst du da hin!' Kaum in Kalifornien, erkennt Timmy, dass seine Hemmungen in Wahrheit die Angst vor seinen eigenen Stärken ist. Mutig sucht er seinen Weg und entdeckt dabei das Geheimnis der Erotik und der Liebe. Er stolpert stetig vorwärts in immer verrücktere und peinlichere Gelegenheiten zu wachsen und Antworten zu finden. Undenkliches wird selbstverständlich, und bisher Selbstverständliches wird hinterfragt. Timmy wird zu einem abenteuerlustigen schwulen Mann. In der zweiten Woche nimmt seine Schule an einer Gay Olympiade teil. Alle anderen Teams treten in schrillen Kostümen an. Inspiriert aus dem Unterricht über die Antike und aus Mangel an eigenen Trikots tritt sein Team nackt, wie die alten Griechen, zu den Wettkämpfen an. Seine Schamlosigkeit macht Timmy unfreiwillig zum Symbol einer neuen Bewegung. Er kommt in die Schlagzeilen und wird Spielball der Manipulationen eines sensationshungrigen Journalisten. Selbst im liberalen San Francisco erhebt sich das konservative Amerika mit seiner Prüderie und Doppelmoral. Jetzt fangen die Probleme erst so richtig an. Von der Presse gejagt, muss sich Timmy entscheiden, ob er ein Außenseiter oder ein Anführer sein will. Es kommt zu Protesten, Anschlägen und einer Entführung. Um seine Freunde zu schützen und für seine Freiheit zu kämpfen, muss er seine schlimmste Angst konfrontieren: jetzt geht es plötzlich um Leben und Tod. Ein überraschendes Buch mit verblüffenden Wendungen und tiefen Einsichten über das Leben. Spritzig, frech und temporeich geschrieben, garantiert es Spannung bis zur letzten Seite. Lehnen Sie sich zurück und genießen Sie die Reise eines Helden, der nackt sich selbst und der Welt begegnet.

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Manuel Sandrino

Selbstverständlich schwul!

Von Manuel Sandrino bisher erschienen:

 

„Apollon und Mercury – Wahre Träume leben“ ISBN print: 9783863613792

„Apollon und Mercury – Einer muss sterben“ ISBN print: 9783863613853

„Nackte Geheimnisse“

ISBN print: 9783863614829

„Was der Wind nicht verwehen kann“

ISBN print: 9783863615451 ( April 2015)

 

Alle auch als E-book

 

 

Himmelstürmer Verlag, part of Production House, Hamburg

www.himmelstuermer.de

E-Mail:[email protected], Herbst 2008

Überarbeitete Neuauflage, Frühjahr 2016

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage

 

Coverfoto: ©iStockphoto.com

Golden Gate: ©Fotolia.com

Merkur: ©iStockphoto.com

 

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

Nach einer Idee von Manuel Sandrino

 

ISBN print 978-3-86361-524-6

ISBN e-pub 978-3-86361-525-3

ISBN pdf 978-3-86361-526-0

Für alle, die mehr Freiheit, Weisheit und Liebe in ihrem Leben zulassen und weitergeben.

Vorwort

Was bin ich? Wer bin ich?Warum bin ich so wie ich bin?

 

Diese drei Fragen bilden das zentrale Thema des Buches. Die Reise meines Romanhelden geht viel weiter, als nur über den Ozean in die neue Welt. Jeder Aufbruch zu Neuem beginnt damit, Altes loszulassen. Angst und Zweifel sind nur zwei Bremsen, die jeden nächsten Schritt verzögern oder gar verhindern. Beides muss Timmy immer wieder überwinden.

Aesop, ein griechischer Dichter aus der Antike (600 v.Chr.), erzählte einmal folgende Fabel Der Kranich und der Pfau:Ein Kranich begegnet einem Pfau, der sofort sein prächtiges Rad schlägt und vor dem Kranich rumstolziert: ‚Schau, wie meine Federn das Sonnenlicht reflektieren. Ich bin der Sonne und dem Licht so nahe!’ Der Kranich antwortete nicht, sondern öffnete seine Flügel und hebt ab, seinem Flug der Sonne entgegen: ‚Folg mir, wenn du kannst!’

Jeder Mann und jede Frau ist bewusst oder unbewusst auf einer individuellen Suche nach dem Sinn des Lebens. Es gibt aber nicht nur den Kranich und den Pfau, sondern auch Täubchen, Raben, Adler, Papageien, Spatzen und Hühner, um nur einige zu nennen. Was ist der Sinn des Lebens wert, wenn man ihn nicht selbst sucht, findet und lebt? Timmy bleibt gar keine Wahl, der muss sich stellen; sich selbst und all den Ängsten, die sehr real in dunklen Seitenstraßen lauern.

Selbstverständlich schwul! steht deshalb auch für die Selbstverständlichkeit den tieferen Sinn im eigenen Leben zu finden und umzusetzen. Die Suche nach Liebe, Freiheit und Weisheit geht und ging schon immer über religiöse Vorurteile und Moral hinaus.

1. Woche:  Selbstverständlich schwul!

 

„Nur wer wahrlich nackt der Welt begegnet, erkennt sich selbst in anderen.“

 

Tragisch verklemmt

Ich wusste schon immer, dass sich mit meinem zwanzigsten Geburtstag mein Leben für immer verändern würde – wie sehr, das ahnte ich natürlich nicht!

Dann kam endlich der große Tag. Meine Eltern schenken mir einen Gutschein für einen Auslandsaufenthalt. Natürlich hoffen sie, ich löse ihn ein, um damit meine Oma in Sydney zu besuchen, denn ich wollte schon lange nach Australien.

Doch es kommt ganz anders.

Sepp, ein Freund aus Bern, besucht mich am Nachmittag. „Timmy, mein Geburtstagsgeschenk wird dein Leben für immer verändern! Aber niemand darf davon wissen.“ Sepp streckt seinen Kopf aus meinem Zimmer in den Flur hinaus, um sich zu versichern, dass uns niemand belauschen kann, schließt danach die Tür, dreht den Schlüssel und legt mir seine Hände auf die Schultern. Er starrt mir in die Augen, als ob er mich hypnotisieren wollte. „Timmy“, flüstert er verschwörerisch, „es gibt da eine spezielle Schule in San Francisco.“ Verwegen stellt er sich auf seine Zehenspitzen, da ich einiges grösser als er bin, und flüstert mir ins Ohr: „Tagsüber kann man dort seinen Master in Englisch machen, doch abends …“ Sepp bricht ab und lauscht abermals, ob jemand draußen vor der Türe steht. Als er sicher ist, dass wir noch immer alleine sind, fügt er sehr leise an: „Abends läuft dort ein ganz anderes Programm.“

Ich rümpfe meine Nase. „Und wenn schon!“, brummle ich und wende mich ab. Sepp war letztes Jahr an dieser Schule in San Francisco, doch in all den Monaten, seit er von dieser mysteriösen Schule zurück ist, hat er nicht einmal mehr verraten, als dass er dort seinen Master in Englisch gemacht hat. „Was soll ich an einer Sprachschule? Ich beherrsche die Muttersprache meines Vaters fließend. Schon vergessen? Ich bin halber Australier!“

Sepp packt grob nach meinem Oberarm. Sein Gesichtsausdruck, die Aura von Verschwörung und seine Worte bannen mich. „Timmy, wenn du wissen willst, wer du bist“, verdreht er seine Augen, denn er kennt mich ziemlich gut, „und wenn du Freunde fürs Leben suchst – dann MUSST du da hin!“

„Ich weiß, wer ich bin!“

„Bist du dir da ganz sicher?“, zwinkert er mir verschwörerisch zu.

Nur Sepp weiß, dass ich schwul und deswegen oft total gehemmt bin, aus Angst, jemand könnte es mir ansehen. Als Sportler ist das mehr als nur lästig, denn ich traue mich nicht mit meinen Kumpels zu duschen. Aber es ist der zweite Teil seiner Prophezeiung, die mich anspricht. Wer will nicht Freunde fürs Leben finden?

„Die Schule ist nichts für Schlappschwänze!“, fügt er in meine Ohrmuschel nuschelnd hinzu.

Ich schüttle ihn ab und wische mir mein nasses Ohr. „Soll das dein Geschenk sein? Versprechungen und Andeutungen?“

Vorsichtig sieht sich Sepp in meinem vollgestopften Zimmer um. Trophäen von Leichtathletik-Meisterschaften, Schwimmabzeichen und hässliche Poster von Popgruppen schreien sich gegenseitig an. Abermals checkt er die Tür.

„Meine Eltern sind weg, wir sind wirklich alleine im Haus“, beruhige ich ihn.

„Okay, okay!“, murmelt er. „Timmy, setz dich! Gib mir deinen Arm!“, befiehlt er und klopft auf mein zerwühltes Bett, auf das er sich selbst gesetzt hat. Kaum neben ihm, kramt er in seiner Jacke nach einem Kugelschreiber und kritzelt mir Buchstaben und Zahlen auf den Oberarm.

„Spinnst du!“, entziehe ich mich ihm.

„Willst du das Geheimnis erfahren oder nicht?“

„Natürlich will ich! Was ist das?“, versuche ich sein Tattoo zu entziffern.

„Eine Homepage Adresse“, flüstert Sepp wieder so leise, dass ich zweimal nachfragen muss, um ihn zu verstehen. „Damit wirst du einen Spezialflyer der Schule anfordern können, der das Geheimnis lüftet.“

„Geheim? Deshalb schreibst du es sichtbar auf meinen Arm?“

Sepp sieht mich verschlagen an. „Das A und das O fehlen!“ Weil ich wahrscheinlich verwirrt dreinblicke, legt er mir gönnerhaft seine rechte Hand auf meine Schulter. „Alter, der Anfang und das Ende!“

Ich verstehe kein Wort, bis er mir die fehlenden Buchstaben ins Ohr flüstert. „Du warst letztes Jahr an dieser Schule in San Francisco! Jetzt pack schon endlich aus! Was geht da ab?“

„Das musst du schon selbst herausfinden! Happy Birthday, Tim!“, damit küsst mich Sepp auf beide Wangen, huscht aus meinem Zimmer und überlässt mich meiner geheimen Homepage Adresse.

 

Erst am nächsten Tag finde ich an der Uni die Gelegenheit, mir die Homepage anzusehen und mit Sepps geheimen Passwort eine einzelne Seite runterzuladen und mir auszudrucken. Die wenigen Worte reichen aus, um meine Reisepläne von Sydney in San Francisco zu verändern. Ich löse den Gutschein für den Auslandsaufenthalt dafür ein. Die quälenden Fragen meiner Eltern, warum ich ausgerechnet an eine Englischschule möchte, kann ich nicht beantworten. Dennoch, nach einigen Streitereien, bezahlt mein Vater die Schulgebühren und kauft mir ein Flugticket.

Hoffentlich ist es das alles wert!

 

Jetzt sitze ich im Direktflug von Amsterdam nach San Francisco. Die beiden Plätze neben mir sind frei, da der Flieger nicht ausgebucht ist. Vor mir liegen eine klebrige Pasta ohne Eigengeschmack und die offizielle Hochglanz Broschüre. Sie ist mit allem ausgestattet, was an Informationen unverfänglich ist: harmlose Fotos des Schulgeländes, Porträts der Lehrer, den Stundenplan und ähnlich Unwichtiges. Während sechs Wochen kann ich dort meinen Master in Englisch machen. Doch das interessiert mich nicht.

„Noch Kaffee?“, fragt mich eine weibliche Stimme.

Ich brumme ja, bekomme einen Pappbecker Kaffee und die Flugbegleiterin rollt mit ihrem Wagen zu den Sitzen vor mir weiter. Erst als ich sicher bin, die fliegende Kellnerin kann es nicht mehr sehen, krame ich den Passwort geschützten geheimen Ausdruck aus meiner Gesäßtasche. In Deutsch steht selbstverständlich schwul! in Graffiti Lettern auf dem T-Shirt eines jungen Typen im Vordergrund – außer dem T-Shirt trägt er nichts weiter. Andere Typen tragen andere T-Shirts, auf denen die gleiche Aussage in anderen Sprachen steht – auch sie tragen nur ihre T-Shirts. Im Sichtschutz meiner Jacke verborgen, lese ich zum hundertsten Mal die wenigen Worte und studiere die erotischen Zeichnungen, die sechs Wahlfächer bewerben. Wenn auch nichts den Ablauf der Fächer beschreibt oder die Anforderung an die Studenten verrät, reichte diese eine Seite dennoch aus, mich um die halbe Welt zu locken. Alles bleibt bei vagen Andeutungen und kitzelt mehr die Fantasie, als Tatsachen zu vermitteln. Doch für mich ist es Verlockung; süße himmlische Versuchung. Ja, ich will von den verbotenen Früchten naschen! Mein Magen knurrt schon viel zu lange danach.

Eine Frau mit wallendem Haar, das sie mit einer wuchtigen Brosche nach hinten zwingt, drängt sich am Servierwagen vorbei und muss sich dazu weit über meinen Vordersitz zu mir beugen. „Es liegt alles an dir selbst!“, spricht sie mich direkt an.

Ertappt zerknülle ich das Papier und verschütte dabei meinen Kaffee. Ihre Augen treffen meine. Ein Blitz durchzuckt mich.

Als ob nichts vorgefallen sei, rafft sie ihren blauen Rock und zwinkert mir zu. „Du, nur du alleine bestimmst dein Schicksal! Vergiss das nicht! Es liegt immer alles nur an dir selbst!“ Kumpelartig boxt sie mir in die Schulter und verschwindet den schmalen Gang zu den Waschräumen hinunter.

Spinnt die?

Ich bekomme Servietten, um dem verschütteten Kaffee Herr zu werden; dabei wird auch gleich mein Essenstablett eingesammelt. Die italienische Pappe surft jetzt auf meinen Magensäften. Die seltsame Frau kehrt nicht zurück, weshalb ich mich nach ihr umblicke, doch sie bleibt verschwunden. In sechs Stunden werde ich in der neuen Welt landen. Um die Zeit zu überbrücken, kuschle ich mich tiefer in meine weite Jacke und verpenne das Frühstück ein paar Stunden später, wie auch die Landung.

 

Es ist früher Sonntagmorgen des 14. Septembers, als ich den International Airport San Francisco betrete. Ich bin am Ziel. Als ich in die Empfangshalle trete, lese ich auf einem Schild: Timothey from Switzerland. Ich werde erwartet!

„Ich bin Tim!“, winke ich dem dünnen Endzwanzigjährigen zu.

„Willkommen in San Francisco! Ich bin Jacob, der Betreuer der Schule.“ Jacob trägt eine Mütze auf seinem schwarzen Kraushaar. Seine abgetragene Jacke wirkt wie ein Relikt aus einer Zeit, als man sonntags noch zur Kirche ging. Er nimmt mir meinen Koffer ab und stellt ihn zu anderen auf einen Rollwagen. „Wir warten noch auf Hendric. Er war in der gleichen Maschine, wie du aus Amsterdam. Dort drüben“, zeigt Jacob auf ein paar Jungs in meinem Alter, „sitzen Ty aus Tokio, Dimitry aus Prag, Diego aus Mexiko und Simon aus Hongkong. Geselle dich zu ihnen. Sobald Hendric eintrifft, fahren wir alle zusammen in die Stadt.“

Ich checke die Jungs ab: Simon hat überhaupt nichts Asiatisches an sich und spricht mit französischem Akzent auf Diego, den Mexikaner ein, der ihm ständig wild zunickt. Versteht er überhaupt ein Wort vom Gesagten?

„Ich bin Ty!“, stellt sich mir ein kahlrasierter kleiner Japaner vor. Trotz seiner muskulösen Erscheinung wirkt er zierlich.

Dimitry, der Tscheche, wirkt klobig und ungehobelt, hat aber ein gutmütiges Gesicht. Er mustert mich von oben bis unten, erachtet mich als tauglich und bietet mir einen Sitzplatz neben sich an. „Bist du schwul?“, will er als erstes wissen und das, bevor er noch meinen Namen kennt.

Ich schlucke leer. Das ist mein Geheimnis. Selbst hier kann ich es einfach nicht zugeben. Statt einer Antwort, stottere ich meinen Namen. Natürlich bin ich schwul, doch laut darüber zu reden, ist mir peinlich. Was fragt Dimitry überhaupt? Ist nicht eh jeder schwul, der diese Schule wählt? Welcher heterosexuelle Junge würde schon ein T-Shirt anziehen, auf dem selbstverständlich schwul! in seiner Muttersprache steht?

Jacob winkt einem Ankömmling zu. Neugierig beobachte ich aus der Ferne, wie ein süßer Fratz einen viel zu schweren Koffer schleppt. Kaum ist dessen Koffer auf dem Rollwagen, drängt Jacob zum Aufbruch. Ich bleibe Dimitry meine Antwort schuldig.

Kaum aus dem Flughafengebäude riecht es nach Nebel, Ozean und Kerosin. Ich bin in Amerika! Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich ganz auf mich alleine gestellt. In der Pick-up Zone besteigen wir einen dieser gelben Schulbusse.

Hendric, der Holländer, setzt sich im Bus neben mich. Seine blonden Haare stehen ihm, mit viel zu viel Haar Gel zu Stacheln verklebt, in alle Richtungen vom Kopf ab. Er versucht mit diesem Look wild und draufgängerisch auszusehen, doch seine Augen verraten ihn. Hendric ist ein scheuer Typ und sehr nervös, denn sein rechtes Bein wippt unkontrolliert.

„Weißt du, was uns erwartet?“, frage ich ihn.

Er zitiert nur das, was der geheime Internetausdruck hergibt.

„Ich will hier in San Francisco meine Hemmungen in den Griff kriegen“, gestehe ich dem blonden Holländer. Seltsamerweise spuken gerade jetzt die Worte der Frau aus dem Flugzeug durch meine Gedanken: Es liegt alles an dir selbst!

Wir plaudern belanglos, gaffen aus den Busfenstern und können es beide nicht erwarten, endlich an der Schule anzukommen. Irgendwann flüstert mir Hendric zu: „Ich will hier mein Schwulsein verstehen, und ...“ Leider beendet er seinen Satz nicht, denn wir erhaschen zum ersten Mal, nach einem Hügel, in der Ferne die Skyline von San Francisco.

Wortlos und staunend erreichen wir über diverse High- und Free Ways Down Town San Francisco und nach einer Fahrt über die Market Street unser Ziel in einer Seitenstraße zur berühmten Castro Street. Neugierig, aber enttäuscht klebe ich an der Scheibe. Das ist das schwule Zentrum meiner neuen Welt? Es wirkt so gewöhnlich?

„Campus Nummer Eins“, zeigt Jacob auf fünf Häuser zu unserer Linken. Schon hundert Mal habe ich mir diese zweistöckigen bemalten Holzhäuser mit Erkern und langen Treppen zum Eingang hoch auf dem Schulprospekt angesehen. Jetzt stehe ich davor.

„Guys, im Haupthaus werdet ihr essen“, zeigt Jacob auf das größte der fünf Häuser. „In den beiden daneben könnt ihr gleich eure Zimmer beziehen und den Unterricht habt ihr in den beiden Lofts dahinter. Unsere ganze Schule besteht aus vier ähnlichen Anlagen, die sich alle im Radius von einer Meile hier im Castro Viertel befinden.“

Jetzt gibt es kein Zurück mehr! Hier werde ich sechs Wochen lang – was auch immer – erleben. Keines der Gebäude wirkt exotischer als der viktorianische Baustil hergibt. Nichts an diesen Holzhäusern wirkt schwul; keines von ihnen ist in Rosa- oder Regenbogenfarben bemalt. Auch gibt es kein üppig verziertes Tor oder wie Pudel frisierte Buchsbüsche oder ähnlich tuntiges hier. Nicht einmal ein provokantes Schild mit dem Namen der Schule ziert die Anlage. War es ein Fehler dafür auf Sydney zu verzichten?

Jacob lässt unsere Koffer im Bus und führt uns durch den Steinbogen in den kleinen Campus hinein. „Heute ist Ankunftstag. Ihr könnt tagsüber machen, was ihr wollt. Die offizielle Begrüßung findet heute Abend um acht, hier“, zeigt Jacob auf eine Treppe ins Haupthaus hinein, „gleich rechts, neben der Registration, im Speisesaal statt.“

Die Führung geht weiter. Im planierten Innenhof zwischen den Häusern wachsen in kleinen Inseln ein Eukalyptus-, junge Sequoia-, ein Nussbaum und diverse Büsche; es blühen sogar bunte Blümchen in diesen Beeten. Die Anlage wird von einem Ring aus Zypressen fast vollständig umarmt, die wie stumme Wächter Blicke von außen unmöglich machen. Ist das hier die Arena, in der ich gegen meine Hemmungen und Ängste antreten muss, abgesondert von der Welt und ganz ohne Zeugen? Gut!

„Was denkst du?“, boxt mich Hendric draufgängerisch in die Seite, während seine hellgrünen Augen die Zypressen durchzählen. „Teilen wir uns ein Zimmer, falls es keine Einzelzimmer gibt?“

„Gerne“, nicke ich. Ich bin lieber mit dem scheuen Stachelkopf, als mit dem tschechischen Draufgänger mit seinen peinlichen Fragen im Zimmer.

Wir betreten das erste der kleineren Häuser zur rechten des Portals. Dieses Haus ist von der Straße etwas zurück versetzt und halb von den Wächtern verborgen. Im Erdgeschoß öffnet sich zum Hof hin ein geräumiges Zimmer und zum Zypressenring auf der gegenüberliegenden Seite, ein Aufenthaltsraum. Auf drei der vier Betten liegen Jungs, die zusammen schwatzen. Simon schreitet zügig auf einen schwarzhaarigen Franzosen zu und begrüßte ihn mit bievenue,cher ami.

Ty, Dimitry, Hendric und ich teilen uns das Vierer-Zimmer im Stockwerk darüber. Auch hier stehen an jeder Wand ein Bett, davor eine Kommode für unseren Kram und daneben jeweils ein Schreibtisch mit Stuhl. Wie unten gehören auch hier ein angrenzender Aufenthaltsraum, Toiletten und ein vollkommen weißgekacheltes Badezimmer dazu. Während ich mir das Bett zum Hof hin reserviere, eilen die drei anderen Jungs nach unten, um ihre Koffer aus dem Bus zu holen. Mit dem Holländer, dem Tschechen und dem Japaner werde ich auskommen müssen.

Kaum zurück, schmeißt Ty seinen Koffer auf sein Bett und zieht sich vollkommen aus. Ich beobachte den Japaner. Außer seinen Schamhaaren ist er gänzlich haarlos, selbst seine Achselhöhlen sind rasiert. Absolut selbstverständlich packt er splitternackt seinen Koffer aus und verteilt sein Zeugs.

Hendric starrt Ty genauso fasziniert auf den Arsch, wie ich. Als sich dabei unsere Blicke treffen, setzt er sich zu mir aufs Bett und fraget: „Bist du auch schwul?“

Ich nicke. Bei Hendric fällt es mir leicht, mich zu outen.

„Und du, Dimitry?“, wendet sich Hendric an den Tschechen.

„Manchmal! Ich habe Zuhause eine Freundin.“

„Was weißt du über diese Schule?“, versuche ich mein Glück beim Bisexuellen.

Angestachelt durch Ty strippt auch Dimitry und zitiert dabei aus der Internetbroschüre. Auch er weiß nichts Neues. Sich unserer abcheckenden Blicken sehr bewusst, dreht sich Dimitry einmal um die eigene Achse und tänzelt dann hinter Ty ins Badezimmer.

„Duschen wir doch gleich alle!“ Schon stülpt sich Hendric seinen Pulli über den Kopf, um sich auszuziehen.

Unbehaglich erhasche ich durch die Badezimmertür Blicke auf die offene Zweier-Duschkabine mit durchsichtigen Seitenwänden.

Hendric kickt seine Schuhe in eine Ecke, schnappt sich das Badetuch von meinem Bett und schmeißt es mir zu. „Zum Umbinden! Ich wusste nicht, dass Schweizer so prüde sind.“ Grinsend schält er sich aus seiner Jeans und aus seiner Unterhose.

Selbst in Leichtathletik suchte ich Vorwände, um entweder alleine oder erst zuhause zu duschen. Ich bin wirklich total verklemmt! Aber muss ich das hier unter Gleichgesinnten immer noch so sein? Die Jungs hier sind wie ich. Sie sind schwul – oder zumindest temporär schwul, wie Dimitry. Hier würde mich keiner auslachen, sollte ich sie etwas zu neugierig mustern oder gar – ich hoffe nicht – ne Latte kriegen.

Die drei nackten Jungs drängen sich alle zusammen in die Doppelkabine. Zu feige, mich ihnen anzuschließen, warte ich in Boxershorts im Schlafzimmer. Ich schnappe mir das Badetuch und verknote es eng um meine Blöße. Mein ganzer Körper glüht vor Scham, Aufregung und Erwartung, als ich mir darunter die Boxershorts ausziehe. Jetzt bloß keine Erektion kriegen!

Ty tropft nach einer kurzen Dusche vor dem zweiten Waschbecken und rasiert sich den Kopf, als ich mich endlich aufraffen kann, um ebenfalls das Bad aufzusuchen. Alle außer mir sind nackt. Ich drehe mich auf der Schwelle wieder um und krame, zurück im Zimmer, aus meinem Koffer den Kulturbeutel heraus. Mit genügend Ablenkungen bewaffnet, kehre ich zurück. Mein Herz pocht viel zu schnell und meine Haut kann sich plötzlich nicht mehr entscheiden heiß oder kalt zu werden. Für alles andere zu verlegen, putze ich mir die Zähne; ich scheure sie, bis mein Zahnfleisch blutet.

„Du hast schöne Füße“, mustert mich der muskulöse Japaner.

„Ähm, danke!“, spuke ich die blutige Zahnpasta ins Becken. „Trainierst du in einem Fitness Center mit Gewichten?“,

„Ja!“, antwortet er knapp. „Tim, bist du Bodybuilder?“

Ich schüttle meinen Kopf und spüle mir den Mund. „Ich bin Langstreckenläufer und Schwimmer, da trainiere ich oft zusätzlich an Geräten meine Arm- und Beinmuskeln“, spanne ich meinen Bizeps an und präsentiere danach noch angeberisch meine Bauchmuskeln.

„Und deinen Arsch“, kneift mir Ty rein.

„Kommt vom Fahrradfahren!“, grinse ich doof und checke über den beschlagenen Spiegel die Duschkabine ab. Hendric steht noch immer mit schäumendem Kopf darin. Erstmals in meinem Leben komme ich mir normal vor. Ich kann hier die Jungs schamlos mustern – und sie mich, ohne Angst zu haben heimlich als Tunte oder schwule Sau beschimpft zu werden. Natürlich habe ich gehofft, dass auch die echten Jungs an der Schule ohne Hosen rumlaufen würden, nicht nur die auf dem Prospekt, doch es jetzt wirklich zu erleben, ist besser als jede Fantasie.

Hendric rasiert sich unter der Brause sein Kinn. Als er meine Blicke bemerkt, winkt er mich zu sich. „Willst du auch?“, streckt er mir seinen Pinsel mit Rasierschaum hin.

„Ich habe mich noch nie nass rasiert“, gebe ich zu.

Hendric verlässt die Kabine und grabscht bei einem Regal in seinem Kulturbeutel nach einer weiteren Wegwerfklinge. „Wenn du erst damit angefangen hast, wirst du es nie mehr mit einem Elektrorasierer machen. Du musst dich aber gut einseifen.“

Kritisch untersuche ich Pinsel und Klinge.

„Soll ich dir helfen?“ Da ich nicke, schielt er auf mein Badetuch.

Mutig lege ich mein Badetuch ab und stelle mich zu Hendric unter den Wasserstrahl. „Beuge dich etwas runter, du bist schon verdammt groß!“ Ich tue es. Sogleich packt der Holländer mit seiner Linken nach meinem Kinn, während er mir mit dem Pinsel in seiner Rechten mein Gesicht einschäumt. Diese ungewohnte Nähe lässt mich verlegene Verrenkungen einnehmen und als etwas hartes mein Bein streift, zucke ich, wie vom Blitz getroffen zusammen.

„Knien wir uns hin!“, schlage ich rasch vor, als ich immer erregter werde. „Ich bin wirklich ziemlich groß, so musst du nicht auf deinen Zehen balancieren, oder ich mich so komisch verbiegen.“ Augenblicklich hocke ich mich mit zusammengekniffenen Oberschenkeln hin.

Hendric hingegen kniet sich breitbeinig vor mich. Nacktheit ist für ihn offensichtlich ganz normal und seine Latte trägt er stolz. Sorgfältig rasiert er mein Gesicht und streichelt immer wieder meine Wangen, um nach übersehenen Bartstoppeln zu suchen. Als er fertig ist, bleibe ich alleine unter der Dusche zurück. Kaltes Wasser wirkt Wunder, so sagt man. Ich hoffe es!

Später im Schlafzimmer liegt Ty auf dem Bett und sein eingeölter Leib schimmerte, besonders sein Hintern. „Stört einen von euch mein Aufzug?“, sieht er sich in der Runde um.

Dimitry sitzt mit dem Badetuch um die Hüften geschlungen auf einem Sessel und die Einblicke, die er dabei bietet, sprechen für sich. Hendric reibt sich mit Bodylotion ein und schaut durch die Zypressen hindurch auf die Straße hinaus. Nur ich verberge meine Nacktheit abermals unter einem übergroßen Badetuch.

„Welcher Anzug?“, scherzt Hendric.

Auf meinem Bett sitzend, ziehe ich mir Socken an.

„He! Was machst du?“ Ty hechtet über sein eigenes Bett und packt meinen rechten Fuß und streckt ihn hoch in die Luft.

Ich verliere meine Balance und rolle rückwärts auf meinen Rücken, sodass jedem sichtbar wird, was ich unter dem Badetuch verstecken wollte.

„Hat Timmy nicht schöne Füße?“, grinst der Japaner, gafft aber ganz was anderes an – wie auch Dimitry und Hendric. „Socken?“, grinst er. „Was will ein Typ wie du denn mit Socken?“ Ty zieht sie mir wieder aus. Als ich mir später eine meiner Latzhosen, ein T-Shirt und ein Hemd auf meinem Bett bereitlege, schüttelt der Japaner unentwegt seinen Kopf. „Timmy, Timmy! Warum willst du wie ein Sack Kartoffeln aussehen? Ich muss dich wohl neu einkleiden! Jungs, auf in die Castro Street!“, brüllt er einen Schlachtruf.

Transformation

Die Castro Street erweist sich nicht als der schillernde Ort, den ich mir wünschte. Bis auf wenig bunte Schaufenster wirkt die Straße heruntergekommen und grau. Penner betteln auf schmutzigen Kartons sitzend nach Kleingeld oder lehnen an, nach ihrem eigenen Urin stinkenden, Hauswänden. Das hier soll das schwule Herz von San Francisco sein? Wo sind die Regenbogen, die Ausgeflippten und all die verrückten Exoten, die man hier erwartet?

„Hier sind wir richtig!“ Ty zieht mich in eine Boutique und beginnt sofort auf den tuntigen Verkäufer einzureden. Transformation höre ich immer wieder dieses eine Wort aus ihrem Gerede heraus. Hendric zuckt mit seinen Schultern, scheint sich aber zu amüsieren.

„Zieh dein Windjacke, dein T-Shirt und diese Latzhose aus!“, steuert mich der Verkäufer direkt an.

„Hier im Laden?“

„Mach schon!“, boxt mich Hendric in die Seite. „Du mit deinem Sportler Body kannst dich nun wirklich sehen lassen.“

Da wir im Laden unter uns sind, folge ich zaghaft den Anweisungen, löse aber nur die Träger meiner Latzhose. „Ich werde hier nicht strippen!“

„Das T-Shirt auch!“, drängt Ty.

„Ah, ein Australier! Junge, dein Akzent verrät dich sofort. Bist du Model oder Surfer?“ Der Verkäufer fasst nach meinen blonden Locken, die ich dringend wieder mal schneiden müsste.

„Halb Schweizer, halb Australier!“

„Bei deiner Figur und deinen Muskeln, solltest du zeigen, was du hast.“ Mit eindeutig zu vielen Gesten umrundet mich der Dompteur, als ob ich ein gefährliches Raubtier sein, das er zähmen müsste. „Mehr Strand, weniger Stadt!“, peitschen seine Worte auf mich ein. „Hose runter und zieh dir auch gleich deine Turnschuhe und Socken aus!“, befiehlt der Verkäufer und hält mir den imaginären Feuerring zum Sprung bereit.

„Sei doch nicht so verklemmt!“, flüstert mir Hendric Mut machend zu.

„Ja, ja!“, murre ich und stehe bald barfuß vor dem Verkäufer.

„Einen Fuß aufs Podest!“, zeigt er auf einen Schemel. „Unbedingt barfuß!“ Die Tunte huscht davon und bringt mir lederne Sandalen, die entfernt an Flip-Flops erinnern.

„Nehmen wir!“, entscheidet Ty für mich, kaum dass ich sie angezogen habe. „Jetzt der Look!“

„Warum sollte ich mich von dir stylen lassen? Was ist falsch an Turnschuhen und Jeans – oder meinen Latzhosen?“, sehe ich in die Runde. Ein Schulterzucken von Hendric, lüsternes Grinsen von Dimitry und Tys Seufzer sind alles, was ich zur Antwort bekomme.

„Du verkleidest dich als heterosexueller Bauarbeiter“, mustert mich der Verkäufer, legt seinen Kopf schräg und unterstreicht seine Worte, möglichst wenig Stoff!, mit wilden Gesten. „Deinen Schwimmertorso musst du zeigen! Steh zu deinen australischen Wurzeln, lass den Surfer raushängen!“

Hendric blickt neidisch. Würde er gerne in meinen Latschen stecken und sich halbnackt befummeln lassen? Das erste T-Shirt, das ich in meine Hände gedrückt bekomme, ist hauteng.

„Auf keinen Fall!“, murmle ich belustigt und nach den Blicken meiner Kumpels schockiert. „Leute, NEIN! Ich bin kein Softy!“

„Zieh es trotzdem an“, ignoriert Ty mein Ausrufen.

Fast eklig schmiegt sich der synthetische Stoff über meinen Brustkorb. Ich bin es nicht gewohnt Kunstfaser zu tragen, ich stehe auf Baumwolle. „Niemals!“ Nicht nur meine Bauchmuskeln, sondern auch meine Brustwarzen zeichnen sich unter dem Designer Shirt ab.

Ty nickt dem Verkäufer zu und der legt das kleine Nichts, kaum, dass ich es ausziehe, beiseite. Ein hellgelber Tank Top mit Aufdruck gefällt mir; er gleicht meinen Leichtathletiktrikots. Es lässt mich, wenn auch sexy, dennoch männlich und sportlich aussehen.

„Das sieht selbst mit diesen schrecklichen Hosen gut aus“, lobt der Verkäufer.

„Was ist an diesen Hosen nicht in Ordnung?“, maule ich.

„Das ganze Programm!“, unterbricht Ty. „Jetzt lass endlich diese Latzhose fallen!“ Etwas gestresst fährt er sich über den haarlosen Kopf.

Im hintersten Teil des Ladens entdecke ich Garderoben. Erst dort, hinter einem dicken Vorhang verborgen, knöpfe ich mir die Hose auf und lasse sie auf meine Zehen fallen, um raus zu steigen. Warum tue ich das? Ich bin kein Mode Tussi! Kaum in Boxershorts, reißt der Verkäufer den Vorhang auf.

Dimitry wühlt zwei Regale weiter in Unterwäsche.

„Boxershorts?“, gafft mich der Verkäufer entsetzt an. „Durch diese hässlichen Shorts kann ich nichts erkennen“, stöhnt die Tunte, als ob sein Job gerade kaum zu ertragen sei. „So kann ich nicht arbeiten“, verwirft er seine Hände. „Kann mal jemand diesem Klotz die Hose ausziehen?“

Ty reagiert sofort.

„Lass das!“, zische ich genervt.

„Nicht wieder hochziehen!“, klopft mir Hendric auf die Finger.

Warum ich das über mich ergehen lasse, ist mir so schleierhaft, wie das Ganze an sich. Meine neuen Kumpels und die Tunte mustern mein blankes Hinterteil, da ich mich sofort von ihnen abgedreht habe, kaum dass mein Schamhaar erstmals sichtbar wurde. So schamlos gemustert zu werden, ist für mich total neu und befremdend; mein Körper vibriert, und das nicht nur aus Scham, sondern auch aus Wut.

„Horny!“, schwärmt die Tucke. „Du solltest nackt rumlaufen!“

„Ja, ja!“ Hastig ziehe ich mir die Boxershorts wieder hoch.

„Hab dich nicht so!“, flüstert mir abermals Hendric Mut zu. „Es ist doch zu deinem eigenen Besten.“

Das sehe ich nicht ein. Wohl will ich irgendwann selbstverständlich schwul sein, doch falls der Preis dafür öffentliche Zurschaustellung ist, werde ich damit echt Mühe haben. Komischerweise fühle ich mich aber trotzdem unter schwulen Männern nur noch halb so verklemmt. Hat meine Scham wirklich nur mit der Angst entlarvt zu werden zu tun? Dennoch schnappt das Grauen nach meiner Wade, als mir der Verkäufer etwas Neues, Weißes vor die Nase hält.

„Hier! Aber ohne Unterhosen!“

„Ich kann das alleine“, ziehe ich den Vorhang vor den Zuschauern zu. Ich beeile mich, da mir diese Verrückten eh keine Privatsphäre zugestehen. Niemals hätte ich mir eine solche Hose ausgesucht, ihr sehr feiner Stoff fühlt sich wie feines Wildleder an. Ich habe die Hose noch nicht mal ganz hochgezogen, da mustern mich meine Kumpels schon wieder vom Scheitel bis zu den Zehen, in dem sie den Vorhang wieder aufreißen.

„Aha! Eine Nummer kleiner“, verschwindet der Verkäufer.

Zweifelnd prüfe ich die Hose. Sie sitzt doch perfekt.

„Versuch die“, reicht er mir eine andere.

Als keiner Anstalten macht, sich umzudrehen, ziehe ich ihnen erneut den Vorhang vor der Nase zu. Die kleinere Hose sitzt tatsächlich noch besser. So gut, dass sich alles deutlich darunter abzeichnet. „Leute, so werde ich niemals rumlaufen!“

„Genauso!“, verteilt die Jury ungefragt ihre Punkte, als sie mich abermals mustert.

Hendrics Blicke ruht auf meinen Schamhaaren, die durch die tiefsitzende Hose nicht alle vollkommen verdeckt werden.

„Schau selbst!“, zieht mich der Verkäufer vor einen Spiegel.

Ein verlegen grinsender Zwanzigjähriger überragt drei Zuschauer in Körpergröße. Bin ich das? Wo ist der Verklemmte von heute Morgen? Zum ersten Mal glaube ich, dass ich tatsächlich nicht schlecht aussehe. Oben ohne, barfuß und in dieser Hose, die meine Männlichkeit mehr betont, als verdeckt, transformiere ich wirklich in einen blonden Athlet. Den verklemmten Jungen, der sich als Holzfäller verkleidet, kann ich nicht mehr im Spiegelbild erkennen. Möglichst unauffällig checke ich die Gesichter meiner neuen Freunde ab. Sie wirken alle verändert – irgendwie stolz. Jeder gafft mir lüstern auf meine paar sichtbaren Schamhaar oder meinen Arsch.

„Fast nackt – fast perfekt!“, klatscht der Verkäufer immer wieder in seine Hände.

Ty bindet mir ein Lederband, an dem eine einzelne Muschel hängt, um den Hals. Wie ein Sieger auf einem Podest muss ich mich dazu tief zu ihm runter bücken.

„So viel Haut zeige ich nicht mal beim Sport!“, werfe ich ein, drehe mich aber vor dem Spiegel um die eigene Achse, um meinen neuen Look von allen Seiten in Augenschein zu nehmen. Der weit geschnittene Stoff über meinen Schenkeln bedeckt sie nur zur Hälft, doch mit den eingenähten Stellen werden mein Penis und mein Arschbacken voll ausgeformt.

„Eine erste Mutprobe?“, stupst mich Hendric in die Seite. „Timmy, bist du nicht deswegen hier in San Francisco?“

„Um meinen Arsch und meinen Pimmel zu zeigen?“, rümpfe ich meine Nase, doch nicht mehr so arg, wie zu Beginn dieser Transformation.

„In dieser Hose siehst du wahnsinnig geil aus“, flüstert mir der Holländer zu. Seine Worte sind wie eine Liebeserklärung, was mich verlegen wegsehen lässt.

Natürlich habe ich immer schon für Jungs geschwärmt, doch ich war noch nie in einen verknallt. „Aber“, gebe ich zu bedenken „es zeichnet sich alles darunter ab!“ Erstmals lächle ich Hendric ganz offen an.

„Das ist doch der Witz des Ganzen!“, unterbricht Ty unsere Zweisamkeit. Was sich zwischen Hendric und mir gerade sensibel aufbaute, zerfleddert wie zerbombte Segel. Als ich in die Garderobe verschwinden will, um wieder in meine Latzhose zu schlüpfen, zehrt mich Ty sofort wieder hinaus. „Mann, kapier es endlich! Wir sind hier in San Francisco! Wir sind hier im Castro! Timmy, traue dich, etwas Neues auszuprobieren!“ Ty zückt seine Kreditkarte. „Falls du den ganzen Tag diese Hose anbehältst, bezahle ich sie.“

„Warum?“

Ty bleibt mir die Antwort schuldig.

Selbstverständlich schwul!

Um acht Uhr versammeln wir uns alle im Speisesaal. Unter dem Vorwand, mir fröstle, trage ich eine dicke Jacke über meinem zeigefreudigen Outfit, damit ich so wenigstens meinen Penis verdecken kann, der sich überdeutlich unter meiner Hose abzeichnet.

„Auf die Wahlfächer komme ich später zu sprechen“, beginnt Jacob seine Rede.

Jeder murrt.

Jacob winkt ab und begrüßt uns offiziell an der Schule. Unsere Lehrer stellt er mit wenigen Worten vor: Cody, Enver, Ly, David, Kanakan und Nick. Jeder von ihnen würde uns abwechselnd für eine Woche in Englisch unterrichten und eines der Wahlfächer leiten, mehr verrät er nicht. Die Lehrer verschwinden ohne viele Worte, um sich auch an den drei anderen Campus vorzustellen. Unser Ansprechpartner, Hauswart und Chauffeur wird Jacob sein, der auch hier im Haupthaus wohnt.

Weil wir alle im Kreis auf Stühlen sitzen, checkt jeder jeden ab.

„Auf jedem Campus wohnen in diesem Sommer zwölf Schüler.“ Jacob zeigt auf jeden von uns, während er die Namen nennt. „Jarrett, Simon, Louis und Sören teilen sich den ersten Stock von Haus Eins; Hendric, Timmy, Dimitry und Ty den zweiten Stock im selben Haus; und Diego, Dan, Julien und Kay den ersten Stock im Haus Zwei, das direkt ans Haupthaus anschließt. Jede Zimmergemeinschaft ist für ihr Stockwerk selber verantwortlich. Ihr bestimmt eure eigenen Regeln, an die sich jeder, außer den Lehrern, halten muss. Fremde haben auf dem Campus keinen Zugang. Ausnahmen müssen mit mir abgesprochen werden.“

„Eigene Regeln?“, tuschelt Dimitry.

„Wozu brauchen wir Regeln?“, rümpft Ty seine kleine Nase.

„Englisch habt ihr hier auf dem Campus als Kleinklasse zu zwölft“, fährt Jacob fort. „Für die Wahlfächer seid ihr mit den anderen Schülern zusammen. Schreibt euch rechtzeitig für die Spezialkurse ein, denn einige Klassen sind auf zwanzig Teilnehmer beschränkt.“ Es folgen allgemeine Hausregeln, der Stundenplan und das Datum für die Endprüfung in Englisch. „Andere Sprachen als Englisch sind ab sofort auf allen vier Campus verboten! Kommen wir zur Sache: Warum seid ihr hier?“

Viele rutschen plötzlich gespannt auf ihren Plätzen.

„Das Geheimnis der Schule“, blickt Jacob in die Runde, „ist selbstverständlich schwul!“, offenbart uns Jacob.

„Ist es eine Sex-Schule?“, fragt Kay, ein braunhaariger Kölner.

Das will ich auch wissen und nicke zustimmend. Auch in den Reaktionen der anderen Jungs lese ich Hoffnung auf ein erlösendes Ja.

„Nein! Sex ist eure Privatangelegenheit. Doch ich kann euch trösten, bei allen Wahlfächern geht es um die Erotik.“

Einige atmen hörbar auf, ob aus Enttäuschung oder aus Vorfreude, wird sich erst noch zeigen müssen.

„Jungs, am Anschlagbrett im Flur findet ihr mehr Informationen. Dort hängen Merkblätter zu den jeweiligen Wahlfächern. In der Regel findet jeder Kurs einmal wöchentlich statt. Jeder Wochentag ein anderer, so dass ihr, wenn ihr wollt, auch an allen teilnehmen könnt.“

„Stimmt es“, unterbricht Louis aus Paris, „dass die Klassen nackt abgehalten werden?“ Louis sieht nicht nur französisch aus, er betont auch jedes Wort so, was sein Englisch sehr seltsam klingen lässt. „Mein Cousin hat es mir erzählt.“

„Ich erinnere mich an Jean-Jacques“, antwortet Jacob. „Wie alles, liegt auch das nur an euch selbst.“

Diese Worte treffen mich wie ein Pfeil. Etwas Ähnliches sagte mir die seltsame Frau im blauen Kleid im Flieger.

„Es gibt hier keine Zwänge“, fährt Jacob fort. „Jeder von euch entscheidet individuell, was er, wie lernen will. Der eine versteht besser, wenn er es selbst erlebt, dem anderen reicht die Vorstellung davon. Noch etwas: Man lernt nicht nur durch zuhören, ansehen, berühren, riechen und schmecken.“

„Was meint Jacob damit?“, tuschelt Ty. „Gibt es noch andere Sinne?“, fragt er laut.

Jacob schweigt sich darüber aus. „Außer für Englisch und das Master Examen gilt: selbstverständlich schwul! Kommt aus euch raus! Seid stolz darauf, was ihr seid!“

„Würdest du nackt die Schulbank drücken?“, fragt mich Hendric und schielt mir vorne auf meine Hose.

„Spinnst du?“, rümpfe ich meine Nase und schiebe die Jacke wieder als Sichtschutz davor.

„Zu den Wahlfächern“, kommt Jacob zum Thema. „Der Kunstkurs bietet erotisches Zeichnen am männlichen Model an.“

„Nacktmodels?“, schnellen Dimitrys Augenbauen in die Höhe. „Cool!”, lechzt der Tscheche. Heute scheint unser gelegentlicher Hetero temporär schwul zu sein.

„Die Filmgruppe befasst sich mit der Theorie und der Praxis von Soft Erotikfilmen.“

„Da muss ich hin!“, ruft Dimitry begeistert dazwischen.

„Die Theatergruppe experimentiert mit der ganzen Palette von Gefühlen und Emotionen“, sieht Jacob in einzeln entflammte Gesichter. „Geschichte befasst sich mit der Vergangenheit und der Gegenwart, wie mit der Mythologie; das Fach bringt euch die Götter- und die Sagenwelt näher. Sport ist jeweils am Sonntag und bietet jede Woche neue Überraschungen. Sport ist der einzige Kurs, bei dem jeder unangemeldet mitmachen kann.“

Ich schweife mit meinen Gedanken ab und höre kaum noch zu. Selbstfindung und das Überwinden von Hemmungen, deswegen bin ich hergekommen. Welche Fächer wären da nützlich? Mythologie und Geschichte interessieren mich brennend, weshalb ich da unbedingt mitmachen werde. Doch wo sonst?

Als Jacob schon Anstalten macht seine Ansprache zu beenden, hungern wir nach mehr Informationen und hängen an seinen Lippen, doch Jacob lässt uns fasten. Statt weiter Geheimnisse zu offenbaren, schnippt er mit seinen Fingern und gleich darauf tragen zwei Köche Töpfe und Schüsseln mit Braten, Kartoffeln und Gemüse auf einen langen Tisch.

Mehr als das, was im Prospekt steht, weiß ich noch immer nicht. Warum sind diese Kurse nur so geheimnisvoll? Liegt es tatsächlich nur an jedem einzelnen, was er aus den angebotenen Lektionen und Möglichkeiten herausholt?

Als Jacob mit einem Teller in der Luft schwenkt, ist klar: die Einführung ist beendet und hier muss sich jeder selbst bedienen.

Ich reihe mich in die Warteschlange ein.

Hinter mir flüstert Jarrett zu Sören: „Ein geiler Schweizer-Arsch!“

„Und seine Beule ist auch nicht zu verachten!“, tuschelt Sören.

Reagiere ich jetzt nicht darauf, werde ich die nächsten sechs Wochen zum Opfer ihrer Späße werden. Ich checke die Jungs hinter mir kurz ab. Jarrett ist Engländer, hat eine breite, bestimmt einmal gebrochene Nase und ist eine bullige Erscheinung, was auf einen echten Boxer schließen lässt. Sören dagegen ist ein feiner Däne mit hellblondem Haar und sommersprossigem Gesicht.

Ich hole tief Atem und spreche so cool mir möglich ist: „Leute, am liebsten wäre ich ja ganz nackt!“ Um noch glaubwürdiger rüber zu kommen, lache ich ihnen frech ins Gesicht. „Nur gibt es dafür noch keine Regeln!“

Sie schlucken meinen Bluff! Jarrett klopft mir anerkennend auf die Schultern. „Coole Einstellung, Swiss Surfer! Ich bin Jarrett. Ich hoffe, wir teilen viele Wahlfächer zusammen.“ Er setzt sich zu mir und Hendric an einen der Tische.

Ty zwängt sich mit seinem vollen Teller zwischen Jarrett und mich auf die Bank der Wand entlang. Verschwörerisch legt er uns beiden seine Arme um die Schultern und zieht uns dicht zu sich heran: „Habt ihr euch schon für Wahlfächer entschieden?“

Jarrett nickt. „Das erotische Zeichnen interessiert mich und natürlich der Filmkurs. Glaubt ihr dem Gerücht, dass wir dabei nicht nur das Drehbuch schreiben und filmen sollen, sondern selber als Schauspieler agieren müssen?“

„Nein!“, winkt Hendric ab. „Wir haben ja auch Aktmodelle!“

Davon sagte Jacob nichts, nur, dass wir am männlichen Model im Zeichnen üben werden. Doch ich behalte das für mich.

„Schade!“, bringt sich Ty ein. „Ich wäre gerne Akt Model. Was ist schon dabei zu posieren? Die alten Griechen zum Beispiel waren nicht nur beim Sport und bei Wettkämpfen vollkommen nackt, sondern auch bei Trinkgelagen und bei vielen Ritualen. Dieses ganze Gerede über Moral und Sünde dient doch nur dazu, die Massen zu unterdrücken.“

„Offensichtlich bist du kein Christ!“, stellt Jarrett fest.

„Nein, bin ich nicht! In Japan gehen wir mit Sexualität anders um, als hier in Amerika; nicht so prüde und verklemmt.“

Keiner von uns ist Amerikaner, doch ich schweige auch dazu.

„In England ist Homosexualität eine Grauzone. Alles findet im Untergrund statt“, erzählt Jarrett.

Bei Small Talk und uns gegenseitig bekannt machen, vergeht die Zeit im Fluge.

„He, Jungs“, serviert uns Hendric später Kaffee, „es ist Sonntagabend. Hat noch jemand Lust dazu, das hiesige Nachtleben zu erkunden? Ich zumindest werde meinen ersten Abend nicht im Zimmer abhängen.“

Das Schlummernde erwacht

Kurz nach zehn Uhr abends streife ich mit meinen neuen Freunden durch die Bars des Castros. Anders als tagsüber pulsiert jetzt etwas Buntes und Lebendiges im Gay Viertel; und es sind nicht nur Neonleuchten, Lauflichter oder farbige Spots in Disco-Kugeln der diversen Lokale. Etwas Schlummerndes ist erwacht. Erstmals fühle ich hier eine Aura, die ich so noch nie erlebt habe, die sich wie ein Regenbogen im Mondlicht offenbart. Jetzt ist hier plötzlich alles schwul: die Leute, die Bars, die Läden, selbst die Hunde, die hier Gassi geführt werden.

In jedem Lokal müssen wir unsere Ausweise zeigen, denn Alkoholausschank ist an Jugendliche unter Einundzwanzig im ach-so-aufgeklärtem Amerika illegal. Viele Bars lassen uns erst gar nicht rein; andere binden uns Plastikbänder an die Handgelenke, die uns markieren: die blauen dürfen saufen, die grünen zusehen und die weißen sind in Begleitung geduldet. Mit meinen etwas mehr als zwanzig Jahren, gehöre ich zu den Geduldeten. Doch da uns der Altersdurchschnitt in vielen Lokalen eh zu hoch ist, spazieren wir nach jeweils nur kurzen Stippvisiten, einfach durch die Straßen des Viertels und lassen alles auf uns einwirken.

In einer Seitenstraße entdeckt Dimitry ein Sex-Kino. „Leute!“, zeigt er auf einen Flyer, der von innen an der Scheibe klebt. „Heute ist hier Live Show zu jeder vollen Stunde!“

„Habt ihr so etwas schon einmal gesehen?“, legt Jarrett mir und Hendric seine Arme um die Schultern.

Da alle nicken, frage ich: „Echt live?“

Alle gaffen mich mitleidig an. Bin ich wirklich das einzige Greenhorn hier?

„Jungs, gehen wir rein“, beschließt Ty und bezahlt für uns alle den Eintritt.

Es ist nicht teuer, dennoch werde ich neugierig: „Sind deine Eltern reich?“

„So ähnlich!“, schiebt Ty meine Frage ärgerlich beiseite, als ob ich ein heikles Thema angeschnitten hätte.

 

Hinter der Kasse durchqueren wir eine Schleuse. Die bunte Welt bleibt draußen, um einer dunklen zu weichen. Bis auf kleine Birnen einer Wand entlang flackernd, gibt es kein anderes Licht hier drin; jede zweite Birne ist müde oder tot. Der Vorführraum ist weit größer, als der Eingang vermuten lässt, wahrscheinlich handelt es sich um eine ehemalige Lagerhalle. Etwa vierzig Männer sitzen einzeln oder zu zweit auf allen Reihen der Kinobestuhlung verteilt. Ty, Dimitry, Hendric, Jarrett und ich drücken uns in eine der hinteren Reihen.

Bald langweilt mich der Sexfilm. Ich finde ihn nicht nur absolut unerotisch, sondern richtig vulgär und eklig. Jarrett flüstert ständig mit Ty, und Dimitry spielt gar an sich rum, wozu seine Hand in seiner aufgeknöpften Shorts steckt. Mein einziger Lichtblick ist eine zufällige Berührung von Hendrics Knie an meinem nackten Bein, was ich viel sinnlicher finde, als das Offensichtliche auf der Leinwand.

Plötzlich bricht der Film ab, was aber nicht weiter auffällt, da von Handlung sowieso keine Rede sein kann. Ein dunstiger Lichtkegel flutete die Bühne. Ein Jüngling betritt seitlich die Erhebung und stellt sich mit umgebundenem Badetuch, Socken und Turnschuhen hinter einen Klappstuhl ins Licht. Ohne Ansage oder Begrüßung, klappt er den Stuhl auf, setzt sich breitbeinig frontal zum Publikum darauf und beginnt seine Schenkel zu streicheln. Seine Erotik-Show ist so mechanisch und voraussehbar, dass ich unweigerlich gähne.

„Geil!“, lechzt Dimitry.

„Lasst uns nach vorne gehen!“, klettert Jarrett über mich und Hendric hinweg. Ty und Dimitry drängen sich gleich nach ihm durch. Dimitry macht sich nicht mal die Mühe, seinen Hosenstall zu schließen.

Weil ich hier nicht alleine zurückbleiben will, schließe ich mich den anderen an, um das peinliche Rubbeln ebenfalls aus der ersten Reihe zu beobachten. Obwohl der Typ nicht schlecht aussieht, strahlt er nichts Sinnliches aus. Banal öffnet er das Badetuch, um zu präsentieren, was er endlich zur vollen Größe erweckt hat. Der Wichser ist frustriert oder ärgerlich? Sein offensichtliches Unwohlsein erstickt jede Lust in mir.

Tys Hand wandert in seine Shorts; und Dimitry beobachtet abwechselnd Ty und den Stripper auf der Bühne und kommt selbst in Fahrt.

Mir tut der Show-Man auf der Bühne leid. Er hat nur Verachtung für sich selbst und das Publikum übrig. „Ich will mir das nicht ansehen!“, murmle ich zu Hendric.

„Ist doch ne voll geile Show! So etwas gibt es in Amsterdam auch, doch die Typen sitzen immer hinter Glaswänden.“

„Das ist Zwangsprostitution.“ Damit stehe ich auf und folge seitlich der Bühne zu einer Seitentür. Die Blicke des Jungen auf der Bühne folgen mir. Ist er traurig, dass ich gehe? Gebe ich ihm Kraft, seine Show durchzustehen? Oder geilt er sich einfach an mir auf? Lächelnd nicke ich ihm zu. Zum ersten Mal kriecht so etwas wie Lust in seine Lenden.

Neben der Bühne öffne ich die Tür zur Toilette. Aber es ist der Eingang zu einem schmalen Flur, an dessen Ende eine Treppe nach unten führt.

„Wo gehst du hin?“, will Hendric wissen, der gefolgt ist.

„Keine Ahnung!“ Meine Neugier zieht mich tiefer ins Ungewisse. Der Keller, in den wir gelangen, ist eine Garderobe mit Schränken. Dahinter, im Zwielicht, befindet sich eine kleine Arena. In ihrem Zentrum steht ein einzelner Stuhl, der schwach von der Decke beleuchtet wird. „Eine weitere Stripp-Bühne“, flüstere ich zu Hendric.

„Timmy, was hast du oben gemeint mit kein Spaß bei der Sache?“

„Hast du es nicht gespürt?“, wundere ich mich, dass Hendric etwas so Offensichtliches nicht wahrgenommen hat.

„Der Wichser war doch nicht schlecht!“, verteidigt Hendric das fade Rubbeln auf der Bühne.

„Er macht es für Geld. Er tut es mit der gleichen Motivation, die andere fürs Geschirrspülen aufbringen oder fürs Hamburger grillen.“

„Na und? Wie sollte er es denn sonst tun?“ Hendric zuckt mit der Schulter und streckt seinen Stachelkopf an mir vorbei ins Schummerlicht des Raums.

Kennt Hendric den Unterschied zwischen Ursache und Wirkung nicht? „Der Stripper fühlt sich als Opfer irgendwelcher Umstände. Er lässt zu, dass andere ihn benutzen.“ Weil es hier unten so stickig warm ist, ziehe ich mir meine Jacke aus und trage darunter das neugekaufte gelbe Tank Top.

„Bist du ein Philosoph?“, checkt er meinen Torso ab.

„Ich beobachte nur“, wische ich die Bemerkung beiseite.

„Wie würdest du es tun?“

„Was tun?“, frage ich.

„Na das, was auf der Bühne abgeht“, streifen Stacheln mein Kinn, als Hendric seinen Kopf wieder ganz aus dem Raum herauszieht.

„Das würde ich niemals tun!“

„Aber falls?“, bohrt Hendric weiter. „Du arbeitest doch daran deine Hemmungen zu überwinden“, kneift er mir frech in den Po.

„Lass das!“ Hätte ich ihm diesbezüglich nur nichts verraten. „Ich würde es nur tun, wenn ich damit Freude vermitteln könnte.“ Hoffend, damit das Thema getötet zu haben.

Als ich mich für den Rückweg umdrehe, hält mich Hendric zurück. Seine Hand berührt dabei meinen Oberarm. „Mann hast du harte Muskeln“, staunt er. „Machst du es für mich?“

„Was?“ Ich weiß genau, was er meint. Etwas lodert kurz tief in mir drin auf; es ist nur ein Aufflackern, dann erlischt der Funke wieder.

„Bitte“, fleht er, meinen Oberarm nochmals streichelnd.

Abermals fühle ich einen Wind über die Glut fegen und Flammen züngeln durch meinen Körper. Eine ähnliche Angst, wie ich sie bei meinem ersten Salto vom Fünfmeterbrett hatte, sackt in meine Knie. Damals war es nur die Überwindung, danach war ich regelrecht süchtig nach den Sprüngen. Panisch, weil ich etwas ahne, das mir einen Mordschrecken einjagt, will ich flüchten, kann mich aber nicht rühren.

„Außer uns beiden ist niemand hier unten!“ Seine warme Hand umklammert jetzt fest meinen Oberarm.

„Ich kann doch nicht ...? Ich werde nicht! Niemals!“

„Bitte, Timmy!“

Vorsichtig spähe ich in den Umkleideraum hinter uns.

„So lange der Stripper oben seine Show abzieht, kommt keiner runter!“, spornt mich Hendric weiter an.

„Ich habe so etwas noch nie gemacht“, gestehe ich. Plötzlich hämmert mein Herz wie eine Ritualtrommel. Mein erster Salto gelang mir auf Anhieb, und das Gefühl danach war mit nichts zu vergleichen.

„Glaubst du etwa ich?“, grinst der hübsche Holländer.

„Soll ich wirklich?“ Der Gedanke daran reizt und erschreckt mich.

„Bitte!“

Die zwei Schritte bis zum Stuhl sind weiter, als meine Reise aus der Schweiz nach San Francisco. Hemmungen in den Griff zu kriegen ist eines, vor einem Typen, der bei mir solches Herzklopfen verursacht, zu wichsen, etwas vollkommen anderes. Dennoch, mehr als unter der Dusche oder bei Tys Vorführung meiner Peinlichkeiten, wird Hendric in diesem Schummerlicht auch nicht zu sehen bekommen.

Plötzlich packt mich Hendric um die Hüften und schiebt.

„He!“, reklamiere ich und plumpse rückwärts auf den Stuhl.

Hendric setzt sich auf die unterste Stufe der Arenabestuhlung und schmachtet mich verliebt an.

Mein rechtes Knie beginnt unkontrolliert zu wippen.

„Bitte!“, fleht der Bengel.

Unsere Blicke treffen sich.

„Bitte!“, haucht er abermals.

Ungelenkig streichle ich mir über meine Brust und schmachte Hendric an. Verliebe ich mich gerade in diesem Holländer?

Hendric seufzt erleichtert.

Ich sitze auf dem Stuhl und gleichzeitig beobachte ich mich, wie ich mir mein Tank Top über den Kopf ziehe. Meine Kehle brennt. Meine Scham glüht, doch ich bin entschlossen, sie in den Schmelzofen zu schieben, um sie für immer auszubrennen. Etwas Unbekanntes von mir, etwas unförmig Klumpiges wird auf einen Amboss gedrückt und mit Hämmern bearbeitet.

Ich sehe an mir runter. Mein Torso schimmert im gelblich schmutzigen Licht dieser privaten Arena. Funken sprühen. Meine Angst wehrt sich. Langsam schlüpfe ich aus meinen Flip-Flops. Kaum fühle ich den kalten Boden unter meinen nackten Füßen, durchzuckt mich ein neues Gefühl. Der Klumpen nimmt eine neue Form an. Der Schmied haut gnadenlos zu. Meine Shorts beult sich vorne aus und strapaziert arg den weichen Stoff. Die neu geschmiedete Waffe wird gleich meine letzten Hemmungen zerschmettern.

Hendric schluckt nervös.

Mein Körper flammt, meine neu erwachte Lust müsste gleich die Luft entzünden.

„Hier steckt ihr!“, streckt Jarrett seinen Kopf in den Raum.

Ty mustert mich neugierig: „Privatshow? Geil!“

Verlegen haste ich ins gelbe Shirt zurück. Das noch glühende Schwert meines neu erwachten Selbstvertrauens, landet im Wasserbad, um sich abzukühlen. Noch längst ist die Klinge nicht tauglich; sie müsste noch einige Male erhitzt, gefaltet und abermals geschmiedet werden, um stählern im Kampf etwas zu taugen.

Als ich auch meine Jacke wieder anhabe, um meine Beule zu verstecken, frage ich mich ernsthaft: Hätte ich es wirklich getan? Ich ertappe mich beim Gedanken, es zu bedauern, gestört worden zu sein.

„Stören wir euch beide?“, fragt Jarret, nachdem es eh zu spät ist.

„Nein!“, verwischt Hendric die letzten Spuren unserer intimen Zweisamkeit und zieht mich vom Stuhl hoch.

„Ist die Show des Strippers schon vorbei?“, krächzt meine Stimme, noch immer verlegen und unsicher über meine neue Bereitschaft.

„Kaum, dass du ihn beim Verlassen des Vorführraums angesehen hast, wurde er richtig geil. Er kam, ging und kehrte nicht zurück“, klingt Dimitry enttäuscht über das kurze voyeuristische Vergnügen. „In einer Stunde tritt er nochmals auf!“

„Der kann schon wieder?“, zweifle ich.

„Überprüfen wir es in einer Stunde!“, schlägt Dimitry vor.

„Ohne mich!“, winke ich ab.

 

Wir verlassen kurz danach das Kino.

Zuhause klebt das Unwohlsein der Live Show und dem Sex-Kino an mir. Dimitry putzt sich nur rasch die Zähne und schlüpft nackt unter seine Decke. Eine Straßenlaterne spendet von draußen gerade genügend Licht, um den nackten Ty auf seinem Weg ins Badezimmer zu beobachten.

Ich folge ihm mit meinem Badetuch fest um meine Hüften gebunden. Zähne putzend warte ich, dass Ty mit Duschen fertig wird, um sich danach schlafen zu legen. Heute habe ich mehr Erotik, als in meinem bisherigen Leben erfahren. Als Ty in seinem Bett liegt, kommt Hendric zu mir ins Badezimmer.

Er knipst das Deckenlicht aus, dass nur noch zwei kleine Lämpchen über den Waschbecken ihr schwaches Licht spenden. Wie sinnlich der Holländer in diesem schwachen Licht aussieht. Die wenigen Körperhaare auf seinen Armen und Beinen kräuseln sich hellblond. „Duschen wir zusammen?“ Plötzlich wieder scheu, will ich verneinen. Doch seine Hand fasst schon nach meiner und führt mich zur Kabine. Sein Badetuch schwingt er über einen Haken und nimmt mir meines ab.

Wenigstens fällt das Strippen diesmal weg. Ich lösche das Licht. Im Wasserdampf des nur vom Zimmer aus indirekt beleuchteten Badezimmers verschwimmt Hendrics Körper. Ich zittere, als ich ihm unter dem Wasserstrahl meinen Rücken zukehre, um zu verbergen, was wieder passierte. Da fühle ich Shampoo über meine Schultern rieseln.

„Ist dir kalt?“, fragt er, auf mein leises Zittern reagierend.

Kopf schüttelnd drehe mich zu ihm um.

Er sieht nach unten. Er lächelt und streichelt mir über meine Brust. Als seine Hand nicht weiter forscht, sondern sich selbst einzuseifen beginnt, bin ich zu feige, ihm zu helfen.

Wir haben noch sechs Wochen Zeit uns näher zu kommen!

Twin Peaks

Ich stehe an einer Wandtafel vor versammelter Klasse, die mich von hinten mustert. Die Formel zur Lösung meiner gestellten Aufgabe kenne ich nicht. Unbehaglich starre ich die schwarze Fläche vor mir an, doch ich kann mich nicht daran erinnern jemals von dieser Formel gehört zu haben. Der Lehrer räuspert sich und ich drehe mich konsterniert zu ihm um, da platzen die Knöpfe meine viel zu enge Hose und sie rutscht mir bis zu den Knöcheln runter. Erst glotzen mich alle an, dann explodiert ihr Lachen. Aus Scham über diese Peinlichkeit, meiner Dummheit, die Lösung nicht zu erkennen und dem Gelächter meiner Mitschüler flüchte ich aus dem Klassenzimmer.

 

„Tim, bis du wach?“, flüstert Dimitry in der Dunkelheit.

Als ich meinen Namen höre, schüttle ich den Albtraum ab und hocke mich in meinem Bett auf. Seit bestimmt zwei Stunden wälze ich mich schon unruhig und träume seltsame Dinge. Eine Straßenlaterne, die durch die Zypressen vor unserem Fenster etwas Licht spendet reicht aus, dass ich den Tschechen in seinem Bett sehen kann. Dimitrys rechte Hand vollzieht unter der Decke eindeutige Bewegungen.

„Machst du mit?“, fragt er mich und grinst.

Zu feige dazu, schüttle ich meinen Kopf und der Tscheche legt sich wieder hin, um noch eine Mütze Schlaf zu kriegen. Als ich sicher bin, er schläft wieder, schleiche ich mich ins Badezimmer. Draußen ist es noch dunkel. Als ich meine Armbanduhr checke ist noch nicht mal fünf Uhr in der Früh. Das müssen die Auswirkungen des Jetlags sein, immerhin beträgt der Zeitunterschied zur Schweiz neun Stunden. Wie meine Room Mates noch schlafen, wundert mich.

Ich dusche mich und ziehe mir danach meine neue Shorts und heute das ebenfalls neue hautenge Shirt an. Weil ich darin wirklich sexy aussehe, verstecke ich es unter einem Jeanshemd, das ich mir darüber anziehe. Sollte ich mich später sicherer fühlen, kann ich mir das Hemd immer aufknöpfen oder es mir um die Hüften binden. Ohne die anderen zu wecken, schleiche ich aus meinem Zimmer und aus dem Campus Eins, um zur Castro Street, die nur ein Steinwurf entfernt liegt, zu spazieren.

So früh morgens sind nur wenige Ladenbesitzer und ihre Angestellten beschäftigt; meist sind es die der Coffee Shops oder der Restaurants, in denen man Frühstücken kann. Während einige Männer ihre Schaufensterscheiben putzen, räumen andere gelieferte Waren rein oder wischen Tische. Weil sie mich alle lächelnd mustern, während ich auf der Straße auf und ab schlendere, fühle ich mich immer wohler. Immer wieder winkt mir der eine oder andere zu. Jeder begrüßt mich mit Hi, Dude, how are you? oder What’s up, guy? Nicht einer hat ne bissige Bemerkung über meine Hosen. Erstmals kann ich den Herzschlag des schwulen Zentrums schlagen hören; dieses Herz schlägt im Einklang mit meinem. Erstmals fühle ich mich nicht wie ein Außerirdischer oder wie ein Außenseiter. Hier bin ich einer wie jeder andere. Stammen meine Hemmungen wirklich nur der Angst, nicht als Schwuler entlarvt zu werden? Hier existieren diese Ängste nicht. Es stört mich nicht, wenn mir die Kerl auf meinen Hintern gaffen, ich tue es bei ihnen ja auch. Entschlossen ziehe ich mein Jeanshemd aus und blähe meine Brust. Außer bei einem Wettkampfsieg fühlte ich mich bis jetzt noch niemals zuvor so selbstsicher.

Ohne es zu bemerken, stehe ich irgendwann später vor der Boutique, in der Ty mir gestern mein neues Ich verpasste und sehe mir die Waren im Schaufenster an.

„Die neuen Sachen passen zu dir! Ich habe eine andere Hose, die noch besser zu deinem neuen Shirt passt. Willst du sie sehen?“ Es ist der Verkäufer, der gerade die Castro hochkommt, um seinen Laden zu öffnen. „Komm rein!“, hält er mir die Tür auf.

„Ja, gerne!“

„Setz dich“, weist er mir einen Hocker zu. Das affektierte Getue vom Vortag ist einer normalen Stimme wie Auftreten gewichen; sein Huch und Hach muss wohl zu seiner Verkaufsmasche dazugehören, denn jetzt ist nichts davon zu erahnen. Zielsicher greift er in ein Regal und kommt mit einer langen luftigen Hose zurück. Im Bund ist sie genauso Figur betont geschnitten, wie die, die ich anhabe, nur ist der neue Stoff nicht nur flatternd leicht, sondern auch ziemlich transparent.

Als der Verkäufer meinen kritischen Blick bemerkt, zeigt er auf eine eingenähte Lasche. „Vorne!“, schiebt er seinen Finger hinein und sie verschwinden unsichtbar unter dem Stoff, „hebt diese Tasche, was dich zum Mann macht hervor, lässt deinen Penis darunter aber unsichtbar. Versuche sich doch mal an!“

Unsicher blicke ich mich um.

„Wir sind alleine!“

Bevor ich mich hemme, streifte ich meine Hose runter und da ich nichts drunter trage, stehe ich kurz nackt im Laden. Der Verkäufer beobachtet mich mit wachem Interesse. Kaum umgezogen, zieht er mir die Hose, bevor ich sie zuknöpfen kann, vorne wieder runter, schnappt sich meinen Penis und schiebt ihn durch ein Loch im Stoff in die eingenähte Tasche.

Zu erschrocken um zu reagieren, lasse ich ihn gewähren. Noch nie hat ein anderer Mann das berührt, was der Verkäufer jetzt unter dem Vorwand des Instruierens in Händen hält. Ich blicke ihm kurz ins Gesicht, doch er bemerkt es nicht. Es ist tatsächlich nichts mehr dabei, als eine bloße Hilfestellung oder der fachmännische Griff eines Textilverkäufers. Der Hosenstoff fühlt sich wie Baumwolle an, ist aber viel weicher. Als ich mich vor dem Spiegel ansehe bleibt der Stoff überall, bis auf die Intimzone vorne, leicht durchsichtig. Sie erinnert mich an eine Trainingshose, die ich bei Leichtathletik über meine Turnhose ziehen kann. „Toll!“, höre ich mich sagen. „Was kostet das Ding?“

„Geld ist nicht alles“, winkt er ab.

„Was hat das zu bedeuten?“ Es sind zehn Schritte zur Tür.

„Nicht, was du vielleicht jetzt denkst. Dein Freund hat die Hose gestern schon mitbezahlt. Er scheint dich gut zu kennen und ahnte, dass du bald danach suchen würdest.“

„Bin ich so leicht zu durchschauen?“

„In diesem Aufzug schon“, grinst der Verkäufer. „Soll ich die Hose mit der du gekommen bist für dich einpacken oder holst du sie später hier ab?“

„Ich hole sie später hier ab.“ Zusammen mit dem Jeanshemd packt der Verkäufer beides in eine Plastiktüte und verstaut sie unter dem Tresen.

Wieder auf der Straße, fühle ich mich schneeweiß gekleidet gerade ganz und gar nicht unschuldig. Der Penisschutz beult meine Intimzone provozierend aus, als ob ich ein Ballett Tänzer auf der Bühne sei; und so ähnlich komme ich mir wirklich gerade vor, als ich die neuen Blicke der Passanten wahrnehme. Abermals stören mich die Blicke der Männer überhaupt nicht. Irgendwann frage ich mich, ob ich andere Kerle auch so schmachtend ansehe? Falls dem so wäre, müssten mich doch all meine Kumpels in der Schweiz längst als schwulen Mann entlarvt haben.

 

Anders als gestern Nacht, verwandelte sich die Castro Street im Tageslicht wieder zurück in eine beinahe normale Straße. Würden die Regenbogenflaggen nicht etwas Farbe bringen, die Straße wäre langweiliger Durchschnitt. Ob hier der Zahn der Zeit an den Hausfassaden nagt oder ob hier immer schon nur die Fantasie allem etwas Magie verliehen hat, kann ich nicht beurteilen. Aber hier kommt ja eh keiner wegen den Gebäuden her.

In einem Eckcafé in der 19th Street bestelle ich mir einen Kaffee an der Theke und setzt mich damit an die Fensterfront. Überall liegen Gay Magazine herum. Wie hätte sich wohl meine Teenagerzeit angefühlt, hätte es in Basel eine Straße, wie die Castro gegeben? Hier muss ich niemandem etwas vorspielen, hier kann ich einfach der sein, der ich bin. Übermütig lege ich mir die Füße relaxed auf dem Sims hoch.

„Bitte nicht mit Schuhen auf das Mobiliar!“, belehrt mich der junge Typ am Tresen, der mir vorhin den Kaffee ausschenkte.

Ich schlüpfte aus den ledernen Flip-Flops und rekle mich abermals in der Morgensonne. Der Kellner checkt mich ab und schüttelt lachend seinen Kopf. Erst da wird mir bewusst, dass meine Füße generell nicht auf den Sims gehören, doch da er abwinkt, als ich sie runternehmen will, lehne ich mich im Stuhl zurück, um die Magazine zu studieren. Zum ersten Mal im meinem Leben flirtet ein Mann ganz offen mit mir in aller Öffentlichkeit. Erstmals passiert es nicht heimlich oder so, dass es auch als Missverständnis interpretiert werden könnte.

Vor dem Coffeeshop bleiben zwei Kerle stehen und beobachten mich schwatzend durchs Fenster. Überwältigt von der neuen Selbstverständlichkeit, winke ich ihnen spontan zu.