Was der Wind nicht verwehen kann - Manuel Sandrino - E-Book

Was der Wind nicht verwehen kann E-Book

Manuel Sandrino

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Beschreibung

Bux, ein zwanzigjähriger schwuler Bodybuilder und Nudist, ist auf der Flucht. Ihn jagt keine Regierung, keine Polizei, auch nicht die Steuerfahndung oder eine sitzengelassene Liebe. Ihn jagen Träume, Visionen und ein Schicksal, das er nicht akzeptieren will. Sieben gesichtslose Gestalten sind hinter ihm her; in London konnte er ihnen entkommen. Diese Sieben trachten nach etwas, das Bux in sich trägt. Dionysos, Bux' früherer Mentor, riet ihm: Werde zu dem, Was der Wind nicht verwehen kann. Nur so hätte er eine Chance zu werden - oder zu überleben - was auf ihn wartet. Aber Bux hat genug von den Mysterien des Gottes der Wiedergeburt und der Ekstase und allem, was mit Dionysos zu tun hat. Bux versteckt sich im Surfer-Paradies auf der hawaiianischen Insel Maui. Auf Maui, am Südhang des Haleakala-Vulkans, findet er einen Job als House Keeper. Vom Camp-Leiter bekommt er einen neuen Namen verpasst. Er soll sich fortan Eleuthereus nennen, was der Befreier bedeutet und einer der vielen Beinamen des Dionysos' darstellt. Noch glaubt Bux an einen Zufall und kürzt den Zungenbrecher zu Illu ab, wie er fortan von allen genannt wird. Während Illu seinen House Keeper Verpflichtungen nachgeht, reisen aus aller Welt junge Typen an. Illu freundet sich mit einem Hula-Tänzer und einem ehemaligen Lustknaben aus Syrien an. Bald wird auch Illu klar, dass er sich vor einem Gott nicht verstecken kann, denn keiner der Typen reiste wegen dem Surfen ins Camp, sondern um sich Dionysos' Prüfungen um seine Nachfolge zu stellen. Das Surfer-Paradies Maui mit seinen Traumstränden, den steilen Hängen des Haleakala und dem Regenwald mit seinen Hunderten von Wasserfällen birgt noch eine andere Seite; eine dunkle und mystische. Versteckt in einem Tal versperrt ein Regenbogen den Eingang in eine andere Welt. Illu passiert den Regenbogen in seinen Träumen. Nach und nach nehmen die sieben Gesichtslosen neue Gestalt an. Wem kann Illu noch trauen? Überall lauert plötzlich Gefahr. Neben Rasen mähen und dem Renovieren der Hütten für die bald ankommenden Surfer muss der Nudist immer wieder um sein Leben kämpfen. Er muss werden, Was der Wind nicht verwehen kann. Was das bedeutet; und wie das zu meistern ist, führt Illu immer tiefer auf eine Reise in sein Innerstes. Als der erste der Dionysos-Kandidaten ermordet wird, erhebt sich der Sturm über dem Ozean und der schlafende Vulkan erwacht. Einer weniger! Da waren es nur noch acht! Der Countdown beginnt, denn am Ende kann nur einer Dionysos' Erbe antreten.

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Manuel Sandrino

Was der Wind nicht verwehen kann

Von Manuel Sandrino bisher erschienen:

 

„Selbstverständlich schwul“ 2. Überarbeitete Auflage

ISBN print 9783863615246

„Apollon und Mercury – Wahre Träume leben“

ISBN print: 9783863613792

„Apollon und Mercury – Einer muss sterben“

ISBN print: 9783863613853

„Nackte Geheimnisse“

ISBN print: 9783863614829

Alle auch als E-book

 

Himmelstürmer Verlag, part of Production House, Hamburg

www.himmelstuermer.de

E-Mail: [email protected]

Originalausgabe, April 2016

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage

 

Coverfoto: ©iStockphoto.com

 

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

Nach einer Idee von Manuel Sandrino

 

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

 

ISBN print 978-3-86361-545-1

ISBN e-pub 978-3-86361-546-8

ISBN pdf 978-3-86361-547-5

 

 

Widmung

 

Für alle, die niemanden nachahmen.

Für alle, die weder eine schlechte, noch eine gute Kopie von jemand anderem sind.

Für wahre Originale.

Für alle, die sich aufgemacht haben zu entdecken, wer oder was sie wirklich sein könnten.

Für alle, die ihre Angst und ihren Aberglauben über Bord geworfen haben.

Für jeden, der sein Herz dem Wind der sieben Sphären geöffnet hat.

Für Götter-im-Training.

Vorwort

Jeder Mensch trägt das Potential eines Gottes in sich. Die Wenigsten haben auch nur eine Ahnung davon, wer und was sie sein könnten. Die Handvoll, die tief in ihr Herz blickt, erschrickt vielleicht, was dort auf sie wartet. Großes fordert Großes; Göttliches fordert alles, was der Einzelne zu geben hat.

 

Wer immer den Gott oder die Göttin in sich erblickt hat – und sei es auch nur für den Moment – wird nie mehr derselbe sein. In dessen Herz erhebt sich der Wind der sieben Sphären. Oft anfangs kaum wahrnehmbar, schwillt der Wind zum mächtigen Rauschen an, bis irgendwann das ganze Wesen von diesem Klang erfüllt ist.

 

Bewusstsein ist ein Seins-Zustand und nicht ein Sammeln von Wissen, Macht, Titeln oder Errungenschaften. Wer das glaubt, irrt noch immer durch die Welten der Schöpfung mit ihren Raum- und Zeitgöttern, mit ihren Phänomenen, dem ewigen Wandel und der Wiedergeburt. Der Held in diesem Buch lernt durch seine Träume seine Vergangenheit zu verstehen und so die Gegenwart zu meistern. Er wandelt auf dem Pfad der Götter und muss die Krone der Schöpfung finden.

 

Wem das alles irgendwie bekannt vorkommt; wer diesen Wind in seinem Herzen schon gehört hat; selbst schon auf dem Pfad der Götter gewandelt ist; oder wer einfach neugierig auf ein spannendes Abenteuer ist, den lade ich auf eine außergewöhnliche Reise ein. Sie beginnt auf der Insel Maui inmitten des Pazifischen Ozeans, nutzt die dortigen Regenbogen als Portale in längst versunkene Zivilisationen und dringt dabei immer tiefer in das Mysterium des Menschseins ein.

 

Götter-im-Training, öffnet eure Herzen und schreitet wagemutig und kühn über die Schwelle vom Schein ins wahre Sein! Werden, was der Wind nicht verwehen kann!

 

Manuel Sandrino

Das Erwecken der Finsternis.

Montag: 15. September

 

Der Himmel ist stark bewölkt und es regnet. Das ist definitiv nicht das Wetter, das ich von einer Trauminsel erwartet habe. Bereits vor einer Stunde landete mein Inselhopper aus Honolulu hier auf Maui in diesem Kaff namens Kahului. Meine Gepäckstücke konnte ich gleich beim Aussteigen von einem Wagen schnappen, bevor ich übers Rollfeld in die Ankunftshalle rannte, um nicht vollkommen durchnässt zu werden.

Eigentlich sollte mich hier ein Einheimischer abholen. Doch keiner stand mit einem Schild oder einer Flagge zu meiner Begrüßung hier. Ich bin der einzig übriggebliebene Fluggast in der Ankunftshalle. Die wenigen Surfer, die mit mir zusammen in der kleinen Maschine hierher flogen, schnappten sich längst ihre Bretter und sind außer Sichtweite, um irgendwo auf der Insel die Traumstrände zu erobern und den Jungs und Mädels zu imponieren.

Heute sind beinahe genau drei Monate seit meiner Flucht aus London vergangen. Ich flog in die neue Welt, danach noch weiter – viel weiter – in eine uralte. Dieses neue Versteck liegt inmitten des Pazifischen Ozeans, in jede Richtung tausende Meilen vom nächsten Festland entfernt. Es gibt wohl kaum einen Ort auf der Welt, der weiter im Nirgendwo liegt, als die hawaiianischen Inseln.

Ja, ich bin ein Flüchtling. Mich jagt aber keine Regierung, keine Polizei, auch nicht die Steuerfahndung oder eine sitzengelassene Liebe; mich jagen Träume, Visionen und eine Bestimmung, die ich nicht akzeptieren will. Leider ahne ich, dass ich vor meinem Schicksal weder weglaufen, noch mich vor ihm verstecken kann. Es hat diese Angewohnheit, mich immer und überall zu finden!

Nach meiner Flucht aus London verbrachte ich ein paar Wochen in Miami Beach bei einem superreichen Freund. Das war richtig genial, wurde aber bald langweilig. Ich bin fast zwanzig Jahre alt, ein Alter, in dem man die Welt erobern will. Ich brauche Herausforderungen und kein nicht-enden-wollenden-Urlaub in South Beach. Mein Lover ist da genau wie ich. Auch Seth hatte bald vom Nichtstun die Nase voll. Ihn drängte es ohnehin schon immer nach Los Angeles.

So begann ich mit der Jobsuche. Doch statt einem Job in Seths Traumstadt, fand ich einen für uns beide in Honolulu. Kaum war die Bewerbung per E-Mail verschickt, wurden wir auch schon verpflichtet. Mir kam das verdächtig vor, doch Seth redete von einer Fügung des Schicksals. Mein rothaariger Lover arbeitet jetzt an der Uni von Honolulu als Koch, während mir ein gutbezahlter zweimonatiger House-Keeper-Job auf Maui angeboten wurde. Hätte mich Seth nicht so gedrängt, diese Chance unbedingt wahrzunehmen, ich wäre viel lieber als Tellerwäscher bei ihm in der Küche geblieben. Aber wer kann schon gegen seine Bestimmung ankommen?

Jetzt bin ich auf Maui. Das Camp, in dem ich die nächsten Wochen untertauchen werde, liegt ganz im Osten der Insel, irgendwo am Südhang des Haleakala, dem zurzeit ruhenden Vulkan, der die Insel Maui einst erschaffen hatte. Nicht weit von dieser Insel entfernt, im Südosten auf der Insel Hawaii, brodelt der größte aktive Vulkan der Welt und gleich daneben der größte inaktive. Das unter und neben mir Vulkane schlummern, passt zu meiner Situation; auch ich könnte jederzeit explodieren. Mein Innerstes will erwachen. Es will sich offenbaren. Es will schöpfen und es will zerstören. Offensichtlich soll mich jeder Schritt hier auf der Insel daran erinnern, wie gering der Unterschied zwischen Schöpfung und Zerstörung; zwischen Leben und Tod ist. Mir ist bewusst, dass nichts still steht, dass nichts für immer ruht. Alles verändert sich, wenn es sich auch vor unseren Augen und Ohren verbirgt. Auf der dünnen Kruste aus erkalteten Ergüssen stapeln sich zudem meterhoch tote Korallen und andere abgelegte Schalen von Menschen, Tieren und Pflanzen. Alles physische Leben endet. Alle alten Hüllen werden irgendwann abgelegt. Alles wird einmal zum Nährboden kommender Generationen. Doch nicht nur jeder Leib, sondern auch jede Erfahrung, jedes Geheimnis und jede spirituelle Errungenschaft wird irgendwann abgelegt. Dies ist das wackelige Fundament auf dem neue Generationen ihre Zukunft aufbauen.

 

Wo bleibt nur der Typ, der mich abholen soll?

Jetzt sitze ich schon siebzig Minuten auf dieser harten Bank in einem abgesonderten Teil der Empfangshalle und schreibe Seite um Seite meine Gedanken und Gefühle in mein geheimes Tagebuch. Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht, wichtige Ereignisse zu dokumentieren. Leider verlor ich mein letztes Tagebuch bei der Flucht aus London. Doch das hält mich nicht davon ab, diese Disziplin des Aufschreibens aufrecht zu erhalten. Im Leben wird einem nichts geschenkt, Weisheit, Freiheit und Liebe schon gar nicht. Ich bin fest davon überzeugt, wer herausfinden will, wer und was er wirklich ist – oder sein könnte – dem bleibt keine andere Wahl, als den Ereignissen in seinem Leben Aufmerksamkeit zu schenken.

Träume sind etwas praktisches, man nimmt sie überall mit, doch sie verflüchtigen sich wie Nymphen, packt man nicht sofort nach ihnen. Leider hat die Morgensonne die Angewohnheit, die anderen Welten – die man in Träumen besucht – zu überstrahlen und damit auch jede Erinnerung an die Reisen dorthin für immer auszulöschen. Inzwischen bin ich ganz gut darin, mich detailliert an meine Traumreisen zu erinnern.

Ich blicke in die Ferne auf den wolkenverhangenen Ozean. Nein, so habe ich mir diese Hawaii-Insel definitiv nicht vorgestellt. Trommelnd prasseln die Regentropfen auf ein Wellblechdach in meiner Nähe. Weint der Himmel zu meiner Begrüßung? Ich hoffe, es sind Freudentränen! Warum der Typ mich hier in dieser verlassenen Ecke des Flughafens treffen will, ist noch so eine Sache, die keinen Sinn ergibt. Keiner kennt mich hier! Ich reise unter falschem Namen. Ich muss mich hier nicht verstecken.

Warte ich doch am falschen Ort?

Abermals sehe ich mich um. Nein, ich bin richtig! Dort drüben steht die Statue des Sonnengottes und hier hängt das übergroße Plakat dieses nackten Hula-Tänzers. Der Jüngling auf dem Plakat sieht extrem geil aus. Er hat schwarzes buschiges Haar und extrem blaue Augen, was perfekt zu seinem braungebrannten Adonis-Körper passt. Bis auf einen geflochtenen Kranz aus Palmblättern auf dem Kopf und grünen Minikränzen um seine Hand- und Fußgelenke trägt er nur noch eine weiß-gelbe Blumengirlande um den Hals. Leider verdeckt des Hula-Tänzers rechte Hand das, was ich gerne sehen würde. Wenigstens habe ich bei dem Grau-in-Grau draußen hier drinnen einen bunten Lichtblick.

Leider war mein Flug von Honolulu hierher keiner dieser Lichtblicke, sondern ein Abstieg in eine dunkle Hölle. Beim bloßen Gedanken an den Albtraum bin ich versucht, mein geheimes Tagebuch sofort beiseite zu legen. Dummerweise bin ich kein Feigling!

Ich las einmal in einem schlauen Buch, dass man nach den wahren Schätzen des eigenen Lebens suchen muss. Die kostbarsten Eigenschaften und die tiefsten Geheimnisse muss man sich verdienen, denn sie sind gut verborgen. Es reicht nicht, auf den Ozean hinaus zu segeln und hinab zu tauchen in die dunklen Tiefen des Unbekannten, um dort nach diesen Schätzen des Lebens zu suchen. Es reicht nicht, sich die Hände schmutzig zu machen, während man im Urschlamm wühlt, um die Austern zu finden, welche diese Perlen bergen. Es reicht auch nicht, die harten Austernschalen zu knacken, um an diese Perlen zu gelangen. Man muss sie rausreißen und sie sich ansehen. Jede einzelne dieser Perlen enthält Erkenntnisse, die sich vielleicht sogar in Liebe verwandeln.

In meinem Albtraum finde ich leider rein gar nichts von Liebe, doch ich ahne, dass sich dieser Traum wiederholen wird, wenn ich ihm nicht meine volle Aufmerksamkeit schenke. Albträume enden erst, wenn sie zu Ende geträumt sind.

In London habe einige dieser Perlen geborgen und trage sie als unsichtbare Kette um meinen Hals. Einige schimmern geheimnisvoll, während andere noch stumpf ihren wahren Glanz verbergen. Doch da gibt es auch finstere und sehr gefährliche Austern, die ich einfach nicht knacken will.

Wo bleibt nur dieser Typ, der mich abholen soll?

 

Alles begann als mich ein Internetbekannter mit dem verhängnisvollen Nick-Name Dionysos in die Mysterien des Lebens einzuweihen begann. Danach ging es in London mit meinem damaligen Chef, der ein Freund und mein Mentor wurde, weiter. Niemand kann in die Mysterien des Lebens eindringen, wenn er nicht bereit ist, alles Gewohnte hinter sich zurück zu lassen. Ich verlor alles, was ich glaubte, dass mir lieb und teuer sei. Neugierig tauchte ich tief in die Mysterien des Lebens ein. Mit meiner ersten Einweihung erwachte etwas in mir, das andere haben wollen. Könnte ich es ihnen einfach übergeben, würde ich es sofort tun. Doch so einfach ist das nicht!

Ich verstehe nicht einmal einen Bruchteil von dem, was wirklich in London passiert ist. Nur so viel: gesichtslose Gestalten verfolgen mich. Diese schwarz verhüllten Monster wollen nicht nur meine unsichtbaren Perlen stehlen, sie wollen mich töten. Sie wollen mich rituell opfern, um mir die Macht meiner Geheimnisse zu entreißen. Als ob ich eine Auster sei, die man aufschlitzen müsste!

Mein Mentor riet mir vor der Flucht aus London: Werde zu dem, was der Wind nicht verwehen kann. Wo kann ich das besser erlernen, als auf der Insel der Winde mitten im Pazifik?

 

Dass ich mich einmal als Handwerker und House-Keeper im Regenwald von Maui beweisen muss, hätte ich mir bis vor wenigen Wochen niemals auch nur vorstellen können. Aber das wird die nächsten Wochen meine Realität sein. Ich werde vor, während und nach einem sechswöchigen Camp für schwule Studenten, die das Surfen erlernen wollen für die Anlage zuständig sein.

Als sich Seth vor ein paar Stunden von mir am Flughafen in Honolulu verabschiedet hatte, versprach er mir, mich auf Maui zu besuchen. Wir ahnten jedoch beide, dass dies nicht passieren wird.

Abermals sehe ich mich in der Empfangshalle um.

Wo bleibt nur dieser Typ?

Wieder fällt mein Blick auf die nächste leere Seite meines geheimen Tagebuchs, als ob sie mich daran erinnern möchte, mich dem Albtraum zu stellen. Muss ich dieses Maui-Abenteuer wirklich mit dem Abstieg in die Hölle beginnen? Nur wenn ich auf diese finsteren Schrecken Licht werfe, befreie ich mich davon. Mutig und nicht sonderlich begeistert über meine eigene Disziplin, betitle die Seite mit: Das Erwecken der Finsternis.

Abermals sehe ich mich nach jemandem um, der mich davon abhält, nochmals in diesen Abgrund steigen zu müssen. Bis auf den nackten Hula-Tänzer auf dem Plakat bin ich alleine. Ich beginne mit der Niederschrift:

Ich bin gefangen. Ich bin an Händen und Füßen gefesselt. Ich stolpere in Minischrittchen durch einen lichtlosen Dschungel. Es muss kurz vor Mitternacht sein. Nur der Vollmond blinzelt gelegentlich sein Silberlicht durch das dichte Laub. Vor und hinter mir gehen bestimmt an die fünfzig Gestalten, die alle vollkommen von der Finsternis umarmt werden, hintereinander her. Wahrscheinlich tragen sie schwarze Mäntel mit Kapuzen oder weite Umhänge, die jedes Licht schlucken. Wir müssen wie eine schwarze Python aussehen, die sich nächtlich durch den Urwald schlängelt. Direkt vor mir geht eine kleine Gestalt – vielleicht eine Frau? – und hinter mir ein kräftiger Mann, der mich immer wieder vorwärts schubst, wenn ich auf dem Waldboden über Wurzeln oder Steine stolpere. Er nennt mich beleidigend Schätzchen. Ichbin nackt. Ein paar Fledermäuse schrecken aus einem Busch hoch und in der Ferne höre ich einen Schakal jammern. Keiner der schwarzverhüllten Pilger spricht. Von ihnen ist nur gelegentlich schwereres Atmen oder ein Husten zu hören.

 

Entschieden klappe ich mein geheimes Tagebuch zu. Der Schrecken packt nach meiner Gurgel. Nur weil mich der nackte Hula-Tänzer vom Plakat her aufmunternd anlächelt, tauche ich abermals in den Schrecken ein:

 

„Wo liegt die Pyramide?“

Ich höre die Stimme der kleinen Gestalt vor mir fragen. Es sind die ersten Worte, die ich bis auf Schätzchen höre.

„Dort beim Berg neben dem See“, zeigt die Hand des kräftigen Mannes hinter mir in die Ferne vor uns.

„Ich kann nichts erkennen!“, murrt der Junge vor mir. Selbst aus diesen wenigen Worten erkenne ich klar heraus, dass er hier das Sagen hat und keinerlei Widerspruch duldet.

„Sie ist da!“, schließt ein dünner Typ mit hängenden Schultern von hinten auf. „Der Sohn des Gottkönigs hat das Siegel zerbrochen. Der uralte Schutz hat sich vollkommen verflüchtigt. Die Pyramide ist seit ein paar Tagen wieder sichtbar geworden.“

„Endlich steht uns der Eingang in die Unterwelt wieder offen!“, schnaubt der kleinwüchsige Anführer.

Auch ich spähe durch den Dschungel in die Richtung, in der der Schlaksige zeigte. Außer Schlingpflanzen und dem wuchernden Unterholz kann ich nichts anderes in der Dunkelheit ausmachen. Meine Stricke sind glitschig, da sie mir meine Handgelenke blutig geschürt haben. Ich soll als Opfer zur Erweckung der dunklen Pyramide dienen. Wenn die finsteren Gestalten auch nicht zu mir sprechen, so viel habe ich mir dennoch zusammen reimen können.

Nach weiteren Schritten teilt sich das Unterholz und vor uns ragt jetzt der Berg neben dem See. Ich erkenne das nur, weil der Vollmond Millionen von Lichtreflektionen auf den Wellen tanzen lässt und so die Umgebung beleuchtet. Der Berg ist hoch und ähnelt einer der Stufenpyramiden der Hauptstadt.

„Ist der Berg die Pyramide?“, fragt eine neue Stimme. Sie gehört zu einem weiteren Mann. Er ist groß und wirkt sehr sportlich.

„Sie ist vollständig erhalten!“, staunt eine abermals neue Männerstimme und klingt vergnügt. „Hat wirklich nur das Siegel sie bisher verborgen?“, fragt er.

„Das ist die schwarze Pyramide der verbotenen Göttin“, brummelt wieder die tiefe Stimme des Stämmigen hinter mir.

„Vorwärts!“, befiehlt der Junge.

Augenblicklich beschleunigt sich das langsame Schleichen. Je näher wir der Pyramide kommen, desto stärker fühle ich ihre Präsenz. Es ist, als ob eine gefährliche Bestie vor uns lauern würde.

„Schätzchen, sie wartet auf dich!“, spottet der Kräftige.

Die verbotene Pyramide! Ich hörte natürlich als Kind davon. Wie vieles andere, tat ich sie als einen Mythos ab. Für mich war sie nur eine Geschichte, die unsere Dienerschaft ihren Kindern erzählte, wenn diese unartig waren. Wenn du nicht gehorchst, frisst dich die schwarze Pyramide! Je näher wir kommen, desto klarer erkenne ich ihre gewaltigen Ausmaße. Sie stammt angeblich aus den Anfängen der Zeit und soll von den Göttern selbst aus einem einzigen Kristall geschlagen worden sein.

„Die Pforte in die Unterwelt!“, spricht es der Knabe vor mir aus.

„Wie gelangt man hinein?“, fragt der Bulle.

 

„Falls dieser“, sieht mich ein blöd Grinsender unter seiner Kapuze hervor direkt ins Gesicht, „wirklich der ist, den wir in ihm vermuten, dann wird sein Blut die Göttin erwecken.“

Der Schlaksige spuckt angewidert vor mir auf den Boden.

Wissen diese Unheimlichen wer ich bin?

Die Prozession aus verhüllten Gestalten zieht mit ihrem Menschenopfer – mir! – eine lange Rampe hoch. Als wir ungefähr in Höhe des unteren Drittels direkt vor der Pyramide ankommen, schreitet der athletische Mann an uns vorbei zur Spitze des Zuges. Bald stehen wir auf der obersten von drei Pyramidenstufen. Direkt vor dem spiegelglatten tiefschwarzen Kristall kniet der Mann sich hin und singt in einer verbotenen Sprache.

Ich verstehe sie nicht.

Nach einer Weile bewegen sich Wellen durch den Fels.

„Die Pyramide erwacht!“, hüpft das Kind wie toll von einem Bein aufs andere. Der Bullige und der Schlaksige stellen sich rechts und links neben den Athleten und legen jetzt ebenfalls ihre Handflächen auf die Oberfläche der Pyramide.

Nichts weiter passiert.

Jetzt murmeln fünf Gestalten die Beschwörungsworte. Abermals erschüttern gelegentliche Wellen die Oberfläche des Steins; doch das könnte auch eine Illusion des Mondlichts sein.

„Wir brauchen die Steine“, sieht sich der Schlaksige nach dem Kind und dem blöd vor sich Grinsenden um.

„Unsere Macht muss reichen!“ Kaum legen auch das böse Kind und der dämlich Kichernde seine Handflächen auf die Pyramide, wird das Flimmern konstant.

„Wir sind noch immer zu schwach“, knarrt die Stimme des Bulligen voller Zorn. Er dreht sich um und packt grob nach mir. „Schätzchen, jetzt bist du dran!“ Er drückt meine Hände an den Fels und wiederholt sein eigenes Handauflegen. Das Vibrieren verstärkt sich und ein hoher Ton spitzt sich zu.

„Wir brauchen sein Blut!“, lallt der Schlaksige.

Meine gefesselten Hände schmerzen, als der Bullige sie mir immer fester gegen den Stein drückt, um sicher zu gehen, dass mein Blut den Stein tränkt. Kaum tropft davon auf die Außenhülle der Pyramide, höre ich ein Splittern. Im bisher spiegelglatten Kristall zeichnen sich Risse ab, dann die Form einer Tür. Der Fels löst sich an dieser Stelle stöhnend auf. Aus der Pforte gähnt mir eine Finsternis entgegen, dass ich vor Angst aufschreie.

Der Bullige schubst mich durch die Öffnung.

„Könnt ihr ihren Hunger fühlen?“, fragt der Verrückte. Sein stetig grinsender Mund ist das Einzige, was ich von all den verhüllten Gesichtern sehen kann.

„Was ist das?“, spricht der Schlaksige aus, was mich genauso interessiert. Denn etwas greift nach mir aus dem Schlund der Finsternis.

„Das Nicht-Licht, der Anfang der Schöpfung, das Herz der dunklen Göttin“, zählt das Kind auf. „Lasst euch fallen! Lasst euch von der ewigen Nacht umarmen!“

„Ist das die Schwelle zwischen Sein und Schein?“

Ich kann die fünf Männer vor dem Eingang in die schwarze Pyramide sprechen hören, doch im Inneren der Pyramide ist es, als ob ich unter Wasser sei oder sehr weit weg.

„Die Pforte zur Geburtsstätte der Schöpfung!“

„Der Schoss der Großen Mutter“, ergänzt der Schlaksige. „In dieser Pyramide ist eines der Portale.“

All das musste ich als Kind bei meinen Studien unserer Vergangenheit lernen. Ich habe es immer nur symbolisch verstanden.

„Schätzchen!“, tritt der Bullige nach mir durch die Pforte. „Dir haben wir das alles zu verdanken!“

Der Schwachkopf lacht. „Du hast die alten Götter befreit! Du hast das Siegel zerbrochen.“

Das Kind folgt als nächstes in die Pyramide. „Jetzt wird uns dein Opfer die Macht der verbotenen Göttin offenbaren. Du wirst mit deinem Blut das Portal öffnen!“

„Niemals!“, würge ich trotzig hervor.

„Wir fünf werden die Augen, die Ohren, die Hände, die Nase und der Mund der Göttin sein. Wir fünf werden stark genug sein, uns die Krone der Schöpfung aufzusetzen!“, spricht der athletische Mann und verpasst mir einen Tritt, als er in die Pyramide eintritt.

„Niemals“, würge ich hervor.

Plötzlich zerrt eine leblose Stimme aus der Finsternis an meinem Willen. Für einen Moment glaube ich, die dunkle Pyramide selbst lockt mich in ihren Abgrund. Es sind nicht wirklich Worte, doch müsste ich sie in eine Sprache übersetzen, klänge es nach: Komm! Ich warte auf dich!Erfülle dein Schicksal und vereine dich mit mir! Übergebe mir dein Erbe! Ich stemme mich mit aller Kraft dagegen. „NEIN!“, brülle ich die Schwärze vor mir an: „NIEMALS!“

Der Bullig schlägt brutal auf mich ein, dass ich auf meine Knie falle. Gleichzeitig wird der Lockruf der Finsternis dringender.

Ich kann mich kaum gegen den Ruf der dunklen Göttin wehren. „Nein!“, presse ich hervor. Ich möchte mir die Ohren zu halten, doch mit meinen Fesseln ist das unmöglich. „Nein! NEIN!“

„Schweig!“, kickt der Schlaksige nach mir.

Eine Umkehr ist unmöglich. Die Göttin hat mich erkannt. Sie weiß, wer ich bin! Der dämlich Grinsende langt nach meinen Fesseln und zieht mich daran tiefer ins Verderben. Trotz der brennenden Fackeln der nach uns eingetretenen Pilger, bleibt es im Inneren der Pyramide vollkommen lichtlos. Je tiefer wir über unzählige Stufen ins Herz der Pyramide absteigen, desto schwerer fällt mir das Atmen. Es stinkt nach dem Ruß der Fackeln, nach Angstschweiß, Urin und allgegenwärtigem Tod. Wie lange wir hinabsteigen, kann ich nicht ermessen. Mir scheint es, als ob ich Leben um Leben vorwärts stolpern würde, ohne jede Hoffnung auf ein Ende.

Endlich erreichen wir den Boden der Pyramide. Wir müssen uns tief im Erdinneren befinden. Erstmals kann ich wieder etwas sehen, denn die Wellen, die immer heftiger durch die Pyramidenwände fluten, erzeugen inzwischen seltsame Lichter. Vielleicht gewöhnten sich auch nur meine Augen an die ewige Nacht. Im Zentrum dieses unterirdischen Gewölbes ragt ein weiterer Kristall aus dem Schoss der Erde. Auch dieser scheint zu pochen oder schwarz zu glühen.

„Du“, drückt mich der Schlaksige zu Boden, „wirst auch diese Göttin befreien!“

„Falls du wirklich der bist, den wir in dir vermuten“, knarrt die Stimme des Bulligen, die jetzt klingt, als ob uralte Bäume wegen der Äxte, die sie fällen, aufschreien würden. „Bist du es, wird die Göttin dir die Krone entreißen, um sie sich selbst aufzusetzen.“

„Ich habe keine Krone!“, beteure ich. „Ihr verwechselt mich!“

Der Bullige schlägt mir ins Gesicht, dass ich Blut schmecke. Danach stellen sich die fünf Handaufleger um den schwarzglühenden Kristall; und die bestimmt fünfzig Pilger bilden weitere Kreise.

Ich fühle die aufkommende Panik der Versammelten. Der Gestank ihrer Angst ist kaum auszuhalten. Zu den Fünf im Zentrum gesellen sich noch zwei Helfer, die hergebrachte Glutbecken entzünden. Bald steigt Qualm auf, denn die beiden werfen Kräuter und Drogen in das Feuer. In den Augen brennende Schwaden lullen uns immer dichter ein. Ich schnappe nach Luft und keuche erstickend.

Die fünf Handaufleger, wie auch die beiden Raucher, stellen sich zu siebt im Kreis um das pochende Pyramidenherz. Mich haben sie vor sich in die Mitte gezehrt. Schutzlos bin ich von den Todes-Priestern umzingelt. Einer um den anderen öffnen sie ihre Roben und lassen sie zu Boden fallen. Nackt glänzen ihre sieben schwitzenden Leiber im Schein der Fackel und der Glutbecken. Die Sieben murmeln in der verbotenen Sprache neue Beschwörungen. Ich kann ihre Macht fühlen, die sich über alle Anwesenden ausbreitet. Bald fallen reihum alle Pilger auf ihre Knie und drücken ihre Stirn gegen den Boden dieses unheiligen Ortes.

Ich kann vor Angst kaum noch atmen.

Die sieben Priester der verbotenen Göttin drehen sich mit ihren Rücken zum pochenden Kristall. Ich kann ihre Gesichter noch immer nicht sehen, jedoch ihre so unterschiedlichen Körper. Da stehen: ein Mann, kräftig wie ein uralter Baum; ein großgewachsener Athlet; eine schlaksige Gestalt mit krummem Rücken; ein Mittelgroßer, der selbst bei diesem Wahnsinn noch immer zu grinsen scheint; und der Kind-Mann; die beiden letzten stehen auf der anderen Seite und ich kann sie nicht erkennen. Plötzlich zücken die fünf Handaufleger Dolche und rammen sie den beiden Feuer-Priestern in die Leiber. Der Gestank der Todesangst der Versammelten ist kaum noch auszuhalten, während die Opfer über dem Kristall verbluten.

Dann sehe ich es. Die Fünf krallen mit unsichtbaren Händen nach der Lebensenergie der Versammelten, um diese in das Herz der Pyramide zu leiten. Erst jetzt, in ihrer Todesqual wird den Pilgern bewusst, dass sie keine Zeugen der Erweckung der dunklen Göttin sind, sondern Menschenopfer.

Plötzlich höre ich eine weibliche Stimme aus der Tiefe meines Herzens mir zuflüstern: „Durchschaue die Illusionen und die Hypnose! Erwache zu dem, der du sein könntest!“

Was hat das zu bedeuten?, frage ich in Gedanken.

Immer gewaltiger nährt ein Strom aus purer Lebensenergie das versteinerte Herz der Finsternis. Bis auf die Fünf und mich, wird sonst jeder abgeschlachtet.

„Du!“, zeigt eine neue Gestalt auf mich, die über die lange Rampe herbeieilt. Es ist ein junger Tänzer. Auch er ist nackt und auch sein Gesicht bleibt in der Finsternis verborgen.

 

„Möchten Sie noch etwas trinken, bevor wir auf Maui landen?“ Mit diesem erlösenden Satz der Flugbegleiterin endete mein Albtraum. Kam der junge Tänzer, um mich zu retten oder um das letzte Opfer zu vollziehen?

Ich bekomme einen neuen Namen

„Hi Dude!“, begrüßt mich eine männliche Stimme.

Ich habe nach dem Aufschreiben bestimmt eine weitere Viertelstunde in den Regen gestarrt. Was hat der Traum zu bedeuten? Niemals werde ich dunklen Priestern beim Erwecken einer Göttin helfen.

„Blondy, bist du der Neue?“, fragt der Ankömmling.

Ich drehe mich der Stimme zu. Ein Typ mit zerzausten schwarzen Haaren in zerschlissenen über den Knien abgeschnittenen Jeans und einer offenen uralten Wildlederjacke steht barfuß vor mir. Seine Augen sind extrem blau, was zu seiner Haut, die vom Dauersurfen tiefbraun gegerbt ist, einfach geil aussieht. Seine polynesischen Züge lassen auf einen Eingeborenen schließen. Auf seiner nackten Brust trägt er zwei Blumengirlanden aus weiß-gelben Orchideen.

Als ich ihn nur dumm anstarre und nicke, stülpt er mir einen der Blumenkränze um den Hals. „Aloha! Willkommen auf Maui!“

Der schwere süßliche Duft der Blumen hüllt mich augenblicklich ein.

„Das sind Frangipani, das Zeugs wächst hier überall!“, zieht mich der schöne Insulaner an meiner linken Hand vom Sitz hoch. „Wartest du schon lange?“, nickt er auf mein schwarz gebundenes Tagebuch mit vollgeschriebenen Seiten.

„Ja, ja! Danke für die Willkommensgirlande!“ Wenn ich es auch niemals offen zugeben würde, doch die Geste rührt mich. Jeder Ankömmling auf der Insel erhielt einen solchen Blumenkranz übergestülpt. „Ich bin …“

„Psst!“, hält sich der Jüngling sofort seinen rechten Zeigefinger auf seine Lippen und sieht sich nach allen Seiten um. „Deinen alten Name hast du abgelegt, als du dich fürs Camp Telesterion entschieden hast. Für die Dauer deines Aufenthaltes bist du neu benannt worden.“

„Echt jetzt?“

„Dieses Camp ist anders, als alle vorherigen!“

„Aha!“

„Janus, der neue Campleiter, bestand darauf, dich Eleuthereus zu nennen.“

„Eleuth-was? Nein, danke! Niemals!“, schüttle ich wegen des unaussprechlichen Namens meinen Kopf.

„Ilutherus“, wiederholt Funkelauge sehr undeutlich sprechend. „Kürz es ab, wenn du willst, aber sprich niemals deinen alten Namen auf der Insel der Winde aus. Verstanden?“

„Ja, ja!“ Ich verstehe kein Wort. Ahnt der Typ, dass ich mich hier verstecken will? Bewerben sich nur Gauner und Flüchtlinge im Camp Telesterion um einen Job?

„Du bist auserwählt worden“, mustert mich der Eingeborene.

„Ja, ja!“, winke ich ab. „Hatten sich viele für den Job beworben?“

„Das meinte ich nicht damit. Das weißt du!“

Ich weiß es natürlich nicht. „Du hast beim zweiten Mal den Namen anders ausgesprochen. Doch das klang ganz annehmbar. Kann ich mich Ileu oder Illu nennen?“

„Blondy, Illu passt zu dir!“, klopft mir der Schwarzhaarige auf die Schulter. „Mann, hast du Muskeln“, staunt er. „Ich bin Brom, was die Kurzform von Bromios ist.“

„Dein richtiger Name?“, frage ich.

„Illu, hast du mir eben nicht zugehört?“, verdreht er seine extrem blauen Augen. „Brom ist mein Initiationsname, den ich während der Prüfungen im Camp Telesterion trage werde.“

„Prüfungen? Initiationsname?“ Leider ahne ich sofort, dass mich das Schicksal einmal mehr nicht aus den Augen verloren hat.

„Sorry, dass ich dich in diese Ecke des Flughafens bestellt habe. Nur hier hängt mein Poster!“, zeigt er auf das Hula-Poster.“

„Das bist du?“, gaffe ich ihn an.

„Yep! Leider musste ich mich so positionieren, dass mein Lümmel durch meine Hand verdeckt wird. Amerikaner sind ein prüdes Völkchen!“

„Bist du echt ein Hula-Tänzer?“ Ist er der Tänzer aus meinem Albtraum?

Der Typ bläht seine Brust und nickt.

„Tanzt du nackt?“

„Wann immer es geht“, nickt der Hawaiianer. „Packen wir dein Zeugs zusammen und fahren los! Es wird bald dunkel.“

„Allerdings! Ich warte schon seit …“

„Du bist jetzt hier“, würgt er meine Rüge ab. „Nur das zählt!“

„Schade, ich wollte mir die Insel ansehen. Ich habe mich erkundigt, die Küstenstraße in den Osten muss das High Light von Maui sein!“

„Ist sie! Wir können hier in Kahului übernachten und morgen die Straße nach Hana nehmen. Das Camp kann noch einen Tag auf dich warten. Illu, kotzt du im Auto?“

„Was?“ Mit diesem neuen Spitznamen angesprochen zu werden, klingt noch fremd.

„Illu, wird dir übel auf kurvigen Straßen?“

Da ich meinen Kopf schüttle, packt Brom meinen Koffer und schultert meine Sporttaschen. „Mein Jeep steht dort drüben“, nickt er Richtung Parkplatz. „Mann, schleppst du viel Zeug mit dir rum!“

Ich lange nach meinem Rucksack und folge dem Typen aus der Ankunftshalle zu seinem Wrangler Jeep. Ich schätze den schrägen Vogel auf neunzehn oder zwanzigjährig, also gleichaltrig.

Brom singt laut vor sich hin und tritt dabei wie ein Lausebengel im Takt in jede Pfütze, dass meine weiße Shorts bald von oben bis unten mit Wasser und roten Sandflecken gesprenkelt ist. Wenigstens hat der Regen von oben inzwischen aufgehört und ein Regenbogen spannt sich über den Flughafen.

„Ist das Wetter auf Maui immer so miserabel?“, versuche ich cool zu bleiben und die Flecken zu ignorieren.

„Wir haben auf Maui keine Jahreszeiten. Illu, hier herrschen immer sommerliche Temperaturen – auch nachts. Nur die Winde wechseln. Außer im Mai regnet es im Durchschnitt zwischen zwölf bis fünfzehn Tage pro Monat. Im Norden oft für Stunden, doch im Süden kann es auch tagelang trocken bleiben oder nur zur Mittagszeit kurz regnen. Du wirst es erleben! Wasserscheu?“ Um es gleich zu testen, springt Brom mit Anlauf in die nächste Pfütze, sodass mir vom roten Schlammwasser bis ins Gesicht hoch spritzt. Mein ebenfalls weißes Leinenhemd hat sich somit gerade farblich meiner Hose angepasst. Wie Blut rinnen dünne Bächlein über meine Arme, Hände und mein Gesicht. Ich schiebe das Bild rasch zur Seite.

Kaum im Wagen, fährt Brom wie er spaziert und singt: wild drauflos. Ich hüpfe auf dem Beifahrersitz oft so hoch, dass ich mich am Rahmen festkrallen muss, um nicht aus dem Wagen zu fliegen. Bald ist mir wirklich zum Kotzen.

Brom hält sich Richtung Westen und schwenkt irgendwann auf die Waiehu Beach Road. Ihr folgt er bis zum Ortsrand der Stadt, wo er zwischen einem Ananasfeld und Palmen an den Strand steuert, um vor einer einst blau-gelb angemalten Bretterbude zu parken. Dichtes Grün mit Orchideen-Blüten wuchert die Holzwände hoch. Eine Palme breitet ihre Wedel über der Hütte aus.

„Ein Freund von mir wohnt hier, wenn er zum Surfen her fliegt.“ Brom stößt die angelehnte Tür mit seinen Zehen auf. Eine Ziege flüchtet meckernd ins Freie. „Ups, ich hab wohl vergessen abzuschließen!“, zuckt Brom mit der Schulter, schnuppert und atmet erleichtert auf. „Das Vieh kam nur zu Besuch, lebte aber nicht hier!“

Ich verkneife mir jeden Kommentar. Das Schlafzimmer war zum Glück verschlossen und nach etwas Durchzug riecht es ganz frisch nach schwülem Regenwetter und blühendem Jasmin, der unter dem Fenster wächst.

Brom bezieht laut singend das Doppelbett frisch. Als er meine Blicke bemerkt, lacht er auf: „Illu, easy! Falls du das Bett nicht mit mir teilen willst, penne ich draußen in der Hängematte.“

„Kein Problem!“, winke ich ab.

„Sehe ich auch so! Ich kann uns was zum Futtern kommen lassen oder wir spachteln in einer der Buden am Strand.“

„Können wir dahin spazieren?“

„Logo! Bei Nui’s gibt’s immer frischgefangenen Fisch vom Grill mit Fritten und Salat.“

Ich folge Brom barfuß den Strand entlang Richtung Stadtzentrum in meinen rotgesprenkelten Leinenklamotten.

Die Sonne fiel vorhin regelrecht ins Meer. Gerade war es noch hell, ist es nur Momente später stockdunkel, was für Äquatornähe typisch ist. Der Regen hat aufgehört. Der Sand ist nass und fühlt sich barfuß toll an. Brom trällert wieder ein Liedchen und sieht mich immer wieder grinsend an. Singt er nicht, redet er ohne Punkt und Komma. Er muss ständig Geräusche machen, als ob er Ruhe nicht aushalten könnte. Längst habe ich erfahren, dass auch er im Camp Telesterion arbeiten wird. Er wird dort den Studenten Hula unterrichten. Er sei ein Kumu, erzählte er stolz. Ein Kumu ist ein anerkannter Hula-Tanzlehrer, was eine echt große Ehre bedeutet. Er werde wahrscheinlich mit mir und noch anderen zusammen gemeinsam eine der Hütten bewohnen, da wir beide am Spezialprogramm teilnehmen würden.

Von einem Spezialprogramm weiß ich natürlich auch nichts.

Dies würde Broms dritte Saison als Kumu im Camp sein. Weil ich immer meine Nase rümpfe, wenn er von Hula zu schwärmen beginnt, ringt er mir das Versprechen ab, wenigstens einmal an seinem Unterricht teilzunehmen.

 

Nui’s gegrillter Fisch ist eine Delikatesse und ich verspachtle zwei Portionen mit Spezialsoße und jeder Menge Fritten dazu.

Brom befragte mich nicht ein einziges Mal über meine Vergangenheit, oder was ich bisher getan habe, und woher ich ursprünglich komme. Er will nur wissen, wovon ich träume und was ich mir von Maui und dem Spezialcamp erhoffe.

Natürlich behalte ich meinen Albtraum für mich!

Auch wenn wir uns daran halten, unsere wahren Namen und unsere Vergangenheit nicht zu erwähnen, bricht Brom doch seine eigene Regel fortlaufend. So erfahre ich vom Vielredner, dass er auf der Insel Molokai geboren wurde, aber auf der Insel Oahu in Honolulu aufwuchs und seit zwei Jahren an der dortigen Uni studiere. Er verrät mir auch, dass er sich wünscht, im Spezialprogramm sein Erbe zu erkennen, um es für die Prüfungen voll zu entfalten. „Vielleicht wird einer von uns beiden der Eine sein?“ Schulterzuckend mustert er mich von meinen Zehen bis zum hellblonden Scheitel. „Wir werden es bald wissen!“

Mehr darüber, was es mit diesem Einen auf sich hat, verrät mir Brom trotz mehrmaligem Nachhaken nicht. Immer lacht er und seine extrem blauen Augen bohren sich direkt in mein Herz. Ich mag den sportlich gebauten Hula-Tänzer und hoffe mit ihm, als meinem neuen Roommate, ein paar angenehme Wochen hier auf der Insel zu verbringen.

Erst kurz vor Mitternacht spazieren wir den Strand entlang zurück zur Hütte. Brom behält Recht, die Temperatur bleibt auch nach Mitternacht sommerlich war.

„Schwimmen wir vor dem Schlafengehen?“ Bevor ich antworten kann, streift sich Brom bereits seine Lederjacke ab und schlüpft aus seiner Jeans. Nackt läuft er zur Brandung voraus und stürzt sich laut grölend in die erste Welle. „Illu, wo bleibst du?“

Ich bin weder scheu noch verklemmt, warum ich keine Minute später genauso nackt neben ihm in den Wellen auftauche. Vergnügt spritze ich ihm Wasser ins Gesicht und tauche abermals im schwarzen Ozean mit dem weißen Brandungsschaum ab. Irgendwann treibe ich auf dem Rücken liegend neben ihm, lasse mich von den Wellen schaukeln und starre zu den Sternen über uns. „Ich hoffe, hier ebenfalls mein Erbe zu verstehen“, gestehe ich ihm.

Brom sieht zu mir rüber, lächelt und summt ein hawaiianisches Lied, während uns die schäumende Gischt überrollt. Irgendwann krault er an Land, hebt seine Sachen auf und spaziert nackt in Richtung Hütte voraus. Ich folge seinem Beispiel in seinen Fußstapfen.

In der Hütte stellt sich Brom singend unter die Dusche und putzt sich später auf der Terrasse seine Zähne. Ich wasche mir das Salz an einem Schlauch vor der Hütte vom Leib und genieße die ungezwungene Freiheit. Mich nackt zu bewegen, wurde mir in London zur zweiten Natur

Nach einer Weile gibt mir Brom mit einem Kopfnicken zu verstehen, das Bett aufzusuchen. Er legt sich wie er ist hinein, klopft neben sich und schlägt mir die Leinendecke auf. Kaum liege ich neben ihm, kuschelt er sich an mich. So schlafe ich in seinen Armen ein, während er leise ein Gutenachtlied anstimmt und meine Brust streichelt.

Irgendwann später erwache ich, weil ein grünes Licht das Zimmer flutet. Ich vermute einen Scheinwerfer, befreie mich sanft aus Broms Armen und wende mich ab. Kaum löst sich unser Körperkontakt erlischt das Licht. Da ich schon lange nicht mehr an Zufälle glaube, sondern an Erfahrungen, teste ich es. Kaum berühre ich den Schlafenden wieder, strahlen unsere beiden Körper grün. Kopfschüttelnd wiederhole ich den Test drei weitere Male und jedes Mal passiert das Gleiche. Zwischen uns funkt es nicht, zwischen uns grünt es!

Brom murmelt etwas im Schlaf, schlingt seinen Arm wieder um mich und spielt träumend mit meinem Penis, während das grüne Licht weiter das Zimmer gespenstisch beleuchtet.

Eine alte Bekannte

Dienstag: 16. September

 

Brom sitzt in seiner abgeschnittenen Jeans am Küchentisch und reicht mir frische Brötchen, die er bereits irgendwo eingekauft haben muss, als ich mich mit einem Badetuch um meine Hüfte geschlungen zu ihm geselle. Ich habe kein Bedürfnis über unsere körperliche Nähe der vergangenen Nacht zu sprechen, noch sie irgendwie zu benennen. Für mich war es einfach die spontane Nähe zu einem neuen Freund. Die Sonne brennt heiß und es fühlt sich erstmals wie Urlaub an. Über uns rascheln die Palmwedel und der schwere Duft der Frangipaniblüten, die die Hüttenfront überwuchern, lullt mich total ein.

„Hula ist die Sprache des Herzens“, sieht mich Brom an. „Hula ist der Herzschlag des hawaiianischen Volkes. Ich habe heute Nacht mein Ohr auf dein Herz gelegt und gelauscht. Dein Herz schlägt im Rhythmus der Wellen und dein Atem klingt wie der Nordwind.“

„Ähm, danke!“, murmle ich.

„Hilo, der pensionierte Housekeeper des Camp-Geländes, wird uns nicht vor dem späten Nachmittag erwarten. Wir können der Road to Hana, der Nordküste, folgen und uns den Garten Eden und andere Sehenswürdigkeiten ansehen oder wir fahren über die Südstraße durch die Zuckerrohrfelder ins Camp.“

„Auf welcher Straße muss ich kotzen?“

Brom lacht auf, hilft mir danach beim Verladen meines Gepäcks im Jeep und knallt die Tür der Hütte ins Schloss. Diesmal schiebt er zusätzlich einen Stuhl unter die Klinke und hüpft barfuß in seinen Wagen. „Next stop: Garden Eden! Fasten your seat belt!“

Anders als gestern fährt Brom heute zivilisiert, wofür ich ihm in der extrem kurvenreichen Küstenstraße sehr dankbar bin. Der Ausblick auf den wilden Ozean ist überwältigend. Zu unserer Rechten erklettert der Regenwald die steilen Hänge des Haleakala. Immer wieder passieren wir donnernde Wasserfälle, die tiefe Schluchten und Becken geformt haben. Die Road to Hana schlängelt sich über Brücken und durch Schluchten immer weiter gegen Osten. Ich habe längst aufgehört die Regebogen zu zählen, die fast neben oder über jedem Wasserfall zu sehen sind. Oft fallen zu unserer Linken Schluchten fast senkrecht zur Küste ab, wo die starke Brandung ans Vulkangestein kracht. Der schwarze Fels, die saftig grüne Vegetation, die weißen Muscheln und die rote Erde lassen mich meine Vergangenheit vergessen, während wir uns Kurve um Kurve, Brücke um Brücke meiner ungewissen Zukunft nähern.

„Den Felsen da vorne kenne ich!“, zeige ich auf eine Felsnadel in der Brandung, die wie ein Vorposten die Einfahrt in die nächste Schlucht bewacht. „Wie ist das möglich?“

„Jurassic Park!“, winkt Brom ab. „Hier flog die Crew beim ersten Film mit dem Helikopter am Fels vorbei durch die Schlucht zum Garden Eden hoch.“

„Voll wahr?“

„Yep! Leider bin ich hier noch nie einem echten Dinosaurier begegnet. Aber alles kann sich ändern! Vor allem in diesem Jahr!“

„Warum?“, frage ich dumm.

„Außer uns beiden reisen noch weitere Götter-im-Training an. Glaub mir, Blondy, noch ein paar mehr von unserer Sorte, da kann alles passieren!“

„Ja, ja!“, winke ich ab. „Götter-im-Training, klingt ja lustig! Sind damit die anderen Helfer während des Camps gemeint?“

Weil Brom daraufhin wieder in eines seiner Liedchen einstimmt, hake ich nicht nach, sondern gaffe auf die Felsnadel, danach die Schlucht hoch. „Ja, ein echter Dinosaurier wäre schon cool!“, breche irgendwann ich die Stille.

Der Garden Eden ist mit nichts zu vergleichen, was ich jemals zuvor gesehen habe. Hier im tropischen Inselklima wächst einfach alles, tiefgrün, feuerrot, gelb und blau, wuchert jede nur erdenkliche und undenkliche Pflanzenart. Auf unserem Spaziergang passieren wir riesige Farne, Bambuswälder und seltsame rote Büsche, die aussehen wie zwei Meter lange Wedel aus fleischigen Blättern an grauen Stielen und Regenbogen Eukalyptus, deren Rinde wie von einem Kind bunt bemalt aussieht. Überall sind Palmen, Pfefferbäume, Kakteen und Bananenstauden und zehntausend Blumen. Weil der Garten am Hang liegt und sich durchs Tal immer tiefer in den Regenwald zieht, hat man fast von überall Einblicke in immer verrücktere Märchen- oder Horrorwälder.

„Das sind Drachenfrüchte, meine Liebe!“, höre ich aus der Ferne eine Frauenstimme. „Oh, Schwester, schau dir diesen Goldregen neben den Mimosen und der spanischen Myrte an.“

Die beiden Frauen, eine junge mit Blumenkränzen im geflochtenen Haar und um den Hals, die andere uralt in einem extravaganten Deux-Piece aus graubestickter Seide zu ebenso grauen High Heels spazieren vor uns zwischen zwei afrikanischen Tulpenbäumen.

Die Weißhaarige mit der aufwendigen Frisur und viel Schmuck dreht sich uns zu. „Eleuthereus, Bromios!“, ruft sie uns bei unseren Initiationsnamen. „Seht euch diesen Pfauenstrauch an!“, zeigt sie mit silbern lackierten Fingernägeln auf Blüten mit Staubgefäßen, die wirklich an einen Pfauenschweif erinnern.

„Aloha, Klio!“, verneigt sich Brom vor der uralten Königin dieses Waldes. „Welche Ehre, Euch hier zu begegnen!“

„Nicht doch!“, winkt die Diva ab. „Euterpe und ich warteten auf euch.“ Klio hakt sich bei mir unter und führt mich zu einem Teich mit Seerosen und Zypressengras. „Sonnenschein“, dreht sich mir die Diva zu, als Brom und Euterpe hinter uns zurück bleiben. „Du hast unsere erste Begegnung überlebt und all deine Prüfungen in London bestanden.“

„Ähm, ja“, nuschle ich. „Ich glaube, dass …“

„Glaube ist das Saatbeet deiner Entfaltung, doch ohne die Erfahrungen, dieses wichtige Düngemittel, keimt und wächst nichts, noch entfaltet es sich zur vollen Blüte und Reife.“

„Ähm, ja!“, murmle ich.

„Doch Bewusstsein, mein Sonnenschein, Bewusstsein ist die Ernte. Ich behalte dich im Auge! Achte auf deine Träume, sie werden dir den Weg zum Versteck zeigen!“

„Welches Versteck?“

„Nur so viel!“, sieht mich die uralte Lady an. „Du könntest der sein, der das Zerbrochene wieder heilen könnte. Dazu brauchst du die Steine.“

„Welche Steine?“, platzt es aus mir heraus.

Die Diva antwortet mir abermals nicht, sondern fährt fort: „Finde die Steine bevor es die fünf dunklen Priester tun. Erwecken sie das Schlafende im Vulkan, dann …“ Klio löst ihren Arm aus meinem angewinkelten Ellbogen, klatscht in die Hände und winkt Euterpe herbei, damit sie sich eine besonders rotleuchtende Seerose ansehe. „Noch etwas! Nicht jeder ist das, was er zu sein vorgibt! Normalerweise bleibe ich neutral, doch was sich der Insel nähert, kann uns alle vernichten.“ Damit lässt sie mich einfach stehen.

Ich habe einmal von Klio geträumt. In meinem Traum trug die alte Diva einen riesigen Saphir um den Hals. Auch schon in jenem Traum war sie sehr bestimmt und forderte mich auf, mich stolz zu dem zu erheben, der ich sein könnte oder falls nicht, mich für immer aus ihrer Gegenwart zu entfernen. In jenem Traum chauffierte mich Seth – mein heutiger Lover – an den Strand, wo er mich irgendwo in der Nähe von Malibu, neben Los Angeles, absetzte. Ich fand jenen Tempel, den Klio erwähnte, und stolperte wirklich durch eine seiner verfallenen Wände in eine andere Welt. Über moosüberwucherte von den Jahrhunderten vollkommen verwitterte Steinstufen erkletterte ich einen Hügel. An mehr aus jenem Traum kann ich mich nicht mehr erinnern. Damals glaubte ich, diesen Wald in London zu finden, was ich jedoch nicht tat. Betrat ich schon damals in jenem Traum die Insel Maui, als ich von einer Welt in die andere überwechselte? Aber woher weiß das Klio? Das war ein Traum. Ein Traum, den ich in Basel träumte, lange bevor ich überhaupt ahnte, was das Schicksal mit mir plant.[1]

Brom kommt mit Euterpe auf mich zu. Die jungaussehende Frau stellt sich mir als eine der Lehrerinnen des Camps Telesterion vor. Ihr Alter kann ich überhaupt nicht einschätzen. Euterpe könnte siebzehn, aber genauso gut fünfzig sein. Sie kniet sich in den Rasen, beugt ihr Haupt dicht über die feuerrote Seerose, die ihr Klio zeigen wollte. Auch sie hat uns Jungs aus ihrem Bewusstsein gestrichen, als sie sich nach ein paar Minuten stiller Bewunderung der Seerose wieder erhebt. Weder Euterpe noch Klio sprechen uns nochmals an oder würdigen uns auch nur eines Blickes. Die beiden ungleichen Frauen spazieren einfach schweigend zu ein paar Drachenbäumen den Hügel runter.

„Was war denn das?“, flüstere ich zu Brom.

„Die Musen kommen und gehen, wie die Winde.“

„Aha!“, nicke ich und schneide eine Grimasse. Da der sonst so gesprächige Hawaiianer schweigt, bohre ich nicht weiter. Kopfschüttelnd wende ich mich noch einmal nach den beiden Frauen um, doch der Weg ins Tal ist menschenleer.

Erst später, zurück im Wagen, quält mich wieder die Neugier. „Brom, diese Frauen kannten meinen komischen Namen, den du mir am Flughafen verpasst hast. Wie das? Ein Zufall?“

„Mann, Illu, es gibt keine Zufälle! Und wenn wir gerade dabei sind, auch keine Wunder!“

„Aha!“

„Wunder sind nur unbekannte Gesetze oder die unreifen Früchte eines Baums. Bestaune die Blüten im Frühling, die grünen Früchte im Sommer und die Reifen im Herbst. Wunder müssen reifen.“

„Ja, ja!“, stupse ich Brom in die Seite. „Hat dir das vorhin Euterpe geflüstert?“

„Bingo!“, lacht er auf. „Noch Lust auf weitere Sehenswürdigkeiten oder wollen wir zum Camp?“

„Die Insel ist ja nicht sehr groß. Ich habe noch Wochen, mir alles anzusehen. Für heute reicht’s mir!“

 

Wir passieren nach einer halben Stunde Fahrt Hana, ein kleines Küstenstädtchen ganz im Osten von Maui gelegen, und kurven über weitere verwitterte Steinbrücken in den Süden der Insel. Die Wellen der Brandung sind hier, kaum haben wir Hana passiert, nicht mehr so wild; und der Nordwind hat sich gelegt.

Je weiter wir uns von Hana entfernen, desto enger und schlechter wird die Straße. Als wir Kipahulu erreichen, brennt die Sonne heiß. Der schwarze Strand in der Ferne und das Blau des Ozeans ziehen mich magisch an, um zu baden, doch Brom steuert in einen abzweigenden Pfad, in den Haleakala National Park ein. Noch einige Male biegt er von immer enger werdenden Pfaden ab, bis ich keinen Weg mehr erkennen kann.

Hat mich Klio hier am Ende der Welt gefunden, dann vielleicht auch meine Feinde? Etwas nähert sich der Insel, das uns alle vernichten kann! Ich müsse auf meine Träume achten, um irgendwelche Steine zu finden, die fünf dunkle Priester davon abholten sollen, das Ende der Welt einzuläuten.Ich könne der Eine sein, der heilen muss, was er einst zerstörte. Und ich dachte, ich könne hier ein paar Tage Ferien machen!

Irgendwo im Nirgendwo

„Wir sind da!“, springt Brom neben mir aus dem Jeep, zieht sich seine Lederjacke aus und spaziert barfuß unter den ausladenden Ästen eines Banyan Baumes hindurch in den Regenwald, der ihn schon nach wenigen Schritten verschluckt. „Illu, wo bleibst du?“, höre ich ihn nach mir rufen.

„Ja, ja!“ Sind wir im Camp angekommen? Ich kann es nicht sehen. Ich hieve meinen Koffer, die beiden Sporttaschen und meinen Rucksack aus dem Kofferraum und folge damit Brom, der an den Stamm eines Eukalyptusbaums gelehnt auf mich wartet. Hier wächst genau so viel Grünzeug von unten nach oben, wie von oben nach unten.

„Willst du das alles mitschleppen?“

„Logo!“, schneide ich eine Grimasse. „Wo ist das Camp?“

„Camp?“ Brom lacht plötzlich schäbig. „Glaubst du, wir sind schon am Ziel? Na gut! Gib mir deine beiden Taschen und den Rucksack!“

Ich versuche danach meinen roten Samsonite Koffer über den holprigen Boden zu ziehen. Erst nach etwa hundert Schritten kreuz und quer durch den Regenwald kommen wir auf einen Pfad.

„Ist es noch weit zum Camp?“

Brom antwortet mir nicht, schneidet aber eine Grimasse.

Eine Weile führt der schmale Weg an einem Bachlauf entlang, um sich später steil in eine der Schluchten des Haleakala hinauf zu schlängeln. Wir passieren zwei Wasserfälle, die aus enormer Höhe neben uns in tiefe Schluchten donnern. Eng am Fels entlang führt ein kaum sichtbarer Trampelpfad, den ich mit meinem Koffer kaum bewältigen kann. Irgendwann erreichen wir eine Zwischenebene, auf der ein verzweigter Fluss sich tief in den Vulkanfelsen gegraben hat, um sich am Vorsprung in drei Wasserfälle zu teilen.

„Tritt bloß in keinen der Flüsse. So nahe an der Kante ist der Sog echt stark!“, warnt mich Brom und springt mit meinen beiden Sporttaschen in seinen Händen balancierend über die vielen Verzweigungen des Baches, um in der nächsten Schlucht zu verschwinden. Als er hinter einem Grad wieder auftaucht, hat er mein Gepäck auf einen der Felsen geschichtet und klettert flink über eine glitschig aussehende Furche mitten durch den nächsten Bach. Kaum drüben, verschwindet der Hawaiianer hinter einem weiteren Wasserfall.

„Was ist mit meinem Gepäck?“, schreie ich ihm nach.

Brom taucht wieder hinter dem Wasserfall auf. „Lass es liegen!“, brüllt er aus vollem Halse, um den Lärm zu übertönen. „Ich will dir etwas zeigen, bevor wir weiterklettern. Folge mir!“

Weil die Gischt des Wasserfalls, der keine zehn Meter vor uns aus enormer Höhe in die Tiefe donnert und mich sofort durchnässt, lasse ich sowohl meine Flip-Flops, wie auch mein Leinenhemd und meinen Koffer zurück, um auf allen Vieren über die nassen Steine am Hang durch den Bach zu kraxeln. Ein falscher Schritt und ich stürze bestimmt zwanzig Meter in die Tiefe, um – nur falls ich Glück habe – im Wasserbecken unter dem Grünzeug im Dschungel abzutauchen, statt auf den Felsen zu zerschellen. Als ich nicht mal die Hälfte bewältigt habe, bin ich so nass, als ob ich geduscht hätte. Zentimeter um Zentimeter angle ich mich durch den Bach vorwärts, bis dieser kaum sichtbare Pfad mich hinter den Wasserfall führt, sich dort verbreitert und in eine Höhle mündet.

Drinnen sitzt Brom auf einem Stein und wartet auf mich. Er trällert ein Liedchen, das ich aber wegen dem Naturgetöse kaum hören kann. Der verrückte Hawaiianer stapft tiefer in die Höhle hinein und wird nach nur zwei Metern von der Finsternis verschluckt. Kurz tauchen die Bilder meines Albtraumes auf und es kostet mich Überwindung, mich vollkommen blind vorwärts in die Finsternis zu tasten. Doch der Tunnel ist kurz und lichtet sich sofort nach einer Biegung. Was ich jetzt sehe, haut mich regelrecht um. Ich stehe am Höhlenausgang auf der Schwelle in eine Märchenwelt. Ein weiterer Wasserfall an der Rückwand dieser verborgenen Grotte hat hier ein wuchtiges Becken ausgegraben. Die steilen Hänge um uns herum sind alle dicht mit fleischigen Pflanzen mit gigantischen Blättern, die wie ein Dach über dieses Becken wachsen, überwuchert. Ich habe noch nie etwas derart magisches gesehen. Überall blühen Orchideen im Grün. Die Lianen, die in die Grotte hängen, sind so zahlreich, wie das nur in einem echten Regenwald sein kann. Das Sonnenlicht, das sich durch das grüne Dach kämpft, tanzt glitzernd im Wasserbecken, in dem einzelne flache Felsen zum Sitzen oder Liegen einladen. Überall haben sich im feinen Nieselregen des Wasserfalls Regenbogen gebildet, dass ich meinen Mund vor Staunen nicht mehr zukriege.

Brom zieht sich seine Jeans aus, taucht mit Kopfsprung ins Wasser und schwimmt zu einem der flachen Steine, um sich daraufzulegen. „Komm schon!“

Das kristallklare Wasser ist erfrischend, aber nicht kalt und der Felsen von den wenigen Sonnenstrahlen angenehm aufgewärmt.

Brom sagt kein Wort, doch seine extrem blauen Augen blitzen vor Stolz, mir dieses gehütete Geheimnis anvertraut zu haben. Wer diese Grotte findet, der muss sich hier im Regenwald sehr gut auskennen. Nach einer Viertelstunde ausruhen und staunen, schwimmt Brom an den gegenüberliegenden Beckenrand und teilt dort nackt das Dickicht. Diesmal bleibe ich ihm dicht auf den Fersen. Hinter Riesenfarnen und hohen Gräsern befindet sich ein Pfad durchs Blattwerk exotischer Pflanzen. Abermals ist Brom von einem Moment auf den anderen im Grün verschwunden. Keine Ahnung, wo wir diesmal landen werden, denn ich kann nur Grün sehen: helles Grün, dunkles Grün, fleischiges Grün und zartes Grün. Irgendwann werden die Blätter von Elefantengras und wucherndem Efeu abgelöst.

„Achtung Stufe!“, warnt mich der Hawaiianer, doch ich habe mir den großen Zeh schon angestoßen. Wir befinden uns noch immer in der verborgenen Grotte, doch jetzt direkt an einer der Felswände der Rückseite. Die Steinstufen müssen vor undenklicher Zeit angelegt worden sein, denn sie sind fast verwittert oder so dicht mit Moos bewachsen, dass ich barfuß tief darin einsinke. Je höher wir auf der Treppe hochsteigen, desto schlanker werden die Bäume, bis die uralten Riesen in der Grotte unten, oben den Platz für ihre Urenkel ganz lichten. All ihre Triebe sind wie Weihnachtsbäume mit Ranken, spanischem Moos, Efeu, bunten Orchideen und diesen Wachsblumen namens Fangipani geschmückt.

„Hier beginnt der Pfad der Götter!“, zeigt Brom durch einen Regenbogen hindurch, der direkt vor uns die Ferne in bunte Farben taucht. „Dahinter liegt eine andere Dimension. Wenn du bereit bist, wirst du den Regenbogen durchschreiten können, um die Stadt zwischen den Welten betreten zu können.“

„Ist das ein Hawaiianischer Aberglauben?“

„Aberglauben?“, wirbelt Brom zu mir herum. „Bist du der, der du bist oder nicht?“

„Ähm …“, stammle ich, „ich habe noch nie von einer verborgenen Stadt auf Maui gehört!“

„Falls du den Regenbogen durchschreiten kannst, befindest du dich auch nicht mehr auf Maui“, flüstert mir Brom zu.

„Ah, klar! Ja, verstehe!“ Als Brom nicht hinsieht, verdrehe ich aber meine Augen und zeige ihm den Vogel.

„Du kennst jetzt die Schwelle mit dem Übergang. Präge dir den Rückweg ein, damit du wieder her findest!“

„Ja, ja! Alles klar!“

Zurück in der Grotte, die Brom das geheime Tal nennt, tauche ich nochmals ins klare Wasser. Danach folge ich meinem Fremdenführer durch die Höhle hinter dem Wasserfall und wieder auf allen Vieren über die glitschigen Steine am steilen Hang zurück zu meinem Gepäck. Erst dort ziehen wir uns wieder an.

Brom scheint die heiße Feuchtigkeit nichts auszumachen. Er trällert ein Liedchen und wechselt meinen Koffer abermals gegen die beiden Sporttaschen und den Rucksack aus. Barfuß springt er damit wie eine junge Ziege von einem Fels zum nächsten, während ich mit meinem Koffer jedes Hindernis umschiffen muss. Bestimmt schon hundert Mal habe ich damit Felsen gerammt und mit der roten Kofferfarbe Steine markiert. Doch die anstrengende Kletterpartie lohnt sich. In der Ferne wirken die schwarzen Vulkanhänge dunkelblau und violett, während in jedem Tal weitere Regenbogen über die Wasserfälle Brücken in geheimnisvolle Parallelwelten schlagen. Wer hier die Naturgewalt einer jungen Welt nicht fühlen kann; wer die Geburt und den Tod von Inseln und Zeitaltern hier nicht erahnen kann, dem ist nicht mehr zu helfen. Archaisch und zugleich frisch ist das Leben hier.

„Danke!“, murmle ich ergriffen und bin mir nicht sicher, ob ich damit zu Brom oder zu unsichtbaren Göttern spreche.

Mein neuer Kumpel nickt stumm.

Nach langer Besinnung drehen wir uns wieder dem Regenwald hinter uns zu und überqueren nach einer Biegung eine Hängebrücke über eine weitere Schlucht, in die wir danach absteigen. Die Dschungelriesen mit ihren Luftwurzeln und mächtigen Kronen beherrschen bald wieder das Tal. Durch den Bambus, die japanische Myrte, Riesenfarne und das überall wachsende Elefantengras kann ich immer wieder Ausschnitte der Küste tief unter uns erkennen. Oft muss ich dazu aber Luftwurzeln oder Kletterfeigen zur Seite schieben.

Unsere Wanderung dauert schon über zwei Stunden, als ich Bäume und Hügel wiederzuerkennen glaube. Aber im Regenwald gleicht bald eine Lichtung der anderen, egal wie überwuchert, bunt und vielfältig die Flora auch immer sein mag. Weit nach drei Stunden mit all meinem Gepäck herumkletternd, fällt der Weg immer weiter ab, bis wir auf einen Pfad kommen, der mir ebenfalls bekannt vorkommt. Ich erkenne sogar die roten Schleifspuren, die ich mit meinem Samsonite Koffers durchs Anstoßen geschaffen habe.

„Haben wir uns verirrt? Brom, wir laufen im Kreis!“

„Da vorne steht mein Jeep!“, zeigt der Bengel zwischen Bäumen hindurch auf seinen silbernen Wrangler.

„Warum habe ich all mein Gepäck mitgeschleppt?“, schnauze ich ihn an.

„Ich habe nicht gesagt, du sollst es mitnehmen!“

„Aber ich dachte, wir wären im Camp angekommen und…“

„Hast du dir den Weg ins geheime Tal eingeprägt?“

„Was?“, schnauze ich genervt. „Sicher nicht!“

„Schade! Das nächste Mal wirst du alleine die Furch hinter den Wasserfall finden müssen, wie auch den Pfad der Götter.“

„Warum?“

„Wirst du schon sehen! Illu, kamen dir die verwitterten Stufen den Hügel hoch nicht bekannt vor?“ Als ich meinen Kopf schüttle, fährt Brom fort: „Denke darüber nach! Jetzt schmeiß dein Gepäck wieder in den Wagen, bis zum Camp ist es zu Fuß zu weit!“

„Echt? Ist aber nicht wahr?“, brumme ich.

Natürlich habe ich die Stufen sofort wieder erkannt. Ich war im Traum schon mal hier und das lange bevor ich ahnte, dass es mich irgendwann auf diese Insel verschlagen würde. Es waren exakt die Stufen, die ich erkletterte, als ich in jenem Traum durch den Tempel in diese andere Welt gestolpert bin. Klios Begegnung vorhin brachte mir die Erinnerung daran sehr klar zurück.

Brom singt wieder laut, während er seinen Jeep wendet und über einen weiteren kaum sichtbaren Pfad weiter gegen Westen fährt. Schon nach fünf Minuten parkt er seinen Wagen abermals irgendwo in einer Lichtung und abermals spaziert er in den Regenwald davon.

Diesmal lasse ich all mein Gepäck im Wagen.

Wir überqueren eine uralte Steinbrücke und folgen dahinter einem weißen Weg. Auf einem Torbogen aus aufgestapelten Lavablöcken steht in weißer Farbe frisch aufgemalt: Camp Telesterion.

„Ist es das?“

„Yep! Wir sind am Ziel!“

„Bedeutet der Name etwas?“

„Logo!“, grinst Brom.

„Und was?“

„Ort der Einweihung“, zeigt Brom auf den frischgemalten Schriftzug. „Besser, du hättest dein Gepäck gleich mitgebracht. Jetzt musst du nochmals zurück, um es zu holen.“

„Ja, ja!“

„He! Doch nicht sofort!“, hält mich Brom am Ellbogen zurück. „Erst führe ich dich herum und stell dich den Anwesenden vor.“ Brom brüllt Namen.

Niemand antwortet ihm.

Hinter dem Torbogen führt der weiße Weg links zu einer Ansammlung Regenbogen-Eukalyptus, zwischen deren dicken Stämmen eine eingequetschte, zweistöckige Hütte auf kurzen Stelzen steht. Eine Holztreppe führt zum Eingang und einer kleinen Veranda davor hoch. Auch hier verrät weiße Farbe über der Eingangstür wo man sich befindet: Registration.

„Muss ich mich hier anmelden?“

„Das ist nur für die Studenten, die bald anreisen werden. Die Registration ist größer, als sie von außen erscheint, weil der eigentliche Teil des Hauses sich hinter diesen Eukalyptusstämmen verbreitert. Als das Haus gebaut wurde, brachte es niemand übers Herz, die Baumriesen zu fällen. Im hinteren Teil gibt es Büros, Lagerräume und Gästezimmer.“

Nach der Registration-Hütte verzweigt sich der weiße Weg: geradeaus führt er zu einer Ansammlung bunt bemalter Hippie-Hütten und rechts abbiegend, gelangt man auf ihm aus dem Regenwald und über ein paar Stufen in der roten Erde, hinaus auf eine Hochebene. Dieses Plateau ist ein flacher vorgelagerter Hügel des Haleakala und überall von einzelnen oder kleinen Gruppen hoher Königspalmen bewachsen, die sich im Wind biegen und rascheln. Das Plateau ist beinahe überall dicht mit saftigem Gras bedeckt, das zu mähen wahrscheinlich schon morgen zu meinen Aufgaben gehört.

Brom steuert das Plateau an. Kaum aus dem Regenwald hinaus, sticht die Sonne erbarmungslos. Ich ziehe mir sofort wieder das Leinenhemd aus.

„Siehst du den Palmenwald an der vorgelagerten Klippe!“, zeigt Brom in die Ferne zur steilabfallenden Küste. „Hinter diesen Palmen auf der äußersten Kante der Klippe steht unser Haus mit der Werkstatt und dem Schuppen darunter. Dahinter, weiter der Klippe entlang am Rande des Regenwaldes, gibt es einen von einem Banyanbaum überdachten Versammlungsort.“

„Ja, da sollte ich neue Bänke montieren“, nicke ich, da ich davon schon gehört habe.

„Auf diesem Hügel!“, weist Brom auf einen weiteren, hinter Palmen kaum auszumachen, „liegt das Haupthaus mit den Wohnungen der Lehrer. Zudem gibt es dort Sitzungszimmer, eine Bibliothek und coole Aufenthaltsräume. Die Vorderseite des Gebäudes macht eine überdachte Terrasse aus, auf der gegessen wird, denn im Haupthaus befindet sich auch die Campküche.

„Wo werden denn all die Studenten untergebracht?“

„Die Zahl ist auf vierzig beschränkt, denn so viele Betten gibt es in den bunten Hütten neben der Registration.“

„Und wir wohnen wirklich im Haus auf der Klippe?“, blicke ich mich wieder nach dem Palmenwald um. Ich kann es kaum erwarten, meine neue Bleibe zu erkunden.