Selma Lagerlöf - Holger Wolandt - E-Book

Selma Lagerlöf E-Book

Holger Wolandt

4,8

Beschreibung

Sie wird als die "Königin der schwedischen Literatur" gehandelt, sie hat als erste Frau den Nobelpreis und eine Sitz in der Schwedischen Akademie erhalten und ist durch "Nils Holgersson" weltweit jedem ein Begriff. Dass sie aber auch modern und weltoffen war - das wussten wir bislang noch nicht, denn über acht Jahrzehnte sollte die erste deutschsprachige Lagerlöf-Biografie auch die einzige bleiben. Auf Grundlage der Briefe von Selma Lagerlöf, die seit einigen Jahren zugänglich sind, wirft Holger Wolandt einen neuen, frischen Blick auf die Autorin, der den Menschen hinter dem "Nationalmonument" fokussiert. In einer Fülle von erstmals übersetzten Briefzitaten lässt er diese starke Persönlichkeit selbst zu Wort kommen und nimmt den Leser mit auf Selma Lagerlöfs Spuren - nach Värmland und in die Welt.

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Holger Wolandt

Selma Lagerlöf

Värmland und die WeltEine Biografie

»… solange es unterhaltende Bücher gibt,in denen man lesen kann, finde ich,dass weder ich noch sonst jemandunglücklich zu sein braucht.«

Selma Lagerlöf, Aus meinen Kindertagen

Inhalt

Einleitung

Värmland 1858, das Ende der Welt

Stockholm 1867

Die Gouvernanten

Der Stockholmer Winter

Stille Jahre

Das Lehrerinnenseminar

Die Stadt der vielen ernsten und ausgezeichneten Frauen

Der Durchbruch

Gösta Berling

Begegnung mit einer neuen Welt: Sophie Elkan

Italien

Falun

Jerusalem

Valborg Olander: die Schriftstellergattin

Eine Kriminalgeschichte

Von Ystad bis Haparanda

Rückkehr nach Mårbacka

Höchste Weihen: Der Nobelpreis

Die Frauenfrage

Ein moderner Roman

Der große Krieg

Die Autobiografie

Die letzten großen Romane

Die Mehlhändlerin

Anna Svärd

Die Baronin

Kein ruhiges Alter

Nachbemerkung

Selma Lagerlöf – Wichtige Daten und Werke

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Register

Carl Larsson: Die Schriftstellerin Selma Lagerlöf, 1902, Kreide und Öl

Einleitung

Die einzige Schwedin,1 die, trotz des Heimvorteils, bislang mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, kam Mitte des 19. Jahrhunderts in der finstersten schwedischen Provinz zur Welt, vierzig Kilometer Wegstrecke mit dem Pferdefuhrwerk vom nächsten Bahnhof entfernt.

Mit einer ungeheuren Kraftanstrengung sollte es ihr gelingen, ihr heimatliches Värmland, das weit im schwedischen Binnenland an der norwegischen Grenze liegt, zu verlassen und die Welt zu erobern. Ihre Werke taten es ihr gleich: Bereits zu ihren Lebzeiten wurden sie in über vierzig Sprachen übersetzt. Einige unabhängige Frauen, vor allen Dingen ihre gute Freundin, die Schriftstellerin Sophie Elkan, halfen ihr dabei. Selma Lagerlöf kannte Sophie Elkan noch nicht lange, als sie ihr schrieb:

»Falls wir uns noch einmal treffen, musst Du mich dazu anhalten, meine wirkliche Geschichte zu erzählen, denn die kennst Du nicht einmal annäherungsweise. Es handelt sich um eine einzige lange Variation über das Wort Wille. Es ist wirklich so, als sei mir nichts angeboren, sondern als hätte ich meine Begabung selber geschaffen, indem ich sie mir herbeigewünscht habe. Ja, der Ehrgeiz ist mir vermutlich angeboren und die Gabe zu reimen, aber kaum mehr. Aber wenn Du wüsstest, wie dumm ich war und noch bin, dann hättest du es für ziemlich unwahrscheinlich gehalten, dass eine Person, wie ich sie mit 20 war, mit 30 Schriftstellerin sein konnte. Es ist eine Geschichte der Demütigungen, und es wird sehr, sehr viel Sonnenschein nötig sein, um die Last, die mir das auferlegt hat, wegzubekommen.«2

Den Sonnenschein erlebte Selma Lagerlöf dann mit Sophie Elkan auf Reisen nach Italien und in den Nahen Osten, aus deren Eindrücken und Erlebnissen sie ihre Werke schöpfte.

Selma Lagerlöf stammte aus einer alten Pfarrersfamilie. Immer geht es in ihren Werken auch um Religion und um die letzten Dinge. Der Held ihres Romandebüts Gösta Berling verliert als Pfarrer wegen Trunksucht sein Amt. In dem Roman Jerusalem, der Selma Lagerlöfs Weltruhm begründete, geht es um eine Erweckungsbewegung. Freikirchen waren und sind in der skandinavischen Literatur, beispielsweise auch in dem Roman Skipper Worse (1882) von Alexander Kielland oder über hundert Jahre später in Per Olov Enquists Lewis Reise (2001), bis heute ein großes Thema.

Aber nicht nur das Interesse an der Religion und am Jenseits bilden einen (unaufdringlichen) Hintergrund aller Lagerlöf-Werke, auch die Welt der Geister und Gespenster ist ein wiederkehrendes Thema. Im Mai 1912 heißt es in einem Brief an Sophie Elkan:

»Meinerseits glaube ich, dass wir durch das Studium des Unterbewussten Gott und die Unsterblichkeit zurückerhalten und den Materialismus vollkommen hinter uns lassen können. Ich bin mir nämlich nicht so sicher, dass es sich nicht eines Tages zeigen wird, dass das Unterbewusste, das sich auch als Instinkt bei den Tieren zeigt, das, was auch in Herbstnächten den Flug kleiner, einsamer Vogeljungen über das Meer diktiert und sich in der genialen Fähigkeit, die jeder Pflanze innewohnt, zeigt, ihre Samen zu verteilen, ja all das Unerklärliche und Rätselhafte in der Natur wird uns zu etwas zurückführen, das wir erneut Gott nennen werden oder das Geistige oder so etwas. Wir müssen den gegenwärtigen Gottesbegriff natürlich ganz und gar umschaffen.«3

Vermutlich kann auch für Selma Lagerlöfs Verhältnis zur Religion und zum Christentum gelten, was Thomas Mann über den norddeutschen Dichter Theodor Storm schreibt:

»Man muss bedenken, dass er einer spät und oberflächlich christianisierten Sphäre entstammt, die das Religiöse eigentlich nur als Sippenpietät und Totenkult (›Denn die Toten gehörten mit dazu‹) kennt, diesem friesischen Thule, das der mittelmeerischen Heimat des Jesus-Glaubens am nebelhaft-fernsten liegt und, möge es sich auch mit dem Munde und selbst seinem Bewusstsein nach zu ihm bekennen, seine Wurzeln zäh und brauchtreu im Ur-Heidnischen hat.«4

Sosehr Selma Lagerlöf ihren Ruhm genoss, der es ihr gestattete, das bescheidene Leben einer Mädchenschullehrerin hinter sich zu lassen – im Rampenlicht fühlte sie sich nie richtig wohl.

Ihre Großnichte Stella Rydholm, die einen Artikel über Mårbacka schreiben wollte, bat sie 1924:

»Wenn Du einen einfachen kleinen Aufsatz über Mårbacka schreibst, muss Dir das ja ebenso gestattet sein wie vielen anderen, aber ich wäre dankbar, wenn Du Dich dabei an die alltäglichen und äußerlichen Dinge hältst. Mein großes theosophisches Interesse können wir für uns behalten, nicht wahr? Man muss schließlich eine eigene kleine Welt haben, in die das Publikum nicht mit kalten, neugierigen Blicken kommen darf …«5

Sie fürchtete die »kalten, neugierigen Blicke« des Publikums und erwartete trotz ihres gigantischen Erfolgs bis zu ihren letzten Werken mit Beklemmung das Urteil der Kritiker.

Der Artikel ihrer Großnichte sollte ihr jedoch zusagen, sie reagierte am 2. Januar 1925 mit einem Dankesbrief:

»Was ich über mich las, klang herzlich und warm. Weißt Du, es gibt ja einige Schriftsteller, die durch ihre offene, warme Art, auf Menschen zuzugehen, richtig bezaubernd wirken können. Diese Gabe habe ich nie besessen. Ich bin nicht schüchtern, aber es ist wichtig für mich, dass der, den ich empfange, einen sympathischen Eindruck macht. Ich muss in Stimmung kommen. Drachmann und Schandorph, ja, auch viele andere Dänen kommen wie der strahlende Sonnenschein auf einen zu. Der Erzbischof [Nathan Söderblom] gehört auch zu diesen Menschen, ich aber nicht. Das habe ich an mir immer als einen Mangel empfunden, aber ich finde nicht, dass ich anders zu sein brauche, als die Natur mich geschaffen hat. Ich bin eine Zuhörerin, die Dinge weitererzählt, und niemand, der selbst eine schöne Rolle auf der Bühne des Lebens spielt. Deswegen gefällt es mir, dass Du gemerkt hast, dass Leben hinter der Stille war.«6

Das Bild, das sie von sich schuf, war das der bescheidenen Märchenerzählerin und Gutsherrin, die mit dem mondänen Leben der Großstadt und der Moderne wenig anzufangen wusste. Dieses Bild scheint auch dadurch bestätigt zu werden, dass sie einen Großteil ihrer Werke in eine ländliche, vorindustrielle Welt verlegte. Sie betonte oft, dass sie schon früh das Schreiben in den Mittelpunkt ihres Lebens gestellt hatte und sich alles andere, später auch die intimen Freundschaften mit Sophie Elkan und Valborg Olander, dem unterzuordnen hatte. Dem Schreiben durfte auch ihr Eintreten für die Frauenbewegung nicht gefährlich werden, selbst wenn sie bei ihren Ausflügen in die Welt immer die Lebensbedingungen der Frauen im Blick hatte.

Mit ihren Werken und diesem Bild etablierte sie sich in einer männerdominierten Welt – alle Verleger und wichtigsten Literaturkritiker waren Männer – in einem Ausmaß, wie es vor ihr noch keiner Frau in Schweden gelungen war.

Seit einigen Jahren sind nun ihre privaten Briefe, u. a. die an ihre Mutter und ihre guten Freundinnen Sophie Elkan und Valborg Olander, der Forschung zugänglich und liegen in schwedischer Sprache zum Teil ediert vor.

Mithilfe dieses überaus reichhaltigen Materials ist es heute möglich, einen neuen, frischen Blick auf die Autorin zu versuchen, der den Menschen hinter dem ›Nationalmonument‹ fokussiert.

Deshalb hat sich die vorliegende Biografie zum Ziel gesetzt, Selma Lagerlöf, soweit möglich, in ausführlichen Zitaten aus ihren Briefen selbst zu Wort kommen zu lassen. In späteren autobiografischen Texten hat sie ihr Leben stark stilisiert: Eine gute Pointe war ihr immer wichtiger als die faktischen Umstände.

Bei Entgegennahme des Lagerlöf-Preises 1989 versuchte die Romanautorin Kerstin Ekman eine bemerkenswerte Annäherung an das Phänomen Selma Lagerlöf:

»Ich finde manchmal, dass der Humor, die Klarsicht, der christlich gefärbte Humanismus, die exemplarisch demokratische Haltung sowie das große Talent zu unterhalten wie eine sonnenbeschienene, bewegliche Oberfläche über einer dunklen Tiefe liegen, über die ich nichts weiß. Kannte sie sie selbst? Hat sie diese Frage je geklärt?«7

Wagen wir hier also auch einen neuen, unverstellten Blick auf Selma Lagerlöfs Leben – und womöglich sogar auf ihre dunklen Tiefen.

Landschaft in Värmland, Anfang 20. Jahrhundert

Värmland 1858, das Ende der Welt

Im Geburtsjahr Selma Lagerlöfs 1858 kam Kronprinz Gustav – der spätere König Gustav V. – zur Welt, er war der Sohn König Oscars II., der später Selma Lagerlöfs erste große Auslandsreise finanzierte und dem sie in Nils Holgersson ein Denkmal setzte: Der Held des Romans begegnet dem Monarchen im Stockholmer Freilichtmuseum Skansen. – Im selben Jahr 1858 wurde die Göteborgs-Posten, eine der noch existierenden großen schwedischen Tageszeitungen, gegründet. Weiterhin durften ab diesem Jahr ledige Frauen mit 25 bei Gericht die Mündigkeit beantragen, wurden aber, sollten sie heiraten, wieder unmündig. Die körperliche Züchtigung mündiger Hausangestellter wurde verboten. Knechte unter 18 sowie Mägde und Dienstmädchen unter 16 durften jedoch weiterhin geschlagen werden – ein Gesetz, das bis 1920 galt.

Das 19. Jahrhundert war eine Zeit des Umbruchs. Mit Jean Baptiste Bernadotte, einem Offizier Napoleons, war in Schweden eine neue Dynastie gegründet worden. Als König Karl Johan hatte er 1818 den Thron bestiegen, aber gleichzeitig waren Macht und Einfluss des Königshauses und Adels geschwunden. Die Napoleonischen Kriege hatten zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse geführt: Schweden hatte 1812 Finnland an den russischen Zaren verloren, und die von Gustav II. Adolf begründete Zeit Schwedens als Großmacht war damit endgültig vorbei. Das mit Frankreich und Napoleon verbündete Dänemark hatte zwar beim Frieden von Kiel Norwegen an Schweden verloren, aber die Norweger erkannten den schwedischen König nur als Regenten an und hatten sich 1814 eine überaus freiheitliche Verfassung gegeben. Dieser Teilgewinn Norwegens konnte den Verlust der Provinzen östlich der Ostsee nicht wettmachen. Nach 1814 war eine Zeit der Restauration eingetreten, in Schweden aber auch eine Zeit des Niedergangs: Der Absatz von Rüstungsgütern war eingebrochen. Das hatte die Eisenhütten und Schmieden in ganz Schweden und damit auch in Värmland, der wasser- und waldreichen Provinz an der norwegischen Grenze, getroffen.

Ganz Schweden war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Auswanderung nach Amerika betroffen, auch Värmland, wo vor allem die Värmlandfinnen auswanderten, insgesamt etwa 80 000 Menschen. Die Bevölkerungszahl dieses Landstrichs fiel von 1865 bis 1910 von 189 000 auf 146 000.8

In Värmland wird – damals viel mehr als heute – ein Dialekt gesprochen, der stark vom Schwedischen der Hauptstadt abweicht und gewisse Ähnlichkeiten mit dem Norwegischen aufweist. Selma Lagerlöf wird sich gelegentlich im Entwurfsstadium ihrer Werke dieses Dialekts bedienen. Im Unterschied zur Schriftsprache wiesen die Verben keine Pluralformen auf. Um 1950 verschwanden sie im Schwedischen auch aus der Schriftsprache und damit ganz. Selma Lagerlöf sollte noch, als sie bereits Lehrerin und gefeierte Schriftstellerin war, Probleme mit der Orthografie haben und ließ ihre Texte stets von Freundinnen durchsehen. Das schrieb sie ihrer unzureichenden und unsystematischen Schulbildung zu. Dazu trug aber auch bei, dass in ihre Lebenszeit die Rechtschreibreform, die Vereinheitlichung der Schriftsprache, in Schweden fiel. In stark abgeschwächter Form verwendete sie das Värmländische später in ihren Schriften in wörtlicher Rede. – Weiter im Norden, an der Grenze von Värmland zu Dalarna, in den ›Finnskogarna‹ (Finnenwäldern), die von finnischen Einwanderern zum Teil gerodet und urbar gemacht wurden, sprach man im 19. Jahrhundert noch Finnisch.

Selma Lagerlöf kam an einem ungemütlichen Novemberabend 1858 auf dem Gut Mårbacka als fünftes (viertes noch lebendes) Kind zur Welt. Eine Schwester, Johanna Maria, war 1854 dreijährig gestorben.9 Der Älteste, Daniel, geboren 1850, lebte bei den Großeltern mütterlicherseits in Filipstad. Er war begabt und besuchte in dieser Kleinstadt die Schule. Seinem jüngeren Bruder Johan (*1854) fiel das Lernen hingegen schwerer, obwohl auch er mit zwanzig in Karlstad das Abitur ablegte.10 Eine Schwester, Anna, war zwei Jahre älter als sie, und vier Jahre nach Selma kam Gerda zur Welt, die zeitlebens ihre Vertraute sein sollte.

Den Abend ihrer Geburt beschreibt Selma Lagerlöf anschaulich in der 1908 verfassten Erzählung »Två spådomar«11 (Zwei Prophezeiungen):

»Man kann sich leicht vorstellen, dass es am 20. November 1858 auf dem alten Hof Mårbacka unruhig und mühsam zuging. Ein Kind wurde an diesem Tag recht spät am Abend geboren, und so etwas führt immer zu Unruhe und Unordnung, selbst an einem Ort, an dem man die Gewohnheit hat, das Leben ruhig zu nehmen und nicht mehr Aufhebens von einer Sache zu machen, als sie wirklich wert ist.«

Selma Lagerlöfs Vater Erik Gustav (1819–1885) hatte erst die militärische Laufbahn eingeschlagen und war beim ›Värmlands Fältjägarregemente‹ (Feldjägerregiment) in Trossnäs bei Karlstad Offizier geworden und bis zum Rang eines Leutnants aufgestiegen. Im Jahr 1852 nahm er seinen Abschied, um den väterlichen Hof Mårbacka zu übernehmen. Er blieb dem Militär jedoch weiterhin als ›Mönsterskrivare‹ (Musterungssekretär) verbunden und war als solcher häufig auf Reisen, um Steuern für das Militär einzutreiben. Bereits sein Vater war Regimentsschreiber gewesen, eine besser besoldete Stellung, die nach seinem Tod auf vier Musterungssekretäre aufgeteilt wurde. Die Besoldung seines Sohnes war also wesentlich geringer.

Die acht Jahre jüngere Kaufmannstochter Elisabet Lovisa (Louise) Wallroth (1827–1915) aus Filipstad im Osten der Provinz Värmland hatte er bereits 1849 geheiratet. Sie war eine gute Partie. Louises Vater, Carl Johan Wallroth, war auch Besitzer von Gårdsjö Bruk, einer Eisenhütte mit Sägewerk, Ziegelei und Mühle, eine halbe Stunde zu Fuß von Mårbacka entfernt, ebenfalls im Fryksdalen gelegen. So hatte sich das junge Paar kennengelernt: Der Gutsbesitzersohn begegnete der ältesten Tochter des ›Brukspatron‹, des Besitzers der benachbarten Eisenhütte. Die ersten drei Ehejahre verbrachte das Paar auf Gårdsjö Bruk, dann starb Erik Gustavs Vater, der Sohn quittierte den Militärdienst und die Familie übersiedelte nach Mårbacka.

Das Gut war abgelegen: Es gab keine befestigten Landstraßen, im Frühjahr zur Schneeschmelze war das Durchkommen schwierig, die eingleisige Eisenbahn, ›Frykdalsbanan‹, die diesen Teil Värmlands erschließt, wurde erst 1915 fertiggestellt. Im Sommer verkehrte auf dem See ein Dampfer, der auch die Post brachte.

Mårbacka, Gemälde von Selma Lagerlöfs Onkel Kristofer Wallroth

Mårbacka war nicht nur abgelegen, sondern auch klein. Ein Gemälde von Selma Lagerlöfs Onkel, dem Kunstmaler Kristofer12 Wallroth, das heute in der Diele von Mårbacka hängt, zeigt uns ein bescheidenes, sechs Fenster breites rot gestrichenes Holzhaus. Für den zweiten Band von Selma Lagerlöfs Memoiren Aus meinen Kindertagen zeichnete Gutsinspektor Raoul Kajland einen Grundriss13: Im Erdgeschoss liegen die Küche, die erst von der Großmutter väterlicherseits und der Tante Lovisa Lagerlöf (1824–1907) bewohnte Kammer hinter der Küche, das Ess- und Wohnzimmer (der ›Saal‹), der (kleinere) Salon sowie das Schlafzimmer der Eltern. Das Kinderzimmer ist ein Giebelzimmer und nur über einen dunklen Speicher zu erreichen. Für große Einladungen fehlte der Platz. Glücklicherweise lag das wichtigste Ereignis des Jahres, der Geburtstag des Vaters, am 17. August, im Spätsommer, und konnte im Freien gefeiert werden.

Grundriss des Gutshauses Mårbacka von Raoul Kajland

Wie die Zimmer in Selma Lagerlöfs Kindheit genau eingerichtet waren, ist bekannt, da nach dem Tod Erik Gustavs ein Nachlassverzeichnis erstellt wurde. Im ›Saal‹, dem Wohnzimmer, stehen demnach unter anderem eine Couch mit Kissen, zwölf Stühle, ein Schaukelstuhl sowie der runde Esstisch. Eine Lithografie, deren Wert 1885 auf drei Kronen veranschlagt wird, zeigt den Dichter Carl Michael Bellman.14

Die meistgelesene Beschreibung Mårbackas findet sich in Selma Lagerlöfs Roman Nils Holgerssons wunderbare Reise mit den Wildgänsen von 1906–07. Im 49. Kapitel trifft die Autorin auf dem Gut mit dem Helden des Romans zusammen, der sich bereits auf der Rückreise aus Lappland befindet. Nils wird von dem Waldkauz bedrängt, der auf dem Speicher des Haupthauses wohnt, und von der Autorin gerettet. Selma Lagerlöf beschreibt das Anwesen und das Leben auf dem Gut im Jahreslauf zur Zeit ihrer Kindheit.

Auch in Selma Lagerlöfs erstem Roman, ihrem Hauptwerk, Gösta Berlings Saga von 1891 taucht Mårbacka unter dem Namen Lövdala im Kapitel »Liljecronas Heimat« als Nebenschauplatz auf. Und in dem Roman Liljecronas Heimat, der nach Nils Holgersson 1911 erschien, beschreibt Selma Lagerlöf die Geschichte ihrer Großeltern. Im Zusammenhang mit diesem Roman begann sie ihre Erinnerungen aufzuschreiben, auf deren Grundlage sie später ihre dreibändigen Memoiren verfasste.

Das Leben auf Mårbacka verlief gleichförmig, mit fünf gemeinsamen Mahlzeiten am Tag. Die Zuständigkeiten waren genau geregelt: Der Vater verwaltete das Gut, er hatte im ›Kontorsbyggningen‹ ein Büro, seine unverheiratete Schwester Lovisa und seine Mutter, solange diese noch lebte, leiteten zusammen mit der langjährigen Haushälterin Maja Persdotter den Haushalt, Selma Lagerlöfs Mutter Louise war für das Spinnen, Weben und Nähen zuständig. Mit genau definierten Zuständigkeiten ging man Konflikten aus dem Weg. Als Selma Lagerlöf heranwuchs, fiel ihr die Aufgabe zu, die Zuckerhüte kleinzuschlagen und sich um die Petroleumlampen zu kümmern.

In einem Brief an Sophie Elkan aus dem Jahr 1901 kam sie unter anderem auch darauf zu sprechen:

»Es gab auch meine ständigen Missgeschicke, dass ich mir die Kleider zerriss oder Flecken darauf bekam. Das Essen wollte ich auch oft nicht essen, und Fisch gab es jeden Tag,15 bis man so viel von der einen Sorte nach der anderen gegessen hatte, bis man sie über hatte. Aber Vater und Mutter schimpften nie mit uns Kindern. Daran kann ich mich nicht erinnern. Sie sagten, was man nicht tun durfte, aber böse wurden sie nie. Zu Hause war ein richtiges Schlaraffenland, alle waren beschäftigt, aber niemand außer Mama machte sich in irgendeiner Form nützlich. Es war, wenn ich das sagen darf, der Geist Gösta Berlings, der uns beherrschte, jetzt ist es der Geist Ingmarssons. Ich sorgte dafür, dass es Petroleum und Zucker gab, aber ich vergaß oft, nachzufüllen, und das Zuckerzerhacken schob ich bis zum letzten Augenblick auf. Aber niemand schimpfte mich aus, wenn ich es vergessen hatte. Dann machte es Mama einfach selbst.

Ich frage mich, ob ich als Kind so hässlich war, das glaube ich kaum, aber natürlich war ich altklug, ich träumte immer, ich wäre ein Mann und würde schöne Frauen wie Fräulein Thyselius lieben, die meine erste Liebe war.«16

Louise Thyselius taucht in einem Fragment, in den Vorarbeiten zu dem dritten Band der Memoiren, dem autobiografischen Tagebuch (1932), auf, wo es bei der Schilderung der Fahrt nach Stockholm heißt:

»Und dann denke ich, dass es, wenn ich nur schön wäre, keine Kunst wäre, nett und munter zu sein, denn dann würden mich alle mögen.

Und ich weiß nicht, wie es zugeht, denn unversehens bin ich ein junges, adliges Fräulein und ich heiße Marianne Sinclair und ich bin ebenso schön, wie es Louise Thyselius war, als ich sie vor fünf Jahren bei der Gymnastik sah.«17

In Selma Lagerlöfs früher Kindheit gab es einen Hauslehrer für den Bruder Johan, Johan Tyberg, denn davon, seine Kinder in der Volksschule neben der Kirche in Östra Ämtervik18 unterrichten zu lassen, hielt Erik Gustav Lagerlöf nichts. Trotzdem gehörte Volksschullehrer Nils Melanoz, der gleichzeitig auch Organist war, zum Freundeskreis der Familie. Seine Tochter Ida trat die Nachfolge von Tyberg an.

Gäste wohnten in den Nebengebäuden: Zu den Feiertagen Ostern und Weihnachten sowie im Sommer reiste die Verwandtschaft an. Die Lagerlöfs waren sehr gastfreundlich, selbst der verarmte Feldwebel Kristofer Wachenfeldt, der Mann von Erik Gustav Lagerlöfs verstorbener Schwester Anna, dem alle die Schuld an ihrem Tod gaben, wurde aufgenommen.

Selma Lagerlöfs Großmutter väterlicherseits starb bereits, als ihre Enkelin sechs Jahre alt war. Trotzdem stilisierte Selma Lagerlöf sie später zu ihrer Muse, vermutlich weil sie den Ruf genossen hatte, eine erstklassige Geschichtenerzählerin zu sein, und als solche wollte sich die Autorin gerne sehen.

Min gamla farmor, som är död och borta

skall sitta vid min sida och förtälja

var gång mitt minne komma vill till korta.

Jag skall ej ord ej tanke välja,

det gör min farmor, som är död och borta.19

Meine alte Großmutter, die tot ist,

soll an meiner Seite sitzen und erzählen,

jedes Mal, wenn mich meine Erinnerung im Stich lässt.

Dann werde ich weder Wort noch Gedanken wählen,

das tut meine Großmutter, die tot ist.

Später sollte Selma Lagerlöf von der Kritik als naive Märchenerzählerin, ›sagotant‹ (Märchentante), missverstanden werden. Ihre Geschichten haben jedoch nichts Naives, alles ist genauestens geplant und auf den Höhepunkt hin geschrieben.

Die einleitende Erzählung »Die Heilige Nacht« aus den Christuslegenden (1904) handelt von ihrer Großmutter:

»Ich erinnere mich auch, dass sie immer ihre Hand auf meinen Kopf legte, wenn sie ein Märchen erzählt hatte, und sagte: ›Und all das ist so wahr, wie ich dich sehe und du mich siehst.‹ Ich erinnere mich auch, dass sie gelegentlich Lieder sang, aber das tat sie nicht jeden Tag. Eines dieser Lieder handelte von einem Ritter und einer Seejungfrau und der Refrain lautete: ›Es bläst kalter, kalter Wind über den See.‹

Dann erinnere ich mich noch an ein kleines Gebet, das sie mich lehrte, und an die Strophe eines Kirchenliedes. An all die Geschichten, die sie mir erzählte, bewahre ich nur eine vage und verworrene Erinnerung. Es gibt nur eine, an die ich mich so gut erinnere, dass ich sie erzählen könnte. Es ist eine kleine Geschichte von Jesu Geburt.

Das ist fast alles, woran ich mich von meiner Großmutter erinnere, außer dem, woran ich mich am besten erinnere, und das ist die Leere, nachdem sie tot war.

Ich erinnere mich an den Morgen, als die Eckbank leer war und man nicht begreifen konnte, wie die Stunden des Tages ein Ende finden sollten. Daran erinnere ich mich. Das vergesse ich nie.«20

Ihre Großmutter väterlicherseits Lisa Maja Wennerwik war Tochter eines Geistlichen. Auch ihr Großvater Daniel Lagerlöf, der 1801 durch ein Erbe in den Besitz von Mårbacka gelangte, war Sohn eines Pfarrers aus Arvika, kein Wunder also, dass Pfarrer im Werk Selma Lagerlöfs, angefangen mit dem Helden ihres Romanerstlings Gösta Berlings Saga, eine große Rolle spielen.

Kindheit und Jugend auf dem Gut und in Stockholm widmete Selma Lagerlöf, wie bereits erwähnt, ihre dreibändigen Memoiren Mårbacka – Aus meinen Kindertagen – Das Tagebuch der Selma Ottilia Lovisa Lagerlöf. Die im ersten Band noch überwiegend heiter-anekdotische Beschreibung, die mit dem Geburtstag des Vaters am 17. August endet, wird in den folgenden beiden Bänden immer düsterer.

Der erste Band erschien 1922, als die Autorin 64 Jahre alt war. Geplant war ein letzter, vierter Band, in dem der endgültige Niedergang des Gutes Mårbacka beschrieben worden wäre. Von diesem Band existieren jedoch nur einige Fragmente aus dem Jahr 1937. Vermutlich hatte Selma Lagerlöf ohnehin das Gefühl, zu ihrer Genese als Schriftstellerin, die das zentrale Thema ihrer Memoiren darstellt, alles Nötige gesagt und ihre Sicht der Dinge dargelegt zu haben. Das war von Anfang an ihr Anliegen gewesen.

Die Memoiren stellen bis heute die Hauptquelle für ihre Kindheit und Jugend dar, sind jedoch mit Vorsicht zu genießen, da Selma Lagerlöf das Geschehen gerne dramatisch überhöhte. Von der Eintönigkeit des Lebens auf dem Gut ist in ihnen nicht die Rede.

Die kleine Selma kam mit einer Hüftgelenksluxation zur Welt, die linke Hüftgelenkpfanne war mangelhaft ausgebildet. Das fiel jahrelang niemandem auf. Ende 1860 waren ihre Beine gelähmt, aber diese Lähmung verschwand ebenso plötzlich, wie sie gekommen war, während einer Reise, die die Familie im Sommer 1863 in den Badeort Strömstad in Bohuslän unternahm. Strömstad ist der älteste Badeort an der schwedischen Westküste und wurde bereits Ende des 18. Jahrhunderts von Kurgästen besucht. Auf der Brigg »Jakob« ihres Vermieters Kapitän Bergström,21 die gerade in Portugal eine Ladung Salz geholt hatte, stand in der Kajüte ein Paradiesvogel. Die kleine Selma war so begierig, diesen (ausgestopften) Vogel zu sehen, von dem sie bereits viel gehört hatte, dass sie ihre Lähmung vergaß und plötzlich wieder gehen konnte – so stellt sie es jedenfalls in ihren Memoiren dar.

Schon früh kam Selma Lagerlöf mit der Literatur in Berührung: Ihr Vater war ein Freund der Gedichte Esaias Tegnérs (Frithiofsage), mit dem er weitläufig verwandt war, Runebergs (Fähnrich Stål) und Carl Michael Bellmans, aber auch die einzige schwedische Lyrikerin von Format, Anna Maria Lenngren (1754–1817), wurde gelesen. Beim abendlichen Handarbeiten las Louise Lagerlöf die Märchen von H. C. Andersen vor, beispielsweise »Der Reisekamerad«, »Das Feuerzeug« und »Die wilden Schwäne«. In dem für ihren deutschen Verleger Albert Langen 1908 verfassten Essay »Zwei Prophezeiungen« erinnerte sich Selma Lagerlöf:

»Ich lese gerne, und ich sitze jeden Tag auf einem niedrigen Stuhl neben Mutter, wenn sie mit ihren Näharbeiten beschäftigt ist, und lese laut aus Nösselts allgemeiner Geschichte für Frauenzimmer vor. Wir haben alle sieben Teile bereits durch, aber ich verstehe mich am besten auf den ersten mit den vielen Sagen. Ich kann mich immer wieder darüber freuen, wie Odysseus nach Hause zurückkehrt und die Freier totschießt, aber Hektors und Andromaches Abschied überblättere ich lieber, weil ich das nicht lesen kann, ohne zu weinen.«22

Später werden Die Erzählungen eines Feldschers von Zacharias Topelius gelesen. Auffällig ist, welchen breiten Raum Soldatenabenteuer einnehmen, was aber im Haushalt eines Leutnant Lagerlöf vermutlich naheliegend ist.

Mit sieben bekam Selma Lagerlöf zufällig einen in Florida spielenden Indianerroman, Oceola oder die aufgehende Sonne (Oceola the Seminole. The Red Fawn of the Flower Land, 1859, in schwedischer Übersetzung 1862) von Thomas Mayne Reid (1818–1883) in die Hände. Er beeindruckte sie so sehr, dass sie beschloss, Schriftstellerin zu werden.

»Ich bin vollkommen hingerissen, vollkommen verzaubert. Tag und Nacht denke ich an dieses Buch. Es ist eine neue Welt, die ich plötzlich entdeckt habe. Der ganze Reichtum des Lebens hat sich mir zum ersten Mal offenbart. Liebe, Heldentaten, schöne, edle Menschen, gemeine Schurken, Gefahren und Freuden, Glück und Niederlage.«23

Bei erneuter Lektüre des Buches Jahrzehnte später fällt das Urteil allerdings weniger positiv aus: »Es war ein dürftiges, schlecht übersetztes, überholtes und gekünsteltes Buch.«24

Stockholm 1867

Mit neun Jahren (1867) wurde Selma Lagerlöf ein erstes Mal nach Stockholm geschickt, um dort ihr Hüftleiden behandeln zu lassen. Sie wohnte bei Georgina Afzelius, einer Schwester ihrer Mutter, deren Mann Oriel Afzelius und deren beiden (jüngeren) Kindern Elin und Allan. Familie Afzelius bewohnte eine herrschaftliche Wohnung in der Klara Strandgatan 7, heute Vasagatan, das Haus steht allerdings nicht mehr. Oriel Afzelius war höherer Beamter bei der Gefängnisverwaltung. Im Jahr 1908 erinnerte sich Selma Lagerlöf:

»Ich wohne bei nahen Verwandten, die sehr gut zu mir sind, aber das ändert nichts daran, dass ich mich ein wenig nach Hause sehne. Es fällt mir schwer, mich an das Stadtleben zu gewöhnen. Es macht mir Mühe, dass ich jedes Mal, wenn ich ausgehen will, Hut und Mantel anziehen muss, und die langen, geraden Straßen mit ihren Steinhäusern, auf denen kleine Kinder ebenso sittsam und ordentlich gehen müssen wie die Erwachsenen, gefallen mir nicht. Ich kann nicht auf ihren kleinen Schlitten fahren, und ich mag Puppen überhaupt nicht. In Gesellschaft dieser adretten und geschickten Jugend komme ich mir dumm und unbeholfen vor, und ich habe Angst, ausgelacht zu werden, weil ich Värmländisch spreche.«25

Dieser Gedanke findet sich auch in einer »Blanche« betitelten Skizze, die sie vor Verfassen des dritten Bandes ihrer Memoiren mit Bleistift niederschrieb:

»Ach, was gibt es in dieser Welt Besseres als die Freiheit. Die Freiheit zu gehen und zu kommen, wie es einem behagt, beliebige Dummheiten zu erzählen, mit schmutzigen Schuhen nach Hause kommen zu dürfen, ohne dass jemand ein Wort darüber verliert, irgendwelche Kleider anzuziehen, zu rennen und zu klettern, ja, mit einem Wort, frei sein zu dürfen.

Selma Lagerlöf achtjährig mit ihrer Cousine Elin Afzelius

Aber was für eine Freiheit gibt es hier in Stockholm?«26

Mit der alten Ulla Myhrman, die bei Oriel Afzelius vor seiner Heirat als Haushälterin gearbeitet hatte, besuchte Selma Lagerlöf das Theater. Das Kind musste nicht bezahlen, da es den Vorstellungen vor dem Platz der Haushälterin stehend beiwohnte. Die beiden sahen Aufführungen im ›Kongliga Stora Theatern‹, der Oper. Außerdem las Selma Lagerlöf die damals überaus beliebten Romane des Schotten Walter Scott aus dem Bücherschrank ihres Onkels. Über die Zeit nach ihrer Rückkehr schrieb sie im zweiten Band der Memoiren:

»Ich gab mit Namen wie Drottninggatan, Berzelii Park, Slussen und Blasieholmen an, ich sprach von der Wachparade, dem Königlichen Schloss, ich war in der katholischen Kirche gewesen und ich hatte den heiligen Georg [Sankt Göran] und das Jüngste Gericht in der Storkyrkan gesehen.«27

Louise Lagerlöf mit ihren Kindern 1872. Daniel (22) hat den Arm um seine Schwester Selma gelegt und hält seine Studentenmütze in der Hand. Die 16-jährige Anna hat sich bei ihrem Bruder Johan (18) eingehakt. Neben der Mutter sitzt die 10-jährige Gerda.

Die Gouvernanten

Als Selma Lagerlöf nach Mårbacka zurückkehrte, hatten ihre Eltern für ihre Schwester Anna und sie eine Gouvernante engagiert. Aline Laurell (1847–1913) kam zusammen mit ihrer kleinen Schwester Emma 186728 nach Mårbacka. Nach dem Tod ihres Vaters, des ersten Landmessers aus Karlstad, hatte Aline Laurell sich gezwungen gesehen, ihren Lebensunterhalt selber zu verdienen. Aline Laurell sollte den Mädchen unter anderem Französisch und das Klavierspielen beibringen, wofür Selma Lagerlöf allerdings keine sonderliche Begabung zeigte.

Die ersten Wochen bis zu den Sommerferien brauchte Selma noch nicht am Unterricht teilzunehmen.

Wie erfolgreich Aline Laurell mit dem Französischunterricht war, zeigt die autobiografische Skizze »Ein Buch zu Weihnachten«29: »Aline und Emma Laurell sind nach Hause nach Karlstad gefahren, aber sie haben mich und uns alle mit Weihnachtsgeschenken bedacht. Von Aline bekomme ich eine kleine Schere für Stickarbeiten in einem Etui, das Aline selbst aus einer Hummerschale und einem Stück Seide gebastelt hat.« Selma Lagerlöf zählt die Geschenke auf, die sie 1868 kurz nach ihrem zehnten Geburtstag zu Weihnachten bekommt. Endlich, endlich nach lauter Kleidungsstücken und Nähzeug ist zu guter Letzt doch noch ein Buch dabei. Es ist auf Französisch: Nouveaux contes de fées pour les enfants von der Comtesse Sophie de Ségur (1799–1874), 1857 erschienen. Der Heiligabend ist im Hause Lagerlöf der einzige Tag des Jahres, an dem alle Kinder so lange lesen dürfen, wie sie wollen, und Selma Lagerlöf verbringt die ganze Nacht mit der Märchensammlung.

Welche Bedeutung Bücher für die heranwachsende Selma haben, wird in einem Kapitel von Aus meinen Kindertagen deutlich, das ihrer älteren Schwester Anna gewidmet ist:

»Ich weiß nicht, warum Anna stets sagen muss, dass sie weiß, dass sie unglücklich wird. Sie, die so schön und verständig ist und die alle Menschen so sehr mögen! Es wäre passender, wenn ich, die sowohl hinkt als auch hässlich ist, das sagen würde, aber das fällt mir nicht ein, denn solange es unterhaltende Bücher gibt, in denen man lesen kann, finde ich, dass weder ich noch sonst jemand unglücklich zu sein braucht. Jetzt haben wir ›Die Erzählungen eines Feldschers‹ von Topelius ausgeliehen und lesen abends daraus vor, während wir um die Lampe sitzen und arbeiten. Ich verstehe nicht, wie Anna an Sorgen und Unglück denken kann, wenn wir ein so entzückendes Buch zum Vorlesen haben.«30

Auf einer Dienstreise im Herbst 1868 zog sich Erik Gustav Lagerlöf eine Lungenentzündung zu, eine Krankheit, die damals meist zum Tod führte. Er hatte in feuchten Laken geschlafen. Anschließend war er ständig krank und begann ernsthaft zu trinken. Der Verfall des Gutes, der mit der Versteigerung des Hausrats und seinem Verkauf endete, nahm seinen Anfang. Zu den finanziellen Schwierigkeiten trug außerdem bei, dass im Herbst des darauffolgenden Jahres auch Kaufmann Wallroth, Erik Gustavs Schwiegervater, starb, der bislang alle Baumaßnahmen auf dem Gut finanziert hatte.31

Selma Lagerlöf, bei der Erkrankung ihres Vaters noch neunjährig, glaubte, die höheren Mächte zu einem Einsehen bewegen zu können, indem sie gelobte, die Familienbibel der Lagerlöfs von der ersten bis zur letzten Seite zu lesen, denn sie erinnerte sich an das Andersen-Märchen »Die wilden Schwäne«. Hier rettet die Prinzessin ihre zwölf Brüder, indem sie ihnen Hemden aus Brennnesseln webt. Rettung war möglich, war der Einsatz nur groß genug! »Aber sie [die Bibel] ist wirklich fürchterlich lang und ich habe das Gefühl, nicht vom Fleck zu kommen.«32 Der Zauber würde außerdem nur wirken, wenn das Versprechen auch geheim blieb. Ihr Onkel Kristofer Wallroth (1841–1916), der zum Geburtstag des Vaters am 17. August 1869 zu Besuch war, kam ihrem Plan jedoch auf die Spur. Selma hatte fast ein Jahr mit der Lektüre zugebracht und kaum etwas anderes gelesen, war aber auf den letzten Seiten, der Offenbarung des Johannes, stecken geblieben. Als ihr Geheimnis gelüftet war, brachte ihr Vater keinerlei Verständnis für sie auf und sagte zu ihrer Mutter: »Das ist doch vollkommen unmöglich, dass das Mädchen so einfältig ist.«33 Abschließend konstatiert die Autorin in ihren Memoiren lakonisch: »Es hatte alles keinen Zweck.«34 Der Verfall des Vaters und damit des Gutes war nicht aufzuhalten.

Es war der erste wirkliche Bruch mit dem bislang immer bewunderten Vater. Herrscht im ersten Band der Memoiren noch die Idylle vor, wird im zweiten Band auch Schwieriges wie der Alkoholismus des Vaters nicht ausgespart. Nach der Episode mit der Bibellektüre heißt es:

»Papa trinkt einen Schnaps vor dem Frühstück und zwei vor dem Mittagessen. Er sagt, Branntwein sei das Beste aller Medikamente, und solange er diese Medizin nur ausreichend lange nehmen könne, würde er wieder vollkommen gesund.«35

Welche negativen Auswirkungen der Alkoholismus auf das Leben einer Familie hat, beschreibt Selma Lagerlöf in der 1893 entstandenen Erzählung »Ein Weihnachtsgast«: Der kleine Ruster, der zu den Ekeby-Kavalieren aus Gösta Berling gehört, versucht an Heiligabend Obdach auf Lövdala, wie Mårbacka in den fiktiven Werken Selma Lagerlöfs heißt, zu finden. Die Familie des Hausherrn fürchtet, dass der kleine Ruster diesen zum Trinken verleitet, und widersetzt sich seinem Wunsch. Schließlich, nachdem er vergeblich bei den Nachbarn angeklopft hat, darf er doch bleiben. Selma Lagerlöf gab sich alle Mühe, ein sympathisches Bild ihres Vaters zu zeichnen, aber auch schon im ersten Band der Memoiren geht es um sein permanentes Scheitern: Er will den Fluss Ämtan, der immer wieder über seine Ufer tritt und die Äcker überflutet, regulieren lassen, kann dieses Ansinnen gegen die anderen Bauern jedoch nicht durchsetzen; zum Bau des neuen Stalles muss er schließlich einen Kredit aufnehmen, weil das Fundament der westlichen Längsmauer immer wieder im Lehmboden versinkt. Während des Ausbaus des Dachgeschosses im Haupthaus stirbt sein Schwiegervater, und der fertige Dachstuhl bleibt, einem Mahnmal gleich, hinter dem Haus stehen und verrottet. Schließlich will er den Schlittschuhteich zu einem kleinen See ausbauen: Der Damm bricht immer wieder ein – ein weiteres Scheitern.

Jan Brunius weist in seiner großen Studie von 1963 Mårbacka über die Geschichte der Höfe und der Familien jedoch nach, dass die Geschichte des mühsamen Stallbaus reine Fiktion ist: Er war, wie eine Brandversicherungspolice von 1863 beweist, bereits 1862 fertiggestellt, und nicht, wie Selma Lagerlöf schreibt, 1867. Eine Erklärung dafür wäre, dass sich die Fertigstellung in ihrem Bericht dem beherzten Eingreifen ihrer Mutter verdankt. So hat sie Gelegenheit, ihren Vater als unpraktisch und verträumt und ihre Mutter als beherzt und zupackend darzustellen.

1922, nach Erscheinen des ersten Bandes der Memoiren, schrieb Selma Lagerlöf ihrer ehemaligen Kollegin Anna Oom in Landskrona:

»Das Buch, das ich jetzt geschrieben habe, enthält meine ältesten Kindheitserinnerungen und reicht nicht weiter als bis in mein zwölftes Jahr. Nicht ich bin die Hauptperson, sondern mein Vater. Ich habe versucht, ihn so wahrhaftig wie möglich darzustellen, allerdings unter Verwendung literarischer Methoden, damit er auch einnehmend wirkt.«36

Selma Lagerlöfs Vater, Leutnant Erik Gustav Lagerlöf (1819–1885)

Neben Unterrichtsstunden und Hausaufgaben wurde auf Mårbacka auch manchmal ein Theaterstück aufgeführt. Selma hatte in Stockholm Min ros i skogen (Meine Rose im Wald), eine Komödie in einem Akt von Wolfgang Müller von Königswinter gesehen. Auf einem Sonntagsspaziergang erzählte sie Anna, Gerda und Emma, der Schwester der Gouvernante, davon: Kurzerhand führten sie das Stück selbst auf, sogar Erik Gustav Lagerlöf erhob sich von seinem Krankenlager, um der Vorstellung beizuwohnen. Im Übrigen gehörte das Amateurtheater bei der feineren ländlichen Gesellschaft auch zur Geselligkeit. Im Kapitel »Der siebzehnte August«, mit dem Selma Lagerlöf den ersten Band ihrer Memoiren abschließt, beschreibt sie, wie zum Geburtstag ihres Vaters ein Stück aufgeführt wird, das ihr Onkel Oriel Afzelius am selben Morgen verfasst hat. Es heißt »Der Mönch und die Tänzerin« und spielt am ersten Geburtstag Erik Gustav Lagerlöfs:

»An der Wiege des Neugeborenen zeigen sich nicht die normalen Feen, sondern zwei symbolische Persönlichkeiten, ein Mönch und eine Tänzerin. Die Tänzerin will, dass aus dem Knirps ein fröhlicher und lebenslustiger Kavalier wird, der Mönch hingegen wünscht, dass aus ihm ein Mann der Askese und des Ernstes wird. Nach einem lebhaften Streit einigen sie sich darauf, dass jeder eine Hälfte der Lebensbahn des kleinen Mårbacka-Kindes führt. Er sollte also eine Zeit fröhlich als junger Offizier leben und sich in der späteren Hälfte seines Lebens auf Mårbacka als Kloster zur Ruhe setzen, Abstinenz üben und sich guten Taten widmen.«37

Oriel Afzelius trat als der Mönch und Kristofer Wallroth als die Tänzerin auf.

Nach einer unglücklichen Verliebtheit in Onkel Kristofer Wallroth, der in Düsseldorf Malerei studiert hatte, zog Aline mit ihrer Schwester Emma im Herbst 1871 zu einem Verwandten, dem Pastor Ungers, nach Västra Ämtervik auf der anderen Seite des Fryken. Selma Lagerlöfs Mutter und Tante Lovisa hätten es gerne gesehen, wenn Aline Laurell den sechs Jahre älteren Kristofer Wallroth geheiratet hätte. Leider musste Aline Laurell zusehen, wie Kristofer Wallroth eine andere Frau heiratete. Dieser Vorfall wird im Kapitel »Der Kuss« in Aus meinen Kindertagen beschrieben.

»Das Kapitel ›Der Kuss‹ beruht auf wahren Beobachtungen, teils was das eigentliche Geküsse, teils was Alines eigentümliches Betragen vor ihrem Umzug betrifft, teils Mamas und der Tanten Versuch, eine Partie zwischen ihr und Kristofer zustande zu bringen. Aber ob die Schlüsse, zu denen wir Kinder kamen, richtig waren, weiß ich nicht. Aber ich finde doch, dass die Geschichte gut funktioniert. Aline heiratete schließlich einen Freund aus der Kindheit, aber sie wurde immer von Freiern umschwärmt und fand deren Verehrung recht charmant«, schrieb Selma Lagerlöf nach Niederschrift des Kapitels an Valborg Olander.38

Aline Laurells Nachfolgerin wurde ihre Cousine Elin Laurell,39 die ihr ganzes Leben als Gouvernante arbeiten sollte, weil dies einer der wenigen Berufe war, die unverheirateten Frauen aus besseren Kreisen damals offenstanden.

Der älteste erhaltene Brief Selma Lagerlöfs vom 28. November 1871 ist an ihre ehemalige Gouvernante Aline Laurell gerichtet:

»Vielen Dank für die gemeinsame Zeit und für alle Mühe mit uns. Wir haben jetzt wieder richtig mit dem Lernen angefangen, aber nur vormittags. Abends haben wir frei, um an Weihnachtsgeschenken zu arbeiten und Hausaufgaben zu erledigen. Dienstag und Mittwoch letzter Woche waren wir in Gårdsjö, der See war zugefroren, und wir durften Schlittschuh laufen. In der Nacht auf Donnerstag hat dann die Kate von Tyberg gebrannt, und deswegen geht es ihm auch sehr schlecht. Ein Mann wurde bei dem Brand so schwer verletzt, dass man beinahe glaubt, dass er sterben wird. Jetzt bist du hoffentlich so nett und kommst bald her. Wenn der Fryken doch nur zufröre, wäre es uns vielleicht nicht unmöglich, nach Berga zu kommen, möglicherweise auch zu Fuß. Entschuldige die unordentliche Schrift und schreibe bald an Alines dankbare Selma.«40

Am 1. Februar 1872 schrieb Selma Aline Laurell einen weiteren Brief, um sich für ein Weihnachtsgeschenk zu bedanken und von ihren 23 Geschenken zu berichten. Der nächste Brief ist vom 8. April und auf hellgrünes Papier mit gemustertem Rand geschrieben:

»Es war sehr schön zu hören, zum Ersten, dass Aline jetzt verlobt ist, und zum Zweiten, dass es Arnell ist. Ich wünsche Euch alles Glück und Erfolg. Onkel Kristofer ist jetzt in Hastaberget, und ich glaube nicht, dass er im Frühjahr hierherkommt, denn er baut sich jetzt offenbar ein Haus. Wir haben zwei Aufsätze für Elin geschrieben, aber sie wurden auch nicht besser als die, die wir für Aline geschrieben haben. Ich spiele den Bass zur Schönen Helena und eine Sonate von Kuhlau. Onkel Wachenfeldt ist noch hier, und wir spielen jeden Abend Karten. Mama hat einen Wollstoff für die Haushälterin gewebt und verfertigt gerade einen für Kissenbezüge. Gerda spielt und hat jeden Tag Spielaufgaben. Grüße vielmals Johanna und Hedvig von Alines Selma.«41

Später, zu Zeiten ihres Ruhms, sah sie Aline Laurell kritischer: Am 12. Juli 1931 schrieb sie Valborg Olander nach dem Besuch von Aline Laurells Sohn und ihrer Tochter: »Sie waren nett und fröhlich, aber auf diese fürchterlich värmländische ausgelassene Art, und die wird ja so leicht einfältig. Ich vermute, dass Aline, wenn sie sich jetzt hier offenbaren würde, so wie sie in ihrer Jugend war, ungefähr dieselbe Beurteilung erhalten würde. Ihr Sohn war ihr in seiner Art und seinem Aussehen sehr ähnlich.«42

Einer dieser Kartenspielabende, gespielt wird Preference, mit Onkel Wachenfeldt, Tante Lovisa und ihrem Bruder Daniel, verhalf ihr laut ihren Memoiren, im Kapitel »Kartenspiel« in Aus meinen Kindertagen, auch zu einer neuen Einsicht: Sie entdeckte ihre Abgründe. Sie verdächtigte den Onkel, geschummelt zu haben, und geriet außer sich:

»Ich setze mich auf einen Stuhl, schluchze und rufe wie vorher. ›Onkel Wachenfeldt hat Unrecht.‹

Als ich das ein weiteres Mal sage, geschieht etwas Merkwürdiges. Es sind meine Augen, die sich umkehren. Statt ins Kinderzimmer zu schauen, wie sie das eben noch getan haben, schauen sie nach innen. Sie sehen in mich selbst.

Und sie sehen eine große, leere, halbdunkle Felsenhöhle mit nassen, tropfenden Wänden und einem Boden, der einem Sumpf gleicht. Nichts als Schlamm und Lehm. Und diese Felsenhöhle ist in mir selbst.

Als ich jetzt so in sie hinunterschaue, merke ich, dass sich etwas in dem schmutzigen Morast bewegt. Es ist etwas, was sich hocharbeitet. Ich sehe, wie ein großer, fürchterlicher Kopf mit offenem Schlund und Stacheln auf der Stirn aus der Tiefe kommt, und dahinter kann ich einen dunklen, schuppigen Körper ausmachen mit einem hohen Kamm auf dem Rücken und kurzen, kräftigen Vorderbeinen. Er sieht aus wie der Drache, gegen den der heilige Georg in der Storkyrka in Stockholm kämpft, ist aber viel größer und schrecklicher.

Ich habe nie etwas so Fürchterliches wie dieses Ungeheuer gesehen und bin zu Tode erschrocken, dass es in mir wohnt. Ich verstehe, dass es bisher im Morast versunken war und sich nicht bewegen konnte, aber jetzt, seit ich meinem Zorn freie Zügel gelassen habe, wagt es sich vor.«43

In Selma Lagerlöfs Werken geht es immer wieder um Abgründe, die sich unversehens in den Menschen auftun. Und auch ihre eigene Kindheit und Jugend war, wie es diese Szene ihrer Memoiren zeigt, von Konflikten nicht frei.

Sie erinnerte sich an die große von dem Lübecker Bildhauer Bernt Notke geschaffene Plastik, eine der berühmtesten des schwedischen Mittelalters, in der Storkyrka in Stockholm, die Rudolf Zeitler folgendermaßen beschreibt: »Heute besteht das Monument aus folgenden 2 Teilgruppen: 1. St. Georg zu Pferd mit dem Drachen, auf dem Boden die Drachenbrut und die Reste der Mahlzeiten des Untiers (Höhe dieser Gruppe 3,60 m) … 2. Die kniende Prinzessin mit einem Lamm an der Seite … Die Zacken des Drachen sind Elchgeweihe.«44

Laut Selma Lagerlöfs Memoiren ist das nächste einschneidende Ereignis ein Ball in Sunne, an dem teilzunehmen sie ihr Vater förmlich zwingt. Der Ball ist ein Fiasko, da sie kein einziges Mal aufgefordert wird. Als Entschädigung gesteht ihr der Vater einen weiteren Aufenthalt in der Hauptstadt zu, um ihr Hüftleiden behandeln zu lassen. Ob es sich wirklich so zugetragen hat, kann angezweifelt werden, denn es ist von Zeitzeugen auch überliefert, dass Selma Lagerlöf auf Bällen durchaus ihren Spaß hatte.

Der Stockholmer Winter

Am 30. Oktober 1932 schrieb Selma Lagerlöf an ihre dänische Übersetzerin Elisabeth Grundtvig:

»Ich merkte, dass ich an diesem Thema nicht vorbeigehen konnte. In diesem Stockholmer Winter, in dem ich mich so einsam fühlte und die Tage bis zu meiner Heimreise zählte, begann meine Fantasie zu erwachen. Eine Idee folgte der anderen, und vieles von dem, was ich später geschrieben habe, begann damals. Damals wurde das Fundament zu Gösta, Gunnar Hede und Karl-Artur Ekenstedt gelegt. Mal sehen, ob die Kritiker so begabt sind, das auch zu verstehen.«45

Im Jahre 1872 verbrachte die vierzehnjährige Selma ein weiteres Frühjahr – die Schweden sprechen von ›vårvinter‹, Frühlingswinter, was den Temperaturen im März / April eher entspricht – in Stockholm. Ihr Bruder Daniel studierte zu diesem Zeitpunkt bereits Medizin in Uppsala, und sie reiste gemeinsam mit ihm in die Hauptstadt. Von diesem 13 Wochen dauernden Aufenthalt handelt der dritte Teil ihrer Memoiren, das 1932 erschienene Tagebuch der Selma Ottilia Lovisa Lagerlöf, ihres letzten zu Lebzeiten erschienenen größeren Werkes. Roter Faden des fiktiven Tagebuchs, das ihre Zeitgenossen wegen seines gezeichneten Covers jedoch für authentisch hielten, ist die Verliebtheit der Erzählerin in einen Kommilitonen Daniels, die wohl als reine Erfindung zu betrachten ist. Recht vieles lässt sich jedoch belegen. Das Buch gilt neben August Strindbergs Roman Das Rote Zimmer von 1879 als einer der wichtigsten Texte der schwedischen Literatur, die Stockholm in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschreiben.

Die Geschwister Lagerlöf stiegen am nächstgelegenen Bahnhof, in dem etwa vierzig Kilometer von Mårbacka entfernten Kil am Südende des Fryken, in ein Eisenbahnabteil dritter Klasse.

»Man wies uns in ein Abteil, in dem kein Mensch saß, aber in dem es nach Branntwein, Fußschweiß und ich weiß nicht was roch. Wir versuchten zu lüften, aber da wurde es so kalt, dass wir das Fenster wieder zuziehen mussten. Ich sagte zu Daniel, dass ich, wenn ich reich würde, nie mehr dritter Klasse reisen würde. Daniel antwortete anfänglich nichts, sondern wandte sich mir zu und warf mir einen Blick zu, als würde er mich von Kopf bis Fuß messen. Dann sagte er ganz still: ›Ich glaube, dass du dein ganzes Leben lang dritter Klasse fahren wirst.‹«46