Am Quell der Weisheit - Manuel Sandrino - E-Book

Am Quell der Weisheit E-Book

Manuel Sandrino

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Beschreibung

 Markku Moor ist ein junger Draufgänger aus Basel. Er lebt mit Apollon Holmström, seinem Märchenprinzen, zusammen. Die beiden sind ein glückliches Liebespaar und zudem auch die besten Freunde. Alles könnte perfekt sein, wären da nicht diese wiederkehrenden Albträume, in denen Markku versucht, Wahnsinn von Weisheit zu trennen. Jeden Morgen fühlt er sich nur noch als ein Schatten seines früheren Selbst. Alles Zureden seines Lovers hilft nichts; Markku ahnt Böses auf sich zukommen.  Um sich abzulenken, trainiert Markku regelmäßig. Beim Joggen am Rhein belauscht er Molpe, den er von früher kennt. Molpe war schon immer seltsam, denn der kleine Kerl schwimmt zu jeder Jahreszeit im Rhein und singt mit Vorliebe auf Brückenpfeilern sitzend. Fortan locken verführerische Gesänge und Klänge Markku in Albträume, in denen er von Sirenen in die Tiefe gezerrt wird. Als er kurz darauf wirklich beinahe ertrinkt, wird er ausgerechnet von Molpe gerettet. Das hat seinen Preis. Er muss Molpe helfen, dessen fünf Brüder, die über halb Europa verteilt leben, zu finden.  Die Brüder hüten ein Geheimnis, das mit dem vergifteten Quell der Weisheit zu tun hat. In Wien verbündet sich Markku mit drei Brüdern von Molpe. Er traut ihnen jedoch nicht recht über den Weg. Wie die Sirenen in der Mythologie, sind auch die Sirenen-Brüder erotische Wesen, die mit Sex und Verführung jeden ins Verderben locken. Trotzdem muss Markku auch noch die letzten beiden finden, die in Las Vegas leben. Durch seine Träume weiß er, dass er nur mit allen sechs Sirenen-Brüder zusammen den Quell der Weisheit finden kann.

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Manuel Sandrino

Am Quell der Weisheit

Von Manuel Sandrino bisher erschienen:

„Eros‘ Flüstern verändert alles

ISBN print: 978-3-8636-1585-7

„Was der Wind nicht verwehen kann“

ISBN print: 978-3-8636-1545-1

„Nackte Geheimnisse“

ISBN print: 978-3-8636-1482-9

„Apollon und Mercury – Einer muss sterben“

ISBN print: 978-3-8636-1385-3

„Apollon und Mercury – Wahre Träume leben“

ISBN print: 978-3-8636-1379-2

„Selbstverständlich schwul!“

ISBN print: 978-3-8636-1524-6

 

Alle auch als E-book erhältlich!

 

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de / E-mail: [email protected]

 

© Manuel Sandrino; Originalausgabe, Juni 2017 Am Quell der Weisheit

© Himmelstürmer Verlag

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.

 

Coverfotos: shutterstock.

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

Nach einer Idee von Manuel Sandrino

 

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

ISBN print 978-3-86361-602-1

ISBN epub 978-3-86361-603-8

ISBN pdf 978-3-86361-604-5

 

 

Für alle mutigen Löwen, diese Könige ihres eigenen Lebens.Für alle, die ihre eigene Erleuchtung ernst nehmen und etwas dafür tun.

Vorwort

Wir alle sind Löwen; Könige unseres eigenen Lebens.

 

Die Zeit der Selbstfindung und der Umwandlung in sein wahres und reifes Selbst ist mit der Reinigung des Quells der Weisheit vergleichbar. Es ist ein Prozess des sich Entdeckens. Es ist die Zeit zum Brüllen und sich seine Mähne wachsen zu lassen. Doch erst muss die Löwentat vollbracht werden.

All die Steine auf dem Lebensweg müssen weggeräumt und zu Juwelen der Einsicht geschliffen werden. All die Regeln, die der junge Löwe von Eltern, Lehrern und Vorbildern gelernt hat, muss er jetzt nach eigenem Gutdünken anwenden und sich gleichzeitig von ihren Begrenzungen befreien. Mit jeder weiteren Tat kommen Charakterzüge zu tage, die das Leben als solches ausmachen. Immer wieder muss der Löwe den Schmutz seiner Gedanken und seiner Gefühle beseitigen, damit sein Sonnenherz erstrahlen kann.

Tausend Verlockungen und Ablenkung werden zum Sirenengesang. Überall lauert Gefahr, Verblendung und Dinge, die ihn daran hindern, sein Potenzial auszuschöpfen. Erliegt der junge Löwe ihren Betörungen scheitert er, strandet auf einer einsamen Insel oder wird von Ungeheuern gefressen. Tropfen um Tropfen muss auch das letzte Gift der Bevormundung und der einschränkenden Zwänge getrunken werden, um all die Lektionen des Lebens in seinen Quell der Weisheit umzuwandeln.

Danach kann der junge Löwe all die Regeln der Vergangenheit im Grunde vergessen, weil er sie sich angeeignet hat. Durch seine ureigenen Erfahrungen erkennt er jetzt die Differenz zwischen Schein und Sein. Er wird fähig Lüge von Wahrheit und Falschheit von Liebe zu unterscheiden. Er hört jetzt auf den Pulsschlag des Lebens und folgt ihm. Er wird selbst zum Quell der Weisheit, der zum Lebenselixier und zum Glück für alle in seinem Umfeld wird.

SCHWARZ

„Ja, Sie befinden sich in dem Ihnen zustehenden Bewusstseinszustand – aber wie lange wollen Sie noch darin bleiben? Für immer?“ – Harold Klemp

Verflucht oder Gesegnet?

Ich fluche in allen Sprachen, die mir bekannt sind – und das sind zahlreiche. Einige davon wurden noch nie zuvor in der Gegenwart ausgesprochen, denn sie müssen erst noch erfunden werden; andere gehören längst vergessenen Zivilisationen an; oder es sind Worte aus dem verbotenen Geflüster der uralten Götter. Ich verfluche mein Schicksal. Ich verfluche meine Neugier und vor allem verfluche ich meine Machtlosigkeit.

Hier stehe ich nun in einer Wüste, die so leer und tot ist, wie ich mich fühle. Im Westen versinkt die Sonne über bläulich schimmernden Bergen. Bald wird das aufkommende Grau vom Schwarz der Nacht vertrieben. Bald werden auch die letzten hier kaum vorhandenen Farben geschluckt. Viele Farben bringt diese endlose Leere eh nicht hervor. Da ist ein vergammeltes Grün von einem vertrockneten Kaktus; das verblassende Blau der Berge; ein letztes oranges Aufflackern der Sonne; ein Streifen Violett vor der Dunkelheit; ein paar Tropfen meines roten Blutes, als ich mich vorhin an einem der scharfen Steine geschnitten hatte; und natürlich der gelbe Sand, der alles um mich herum zudeckt. Mich dürstet nach Wasser, nach Kühlung und vor allem nach Leben. Wie der Kaktus verdorre auch ich, nicht von der Wüstensonne, die den ganzen Tag auf mich niederbrannte, sondern vor der alles aufsaugenden Leere dieser Welt. Irgendwo hier liegt meine Zukunft begraben, gefangen im Loch, das ich selbst als sein Gefängnis geschaufelt habe. Ob mein Nachfolger sich meiner Schätze bereits bemächtigt hat?

Ich weine, doch nicht einmal Tränen vermag mein ausgetrockneter Körper zu manifestieren. In mir gibt es kein Wasser mehr. Das Feuer hat alles verzehrt. Mit einem gewaltigen Blitz wurde alles aus mir rausgebrannt. Zurück blieb nur eine leere Hülle. Mein Lebenswille und meine Säfte verbrannten ebenfalls. Gewohnheitsmäßig umklammere ich die Lederschnur um meinen Hals. Aber auch das Symbol meiner Macht ist weg. Nichts ist mir geblieben, bis auf die Lederschnur.

Diese endlose Leere um mich herum erinnert mich an mein eigenes Versagen. Hier wächst seit Tausenden von Jahren nichts mehr. Ob auch ich für Jahrtausende von meinem Erbe getrennt sein werde? Verzweifelt fahre ich mir durchs staubige Haar. Was ich war, existiert nicht mehr; was ich heute bin, ist nur noch ein Schatten meines wahren Selbst; und was aus mir werden soll, verschlingt gerade diese Schwärze ohne Zukunft. Damals – heute – morgen, für mich sind das nur Sandkörner der Lebensuhr, die erneut Kopf steht.

Ich laufe weiter auf dem toten Boden. Ich flüchte dem letzten Licht der Sonne entgegen. Das neue Ziel ist mir fremd und so egal, wie der Ort, den ich gerade noch das Hier und Jetzt nannte.

Ich war so kurz davor, ein Gott zu werden.

Ich stand schon auf der Schwelle zum Olymp.

Dann erschien Er. Er raubte mir alles. Er, der die Götter vernichten und die Pforten zum Olymp für immer schließen soll. Ich hielt ihn auf! Der Preis war gewaltig. Es kostet mich alles, was ich zu geben hatte.

Und der Lohn dafür? Nichts! Leere! Dieses Schwarz, das immer dichter wird.

Abermals verfluche ich ihn, dann mich, weil ich ihn nicht stoppen konnte. War ich früher frei auf dem Pfad der Götter zu wandeln, ist das aufkeimend Göttliche in mir heute nur noch eine blasse Erinnerung. Die Welten zwischen Schein und Sein driften auseinander. Was würde ich alles tun, um dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten und der Weisheit zu erlauben wieder von mir Besitz zu ergreifen?

Ich weiß, dass ich nur noch ein ganz normaler Teenager bin, der irgendwann zurück in seinem physischen Körper erwachen wird. Diese Welt, in die ich mich träumte, gehört zu einer anderen Dimension. Es ist dies eine Welt, die mir klar zeigt, was aus mir geworden ist: ein Nichts im Nichts. Natürlich kann ich noch träumen – das kann jeder – doch das bewusste Reisen in die anderen Dimensionen ist nur noch ein kümmerlicher Rest von dem, was es einst zustande brachte. Ich wandelte am Rand der Zeit, surfte auf den kosmischen Wellen durch die verschiedenen Himmel und besuchte Götter und Titanen. Heute wird das Schwarz bald das letzte Licht löschen, mich schlucken, verdauen und ausgelaugt wieder auskotzen.

Ich sollte handeln. Ich sollte etwas verändern. Wie? Mein hilfloses Lachen klingt hohl und wahnsinnig in der leeren Weite dieser Todeswüste.

„Hilfe!“, brülle ich in die immer dichter werdende sternenlose Schwärze. „Ich gebe noch nicht auf! Hört ihr mich!“ Drohend erhebe ich meine beiden Fäuste gegen das Schwarz. „Zeus, prüft mich! Gib mir eine zweite Chance! Zeige mir, wie ich meine Gaben wiedererlangen kann!“

Verzweifelt sacke ich auf meine Knie: „Bitte!“, fleh ich. „Ich tue alles, was nötig ist!“

 

Stand ich gerade noch in der ewigen Leere, befinde ich mich jetzt am Ufer eines Ozeans. Dunkle Wellen schwappen ans Ufer, lecken die Felsen und schäumende Gischt spuckt mir ihr Salz ins Gesicht. Bis zu den Knöcheln stehe ich in faulig stinkenden Algen. Auch in dieser Welt ist es dunkel. Auch hier versank die Sonne längst hinter dem Horizont. Der einzige Unterschied ist ein einzelner Stern, der über mir flackert. Ein Funke Hoffnung! Sein Licht reicht nicht aus, diese Welt zu erleuchten, doch mein Geist zerrt von seiner Gegenwart.

In der Nähe schaukelt ein Boot zwischen den Felsen, vertäut an einer angespülten Wurzel eines toten Baums. Erst durch die schleimigen Algen, dann bis zur Hüfte versinkend, wate ich durch Seegras und tote Muscheln, um das Boot zu erreichen. Sein nasses Holz riecht modrig. Ob es mich überhaupt noch tragen wird? Da ich nichts zu verlieren habe, hieve ich mich an Bord. Das tiefschwarze Wasser sieht aus wie Öl. Im Bug liegen stinkende Netze und Körbe zum Krabbenfischen. Nackt setze ich mich auf die einzelne Bank im Heck, schiebe die Ruder durch die Riemen und beginne zu paddeln. Nur der Stern über mir ist noch zu erkennen, der Rest der Welt wird zu einer einzigen schaukelnden Masse. Himmel und Ozean drohen eins zu werden. Nur ich, als winziger Punkt, trotze ihrer vollkommenen Verschmelzung.

Raum existiert nicht mehr, und die Zeit wurde in dieser Welt noch nicht erfunden. Wenn auch mutlos, dann nicht ohne etwas neu erwachten Abenteuergeist rudere ich immer weiter auf diesen Ozean hinaus. Bis auf das gelegentliche Platschen von Wellen, die vom Bug durchpflügt werden, ist es sonst still. Wenn ich auch selbst noch nie auf dem Styx gefahren bin, dann doch auf einem der anderen Flüsse der Unterwelt. Dies hier muss einer der Flüsse in Hades‘ Reich sein. Ob Zeus mich als Strafe für mein Versagen dahin – hierher – verbannte?

Warum kann ich meine große Klappe auch nie halten? Wer verspricht dem Vater und Herrscher aller Götter schon, dass er zu allem bereit sei?

Ein wunderschöner Gesang durchbricht die gespenstische Stille dieser Finsternis. In meinem ganzen Leben hörte ich noch nie derart schöne Stimmen. Eh vollkommen ziellos herumirrend, steuere ich jetzt auf die Sänger zu. Je näher ich komme, desto sicherer bin ich mir, dass hier Männer singen. Die Sprache ist mir unbekannt. Aber wen kümmern Worte, wenn Melodien und Rhythmen derart himmlisch klingen? Es gibt doch Hoffnung! Selbst wenn meine Augen in dieser Schwärze vollkommen blind geworden sind, so öffnen sich doch meine Ohren. Mein Geist erinnert sich der Schönheit, der Reinheit und des Göttlichen, das ich so freizügig geopfert hatte. Für den Moment glaube ich, es noch immer irgendwo, als bloße Ahnung nur, zu fühlen. Strenge ich mich nur genügend an, könnte ich es vielleicht – nur vielleicht – wieder in mein Bewusstsein ziehen.

Plötzlich gerät mein kleines Boot ins Schwanken.

Alles Ausbalancieren mit den Rudern hilft nichts, mein Gefährt kippt seitlich so arg, dass es droht zu kippen. Mir ist im neuen Wellengang bald zum Kotzen übel. Etwas reißt mir erst das eine Ruder, dann das andere aus meinen Händen, und das mit solcher Kraft, dass meine Hände bluten. Das Salzwasser brennt wie Drachenrotze – würde es das geben – in den Wunden.

Über mir flackert der einzelne Stern und unter mir boxen Wesen hämmernd und aggressiv an den Rumpf. Immer heftiger werden diese Schläge, bis das Holz an einer ersten Stelle berstet und kaltes Meerwasser eindringt. Werde ich von Haien angegriffen? Aber boxen Haie in Schiffsboden? Bin ich im Gewässer der Sirenen gelandet?

Ein zweites, bald ein drittes und viertes Loch klaffen unter mir. Immer rascher füllt sich das kleine Boot mit dem Ozean um mich herum. Natürlich kann ich schwimmen, doch das will ich jetzt nicht. Nicht mit Ungeheuern oder menschenfressenden Sirenen unter mir. Das Boot sinkt und ich mit ihm, wenn ich nicht endlich den Sprung ins kalte Wasser wage. Vielleicht gelingt es mir, die Sirenen zu erschlagen? Kaum kopfüber im schwarzen öligen Wasser versunken, packen eiskalte Hände nach mir.

„Schickt euch Zeus?“, frage ich Wasser ausspuckend, als die erste der Meeresnymphen vor mir auftaucht.

„Wir sind hier, um dich zu töten!“

 

In einer ganz anderen Welt, in der die Zeit anders verläuft, schrecke ich aus dem Albtraum auf. Ich zittere am ganzen Leib. Eklig klebt das durchschwitzte Laken auf meinem nackten Körper. Oder ist es das ölige und stinkende Wasser aus dem Ozean? Nur langsam lässt mich die Panik aus ihrem Würgegriff. Die Erinnerung an die Griffe der kalten Hände verblasst. Nur langsam beruhigt sich mein Herzschlag.

„Verdammte Albträume!“, knurre ich.

Ich strample mich aus dem Bettzeug und stehe auf. Seit ich aus Miami Beach zurück bin, plagen mich Nacht ein, Nacht aus, ähnliche Albträume. In immer neuen Bildern manifestiert sich mein Versagen.

Wenigstens scheint in meiner gewohnten Welt die Sonne! Ihr Licht brennt auf den Fensterrahmen. Ob ich mit einer Lupe nachhelfen sollte? Ein Psychiater benutzte Worte, wie Lupen, um meine Schuldgefühle zu verkohlen. Gezielt versuchte er mir einzureden, dass meine Träume nur abenteuerliche Hirngespinsten wären, die meiner Fantasie entspringen. Er sprach von Fluchtträumen, die ich mir ausdenke, um der Wirklichkeit zu entfliehen. Dann behauptete er wiederum, dass alles gehöre zur Aufarbeitung der diversen Schockerlebnisse, die ich in Miami Beach erlitten hatte: der Schuss auf meinen besten Freund, das ganze Blut, sein Koma und meine folgende Hilflosigkeit.[1] Als dann auch noch mein Lover Apollon ins Koma fiel, wäre das einfach zu viel für mich gewesen. So riet mir der Psychiater, ich solle mir Zeit geben – viel Zeit! Verlust und Trauer bräuchten Zeit um zu heilen. Zeit! Zeit! Zeit! Was weiß dieser Typ schon darüber, was in Miami Beach wirklich passierte? Psychiater, Gedankenjongleure, Pfaffen, alle sind sie Quacksalber mit Diplomen, die sie befähigen, andere zu plagen. Der einzige Vorteil der Besuche beim Psychiater sind die drei Monate, die er mich zur Erholung krankgeschrieben hat. Natürlich muss ich trotzdem den Schulstoff büffeln, doch das kann ich jetzt von zu Hause und via meinem Computer machen. Als Klassenbester kann ich es mir erlauben.

Meine diversen Reisen auf dem Pfad der Götter sind keine Hirngespinste. Der Psychiater verstand das nie. Für mich sind es Erinnerungen an frühere, zukünftige oder parallel stattfindende Leben. Basta! Meine Erlebnisse sind meine Realität. Eine Realität, die mein Denken, mein Fühlen und all mein Handeln im Hier und Jetzt beeinflussen. Was kann also realer sein?

Apollon riet mir, die Besuche beim Besserwisser einzustellen, denn mein Lover kennt die Wahrheit. Er weiß, dass ich nicht verrückt geworden bin. Gut, vielleicht hätte der Seelenklempner mir wirklich helfen können, hätte ich ihm die Wahrheit erzählt? Das, oder er hätte mich in die Klapse einliefern lassen und den Schlüssel ins Meer geworfen? Zu riskant! Nein, was ich und Apollon in Miami Beach erlebten, muss geheim bleiben.[2]

„Somewhere over the rainbow...“, summe ich einen uralten Song von Judy Garland, der im Radio läuft mit. Tief inhaliere ich die Morgenluft, rümpfe aber sofort meine Nase. Etwas stinkt gewaltig. Angewidert schnüffle ich an mir selbst. Mein eingetrockneter Angstschweiß beleidigt meinen Geruchssinn.

Unter der Dusche lasse ich das kühle Wasser meine Naturlocken eine Maske formen, die mein Gesicht verdeckt. Irgendwann muss ich diesen Vorhang lüften, um der neue Realität wieder ins Auge zu blicken. Endlich drehe ich den Wasserhahn zu und schüttle mich wie ein Welpe trocken. Auf ein Badetuch verzichte ich. Ich bin ein Freund des Nacktseins. Zudem sind meine Eltern und meine beiden jüngeren Geschwister bei Oma und Opa. Ich bin unbeobachtet.

GRÜN

„Den Spirit zu verstehen, heißt, ewiges Leben zu verstehen; denn im physischen Körper zu leben bedeutet eingesperrt zu sein; aber fähig zu sein, den Körper willentlich zu verlassen und in bisher unbekannte Welten zu reisen, ist eine reine Freude.“ – Paul Twitchell

Dunkle Schatten

Ich bin nicht der, der ich sein sollte – nicht einmal annähernd! Ungeduldig stehe ich vor dem Tinguely Museum in Basel, warte auf Apollon – wieder einmal – und betrachte mein Spiegelbild in der Scheibe. Das Museum ist schon geschlossen. Obwohl ich vom langen Sommer und meinem fast sechswöchigen Urlaub in Miami Beach braungebrannt bin, wirke ich dennoch müde und ausgelaugt. Mein Anblick ist echt nicht der, der sich ein Achtzehnjähriger wünscht. Einmal mehr kaschiere ich es mit einem dummen Grinsen. Posen übend, hoffe ich, dass mich niemand dabei beobachtet. Ausgerechnet als ich meinen Torso voll aufgeblasen habe und meinen Arsch mit angewinkelten Armen rausstrecke, winkt mir ein Museumswächter zu, der plötzlich hinter einer Skulptur auftaucht.

Natürlich hat er mich beobachtet. Jetzt hebt er einen auf den Boden gefallenen Prospekt auf und schaltet den Strom für eine der beweglichen Maschinen des Künstlers aus. Ich tue so, als ob nichts vorgefallen sei. Als der Mann aber erneut in meine Richtung sieht, begrüße ich ihn ganz cool mit einem knappen Kopfnicken. Dass ich nur eine knappe Speedo Badehose trage ignoriere ich. Ganz bestimmt bin ich nicht der erste Sportler, der hier fast nackt seine Mukis in der Reflektion überprüft. Da das Museum direkt am Rhein gebaut wurde, und der Ort sich ideal zum Einstieg in den Strom eignet, wird der Museumswächter im Sommer Tag aus, Tag ein Ähnliches beobachten.

Er kommt direkt auf mich zu. Während er in seiner dunkelblauen Uniform Anstand und Würde ausstrahlt, fühle ich mich als Provokateur noch deplatzierter. Er tut so, als ob er ausgerechnet genau bei meinem Standpunkt einen versteckten Knopf im Inneren des Gebäudes drücken müsste. Dabei sieht er mir, durch die dicke Panzerscheibe hindurch, direkt in meine Augen. Ich atme erleichtert auf. Der Uniformierte dürfte schon hundert Jahre alt sein. Bestimmt ist er so gut wie blind. Bestimmt hat er mich aus der Distanz nur als verschwommenen Geist wahrgenommen.

Diesmal beobachte ich ihn. Seine Haltung ist gebückt und sein Gang schlurfend. Ob er hier abends vorbeikommt, um das Museum nach dem Andrang für den nächsten Tag vorzubereiten?

Als sich erstmals unsere Blicke direkt treffen, jagen mir seine Augen einen eiskalten Schauer über den Rücken. Wie meine Augen, sind auch seine blau. Doch seine sind klar und stechend, als ob sie alles und jeden sofort durchschauen könnten. Verlegen schlucke ich leer. Ich fühle mich plötzlich sehr nackt. Seine Lippen formen stumme Worte. Natürlich kann ich sie durch die Scheibe hindurch nicht hören. Trotzdem verstehe ich sie, als ob ich ein Lippenleser wäre:

Sei auf der Hut! Er hat dich gefunden!

„Hermes?“, rufe ich aus. „Der Mörder ist in Basel?“

Ich sterbe!, bilden des Alten Lippen stumm die neuen Botschaft. Du musst übernehmen!

„WAS?“, schreie ich. „DU STRIBST?“ Ich bin mir sicher, dass kein Ton durch die Scheibe zu dringen vermag. Das neue Gefühl, das mich überflutet, ist so unpassend, wie es nur irgendwie sein kann: Erleichterung.

Der Museumswächter nickt stumm. Er lächelt zahnlos und verschwindet durch den Ausstellungsraum, bis er von der größten von Tinguelys Installationen gefressen wird.

Erschlagen lehne ich mich an die Scheibe, die jetzt das tiefgrüne Laub eines Kastanienbaums reflektiert, durch das sich letzte Sonnenstrahlen bis zu mir durchkämpfen. Ob sich wirklich Hermes durch den Museumswächter offenbarte? Das wird wohl ein Geheimnis bleiben. Sicher ist, der amtierende Hermes-der-Gegenwart ist wirklich uralt. Ich traf ihn öfters in Miami Beach. Wenn er dort auch immer chinesisch aussah, so erkannte ich trotzdem seinen Blick in den Augen des Museumswärters wieder. Der alte Götterbote erwählte mich vor Wochen zu seinem Nachfolger und trainierte mich in meinen Träumen. Das war, bevor ich versagte.

Ich war echt gut! Ich hatte mir Hermes‘ geflügelten Helm, seinen Caduceus und schließlich auch seine Flügelsandalen redlich verdient. Bei der Erinnerung daran wirken meine Augen in der Reflektion abermals sofort um Jahre älter. Die dunklen Augenringe sind bestimmt nicht nur der heraufziehenden Dämmerung zuzuschreiben, die mein Spiegelbild verfinstert. Wie auch immer! Am Ende musste ich alles opfern, um Apollon das Leben zu retten. Meine Träume als Götterlehrling waren damit ausgeträumt. Heute bin ich abermals nichts weiter, als ein Teenager mit Komplexen, einem Aggressionsproblem und akutem Schwachmatismus. Wenigstens sind meine Pubertäts-Pickel nach der Sonne Südfloridas endgültig verschwunden.

In der Schule hat längst jeder mitbekommen, dass ich nicht mehr der bin, der ich vor den Sommerferien war. Die Jungfrau, die ich vor den Ferien noch war, habe ich zum Teufel gejagt. Ich protze nur nicht damit, weil ich mich auf keinen Fall verplappern will, wem ich das zu verdanken habe. Weil ich als gefürchteter Raufbold, mehrfacher Box-Champion, Clubmeister im Ringen und Klassenbester bekannt bin, rückt mir keiner auf die Pelle. Keiner soll wissen, was ich in Miami Beach wirklich erlebt, überlebt und wiederbelebt habe.[3]

Genervt drehe ich mich dem Rasen hinter mir zu, wo einer von Tinguelys verspielten Brunnen Wasser laut quietschend peitscht, ins Nichts abspritzt oder in sinnlosen Drehungen durch diverse Räder und Kurbeln herumwirbelt. Jetzt, so kurz vor Sonnenuntergang, gibt es bis auf Hundeausführer keine anderen Leute mehr im kleinen Park. Ein kurzer Kontrollblick auf meine Swatch lässt mich schnauben. Goldlöckchen ist natürlich wieder zu spät. Die Sonne wird kurz nach acht Uhr untergehen und das letzte Licht ausgeknipst sein, wenn wir uns nachher den Rhein hinuntertreiben lassen wollen. Ap weiß doch genau, dass ich dunkle Wasser nicht mag. Warum lasse ich mich nur immer wieder von ihm überreden, meine Grenzen zu überwinden?

Natürlich habe ich keine Angst vor Wasser! Sicher nicht! Dennoch bin ich von der Idee, bei Nacht die bestimmt zwei Kilometer den Rhein bis zur Mittleren Brücke zu schwimmen, nicht sonderlich begeistert. Logisch ist es cool das Rock-Konzert, das später dort auf dem Floss stattfinden wird, aus dem Wasser heraus zu belauschen. Aber will ich mich wirklich strampelnd an Bojen festklammern und das, während mir von der Uferpromenade hunderte Konzertbesucher dabei zusehen? Was, wenn mir die Puste ausgeht? Was, wenn ich – einmal mehr – plötzlich keine Kraft mehr habe? Es sind schon Leute im Rhein abgesoffen. Auch diesem Gedanken verpasse ich einen Fußtritt. Ich brauche keine weiteren Albtraumbilder in meinem Kopf. Sirenen, die mich ersäufen wollen, reichen voll und ganz.

Abermals widme ich mich der Selbstbetrachtung im Spiegelbild. Ich sehe schon voll mega-geil aus! Meine neue Friesur flashed total! Mit Gel und Haarspray zwang ich das dunkle Gewirr zwanzig Zentimeter senkrecht hoch zu stehen. So wirken meine dunklen Naturlocken wie Stacheln oder eine Löwenmähne. Falls mich nachher die Wasserratte beim Schwimmen nicht ständig anspritzt, bleibe ich beim Konzert vorzeigbar. Bevor ich abermals Posen übe, checke ich diesmal erst das Museumsinnere ab. Der Alte wurde von der jetzt toten Skulptur nicht mehr ausgekotzt. Mit der Nase fast an der Scheibe, wirken meine sonst blau leuchtenden Augen wie Tümpel nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima. Etwas lauert darin, dass der Himmel weinen möchte. Zum Heulen ist mir echt oft zumute. Nicht nur bin ich seit dem Opfer meiner Göttergaben kraft- und saftlos, sondern auch traurig, enttäuscht und stinksauer. Apollon kann nichts dafür. Meinem Blondy gebe ich keine Schuld. Für Ap würde ich es jederzeit wieder tun. Trotzdem, es ist voll ungerecht! Mein Gesicht glänzt noch von der Nivea Creme, mit der ich zuhause versuchte meinem ausgetrockneten Zombie-Face Leben einzuhauchen. Die Zeichen der Strapazen lassen sich nicht jeden Tag gleich gut kaschieren. Jetzt gerade sehe ich einmal mehr aus, als ob ich eben erst von der Unterwelt ausgeschissen worden sei.

Logisch war der Uralte vorhin kein mythologischer Gott. Bestimmt flüsterte er mir ganz anderes zu. „Verschwinde verrückter Flitzer! Penner, betatsche bloß nicht die frisch geputzten Scheiben!“ Oder noch schlimmer: „Piss mir bloß nicht an die Hauswand!“

Heute ist der erste September. Noch immer ist Hochsommer. In meinem Badehosen-Look werde ich die ganze Nacht nicht frieren. Angeberisch nehme ich neue Bodybuilder Posen ein. Nur meinem Gesicht sieht man die die Strapazen an, meinem Körper zum Glück nicht. Noch so eine Illusion! Auf den ersten Blick wirke ich wie Herkules-Junior, doch schon der Fußtritt eines Hobbits könnte mich umhauen. Meine antrainierten Muskeln sehen wohl aus, wie hart gepumpte Reifen, doch statt mit Kraft, sind sie nur mit Luft gefüllt.

Apollon leidet unter den gleichen Folgen der Unterwelt. Um wieder in Form zu kommen, schwimmt er jeden Tag in einem der Gartenbäder von Basel oder im Rhein. Ich selbst boxe drei bis fünf Mal die Woche auf Sandsäcke ein, schwitze wie ein Ölbaum im Kraftraum oder stöhne bei täglich dreihundert Rumpfbeugen. Unsere Energielosigkeit ist nicht wirklich physischer Natur, wenn sie sich auch so manifestiert.

Seit meiner Rückkehr aus der Welt sehr weit im Westen trat ich nur einmal im Ringen gegen einen Gegner an. Ich unterlag so peinlich, dass ich vorgab, mir in Miami eine Beinverletzung zugezogen zu haben, weshalb ich mich extrem schonen müsste. Ändert sich mein physischer Zustand nicht bald, muss ich mir das Bein eingipsen lassen, um weiterhin glaubwürdig zu bleiben.

Abermals spanne ich meinen Bizeps und straffe mein Sixpack. Mit einer Wegwerfklinge rasierte ich mir vorhin unter der Dusche meine Brust und entledige mich auch gleich der Stoppeln unter den Achseln und in der Intimzone. Bis auf meine schwarze Speedo Badehose verzichtete ich beim Aufbruch zuhause auf alles andere. Was brauche ich im Hochsommer auch mehr? Zudem sind in Basel, auch mitten in der Stadt dem Rhein entlang, viele nur in Badehosen anzutreffen. Meine Speedo ist zwei Nummern zu klein, was sowohl meinen Arsch, wie auch meine Beule galaxomäßig betont. Ich kann ganz zufrieden sein.

„Markku, wartest du schon lange?“ Apollon ist endlich aufgetaucht. Er brüllt mir über die Wiese auf seinem Fahrrad sitzend zu. „Sorry!“, entschuldigt sich der blonde Schönling. „Mein Cousin hat angerufen und …“

„Alter, die Sonne geht gleich unter! Schwimmen wir noch – oder willst du über Martin labern?“

Als mein Sonnenschein sich vor mir von seinem Fahrrad schwingt, verschlägt es mir fast den Atem. Im letzten Licht des Tages wirkt seine Haut – einmal mehr – wie vergoldet. Außerdem hat die Sonne Floridas seine eh schon megahellen Blondlocken in lebende Sonnenstrahlen verwandelt. Wie ich trägt auch er nur eine Speedo, natürlich eine hellgelbe, Apollons unbestrittene Lieblingsfarbe. Das bisschen Stoff betont seine dreieckigen Schultern und seine schmalen Hüften. Auch wenn ich Apollon Holmström vor wenigen Wochen in Miami Beach zum ersten Mal begegnet bin, träumte ich schon mein ganzes Leben von diesem Kerl. Genaugenommen war es am Flughafen[4] in Südflorida keine Liebe auf den ersten Blick, sondern ein Wiedererkennen. Was habe ich aufgeatmet, als ich ihn zum ersten Mal mit physischen Augen sah. Es gibt den Typen, von dem ich all die Jahre fantasiert hatte, wirklich. Mit seiner eins neunzig Körperlänge ist der Schwimmer natürlich grösser als ich. Apollon ist mit Abstand der geilste Fast-Sonnengott, dem ich jemals begegnet bin. Wie ich, wurde auch er für eine wichtige Aufgabe trainiert. Wie ich, hat auch er alles verloren. Ja, wir beide haben unsere Mission in Miami total in den Sand gesetzt. Selbstverständlich tut Apollon immer so, als ob dem nicht so wäre. Gönnerisch lasse ich ihm die Illusion. Mir gegenüber bin ich viel härter. Ich bin Realist. Ich akzeptiere, dass ich nichts Besonderes mehr bin. Ich bin kein Götterlehrling mehr!

„Markku, wo hast du dein Fahrrad abgestellt?“ Apollon benutzt nie mehr meinen Spitznamen aus Miami, sondern nennt mich beim Namen, den meine Eltern mir verpassten. Ich selbst habe es ihm verboten mich Mercury zu nennen. Ich will nicht jedes Mal in Tränen ausbrechen, wenn ich daran erinnert werde, was ich hätte werden können.

„Auf der anderen Seite des Museums, der Autobahnauffahrt zu“, antworte ich ihm. Als ich dahin voraus spazieren will, hält mich der Hellblonde an meiner linken Hand zurück, zieht mich an sich und küsst mich so leidenschaftlich auf den Mund, dass meine Badehose sofort noch enger wird. Total ertappt sehe ich mich nach allen Seiten um.

„Hast du es immer noch keinem erzählt?“ Apollon schnaubt, als ich mich ihm etwas zu hastig entziehe. „In Miami warst du nie so verklemmt.“

„Dort war ich im Urlaub! Alter, dort kannte mich keiner!“, murre ich und komme mir dabei extrem pubertär vor. „Hier hingegen schon!“, füge ich entschuldigend an. Niemand soll ahnen, dass wir zwei ein Liebespaar sind. Warum ich hier in Basel die Klemmschwester raushänge, verstehe ich selbst nicht. In Südflorida scherte es mich keinen Deut, was andere über mich dachten. Dort lebte ich mich schamlos aus. Dort entdeckte ich, wie geil ein schwules Leben sein kann. Hier in Basel, ohne Götterlehrling-Status, erscheint mir im Rückblick vieles, was ich in Florida ganz selbstverständlich tat, als purer Wahnsinn.

Apollon bindet sein Fahrrad mit einer Kette neben meines, schiebt sich vorne seine Badehose etwas runter, um den Schlüssel an der Kordel aufzufädeln und verknotet alles aufs Neue. „Wir können bei den Fischergalgen eine Rast einlegen!“ Er zwinkert zweideutig. Natürlich ist es Ap nicht entgangen, wie ich auf den neuen Einblick reagiere und jetzt sabbernd schmachte.

„Lass uns schwimmen!“ Bevor mich Apollon abermals in der Öffentlichkeit küsst oder handgreiflich wird – und um kein weiteres Tageslicht zu verschwenden – marschiere ich im Stechschritt die paar Schritte bis zur Rheinpromenade voraus. Dort klettere ich über die Bordsteine und Felsen bis zum kleinen Strand hinunter. Anders als mein Lover, trage ich meinen Hausschlüssel und den fürs Fahrrad um meinen Hals am Lederband, an dem auch ein goldiger Pin im Form von Hermes‘ Helm hängt. Verstohlen küsse ich das Symbol meines Lieblingsgottes und wate knietief in den Fluss. Das Rheinwasser ist pisswarm.

Apollon checkt ein letztes Mal die Verschnürung seiner Badehose, klettert auf einen der niedrigen Felsen und taucht mit Kopfsprung in den Rhein ein. Da die starke Strömung ihn sofort mit sich reißt, haste ich ihm nach, achte aber sehr darauf, mit meinem Kopf über Wasser zu bleiben. Als ich ihn, bestimmt erst nach hundert Meter Fluss abwärts, einhole, taucht er erstmals auf, spritzt mir aus seinem Mund Wasser ins Gesicht und lacht wie ein Kindskopf.

„Lass das!“, zische ich ihn an.

Blondy schwimmt dichter an mich ran, umarmt mich und grabscht mit seiner linken Hand nach meinem Arsch. „Kein Widerspruch?“, foppt er mich.

Bevor ich ihm antworte, checke ich die Sonne. Leider ist sie hinter der Wettsteinbrücke und dem Rheinknie längst untergegangen. Das Grau schluckt jede Sekunde mehr der Farben. Ich schwimme bereits in flüssiger Nacht. Würde sich Apollons Nähe nicht so toll anfühlen und die Gelegenheit nicht so günstig sein, würde ich das niemals laut aussprechen: „Ist es noch weit bis zur Bucht bei den Fischergalgen?“

Apollon taucht ab. Bevor ich wirklich realisiere, was passiert, hat er mir unter Wasser meine Badehose ausgezogen und trägt sie beim erneuten Auftauchen als Trophäe um seinen Hals. „Wir können hier raus. Um diese Zeit sind die Strände verlassen.“

„Lockst du viele nachts hierher?“, kontere ich.

„Logisch!“ Dabei grinst Apollon so lüstern, dass ich nicht sicher bin, ob er scherzt. Mit kräftigen Kraulzügen schwimmt die Wasserratte mit meiner Badehose voraus, um weitere hundert Meter flussabwärts aus dem Wasser zu steigen. Da auch seine Badehose futsch ist, zögere ich keinen Moment ihm geschwind zu folgen. Wenn wir auch nicht weit geschwommen sind, bin ich trotzdem froh, aus dem schwarzen, nach Fischurin stinkenden Gewässer zu steigen. Tagsüber kann der Rhein, wenn auch oft dunkel, dann doch einladend grün und in Ufernähe sogar kristallklar oder bläulich erscheinen. Jetzt nicht! Natürlich gibt es weder Nymphen noch Sirenen in unserer Realität – diese Geschöpfe gehören einer anderen Dimension an, die wir im Traum besuchen können – dennoch, die dunklen Wasser flüstern gurgelnd von Wasserdämonen, die das Rheingold bewachen.

Mein Lover sucht sich zwischen zwei großen Steinen ein Versteck, was aber unnötig ist. Von der Promenade weit über uns ist diese Bucht weder zu erreichen noch einsehbar. Die vielen Bäume und das dichte Unterholt, wie eine Terrasse mit einem der Fischergalgen darauf gebaut, verbergen uns vor Schaulustigen. Vom anderen Ufer aus könnte man uns tagsüber vielleicht mit Feldstechern beobachten, doch jetzt, da die Nacht immer rascher heraufzieht, ist auch das nicht mehr möglich. Da sowohl Apollon, wie auch ich noch zuhause wohnen, können wir uns nur heimlich zum Sex treffen. Diese Gelegenheit müssen wir einfach ausnutzen!

„Was grübelst du?“ Der nackte Blonde rekelt sich nass im Sand und dem Kies.

„Ich bin vorhin Hermes begegnet“, gestehe ich Apollon und lümmle mich neben ihn.

„Physisch?“ Eine solche Frage kann nur jemand stellen, der weiß, wie die Götter sich in der Moderne manifestieren. Keiner der Götter verfügt über Superkräfte oder Zauberkräfte, zumal nicht in dieser physischen Realität in der wir normalerweise leben. Die Männer und Frauen, die einen Gott in sich verwirklicht haben, sind von anderen Menschen nicht zu unterscheiden. Niemals würden sie sich anderen offenbaren, da nur Hohn und Spott der Uneingeweihten ihr Lohn dafür wäre. Martin Holmstöm, Apollons Cousin, hat mir viel darüber erzählt. Es gäbe Zehntausende von Menschen mit Apollon-Gaben oder den Gaben anderer Götter. Die Apollons wären meist Modelle, Schauspieler, Musiker oder einfach eitle Geschöpfe, die der ewigen Jugend nachhängen. Doch ebenso in der Medizin findet man Apollons-Gaben, unter den Heiler und natürlich unter den Wahrsagern und Scharlatanen. Als Gott der ewigen Jugend, der Schönheit, der Heilkunst und der Musik streben Millionen danach, den Apollon in sich zu erwecken. So steht aber nicht nur Apollon für Talente und Fähigkeiten oder dient als Schirmherr von Naturkräften, Ideen oder Ideologien, sondern auch jeder andere, der alten Götter. Hermes als Gott der Kommunikation erfindet sich im neuen Millennium täglich neu. Heute sind das Internet und die Satelliten beinahe so schnell, wie der schnellste Gott mit seinen Flügelsandalen. Die Erfinder solcher Technologien waren alle entweder durch Hermes inspiriert oder verwirklichten den Hermes in sich.

„Keinen Bock auf Sex?“ Apollon beugt sich über mich und bedeckt mein Gesicht mit Küssen.

„Ach!“, stöhne ich, will etwas sagen und vergesse sogleich die Welt um mich herum, als Apollons Hände über meinem Körper zu wandern beginnen. Ich liebe den Gleichaltrigen mehr als mein eigenes Leben. Um ihn zu retten, gab ich alles auf, was mir je etwas bedeutet hat. Bevor ich abermals in den Abgrund aus Verlust und Zweifel abdriften kann, fühle ich Apollons Körperwärme. Sie umarmt mich wie Flügel.

Es raschelt hinter uns.

Ertappt hocke ich mich auf und sehe mich um. Ein schlanker nackter Typ mit dunklen Haaren und einem bläulichen Stein um den Hals schleicht durch die Büsche, gelangt zum Fluss und taucht hinein.

„Hast du den Spanner auch gesehen?“, frage ich Apollon.

„Offensichtlich sind wir beiden nicht die Einzigen, die hier ...“

„Lass uns aufbrechen!“

„Jetzt?“, gafft mich Apollon ungläubig an. „Bist du krank?“

„Ich will noch etwas sehen, wenn wir weiter schwimmen!“, weiche ich aus. Der Spanner störte mich nicht im Geringsten, auch nicht die Möglichkeit, eventuell noch andere seiner Sorte hier anzutreffen. Ein Blick auf das immer schwärzer werdende Wasser lässt mich unmerklich zittern. Da soll ich abermals rein?

Apollon kuschelt sich nochmals an mich, doch ich schüttle den geilen Bock sanft ab, stehe auf und wate ins Wasser voraus. Jetzt gleicht der Strom Öl. Seine Oberfläche gleicht flüssigem Silber, das durch das Mondlicht entsteht.

„Die gehört dir!“ Mein Freund reicht mir meine Badehose. Ich schlüpfe hinein. Apollon bleibt nackt und stülpt sich seine Speedo um den Hals. „Dann eben zum Konzert!“ Er schwimmt voraus.

Ich eile mich, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Sowohl im Klein-, wie drüben im Groß-Basel, sind längst die Straßen und die Häuser beleuchtet und werfen ihre Lichtstraßen aufs dunkle Gewässer, wo sie sich mit dem Silber des Mondlichts mischen. Wie mein Lover immer wieder in diese Schwärze eintauchen kann, verstehe ich nicht. Jedes Mal atme ich erleichtert auf, wenn er wieder auftaucht.

Wir passieren endlich die Wettsteinbrücke. Apollon kann es natürlich nicht lassen seine eigene Stimme als Echo unter dem Torbogen der Brücke zu hören; wegen seinem Schrei, der unheimlich unter dem Steinbogen wiederhalt, wäre ich vor Schreck beinahe abgesoffen. Weit vor uns kann ich die Mittlere Rheinbrücke erkennen, und links von uns das Münster. Das Floss, auf dem nachher die Band spielen wird, liegt noch verlassen vor dem Hotel Krafft verankert. Unzählige Spots beleuchten die schaukelnde Bühne in der Ferne. Im Wasser passieren wir vertäute Motorboote und leere Bojen. Ich schwimme so nahe dem Ufer entlang, wie nur immer möglich. Der verrückte Wasserdämon taucht ständig ab, um jedes Mal erst weit Strom abwärts wieder seinen blonden Kopf aus den Fluten zu strecken. So auch jetzt.

Plötzlich packt mich eine menschliche Hand.

Apollon kann es nicht sein.

Brutal gnadenlos werde ich an meinem rechten Fußgelenk unter Wasser gezogen. Mir bleibt keine Zeit mehr um zu schreien. Panisch strample ich. Meine Angst erwürgt mich. Erinnerungen überschwappen das Grauen der Gegenwart. Abermals liege ich in Miami Beach in der Luxusbadewanne im Appartement meines guten Freundes Simon Hancherow. Mikey, mein damals noch bester Kumpel, versucht mich im Schaumbad zu ersäufen.[5] Dunkelheit verschluckt mich. Mein alter Feind hat mich in Basel ausfindig gemacht, um sein Werk zu vollenden. Hermes behält mit seiner Voraussage Recht.

Das Wasser um mich beginnt zu brodeln. Ein zweites Wesen packt nach meinem anderen Fuß. Heftig werde ich in die Gegenrichtung gezerrt. Als ich endlich keuchend auftauche, sehe ich zwei dunkelhaarige Kerle im Wasser zusammen ringen.

„Wir brauchen ihn noch!“, faucht der kleinere der Beiden. „Nur er kann ihn überzeugen. Nur er kann…“

Mehr verstehe ich nicht, da ich mir den Kopf an einem der Boote anschlage und benommen untertauche. Der neue Schreck des Wassers, das über mir zusammenschlägt, weckt mich. Verzweifelt versuche ich mich ans Boot zu krallen und wieder über Wasser zu kommen.

„Auf deine Verantwortung!“, knurrt die zweite Stimme.

Verschwommen kann ich in der Dunkelheit erkennen, wie der eine meiner Angreifer seine rechte Hand für High Five aus dem Wasser streckt. Der kleinere der Beiden klopft ab. So versinken die Hände und mit ihnen die beiden Wesen im Strom.

Panisch klammere ich mich ans Boot. Ich zittere am ganzen Leib. Wo ist Apollon? Greifen sie jetzt ihn an?

Wie lange ich wie versteinert am Boot hing, kann ich nicht sagen. Erst als Apollons Arme mich zärtlich von hinten umfangen, entspanne ich mich.

„Es ist nicht tief hier. Du kannst stehen!“

Ich glaube Blondy kein Wort. Nur langsam entspanne ich mich. Kaum lasse ich los, ertasten meine Zehen Steine. Wenn mir das Wasser auch noch immer bis zum Halse steht, kann ich dennoch stehen. Wie ein verstörtes Kind lasse ich mich von meinem Lover die vielleicht drei Meter auf der anderen Seite des Bootes an Land führen. Erst die Wärme der von der Sonne noch aufgewärmten Steine am Fuße der Promenade beruhigt mich. Mein Herz hämmert mir hart in den Schläfen.

„Jemand wollte mich ersäufen!“, flüstere ich.

„Da waren zwei Typen bei dir im Wasser. Als ich sah, dass sie dich angriffen, schwamm ich sofort ans Ufer, rannte zurück und sprang wieder in den Rhein, um dich zu retten. Erkanntest du sie?“

Kopfschütteln lege ich meinen Kopf in Apollons Schoss und lasse mir von ihm meine nassen Haare streicheln. „Nur ich könne IHN überzeugen irgendetwas zu tun!“, wiederhole ich, was ich aufschnappte. „Ich wäre ihnen noch nützlich. Apollon, ich lebe nur noch, weil ich noch gebraucht werde.“

„Das ist bestimmt kein Zufall!“ Apollon beugt sich über mich und küsst mich auf den Mund.

Mein erster Gedanke ist, dass wir uns schon auf halber Strecke zum Floss befinden. Hier könnten uns Konzertbesucher, die dem Rhein entlang zur Mittleren Rheinbrücke schlendern sehen. Als ich mich von Apollon befreien will, fasst er nach meinen beiden Händen.

„Mercury, es wird Zeit für dein Coming-out!“

„Ja, ja!“, brummle ich genervt. „Ich will aber nicht, dass andere wissen, dass wir ein Liebespaar sind.“

„Mercury, dieses Coming-out meine ich nicht!“

„Sondern?“ Da mich Apollon bereits zum zweiten Mal beim verbotenen Kosenamen nennt, ist es ernst.

„Akzeptiere endlich, wer du in Miami Beach geworden bist.“

„Apollon!“, widerspreche ich sofort. „Warum schnallst du es nicht endlich? Alter, ich bin nicht zum neuen Hermes-der-Gegenwart geworden. Schon vergessen? Wir beide haben total versagt. Ich musste meine Göttergaben Zeus für einen Würdigeren zurückgeben.“

„Diesen Traum hast du mir schon hundert Mal erzählt.“ Apollon winkt genervt ab. „Dennoch! Hermes hat dich heute besucht und keine Stunde später will dich jemand töten. Das ist kein Zufall!“

„Der Museumswärter war vielleicht gar nicht Hermes!“, werfe ich ein.

„Natürlich war er das nicht!“, stimmt mir Apollon zu. „Dennoch hat sich dir Hermes mitgeteilt. Du hattest eine Vision! Nur das zählt. Was genau waren Hermes‘ Worte?“

„Sei auf der Hut! Er hat dich gefunden. Ich sterbe. Du musst übernehmen!“, wiederhole ich, was ich glaube von den Lippen des Fremden durch die Scheibe hindurch abgelesen zu haben.

„Denkst du, dass ER, der dich gefunden hat, Mikey sein könnte?“

„Wer sonst? Der verdammte Mistkerl wollte mich schon in Miami in der Badewanne ersäufen. Vorhin versuchte er es im Rhein.“

„Bist du sicher, dass es Mikey war? Es waren zwei! Das habe ich genau gesehen.“

Ich nicke, dann schüttle ich meinen Kopf. „Kalte Katzenpisse, es war nicht Mikey! Ich hätte ihn sofort erkannt. Immerhin waren wir wirklich gute Freunde in Miami. Verdammt noch mal, der Verräter hat sogar in unserer Heimatstadt Verbündete.“

Die Juwelen der Weisheit

„Mercury, Martin muss sofort davon erfahren! Ich rufe meinen Cousin noch heute Nacht an. Er muss nach Basel kommen. Das ist ernst!“

„Warum nennst du mich plötzlich ständig bei meinem Kosenamen?“ Das tut Apollon nur, wenn er mich ärgern und an unser Versagen in Miami erinnern will. Oder aber, wenn er meine ganze mythologische Aufmerksamkeit fordert, was seit Wochen nie mehr der Fall war.

„Du musst endlich zu Hermes werden!“, fährt er mich etwas grob an. „Seit wir aus Miami zurück sind, hattest du genug Zeit deine Wunden zu lecken. Jetzt greift uns das Monster abermals an. Erwache endlich zu dem, der du sein könntest. Martin wird dir dabei helfen, dein göttliches Potenzial zu entfalten.“

„So wie dir?“, spotte ich. Apollon hatte mir viel von Martins ungewöhnlichen und meist sehr peinlichen Methoden erzählt, ihn aus der Reserve zu holen.[6]

„Hast du noch Lust auf das Konzert des wütenden Spaniers?“, wechselt Apollon das Thema.

„Logo!“ Ich rapple mich auf und sehe den Fluss zur Mittleren Rheinbrücke runter, wo jetzt bunte Lichter vom Floss aus den Nachthimmel beleuchten. Offensichtlich hat die Vorgruppe bereits mit Spielen begonnen, wenn die Klänge gegen den Wind auch nur als dumpfer Sound zu hören sind. „Der aggressive Rocksänger ist voll verschärfte Scheiße! Um ihn live zu hören sind wird doch hergeschwommen!“ Als Apollon nach meiner rechten Hand fasst, schüttle ich sie ab. „Blondy, ich liebe dich, doch ich bin kein Händchen-haltender-Romantiker.“

„Nicht?“, foppt mich Apollon, dem sehr wohl meine oft kitschige Ader bekannt ist.

In der lauen Sommernacht inzwischen getrocknet, spazieren wir die letzten zweihundert Meter bis zum Floss. Eine Rockband begleitet einen extrem lauten Sänger, der den Mond anheult. Es ist der aggressive Spanier, dessen neuester Hit seit Wochen in den Top Ten ist. In seiner neuen Heimstadt London sind es gar drei seiner Songs. Der Schwarzhaarige steht nur in einer ledernen Badehose mit Hosenträgern und einer Lederkappe bekleidet im Scheinwerferlicht und rastet total aus. Sein Leib glänzt ölig oder nass, als ob er eben aus den Rhein gestiegen und jetzt auf dem Floss gegen unsichtbare Dämonen ein Wettsingen bestreiten müsste.

Apollon und ich setzen uns auf die unterste der Steintreppenstufen der Rheinpromenade mitten unter die bestimmt dreihundert Zuhörer. Unzählige mehr reihen sich auf dem Oberen Rheinweg und weitere auf der Mittleren Rheinbrücke. Wir sind längst nicht die Einzigen, die nur eine Badehose tragen. Viele stehen oder sitzen im seichten Wasser. Zwei Mädels verteilen aus Körben Plastikhelme mit Flügeln an sehr ausgewählte Zuhörer. Bis jetzt erkenne ich erst vier mit den gelben Dingern auf dem Kopf. Apollon geht leer aus, doch mir stülpt die Rothaarige einen dieser Plastikhelme über. Bald ergibt die Verkleidung Sinn, denn der nächste Song handelt von gefallenen Göttern des Hohen Nordens. Ich höre nur mit einem Ohr zu, denn mit meinen Gedanken hänge ich den Ereignissen von vorhin nach.

Warum wollte mich einer ersäufen? Warum schon wieder?

Weil immer mehr Leute sich auf die Steinstufen quetschen, rückt Apollon jedes Mal näher an mich heran. Da das auch die Frau auf meiner anderen Seite tut, weiche ich der Nähe meines Freundes nicht aus, sondern lasse sogar zu, als er mir seinen Arm um die Hüften legt und mich zärtlich an sich zieht. Warum ich trotz des Lärms einnicke, schreibe ich dem Stress zu.

„Du hast dazu gelernt! Es ist gut, dass du auch bei diesem Lärm die Dimensionen wechseln kannst!“, stellt eine männliche Stimme fest.

„Was?“, knurre ich. Wo gerade noch die Frau dicht neben mir saß, hockt jetzt ein uralter Mann. Es ist nicht der Museumswächter. Er sieht ihm nicht einmal ähnlich. Erst als sich unsere Blicke treffen, erkenne ich diese hell leuchtenden blauen Augen wieder. Wie immer, wenn mir Hermes in einer der anderen Dimensionen oder in einem Traum begegnet, sind seine Augen das Auffallendste an ihm. Schalk und eine Wachheit funkelt in ihnen, die ich sonst noch in keinem anderen Menschen gesehen habe.

„Penne ich tatsächlich?“, frage ich überflüssig.

„Gerade bist du wacher, als die letzten Wochen!“, spottet Hermes. „Komm mit!“ Der uralte Mann in einem schwarzen Pyjama oder einem Ninja-Anzug quetscht sich durch die Menschenmenge. Er wird nicht auf mich warten. Wenn der Typ auch aussieht, als ob er die nächste Stunde nicht überleben würde, so ist er dennoch der schnellste Gott der Welt. Sein Humpeln nehme ich ihm nicht ganz ab, weiß ich doch, dass er nur in der physischen Welt ein Greis ist, in anderen Dimensionen aber jede Gestalt annehmen kann, die er will – wenn er will!

„Warum dieser Aufzug?“, will ich wissen, kaum dass wir uns durch all die Zuhörer geschoben haben und außerhalb des blitzend wirbelnden Lichtpegels der Beleuchtung des Rockkonzerts stehen bleiben.

„Ich sterbe. Meine Zeit ist abgelaufen.“

Der Ernst in seiner Stimme erschreckt und rührt mich. Ich mag den schrägen Kauz. In Miami hatte er mir so viel beigebracht. Seit meinem Wolkenritt zum Steinkreis, in dessen Mitte ich meine Göttergaben opfern musste, um Apollon das Leben zu retten, bin ich Hermes nie wieder in einer anderen Dimension begegnet. Wie wünschte ich mir die letzten Wochen seine Gegenwart herbei? Vorhin im Museum trennten uns eine Scheibe und die Realität dieser Welt. „Heute?“, frage ich nach.

Er nickt.

Erstmals fällt mir sein Stirnband aus bunten Steinen auf. Warum ich es vorhin nicht wahrgenommen habe, kann nur bedeutet, er trug es da noch nicht oder er wollte es mich einfach noch nicht sehen lassen. Jetzt fasst er danach und stülpt es sich über den fast kahlen Schädel, der wie ein Fliegenpilz mit unzähligen Altersflecken übersäht ist.

„Diese sechs Steine!“ Langsam wandern die sechs Halbedelsteine durch seine langen Finger, deren Haut so dünn geworden ist, dass ich selbst im schlechten Licht erkennen kann, dass er unter Gicht und anderen Gebrechen des Alters leiden muss.

Weil er nichts mehr hinzufügt und für Minuten schweigt, frage ich natürlich: „Sind diese Steine dein Erbe an deinen würdigen Nachfolger?“ Ich hoffe, ich klinge dabei nicht allzu gierig.

„Ich sehe, du trägst wieder meinen Helm!“ Er sieht mir erst in meine Augen, dann wandert sein durchdringender Laserblick auf meinen Kopf, wo auch im Traum dieser gelbe Plastik Wikingerhelm mit den Flügeln auf meiner ruinierten Frisur liegt.

Erstmals überhaupt frage ich mich, ob der geflügelte Helm, den Hermes auf allen Bildern und Skulpturen, die ihn symbolisieren trägt, in Wahrheit nicht ein Wikinger Kriegshelm darstellen soll. Von Apollon wird immer gesagt, er fliege im Winter auf seinem von weißen Schwänen gezogenen Flugschlitten nach Norden, nach Hyperborea. Ob nicht alle der uralten griechischen Götter ihren Ursprung auf den Mittelmeerinseln haben?

„Hermes ist nur eine von Tausend Namen, die ich als der unsterbliche Götterbote und Hüter der Geheimnisse der Götter getragen habe“, beantwortet der Greis, der zurzeit der amtierende Hermes-der-Gegenwart ist, meine Gedanken. „Jetzt bleibt keine Zeit mehr für neue Lektionen. Diese Steine“, dreht er die bunten Dinger abermals durch seine Finger, „bergen Athenas Weisheit.“

„Athena?“ Bei dem Namen stellen sich mir alle Nackenhaare senkrecht und meine Fäuste ballen sich ganz automatisch.

Weil Hermes sehr verliebt lächelt, bohre ich nicht weiter. Er spricht von der letzten Athena-der-Gegenwart, die seine Geliebte war, und nicht von dem Monster, das sie ermordet hat und heute den Titel an sich reißen will.

Schweigend spaziert der uralte Hermes dem Rhein entlang voraus. „Als die Göttin der Weisheit damals realisierte, was mit ihr passieren würde, legte sie ihre Weisheit in diese sechs Steine. So versteckte sie ihre Macht vor dem, der niemals hätte geboren werden dürfen. Seither ist der Quell der Weisheit nichts weiter als ein trüber Tümpel. Er ist heute kaum mehr als ein Pool aus Informationen.“

„Wie der Überfluss an Nichtigkeiten, die übers Internet ausgetauscht werden? Die künstlich gepuschten Nachrichten oder die Posts und Blogs über jeden Unsinn und jede Nichtigkeit, die irgendwem, irgendwo gerade passiert?“, frage ich und kenne bereits die Antwort.

„Wie auch immer“, geht Hermes auch nicht darauf ein. „Diese Steine müssen alle wieder in den Quell der Weisheit zurückgebracht werden.“

„Logisch, was sonst!“, brumme ich.

Der uralte Hermes lenkt seine Schritte weiter stromaufwärts bis zu einer Treppe, die zur Leu-Fähre führt, die vom Kleinbasler Ufer zum Münster übersetzt.

„Warum tust du es dann nicht selbst?“ Ich ahne, Hermes wird mir auch darauf die Antwort schuldig bleiben. So ist es auch.

Stufe um Stufe steigt er vom Oberen Rheinweg bis direkt an den Fluss. Auch hier gibt es seichte Stellen, denn nach dem extrem langen Supersommer ohne Regen gibt es Kiesstrände, wo sonst Wasser fließt. Hermes‘ Schritte bewegen die Steine, doch das Geräusch passt nicht dazu. Ich höre den Klang von Muschelhörnern und wunderschönen Gesang. Definitiv ist das nicht das aggressive Gegröle des Stars auf dem Floss.

„Was ist das?“ Gebannt lausche ich dem neuen Sound, der von der Wettsteinbrücke, noch einiges von uns entfernt, zu kommen scheint.

„Sirenen Gesang!“

„Ja, ja! Aber sicher!“, spotte ich.

Hermes watet tiefer ins Wasser, bis er fast bis zu den Hüften im starken Strom steht. Dort streckt er seine Hände vor sich aus. Für einen Moment reflektiert sich das Mondlicht in den sechs Edelsteinen und bringt sich zum Funkeln. Der Götterbote spreizte seine langen Finger. Die Steine purzeln in den Strom.

Mir steht das Herz still. Ich schreie auf: „Uralter, nein!“ Nur weil ich vorhin fast genau an dieser Stelle beinahe ersäuft wurde, springe ich nicht reflexartig den Steinen nach.

„Die echten Steine manifestieren sich in deiner Realität erst, wenn Sirenen in der Nähe sind.“

„Aber da singt doch eine Sirene!“, widerspreche ich. Weil Hermes auch dazu schweigt, knurre ich: „Ich verstehe kein Wort!“ Erleichtert, dass der vielleicht inzwischen senile Gott Athenas Geheimwaffe nicht einfach weggeworfen hat, atme ich trotzdem auf. „Attrappen?“ Wieder erfolgt keine Bestätigung.

„Warum Athena ihre Weisheit auf sechs Steine verteilte, und warum sie sechs Sirenen zu ihren Hütern bestimmt hat, weiß nur die Göttin der Weisheit selbst.“

„Sirenen? Sind Sirenen nicht menschenfressende Mischwesen, die mit wunderschönem Gesang jeden in den Wahnsinn treiben? Sie locken die Menschen durch ihren Gesang an, hypnotisieren sie, um sie willenlos geworden zu ertränken und danach zu fressen!“

„So ist es!“

„Und solche Ungeheurer gibt es tatsächlich?“ Ich habe ja wirklich schon so einiges geträumt und in den anderen Dimensionen erlebt, aber Sirenen?

„Im täglichen Leben sind es besonders begabte Sängerinnen oder Sänger.“

„Männliche Sirenen?“ Die vollfetten Sprüche, die mir zu männlichen Sirene einfallen, verkneife ich mir.

„Die Sirenen-Gabe ist ein Talent, dass sowohl heilen, wie töten kann. Keine, der von Athena auserwählten, Sirenen ahnt, dass sie sich am Ende entscheiden muss, den Quell der Weisheit für immer zu vergiften oder zu läutern.“

„Und was habe ich damit zu tun?“

„Mein junger Schüler, finde die sechs Sirenen. Eine jede von ihnen wird dich zu einem der Steine in deiner Realität führen.“

„Uralter, muss das sein? Ich will keine Sirenen jagen!“

„Sie sind sehr gefährlich und absolut tödlich. Doch nur ein Hermes hat die Gabe, den Schleier zwischen Unsinn und Wahrheit zu lüften. Als Wächter der Geheimnisse der Götter gehört es zur Aufgabe des Götterboten, dass du …“

„Uralter“, unterbreche ich den Typen, der in seinem schwarzen Pyjama im Wasser stehend fast mit den Fluten verschmilzt, abermals, „ich habe in Miami versagt. All meine Göttergaben habe ich für einen würdigeren Kandidaten geopfert. Ich musste Apollon das Leben …“

„Markku Leo Niko Moor, das ist deine letzte Chance. Finde die sechs heute lebenden Sirenen. Die sechs Brüder werden dich zu den Steinen führen. Nur mit der Reinigung des Quells der Weisheit verdienst du dir mein Erbe.“

„Oder ich werde von Sirenen gefressen.“

„Oder das!“, bestätigt Hermes. „Bade niemals mit ihnen, sollte dir dein Leben lieb ist!“

„Na toll! Ey, das sind ja göttliche Neuigkeiten. Und falls ich diese sechs Sirenen wirklich finde, und falls jede dieser männlichen Sirenen mich zu einem von Athenas-Weisheitssteinen führt, was mach ich dann damit?“

„Die Sirenen müssen freiwillig und alle zusammen ihren Stein in den Quell der Weisheit eintauchen. Nur so reinigst du den Quell der Weisheit. Nur so ermöglichst du Athena vielleicht die Flucht aus ihrem Gefängnis.“

Schäbig grinsend, da ich ahne, was das für meinen Feind für Konsequenzen mit sich bringt, willige ich mit Handschlag ein. „Ich schlachte diesen Fiesling! Mikey muss Athena freigeben! Mit Sirenen werde ich schon irgendwie zurechtkommen. Ich überlebte bereits die Musen!“

„Heute ist der erste September. Den Sonnenstein musst du unbedingt zur Tage-und-Nachtgleiche finden. Verpasst du diesen Termin, wird ein anderer Hermes berufen werden.“

„Alter“, rülpse ich schockiert, „das ist der zwei- oder der dreiundzwanzigste September. Ich habe nur drei Wochen eine Sirene zu angeln und sie zu zwingen, mir das Versteck von Athenas-Wunderklunker zu zeigen?“

„Es muss der gelbe Stein sein, der Sonnenstein!“

„Logisch muss es dieser Stein sein! Wie konnte ich nur so dumm sein, einen anderen zu meinen? Und wo soll ich mit Suchen beginnen?“

„Nutze deine Göttergaben. Die größten Wunder passieren dann, wenn du einfach dem Fluss folgst!“

„Und ein Kreis ist ein Nichts und ein Alles gleichermaßen; ohne Anfang und ohne Ende!“, kontere ich mit einem anderen dieser Sprüche, die wohl gut klingen, aber so nützlich wie Salzwasser in der Wüste sind.

„Der Fährmann ist für mich gekommen.“

Ich lache, weil um diese Zeit keine Fähre mehr fährt. Doch weil Hermes aus dem Wasser watet und zum Fährensteg schlurft, folge ich seinen Blicken über den Rhein Richtung Münster. Da kommt tatsächlich das Fährboot im Strom schaukelnd auf uns zu. Im Heck vorne steht eine dunkle Gestalt.

„Wir werden uns nicht mehr sehen. Enttäusche mich nicht, mein junger Schüler. Die Welt braucht immer einen Hermes-der-Gegenwart. Meine Dienstzeit endet hier und jetzt. Vergeude keine Zeit und werde endlich zu dem, der du sein könntest!“

Spontan schlinge ich meine Arme um den alten Greis. Augenblicklich stehe ich in gleisendes Licht getaucht. Mein Mentor hat seine sterbliche Hülle abgestreift. Seine blauen Laseraugen durchbohren mich. Für einen Moment fühle ich nur Liebe. Dann verblasst das Licht und vor mir steht weder der Greis. Er klopft mir auf meine nackte Schulter, rückt mir den gelben Wikinger Plastikhelm zurecht, zwinkert mir zu und besteigt ohne ein weiteres Wort des Abschieds die Fähre. Kaum berührt sein zweiter Fuß das Deck, flimmert die Luft und das Boot mit Hermes wechselt die Dimension.

 

„Pennst du?“, nuschelt mir Apollon dicht ans Ohr, dass seine Lippen auch ein Kuss sein könnten.

Gähnend wische ich mir Tränen aus den Augen. „Hermes ist tot!“, wimmere ich. „Der neue Hermes-der-Gegenwart ist noch nicht bestimmt worden. Ich kann es noch immer werden. Dazu muss ich sechs Sirenen bezirzen und es irgendwie vermeiden von ihnen ersäuft oder gefressen zu werden. Na ja, voll easy!“

„Ich habe Martin schon angerufen. Er trifft bald in Basel ein!“

Während der spanische Rocksänger immer lauter wird, höre ich in der Ferne einen ganz anderen Gesang: der leise Lockruf einer Sirene, der mich zum nächsten Abenteuer verleiten soll.

Molpe, das Lied

Am nächsten Tag verlasse ich kurz nach Mittag das Haus. Meine Eltern und meine beiden jüngeren Geschwister sind schon vor Stunden für einen Weekend Trip an den Vierwaldstätter See aufgebrochen. Mit dem Bus fahre ich zum Wettsteinplatz, um von dort aus ziellos dem Rhein entlang zu schlendern. Hermes meinte, ich solle einfach dem Fluss flogen. Ich nehme ihn wörtlich. Es spazieren viele Pärchen und ältere Leute auf der Promenade. Die Strecke bis zur Solitute und weiter bis zum Tinguely Museum ist zum Spazieren beliebt. Natürlich begegne ich vielen Schülern und Studenten, die wie ich, kaum mehr als Shorts und ein Tank Top tragen. Irgendwo in der Solitute benutze ich eine der Treppen bis zum Rhein runter und folge direkt am Fluss einem schmalen Steg. Irgendwann führt davon eine letzte Treppe wieder nach oben zur Promenade. Ich erkenne ein Schlupfloch im Zaun und klettere hindurch. Dahinter liegen ein Fischergalgen und noch etwas weiter durchs Unterholz der kleine verborgene Strand.

Es ist der, zu dem ich gestern Abend mit Apollon geschwommen bin. Jetzt, tagsüber, liegen hier vereinzelte Schwimmer, die sich im Fluss hierher trieben ließen. Wie schön es hier ist, konnte ich gestern im Dunklen überhaupt nicht sehen. Überall stehen Bäume und dazwischen, direkt am Fluss, Sand und Kies zum Liegen. Dichteres Unterholz verbirgt die Terrasse mit dem Fischergalgen vor Einblicken von der Promenade aus. Immer wieder schwimmen einzelne oder Gruppen von Leuten im Rhein an mir vorbei. Keinen schert es, was ich hier treibe. Apollon hätte mich bestimmt schon zum Baden überredet. Ich spaziere um ein paar der Felsen, um mich oben auf die Steinterrasse beim Fischergalgen zu legen. Die Steine sind von der Mittagssonne schön aufgewärmt. Ungefähr die Hälfe, der bestimmt zehn hier herumlungernden Männer und Frauen, ist splitternackt. In der Ferne wirft ein Teenager einen Ast in den Rhein und ein zotteliger Hund hechtet in großen Sprüngen durchs seichte Wasser, um ihn sich zu holen. Für die Spaziergänger auf der Promenade weit oben ist die Bucht unsichtbar. Kurzentschlossen ziehe ich mich ebenfalls nackt aus und lasse mir auf dem Bauch liegend die Sonne auf den Rücken brennen.

Ich muss kurz eingeschlafen sein, denn als ich meine Augen wieder öffne, bin ich alleine in der Bucht. Mein vorhin sonniger Platz liegt jetzt im Schatten, wie fast die ganze Bucht. Die anderen Sonnenanbeter müssen alle weiter geschwommen sein. Plötzlich höre ich zwei männliche Stimmen. Von einem der wuchernden Büsche fast verdeckt, kann ich die Typen nicht sehen.

„Weißt du es schon lange?“, fragt der eine der beiden Männer den anderen.

„Eigentlich ahnte ich es, seit ich ein Gespräch meiner Eltern belauschte. Damals war ich noch ein Kind. Ich war kaum älter als sieben oder acht Jahre alt.“

„Dass du eine Sirene bist?“, fragt wieder der erste Mann.

Der andere lacht. „Nein, davon hatte ich keine Ahnung. Damals bekam ich nur einfach Angst.“

Augenblicklich bin ich hellwach. Kann es so leicht sein? Gibt es doch Sirenen im Rhein? Ich lege mich noch flacher hin und hoffe, das Grünzeug verbirgt mich vor den Blicken der beiden Männer. Eigentlich bin ich mir sicher, dass sie mich noch nicht ausgemacht haben. Wäre es anders, würden sie kaum ein so heikles Thema laut besprechen.

„Was haben sie denn erzählt?“, will der einer vom anderen wissen.

Weil ich es ebenfalls unbedingt hören will, robbe ich mich näher und verberge mich weiterhin hinter dem Buschwerk, um das Gespräch zu belauschen. Mir passierten und passieren immer sehr seltsame Dinge. Immer sind darin mythologische Gestalten involviert. Das jetzt kann kein Zufall sein! Leider kann ich den Erzähler nicht sehen, nur den anderen. Er ist ein Kerl Ende der Dreißiger mit kurzen brauen Haaren in einem hellen Maßanzug, einem weißen Designer Hemd und einer exklusiven Seidenkrawatte. Seine italienischen Lackschuhe stehen mit schwarzen Socken drin gestopft neben ihm. Sein Akzent klingt, wenn er auch Basler Dialekt spricht, dennoch wie der von jemandem, der Deutsch nicht von Kindheit an gesprochen hat.

„Molpe, erzähl!“, fordert er, die vom Laub verdeckte, Sirene auf.

Bei dem Namen Molpe versuche ich eine bessere Sicht auf den zweiten der Männer zu bekommen. Ich kenne tatsächlich einen Molpe. Jener Molpe ist ein seltsamer Zwerg aus meiner Parallelklasse. Diesen Frühling schmiss er grundlos die Schule. Seither habe ich ihn aus den Augen verloren. Ob es dieser Molpe ist? Molpe soll eine echte Sirene sein? Leise strecke ich meinen Kopf in den Busch hinein, um so besser hindurch sehen zu können. Sehr auf meine Deckung achtend piksen mich jetzt kleiner Ästchen ins Gesicht.

Tatsächlich! Da sitzt wirklich Moses Steinmann. Mo, wie er gerne genannt wurde, ist kaum einen Meter fünfzig groß. Ich würde ihn auch sofort an seinem finsteren Blick und den ziemlich unnatürlich hellgrauen Augen immer und überall erkennen. Er wird immer extrem wütend, wenn ihm jemand anders als Mo oder Molpe nennt. Molpe ist bis auf einen Tanga nackt und nass, als ob er gerade aus dem Rhein gestiegen wäre. Apollon kennt den Zwerg auch. Blondy erzählte mir schon, dass dieser Mini-Hobbit bei jedem Wetter am Rheinufer oder im Wasser anzutreffen sei. Weil Molpe es sich oben auf einem der Felsen sitzend gemütlich macht und der Anzug-Mann daneben im Sand, hoffe ich mehr zu erfahren.