Septemberfrühling - Piet Brender - E-Book

Septemberfrühling E-Book

Piet Brender

0,0

Beschreibung

Das reife Liebespaar Monika und Andreas erlebt einen Ausbruch voll nie erlebter Leidenschaft. Lang verborgene Sehnsüchte erfüllen sich. Doch nicht alle in ihrer Umgebung teilen ihre Begeisterung. Mehr und mehr verheddern sie sich in einem Netz aus Eifersucht und Intrigen. Welche Rolle spielt dabei Monikas Tochter Julia, deren verstorbener Vater und ihr neuer, unheimlicher Geliebter Darius? Als Julia selbst in höchster Gefahr ist retten beide sie, während ihre so hoffnungsvoll gestartete Liebe in Scherben liegt. Beim zaghaften Versuch, das Projekt Gemeinsam alt werden doch noch zu retten, ereilt Monika ein furchtbares Schicksal. War am Ende doch alles Kämpfen umsonst? Dieser Liebesroman ist gleichermaßen durchwebt mit schönen Bildern einer genießerischen Erotik und den Alltagssorgen um das Altwerden, Krankheit und Tod, Ehrgeiz und Konkurrenz. Er führt nach Afrika und auf den Balkan aber genauso in die Provinz der Kleinstadt. Er lässt einen den Puls nicht aufgebender Akteure spüren und versprüht am Ende den letzten Funken Hoffnung, den es braucht, um ... zu lieben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 525

Veröffentlichungsjahr: 2017

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Meiner geliebten Rotfüchsin

Inhaltsverzeichnis

Prolog

August 2014

Teil 1 - finden (Oktober 2010)

1. Begegnung

Monika

2. Peter

2005/2007

3. Die besondere Tochter

Monika

4. Amors Pfeil

Andreas

5. Sabine und Jeanette

1979

2007

6. Monikas Vergangenheit

Monika

1977

1986

7. Glühende Leitung

Andreas

8. Freundschaft

Andreas

9. Das erste Rendezvous

Monika

Andreas

Monika

Andreas

Monika

Andreas

Monika

Andreas

Monika

Andreas

Monika

10. Africa calling

Andreas

11. Land unter

Monika

12. Das Alter

Andreas

13. Intimität

Andreas

14. Eifersucht

Monika

Andreas

15. Der aufdringliche Professor

Monika

Andreas

Monika

Andreas

16. Über vergangene Zeiten

Monika

17. Der kranke Vater

Andreas

18. Französisches Feuerwerk

Monika

19. Dämonen

Monika

Teil 2 - zweifeln (November - Dezember 2010)

20. Papa

Julia

21. Ankunft in Mali

Andreas

22. Fatale Diagnose

Monika

23. Der Duft von Bamako

Andreas

24. Achterbahn

Monika

25. Fernlieben

Andreas

26. Tiefe Gedanken

Monika

27. Ajana

Andreas

28. Hamburg

Monika

29. Der blaue Tod

Andreas

30. Überfall

Monika

31. Der dunkle Darius

Julia

32. Zusammenbruch

Andreas

33. Schicksalsschläge

Monika

34. Zurück

Andreas

35. Ulrike

Monika

36. Ajanas Brief

Andreas

37. Versöhnung

Monika

Teil 3 - wachsen und zerbrechen (2012 - 2014)

38. Selbstzweifel

Monika, Sommer 2012

39. Heiratsantrag und die Folgen

Andreas, Sommer 2013

40. Der Plan

Julia, 2013

41. Wachtner und Darius

2013

42. Wachtner geht zu weit

Monika

43. Sabine kehrt zurück

Andreas

44. Der Auftrag

Andreas

45. Intrige

Julia

46. Entführung

Andreas

47. Verzweiflung

Monika

48. Dämon Sucht

Julia

49. Komplott

48. Auf dem Weg ins Kosovo

Monika

49. Im fremden Land

Monika

50. Dem Tode nah

Andreas

51. Die Wand

Monika

52. Erkaltete Liebe

Andreas

53. Die Freunde

Jochen und Hildegard, 2013

54. Julia in Gefahr

Monika

55. Dunkle Wolken

Julia

56. Julias Hilferuf

Andreas

Monika

57. Offenbarung

Andreas

58. Julia und Andreas

Julia

59. Vorahnung

Monika

60. Wahnhölle

Julia

61. Julia kommt auf die Welt

Monika, November 1980

62. Ungewissheit

Andreas

63. Das Wunder

64. Lars

Julia

Teil 4 - heilen (2014 - 2015)

65. Das zweite Leben

Monika, Oktober 2014

66. Die Hochzeit

Andreas, 3. Mai 2015

Monika

67. Jeannette

Andreas, Juli 2015

68. reifer Liebesrausch

Monika, November 2015

Prolog

August 2014

Gibt es noch Hoffnung? Heute soll es sich zeigen. Die Hitze der letzten Wochen hat sich erschöpft. Noch verborgen haucht die Sonne ein zartes Rouge auf das Mausgrau der Morgenwolken. Monika steht in der Schlafzimmertür, blickt auf ihn, ihren Mann, ihren Andreas. Seine grauen Haare fallen ihm über die Stirn und seine Lippen schmollen, weil das Kissen es so will. Manchmal, wenn er es im Schlaf so umarmt, sieht er aus wie ein großer, kleiner Junge, der von seinem nächsten Abenteuer träumt. Die getrennten Schlafräume, Folge der zurückliegenden dramatischen Ereignisse, schmerzen sie noch immer. Nur Zeit und frisches Vertrauen können die Wunden ihrer einst so unangreifbaren Liebe heilen. Ihr Lächeln an der Tür ist blass, durchzogen von Schmerz und Enttäuschung. Doch da ist ihr Geschenk zu seinem Geburtstag, an diesem Spätsommertag. Ein Besuch in einer Wohlfühllandschaft. Zeit, Wärme, Düfte, Genüsse, zusammen mit ihr. Es soll der langersehnte Neuanfang werden.

»Guten Morgen, Andreas, was hältst Du davon, wenn ich uns ein Frühstück mache.«

Die Waldsauna ist ein großer, trapezförmiger Raum. Bis zum Boden öffnen sich Fensterflächen zum Parkgelände hin. Ein mächtiger Saunaofen in der Mitte spreizt zu jeder Seite großzügig drei Etagen Holzbänke aus. Auf ihnen plaudern in kleinen Grüppchen ältere Damen. Dazwischen sie beide, nebeneinandersitzend, in vorsichtiger Nähe. Ein Saunaaufguss ist angekündigt. Es erscheint eine junge, stupsnasige Frau mit blondem Bubikopf. Ihr kurzer Wickelrock, ihr bauchfreies Shirt, all das strahlt hier in ihrer »Nicht-Nacktheit« einen besonderen Sex-Appeal aus. Munter erläutert sie das bevorstehende Ritual, streut augenzwinkernd Regeln in die Gruppe. Ungefragt lodern in Monika die immer gleichen Ängste auf. Steht Andreas nicht wie JEDER Mann auf jüngere Frauen? Gefällt ihm, was er gerade sieht? Verstohlen wendet sie ihren Blick zu ihm. Er lächelt, meint sie, schaut sie an, entspannt. Es tut gut. Wenige Momente später schleicht sich in Monikas Wohligkeit ein Druck, ein leichter Schwindel im Kopf, ein huschendes Warnzeichen, nur einen kurzen Schreck wert.

»Ich gehe schon einmal, es wird mir zu heiß«.

Feuchter Rasen saugt von unten an ihrer Hitze. Noch leicht taumelnd nimmt sie seine Hand entgegen. Sie kühlen sich im Schwimmbecken ab, das außer einem älteren Herrn nur ihnen Beiden zu gehören scheint.

Kühle Wasserwirbel umströmen ihre nackten in langen Zügen durch das Außenbecken ziehenden Körper. Innere Hitze und der kalte Schleier des Beckenwassers erzeugen einen frischen Kontrast. Überall prickelt es, als planschten sie in Prosecco.

Andreas sieht sie vor sich, seine Moni. Ihren blonden, wilden Schopf hält sie über Wasser. Darunter verschwimmen in den Wellen die Konturen ihres hellen Körpers, die sich rhythmisch spreizenden Schenkel, die ausgreifenden Arme. Am Beckenrand angekommen, lehnen sie sich am kühlen Edelstahlgeländer an. Sie stellt sich vor ihn, spontan presst sie ihre Lenden an sein kaltes Glied, ungefragte Sehnsucht überkommt ihn. Ein hitziger Kokon glüht unter Wasser, will plötzlich eine Metamorphose der Verschmelzung. Doch Monikas Seele scheint zu stocken, ihr Kuss, den sie ihm schenkt, wirkt scheu, unsicher. Ihre kühlen Lippen, ihre Umarmung, bleibt ein vages Versprechen, kurz nur. Durch einen Spalt schimmert tiefe Sehnsucht in seine Seele, die sie einst durch die Welt getragen hat. Dann, als habe sie sich nur geirrt, wendet sie sich wieder ab.

»Lass uns noch eine Runde schwimmen. Das kühle Wasser tut gut.«

Er schluckt kurz.

»Schwimm nur, ich beobachte Dich so gerne dabei.«

Er spürt, die Arme ausgebreitet, das kalte Metall auf dem Rücken. Über ihm schweben zerrupfte weiße Wolkenflocken, die der Sonne mehr und mehr Raum zum Wärmen geben. Das Becken ist fast leer. Noch immer zieht nur der alte Mann weiter stoisch seine Runden.

Und er spürt den Schmerz. Ihre junge Liebe, dieses damals so unerwartete Geschenk des Lebens, liegt in Scherben. Wie zwei verzweifelte Kinder, denen das Wertvollste zerbrochen war, versuchten sie in den letzten Monaten, aus den Bruchstücken den alten Zauber wieder herzustellen und waren endlich resigniert. Es würde nie mehr dasselbe sein. Die Floskel, gemeinsam alt zu werden, hatte einen bitteren Beigeschmack bekommen.

Jetzt steht er hier nackt im Schwimmbecken eines Saunaparks, gefangen in den gleichermaßen beruhigenden wie reizenden Anblick seiner geschmeidig im Wasser dahin gleitenden Frau. Er will sie nicht verlieren.

Sie spürt seinen Blick. Vier Jahre ist es her, als er ihr aus heiterem Himmel begegnet ist. In dieser Zeit hatten sich Wünsche erfüllt, Wege aufgetan, von denen sie früher nichts geahnt hatte. Und doch kam alles anders.

Die gleichmäßigen Bewegungen, der beruhigende Rhythmus im kalten Wasser, all das verführt sie in einen Tagtraum. Andreas und sie fahren in einem uralten Campingbus die Küste Kroatiens entlang. Zikadenmusik fließt durch das offene Fenster, umhüllt die Liebenden mit warmer Vorfreude. Die Enden ihres sonnengelben Seidentuches winken den vorbeirauschenden Oleanderbüschen zu. Sie freut sich auf den ersten dalmatinischen Rotwein, auf frische Tomaten und gegrillten Seehecht. Ihr Liebster sitzt auf dem Beifahrersitz und glüht ihr seine Vorfreude durch seine adriablauen Augen entgegen.

Plötzlich schwillt der Lärm der Zikaden an. Sie hört nichts anderes mehr. Der laute Schall wirft das Auto um und sie verliert die Orientierung. Sie tauchen ins Meer, schlucken Wasser, aber es ist nicht salzig. Und es ist kalt, es ist ihr so furchtbar kalt. Du bist hier im Becken, im Saunapark, will ihr eine Stimme noch zuflüstern.

Andreas sieht eine abrupte Unordnung in Monis Bewegung. Ein Gurgeln, ein unkoordiniertes Rudern und Zappeln, sie taucht kurz unter, wirbelt einen Arm hoch. Starr, bewegungslos für einige Sekunden steht er da. Ist es ein alberner Spaß oder ein Krampf? Dann flutet Adrenalin seinen Körper, schießt grässliche Alarmsignale in sein vorderstes Bewusstsein und lässt seine Stimme tief und heiser schreien: »MONI! MONI!!« Er durchpflügt das hüfthohe Wasser, bemerkt idiotisch sachlich dessen schweren Widerstand. In seinem Hirn laufen die Gedanken um die Wette. »Warum bist Du nicht mitgeschwommen? Warum bleibt sie nicht einfach stehen, es ist doch nicht tief? Mein Gott, ich bin ganz nackt! Ich brauche Hilfe!

»Hilfe! Hallo Sie da! Schnell! Meine Frau!« Der Schwimmer hat schon innegehalten, schaut ratlos auf seine untergetauchte Moni. »Mein Gott, sie ertrinkt!« Immer noch zwei Meter. ›Himmel, bitte, lass sie nicht ertrinken‹, schreien seine Gedanken auf. Und als er sie erreicht, als er sie packt, ihren Kopf über Wasser holen will, als er merkt, dass sie auf der ganzen rechten Seite schlaff ist, als er ihr ins bewusstlose Gesicht sieht, da kommt ihm eine verheerende Ahnung. Peter, ihr erster Mann, er ist am Schlaganfall gestorben. Es ist....

Der andere Mann ist jetzt bei ihm, bei ihr, sie alle sind nackt.

»Kommen sie, wir müssen sie erst einmal aus dem Wasser tragen.«

Andreas nickt, fasst sie so gut es bei einem nackten, halb gelähmten Körper geht unter die Achseln. Das Wasser ist jetzt kalter zäher Sirup. Bis zur Leiter sind sie gekommen. Er japst atemlos, in seinem Kopf schlägt ein Hammer Nägel ins Hirn. Der Helfer, ein guter Schwimmer, aber alt schon, mit dürren Muskeln, ist bleich vor Anstrengung. Monika röchelt tief und unwirklich, die Lider halb geöffnet, die Augen verdreht, den Mund zur schiefen Fratze verzogen. Er erkennt sie kaum wieder. Mit einem Mal fühlt er sich wie auf einem kalten Mond, hilflos, ohne Schutzanzug. Um ihn herum nur Kälte und Dunkelheit. Ihm wird schwarz vor Augen. Jemand packt seinen Arm, zieht ihn daran hoch. Er stolpert im Halbdunkel die Edelstahlsprossen hinauf, stößt sich sein Schienbein, doch der Schmerz läuft sofort in die Dunkelheit davon. Der Jemand setzt ihn auf die Bank, murmelt dumpfe, verwaschene Wortfetzen auf ihn ein. Er sieht ihn verschwommen, ohne Konturen. Dann schreit der Jemand und wird mit einem Mal ganz klar, ganz deutlich und ganz ernst.

»Ist das Ihre Frau?! Hallo, können Sie mich hören?!«

»Ja, ja, was ist mit ihr?«

Rasender Schwindel erfasst ihn, zieht ihn mit aller Wucht auf die linke Seite. Er zwingt sich zu seiner Moni zu schauen.

Da ist ein Mann über sie gebeugt, der sie küsst. Nein!

Er muss sie beatmen. Um Himmels Willen! Er will zu ihr, ihr helfen. Doch dann wird es Nacht. Der Tag ist vorbei.

Und das Leben?

Teil 1- finden (Oktober 2010)

1. Begegnung

Monika

Ich muss verrückt sein. Seit 38 Jahren schufte ich als Krankenschwester, Burnout, dann der Tod meines Mannes und jetzt? Halse ich mir solch eine Aufgabe auf. Betreutes Wohnen. Und ich soll das Ganze zum Laufen bringen.

Ich habe meine 45-jährige Kollegin mit Alzheimer dahin vegetieren sehen. Ich habe meinen Mann nach seinem ersten Schlaganfall zu Hause gepflegt, weil ich es nicht ertragen hätte, ihm dem gleichen Schicksal zu überlassen. Und jetzt dieses Angebot in Bonn. Leiterin eines Wohn-Projektes für Senioren. ›Selbst-bewusst Mit-gestalten‹. Der Slogan ist vielversprechend, die Stiftung hat eine soziale Marktlücke erkannt. Ich sitze im Zug nach Ulm. Das Pilotprojekt, ich muss wissen, was auf mich zukommt. Wage ich diesen großen Schritt? Wenn ja, dann heißt es Abschied nehmen von meinem geliebten Münster, der Stadt, in der ich so viele Jahre gearbeitet und gelebt habe. Dort verlor ich vor drei Jahren meinen Mann an das Ungeheuer namens Apoplex. Das Krankenhaus ist mir mittlerweile zum Ort des Grauens geworden. Aber jetzt schon Frührente? Oh nein, nicht mit mir! Ich starte noch einmal durch.

In Gedanken versunken bemerke ich, wie die Abteiltür sich öffnet. Bis eben war ich noch allein. Irgendein Pedant hatte am Diensttagvormittag für diese Strecke reserviert, der Zug ist fast leer. Das muss er sein, wir sind gerade in Essen.

»Guten Tag«, sagt der Typ und schaut auf meine nylonbestrumpften Füße, die genau auf seinem Platz liegen, weil ich diese verhassten hochhackigen Pumps erst einmal in die Ecke pfeffern musste. Aber in Mokassins hätte ich ja kaum erscheinen können.

»Guten Morgen«, erwidere ich und stelle spontan fest: Schlank, halblange, graumelierte Haare, offener freundlicher Blick, netter Typ!

»Haben Sie am Fenster reserviert? Kein Problem, meine Füße wollten nur auch gerne mal nach draußen schauen.«

»Nein, nein. Das Abteil ist doch ganz leer, da kann ich mich gerne auch woanders hinsetzen, lassen Sie nur.«

»Oje, jetzt bin ich also unsichtbar?«

»Wie bitte, ach, nein, ich meine...«

»Sorry, das war frech. Nein, unsichtbar bin ich nicht, ich weiß. Vor allem in diesem blöden Anstandslook, den ich heute tragen muss.«

Und ich bin froh, dass ich mir heute noch die Fußnägel lackiert habe.

»Ach das stört mich überhaupt nicht.« Wieder bleibt sein Blick auf meinen Füßen haften. Er nimmt daneben Platz.

»Was meinen Sie mit Anstandslook?«

Der hat ja keine Ahnung. Wenn Maria mir dieses Oma-Ding nicht aufgeschwatzt hätte, könnte ich jetzt wie gewohnt in Jeans und bequemem Wollpulli hier sitzen. Und dann diese Rüschenbluse. ›Das muss so sein, Du willst doch seriös wirken‹, redete sie auf mich ein. Und ich dumme Nuss hab mich überreden lassen.

»Normalerweise laufe ich nicht so overstyled herum.

Ach was erzähl ich da. Ich bin aufgeregt, weil ich mir heute in Ulm eine Einrichtung zum Betreuten Wohnen anschaue.«

»Sie? Das halte ich aber doch für übertrieben. Sie sind doch...« Der Typ schaut mich aus meerblauen Augen an. Sie funkeln wie ein sonnenbeschienener Ozean.

»Was? Oh Gott!«

Nein, der ist ja drollig. Oder unverschämt? Doch ich kann nicht anders. Ich muss herzhaft lachen. Und er lacht mit.

»Sie meinen, ich suche mir dort einen Platz aus?«

Ich kann mich kaum beruhigen.

»Nein, ich selber übernehme demnächst in Bonn eine solche Einrichtung. Ich bin Krankenschwester, ich.... Das war schon lange mein Wunsch, eine lebenswerte Bleibe für alternde, noch aktive Menschen zu organisieren.«

Ich trockne vorsichtig die Lachtränen, bevor sie mein Makeup ruinieren. Der Typ schaut mich verdattert an. Seine Zurückhaltung wirkt lebendig. Etwas sprüht von innen. Seine Augen. Aus ihnen strahlt positive Energie. Monika beherrsch Dich, Du bist nicht zum Daten unterwegs.

»Als Krankenschwester habe ich viel Elend bei alten Menschen gesehen. Vernachlässigung, Abschiebung. Die Angehörigen sind überfordert, schicken sie ins Krankenhaus und nach ein paar Tagen? Peng sind sie wieder zu Hause.«

»Ehrlich gesagt konnte ich die letzten Jahre den Blick in ein Krankenhaus von innen vermeiden. Gott sei Dank. Ich bin ein schlechter Patient, ich halte es nicht lange aus in dieser beengten Atmosphäre. Aber mein Vater zum Beispiel, der hat Parkinson, achtzig ist er jetzt. Geistig ist er ja fit, nur wird es mit seinem Gebrechen ständig schlimmer. Meine Mutter ist..., ja wie sie eben sagten, überfordert.

Aber keiner will unseren Vater im Heim sehen. Irgendwann klappt sie noch zusammen und dann ist niemand vorbereitet.«

Er schaut nachdenklich aus dem Fenster, es arbeitet in ihm, das merke ich.

»Ach, ich überfalle Sie mit meinen Geschichten. Jetzt ist gut. Übrigens ich heiße Monika, Monika Mahlert. Und Sie? Wen habe ich jetzt total aus dem Konzept gebracht?«

Er erzählt mir, dass er Andreas heißt. Einfach Andreas. Ein schöner Name. Und er ist auch aufgeregt, weil er in Stuttgart einen Vortrag über Brunnenbau in Afghanistan halten soll. Ingenieur für Umwelttechnik ist er, irgendwie faszinierend.

»Ist das nicht gefährlich. Ich habe neulich erst gelesen, dass gerade im Norden von Afghanistan die Taliban aktiv sind.«

»Ach das geht. Wir werden immer gut über die dort stationierten Bundeswehr-Truppen informiert und die Behörden vor Ort haben ein gutes Gespür dafür, wann es brenzlig wird.«

»Und Sie bauen also Brunnen. Das finde ich ja spannend.«

»Also, nein, nicht ich baue sie, aber ich plane und überwache den Bau. Ja klar, es ist spannend, manchmal erfüllend, aber oft auch frustrierend. Erst hängen sie sich rein in das Projekt und zwei Jahre später ist alles wieder vernachlässigt, oder sogar zerstört. Andererseits interessieren sich viele Geologen für Afghanistan, weil sie dort Unmengen wertvoller Bodenschätze vermuten. Da geht es nicht nur um Kupfer und Eisenerz, sondern vor allem um ›Seltene Erden‹. Na ja, wir müssen halt zusehen, dass wir unsere Trinkwasserrohre in die Grundwasserschicht bekommen, also den Brunnen abteufen. Wir machen das im Spülbohrverfahren, aber ich glaube, das wird jetzt ein bisschen zu speziell und ich will Sie nicht langweilen.«

Seine Stimme ist angenehm, so weich. Sie passt irgendwie stimmig zu seiner Erscheinung.

»Hören Sie, Sie langweilen nicht. Nicht mit dem Thema und nicht mit Ihrer Anwesenheit. Haben Sie was dagegen, wenn ich etwas stricke? Ich muss, also ich bin ein bisschen wollsüchtig, wissen Sie? Ich leide sozusagen unter Woll-Lust.«

Oje, Monika, da hast Du ja wieder einen rausgehauen. Also doch Speed-Dating. Dabei läuft in dieser Hinsicht zurzeit gar nichts mehr. Ich habe das Gefühl, dass ich mit rasender Geschwindigkeit auf das Tor mit der Zahl 60 zustürme und dahinter steht dann: sexfreie Zone, Sie haben ihr Ziel erreicht. Grauenhaft. Und dann sitz ich hier wie eine rüschige Oma und stricke.

»Nein, warum sollte ich, nur zu. Ich muss sowieso noch einmal meinen Vortrag durchgehen.«

Ich bin in das Strickwerk meiner neuen Fußstulpen versunken, da stürmen vier junge Leute das Abteil. Gerade dem Teenie-Alter entschlüpft und schnatternd wie eine Gänseschar. Andreas muss aufrücken. Meine Schuhe liegen irgendwo bei ihm und ich bekomme meine Füße kaum so schnell eingezogen. Er streift sie und diese Berührung knistert elektrisierend, ich erschrecke über mich selbst.

»So, jetzt haben Sie ja doch noch ihren Fensterplatz«, überspiele ich den Vorfall. Sein Lächeln ist da schon tief in mir angekommen.

»Hey, seid doch mal ein bisschen leiser. Das Paar hier muss ja denken, wir sind eine Horde wildgewordener Spinner.«

Ich mustere die junge Frau mit dem attraktiven, oval geschnittenen Gesicht, eingerahmt durch hellblonde, löwenmähnige Locken, offensichtlich die Sprachführerin. Ihre aparte Hornbrille strahlt intellektuell.

»Wieso Paar, wie kommen Sie darauf«, frage ich und muss in mich hineinlächeln. Wie haben wir beide denn gewirkt, als die hereinstürmten?

»Na, sieht halt so aus, auf den ersten Blick.«

»Oh Mann, wie peinlich«, rutscht es einem Typen mit dunkler, fast gesichtsfüllender schwarzer Haarmatte heraus.

»Stell Dich nicht so an. Ihr könnt ja schon mal ein bisschen an Eurer Kommunikation arbeiten, für unser Praktikum«, kontert Löwenmähne.

Ein schmalgesichtiges Mädchen, schüchtern und mit roten raspelkurzen Haaren sowie ein Jüngling mit dem Versuch eines flusigen, blonden Vollbarts spielen derweil an ihren Smartphones herum.

»Was ist das denn für ein Praktikum«, fragt Andreas jetzt.

Gesichtsmatte wirkt angenervt. Löwenmähne entgegnet:

»Wir sind vom neuen Bachelorstudiengang ›Pflegewissenschaften‹. Wir dürfen das erste Mal eine Senioreneinrichtung in Bonn besuchen.«

»Na viel kriegen wir dort bestimmt nicht zu sehen. Sedierte Alte, die gebeugt auf Fernseher starren oder mit Einheitsbrei abgefüttert werden.« Blondbart blickt dabei kaum von seinem Handy auf.

»Also kaum ein Unterschied zu Ihnen, ich meine wegen gebeugter Haltung und starrendem Blick auf den Bildschirm«. Verdutzt schaut er mich an.

»Wie jetzt?«

»Na ja, Sie kommen mit einer vorgefertigten Meinung herüber und merken gar nicht, dass Sie selbst eine Steilvorlage für Klischees bieten. Zufällig kenne ich mich mit Altenpflege aus. Nun, in einem kann ich Ihnen Recht geben. Die Bewohner werden viel zu oft medikamentös abgeschossen und das Essen ist auch oft eine Katastrophe.«

»Na, sag ich doch«, bleibt er stur.

»Sorry, woher kennen Sie sich denn so gut aus«, will nun Löwenmähne von mir wissen.

»Erstens bin ich seit fast vierzig Jahren Krankenschwester...«

»Respekt«, rutscht es da Gesichtsmatte heraus.

»... und zweitens möchte ich dazu beitragen, die Altenpflege menschlicher zu gestalten.«

»Hey, das ist ja super«, meldet sich die Rothaarige.

»Deswegen wollen wir, also ich ja Pflegemanagement studieren.«

»Und wegen Management, Iris!«, brummt der Dunkle hinterher.

Jetzt meldet sich Andreas, der die ganze Zeit aufmerksam das Gespräch verfolgt hat.

»Das genau wird der Spagat sein. Alles soll effizienter und wirtschaftlicher werden, dabei ist für würdige Pflege und gut bezahltes Personal zu wenig Geld vorhanden.«

»Deswegen ja, Pflegemanagement«, beharrt er.

»Ja, aber pflegt ihr auch selber, ich meine die ganze harte Arbeit bei schlechter Bezahlung, für die man kaum noch Interessenten findet?«

Die Ältere schüttelt etwas nachdenklich den Kopf.

»Ich weiß, das ist ja alles noch nicht klar. Aber deswegen machen wir ja das Praktikum, um überhaupt mal einen Eindruck zu bekommen.«

Plötzlich kommt mir ein Gedanke. Ich suche in meiner Handtasche nach meinen Visitenkarten und reiche eine der Blonden herüber.

»Also, wahrscheinlich werde ich eine Einrichtung für Betreutes Wohnen in Bonn aufbauen. Dort werden rüstige Senioren möglichst selbständig und begleitet wohnen. Ich denke, dass wir mal gute Pflegemanager wie Euch dafür brauchen können. Und – Du, wie heißt Du, wenn ich fragen darf?«

»Marlene«, sagt sie mit freudig tanzenden Locken.

»Marlene, melde Dich, wenn Ihr mal Fragen habt. Das Problem mit alten Menschen kann man nur mit den Jungen lösen, so viel ist klar.«

»Hey super, kann ich auch so ´ne Karte kriegen«, und plötzlich sind sie tatsächlich alle neugierig. Es fühlt sich gut an.

Als wir Bonn erreichen, verlässt uns die bunte Gruppe und es ist wieder so still und geheimnisvoll wie zuvor. Wir bleiben alleine in unserem Abteil, als Paar. Außenstehende können manchmal ganz entwaffnende Eindrücke vermitteln. Immer genauer betrachte ich diesen Andreas jetzt. Mir gefallen seine sinnlichen, offenen Lippen. Sie haben so gar nichts Verkniffenes. Er muss sich früher verletzt haben, am Kopf, denn entlang der Stirn zieht sich eine große Narbe. Warmherzig wirkt er. Er bleibt dort sitzen, schön. Wie lustig, wir ein Paar. Oh, mein Gott, Monika, was denkst Du da! Am besten ich stricke wieder, dann komme ich auf andere Gedanken. Zum Beispiel, dass ich gerade merke, dass meine Füße kalt sind. Und die Schuhe liegen da hinten, irgendwo bei ihm. Nein, ich habe keine Lust, ihn zu fragen, ob er.... Nein, ich habe Lust auf etwas Anderes. Ich..., ja ich will ihn berühren.

›Du spinnst Monika!‹

›Nein tu ich nicht, basta!‹

Wie ich ganz vorsichtig meine Füße an seine Beine herantaste und merke wie sie unter den Stoff seiner Anzughose passen, beobachte ich ihn ganz genau. Schreck steht ihm in den Augen, doch er rührt sich nicht.

»Meine Füße sind kalt geworden«, lächle ich ihn an. Und dann stricke ich weiter und fange unwillkürlich an, seine Beine mit den Zehen zu streicheln. Plötzlich fällt mir dieses wunderbare Lied der Sängerin Katie Melua ein, ›Nine Million Bicycles‹, und ich summe es vor mich hin. Im Moment ist diese intime Situation mit einem unbekannten Mann namens Andreas einfach nur schön. Wie eine kleine, zauberhafte Tauperle, die man nicht besitzen kann und die doch in dem Augenblick, da man sie sieht, ein unvergessliches Juwel ist. Er holt mich aus den Gedanken zurück.

»Was wird das denn da«. Seine Stimme klingt belegt, er spürt es. Ich weiß es.

»Das? Werden Stulpen für meine Knöchel. Ab Herbst brauche ich die, weil ich so verfroren bin. Die sind aus Alpakawolle. Hier wie meine Armstulpen«. Ich streife einen ab und reiche ihn herüber.

»Willst Du mal fühlen? Ich darf Dich doch Andreas nennen?«

»Ja ..., klar« Er nimmt meine Stulpe entgegen, lässt sie durch die Hand gleiten und dann? Dann nimmt er sie und atmet ihren Duft, meinen Duft ein. Ich ..., ich bin irgendwie erregt und erschrocken. Mit einem Mal weiß ich gar nicht, wie das hier weitergehen soll. Habe ich mich zu weit vorgewagt?

»Du sollst sie fühlen, nicht riechen«, versuche ich, die Spannung zu lösen und fordere lächelnd mein Wollstück zurück.

»Es riecht aber wunderbar«, sagt er mit einem verklärten Blick. Wenn er wüsste, dass für mich fast alle meine Wollsachen immer auch einen sinnlichen Hintergrund haben. Manchmal dachte ich, dass zart schmeichelnde Pullover, Stulpen oder Schals die fehlende tiefe Zärtlichkeit in meiner gut versorgten Ehe kompensierten. Ich verwöhnte mich selbst damit. Und jetzt dieser Mann, der meine Lieblingsstulpen atmet. Das geht einfach zu schnell, ich weiß, ich habe es provoziert.

Ich muss..., ja ich muss mal, das ist es.

»Kannst Du bitte mal schauen, ob da bei Dir meine Schuhe abgeblieben sind?«

Er wirkt geschockt und errötet.

»Bin ich zu weit, habe ich...«

»Nein, aber ich würde gerne den Sanitärservice der Bahn begutachten.«

Auf der Toilette streite ich wieder einmal mit mir, das alte Spiel.

›Sag mal spinnst Du! Dir steht der größte Schritt Deines Berufslebens bevor, Du willst es mit 54 Jahren nochmal wissen und der Welt zeigen, dass Du es noch drauf hast und da flirtest Du ungeniert mit einer Zufallsbekanntschaft. Dir fliegt noch Dein Leben um die Ohren.‹

›Ach ja? Besteht denn das Leben nur aus Ehrgeiz und Beruf. Habe ich nicht seit jeher auf Nähe und Zärtlichkeit verzichtet? Mein Mann, ja der war immer lieb, immer besorgt, immer korrekt. Nur Lieben konnte der nicht.‹

›Tja meine Liebe, das ist vorbei und Du sagst doch selbst immer: Jeder ist für sein Schicksal selbst verantwortlich. Jetzt ist halt Showtime und nicht Rendezvous. Und wenn Du Dich jetzt auf ein nächstes Date einlässt, erste Treffen, verliebt sein, dann, dann...‹

›Dann was?‹

›Dann gefährdest Du Deinen klaren Kopf.‹

Ich lasse etwas von dem Rinnsal aus dem Wasserhahn über meine Hände laufen. Eine Wohltat ist es nicht. Aber ich halte inne und schaue in den kleinen Spiegel. Alt bist Du geworden, Falten am Hals, an den Augen. Nein, das wäre jetzt wirklich keine gute Idee. Gerade weil er nett ist. Das kriege ich jetzt nicht in den Griff. Vielleicht später. Aber wann ist später? Ich kehre zurück.

Wie zum Trotz strahlt wieder eine leuchtende Herbstsonne ins Abteil. Den ersten Novemberschleier haben wir hinter uns gelassen.

Wir blieben beim Du, doch ich vermied jede weitere Annäherung. Ich tat so, als wären wir einander sympathische Reisende. Wir plauderten belanglos über die bevorstehenden Auftritte und die allgemeine Aufregung davor, die ja auch ihr Gutes hat. Zudem beehrten uns in Mainz ältere Herrschaften in unserem davor so abgeschlossenen Abteil. In Mannheim waren wir wieder alleine, das Gespräch war abgeebbt. Bis plötzlich die Durchsage kam: »In wenigen Minuten erreichen wir Stuttgart Hauptbahnhof.«

»Oh, hier muss ich aussteigen«, brachte Andreas hastig heraus und packte eilig seine Sachen. Ich war innerlich angespannt, denn seine Nähe wirkte nach wie vor. Er hatte etwas ausgelöst in mir.

»Monika, ich würde sie... äh dich gerne wiedersehen. Kann ich eine Deiner Visitenkarten haben?«

Nein, das ging nicht, das hatte ich mir fest vorgenommen.

»Oh, tut mir Leid, das waren die Letzten.«

»Dann könntest Du mir Deine...«

»Andreas, bitte, ich.... Müsst ihr Männer eigentlich immer gleich eine große Sache aus jedem Flirt machen?! Ich habe vor drei Jahren meinen Mann an seinen zweiten Schlaganfall verloren, nachdem ich ihn vorher zwei Jahre gepflegt habe. Ich bin – ja Du wirst es vielleicht kaum glauben – 54 Jahre alt, also wahrscheinlich ein ganzes Stück älter als Du. Das Letzte was ich im Moment in meiner Situation gebrauchen kann, ist eine ungewisse Affäre!«

»Eine Affäre? Entschuldigung, ich wollte Dich nur wieder erreichen, weil, weil ich Dich...«,

Andreas sah jetzt total verzweifelt aus, mein Gott, ich wäre am liebsten weggelaufen.

»...Weil ich Dich total sympathisch fand, äh finde. Na ist gut. Tut mir leid, wenn ich aufdringlich war.«

»Hey, Andreas...«,

Scheiße, jetzt kommen mir auch noch die Tränen, beherrsch Dich gefälligst,

»Entschuldigung, ich hab´s nicht böse gemeint. Das ist mir alles im Moment zu viel. Ich weiß, ich habe ja als Erste Signale gesendet, aber... Ich bin sicher, wir sehen uns wieder. Viel Glück. Es war nett. Nein, es war schön.«

»Danke, viel Glück auch Dir. Es war... egal, alles Gute.«

Und dann verschwand er, geknickt, genau wie ich. Wie wahrscheinlich ist es, dass man in diesem Alter zufällig einem Menschen begegnet, bei dem schon nach kurzer Zeit... Nein, es ist nicht Liebe auf den ersten Blick, das ist was für Teenager. Nein, bei dem Du nach kurzer Zeit das Gefühl hast: In der Nähe dieses Menschen fühlst Du Dich gut, stimmig, aufgehoben. Zwangsläufig musste ich jetzt an Peter denken, meinen verstorbenen Mann. Ja der behütete mich auch und doch hat eines immer gefehlt. Es war dieses innige Gefühl, am richtigen Ort mit dem richtigen Menschen zu sein, mit dem Herzen, mit dem Geist und ja, auch mit dem Körper.

Und dann rückte mich wieder diese eine Stimme in mir zurecht:

›Monika, reiß Dich zusammen, da draußen wartet die Wirklichkeit auf Dich.‹

2. Peter

2005/2007

Es hat Peter schwer getroffen und er hat – wie immer - nicht mit mir darüber geredet. Seit achtzehn Jahren kümmert er sich in der inneren Abteilung des Clemens-Hospitals gut um seine Patienten. Daneben hat er auch noch die Wirtschaftlichkeit seines Handelns im Blick. Er ist zehn Jahre erster Oberarzt der Klinik II für Pneumologie. Kein anderer hat mit so viel Routine und Erfahrung die rasante Entwicklung der Lungenkrebsbehandlung vorangetrieben. Und doch hat man ihm einen deutlich jüngeren Oberarzt der Uniklinik als Klinikleiter vorgezogen.

Als wir damals nach Telgte bei Münster zogen, war Julia gerade sieben geworden, sie musste schon ein Jahr nach der Einschulung in Lübeck die Schule wechseln. Auch für mich war es eine harte Entscheidung aus der gewohnten Umgebung meiner Heimat an der Ostseeküste ins Münsterland zu wechseln.

Doch Peter stand schon immer wie ein Fels in der Brandung. Er ließ keinen Zweifel aufkommen, dass wir es gemeinsam schaffen werden.

Jetzt da er so fest mit der Übernahme der Klinikleitung gerechnet hatte, sehe ich ihn grau und verfallen, um Jahre gealtert.

»Ich bin müde«, sagte er an diesem denkwürdigen Abend. Ich ahnte, dass in ihm keine Tages- sondern eine Lebensmüdigkeit wirkte. Wir gingen früh ins Bett.

Ich hatte noch mit unserer Tochter in Lübeck telefoniert, sie gefragt, wie ihr Referendariat in der Astrid-Lindgren-Schule läuft, ihr meine Sorgen über ihren Vater kundgetan.

»Er wird darüber hinweg kommen. Papa braucht vor allem seine Patienten. Er hat einen starken inneren Kompass. Mach Dir keine Sorgen, Mama«, beruhigte sie mich.

Ein Stöhnen weckte mich und der Digitalwecker zeigte mir diese Zeit, die mir später immer wieder Angst einflößen sollte: 2:22 Uhr. Peter lag neben mir mit verzerrtem Gesicht, leerem Blick, ein Speichelfaden lief ihm aus dem Mund. Ich wusste sofort, was es war. Sein Puls war schwach. Rasch legte ich ihn auf die Seite, nahm mein Handy und rief den Notarzt. Dann holte ich hektisch das Blutdruckgerät. Alles lief wie im Film ab. Eine Situation, wie ich sie in der Klinik zigmal erlebt hatte. Das Notarzt-Team war schnell und brachte ihn in die Uniklinik. Ich hatte in diesen ersten zwanzig Minuten die Tiefe dieses Ereignisses nicht an mich herangelassen. Erst als ich mich auf den Stuhl im Wartebereich der Intensivstation setzte, griff die kalte Hand der Erkenntnis an mein Herz. Es stolperte, klopfte hilferufend an die Brust, die Rippen eng wie ein Käfig. Jetzt liefen rasend die Gedanken in meinem Hirn Amok. Julia, ich muss sie informieren oder soll ich warten, bis sie mir sagen, wie es um ihn steht. Der Urlaub, wir müssen stornieren. Was wenn Peter es nicht überlebt, oh Gott. Oder wenn er zum Pflegefall wird, das Haus. Alles überschlug sich. Schmerz und Angst rangen miteinander. Für Trauer fehlte noch der Platz.

Die folgenden Tage wurden zu den schlimmsten meines Lebens. Julia reiste sofort an und gemeinsam bangten wir zunächst ums Überleben von Peter. Dann schlich sich die Gewissheit in unser Bewusstsein, dass die Hirnblutung bleibende Schäden hinterlassen würde. Der behandelnde Arzt machte uns keine Hoffnung auf eine Besserung. Zwar war Peter bei Bewusstsein, doch die Sprache hatte er vollständig verloren. Die Lähmung fesselte ihn auf Dauer ans Bett. Damit bewahrheitete sich für mich die Furchtbarste aller Varianten. Als erfahrene Krankenschwester und als seine Frau wusste ich, solch ein Leben ist nicht mehr lebenswert für ihn. Ich aber hatte nicht darüber zu entscheiden und Peter war als Arzt strikt gegen jeden Einfluss auf das ärztliche Handeln. Hätte er für sich selber anders entschieden? Ich konnte ihn nicht mehr fragen. Und Julia unsere Tochter? Sie war gebrochen, verzweifelt. Ihr Vater, ihre Leitfigur, ihr Rückgrat.

Ich entschied, mit Unterstützung eines Pflegedienstes selbst für Peter zu sorgen. Es saugte die Kraftreserven aus. War es Pflicht? War es Dankbarkeit, ihn selber zu pflegen?

Die Trauer kam wie eine Krebsgeschwulst. Ein eisiges Geflecht wand sich durch meinen Körper und drohte mich innerlich aufzufressen. An dem kannibalischen Mahl beteiligten sich auch meine vertanen Chancen. Meine Feigheit, Peter die Unzufriedenheit mit meinen unerfüllten Wünschen mitzuteilen. Meine Angst, ihn durch emotionales Aufrütteln zu verschrecken oder zu verlieren. Ich, die Starke, die auf Station Anweisungen gab, mich mit Oberärzten fetzte und Intrigen unterband, war zu Hause sprachlos geblieben angesichts eines Mannes, der liebevoll, fürsorglich und zugleich patriarchalisch und gnadenlos konsequent war. Die ersten Wochen ließen noch Tränen auf seine regungslose Bettdecke fallen, dann versiegten auch sie, denn mein Brunnen war leer und ich dachte, ich müsste seelisch verdursten. Ohne meine Tochter und meine Freundin Maria, hätte ich wohl irgendwann einfach aufgehört zu leben.

Am 27.11.2007 erlitt mein Mann Peter eine zweite Massenblutung, die zu seinem sofortigen Tod führte. Endlich konnte ich Abschied nehmen, denn alles, was ich ihm noch zu sagen und zu danken hatte, war ich lange vorher an seinem Bett losgeworden. Ob er es noch begriffen hat, werde ich wohl nie erfahren. Nun begann mein zweiter Lebensversuch.

3. Die besondere Tochter

Monika

Die Einrichtung zum Betreuten Wohnen bei Ulm liegt inmitten eines historischen Klosterhofes. Sie überzeugt mich. Die Bewohner dürfen ihr Lebensumfeld aktiv und eigenständig mit gestalten. Was für ein Unterschied in den Gesichtern, welch eine Energie bringen sie auf, um eigenes Gemüse anzubauen, ein Brotbackhaus zu betreiben oder eine Reparaturwerkstatt für Fahrräder bereit zu halten. Hier heißt man Jung und Alt, Flüchtlinge wie Einheimische willkommen. Ich nehme diese Eindrücke als Aufruf mit, das Projekt ›Bonn‹ in solch einem Geiste zu erwecken.

Kaum sitze ich im Nachtzug nach Münster, drängt sich jemand anderes zurück in mein Bewusstsein. Mein schüchterner Reisebegleiter. Andreas mit den verwuschelten grauen Haaren und den meeresblauen Augen, den ich am Schluss so abrupt vor den Kopf gestoßen hatte, sitzt plötzlich im Abteil dabei. Leider nicht wirklich, aber ich spüre ihn. Wie gerne hätte ich einfach wieder meine Füße an seine Beine gelegt. Bestimmt hätte er diesmal wohlig geschnurrt. Warum überhaupt sollte ich in meinem Alter nicht in der Lage sein, Beziehung und berufliche Herausforderung in den Griff zu kriegen? Hatte ich nicht pflegebedürftigen Mann, Halbtagsstelle und Finanznot bewältigt? Ich erschrecke bei diesem Argument. Damals hätte es mich auch das Leben kosten können, wenn meine Tochter mich nicht so grandios unterstützt hätte. Papas Liebling, das war sie, schon immer. Es half ihr, dass er die zwei Jahre noch zu Hause von mir gepflegt wurde. Aber jetzt, warum bin ich jetzt nicht mal dran? Ich werde mit Julia sprechen. Sie hütet ohnehin gerade das Haus, weil sie alte Freunde aus Münster besucht.

Julia drückt mich herzlich. Seit ihrer Festanstellung als Lehrerin im Landeschuldienst, wirkt sie ausgeglichener, selbstbewusster. Ihr asymmetrischer Pagenschnitt erfüllt dazu die nötigen Klischees der gestrengen Lehrerin.

Zuhause angekommen stehen Julia und ich mit einem Becher frisch gebrühten Kaffee in der Küche.

»Also Julia, ich hätte nicht gedacht, wie sehr man sich um älter werdende Menschen kümmern kann. Die bieten so viel und lassen vor allem die Bewohner selber machen. Das ist fast wie eine Kommune, vorbildlich. Und stell Dir vor, der Leiter der Stiftung kommt auf einen Gegenbesuch nach Bonn, schon in drei Wochen. Ach es gibt noch so viel zu tun. Ich bin ganz aufgeregt.«

»Na nun lass uns erst mal setzen. Gut schaust aus, mit Deinem feschen Kostüm.«

»Ach hör auf. Ich ärger mich jetzt noch über Maria und ihren Rat. Die meisten liefen dort leger und sportlich herum, außer die Nonnen natürlich.« Ich muss kichern.

»Na ja, aber auch die wirkten nett. Hätte ich nie gedacht, dass die so fortschrittlich sein können.«

»Mama, Du solltest mal überlegen, dass Du keine vierzig mehr bist. Warum regst Du Dich über so ein schönes Kostüm auf. Du siehst damit richtig edel aus.«

»Danke, dass Du deine Mutter an ihr Alter erinnerst, aber edel, bitte, das passt gar nicht zu mir. Im Übrigen, auch wenn ich nach meinem Pass eine alte Schachtel bin, ich hatte einen ganz schön heißen Flirt im Zug. Der Typ sah total süß aus.«

»Mama, Du hörst Dich ja an, wie ein durchgeknallter Teenie. Was soll das denn jetzt.«

»Ja hör mal, und wenn schon. Ich kann doch flirten wann und mit wem ich will. Du bist gut. Ich muss doch nicht so prüde leben wie Du.«

»Mama, jetzt reicht´s! Ist es meine Schuld, dass Paul mich hat sitzen lassen wegen so einer dämlichen Studentin. Entweder man ist seriös und hat eine Aufgabe, der man sich stellt oder man, man... bumst sich so durchs Leben.«

»Jetzt ist aber mal gut. Wer bumst sich durchs Leben, wenn Du schon auf einmal solche Kraftausdrücke gebrauchst. Ich habe seit Papas Tod...«

»Von Dir rede ich doch gar nicht. Ich meine Paul.«

Julia schluchzt in ihre Hände und lehnt sich an meine Schulter.

»Julia, ist ja gut. Das mit Paul ist schon fast ein Jahr her. Die Welt dreht sich weiter. Hier nimm das Taschentuch.«

Sie schnäuzt sich und erwidert mit grimmigen Blick:

»Das hat Papa nicht verdient.«

Das Telefon klingelt. Julia nimmt wie selbstverständlich das Gespräch an.

»Julia Mahlert, wer ist da bitte?«

Ärgerlich erwarte ich, dass sie mir den Hörer reicht. Doch sie spricht einfach weiter.

4. Amors Pfeil

Andreas

›Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen. Wie ich ihnen zeigen konnte, sind in den von mir beschriebenen Regionen in Nordafghanistan die meisten Aquifere in tiefen und schwer erreichbaren Schichten gelegen. Es gilt oft mehrere Aquicluden, also Grundwassersperren zu durchdringen. Auch außerhalb von Deutschland wenden wir hier die wesentlichen Umweltauflagen an, prüfen jede Bohrschicht und warten die Bohrgeräte regelmäßig, um eine künstliche Kontamination auszuschließen. Weiterhin müssen wir durch Sperrschichten aus Bentonit verhindern, dass entlang des Brunnenleiters Oberflächenwasser in den Grundwasserleiter gelangt. Nur durch Vertrauen in die strengen europäischen Anforderungen können wir unsere afghanischen Freunde davon überzeugen, dass eigene Sorgfalt und Pflege der Garant für die Langlebigkeit ihrer Brunnen ist.

Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit.‹

Geschafft! Es lief gut, es gab zahlreiche Nachfragen, mehr zu Afghanistan als zum Brunnenbau, aber insgesamt bin ich zufrieden. Die Luft hier im Süden ist mild, doch es wird früh dunkel. Soll ich noch einen Trip nach Stuttgart unternehmen? Mit einem Mal überkommt mich eine melancholische Stimmung. Sie ist nicht weg, diese Monika. Ich sehe ihre Sommersprossen vor mir, ihre spitze, freche Nase und dieses Funkeln in den Augen, als hätten sich Sprenkel von Bernstein in ihren Pupillen verirrt. Vor allem aber spüre ich ihre Füße, fast mädchenhafte, zarte Füße, aus denen die lackierten Fußnägel schimmerten, wie kleine Ringe an ihren Zehen. Habe ich schon einmal bewusst auf Frauenfüße geachtet? Ja, ich durfte Sabines Füße massieren, als diese ihr kalt waren. Jeder Versuch sie zu streicheln endete jedoch in einer Lachsalve und der dann sehr ernsten Aufforderung, sie nicht zu kitzeln.

»Das mag ich nicht«, beendete sie den Versuch. Damit wurde dieser Teil zur verbotenen Zone.

Vor meinen Augen sehe ich sie sitzen, vertieft in ihr Stricken, völlig mit sich im Reinen. Vierundfünfzig? Niemals. Ok, fünfundvierzig. Zu alt für mich? Kein Gedanke. Aber warum hat sie am Schluss so reagiert? Was habe ich falsch gemacht? Sie schien Angst vor einer Beziehung zu haben, aber das kann man doch auf sich zukommen lassen und jederzeit neu entscheiden. Ich bin naiv. Aufkommende Gefühle lassen sich nicht einfach abstellen. Aber was, wenn sie ähnlich empfunden hat wie ich? Sie ist doch keine oberflächliche Aufreißerin. Ein besonderer Zauber umfing uns in den gemeinsamen Stunden im Abteil.

Ich mache mich auf den Weg ins Hotel und beschließe, meine Gedanken in einem Bierbad zu ertränken.

Am nächsten Morgen ist nichts besser, weder mit dem vom Kater zermürbten Hirn, noch mit den Gedanken an Monika. Ich träumte, ich hielte ihren Stulpen noch in der Hand und suchte sie im Zug. Der aber stellte sich als Labyrinth mit unzähligen, seitlichen Abzweigungen heraus. Auf jedem Tisch eines jeden Abteils lag ein anderer Stulpen in einer anderen Farbe und ihre Besitzerinnen riefen mir immer zu: ›Hier riechen sie mal, meine riechen auch gut.‹ Dann lachten sie hämisch. Am Ende des Zuges reichte die letzte Waggontür auf eine Startbahn am Flughafen. Monika entschwand gerade als letzter Gast in einem utopischen Flugzeug, die Kabinentür schloss sich hinter ihr.

Eine Sicherheitskraft hielt mich zurück und bedauerte:

»Da können sie nicht mitfliegen, das ist ein One-Way-Flug zum Mond für ausgesuchte Erstbewohner. Sorry.«

Schweißgebadet, mit rasenden Kopfschmerzen sitze ich im Bett. Es ist erst sechs Uhr. Ich brauche einen starken Kaffee und ein Frühstück. Und einen Internetzugang.

Eine Stunde später halte ich – Google sei Dank – einen Notizzettel in der Hand mit der Telefonnummer einer Monika Mahlert, Krankenschwester im Clemens-Hospital Münster. Ich weiß nicht, ob sie solo ist. Ich weiß nicht, ob die Nummer aktuell ist. Es bleibt mein einziger Hoffnungsschimmer, mit ihr in Verbindung zu treten. Ich starre aufs Tastenfeld und wähle endlich die Nummer. Nach quälend langen vier Freizeichen meldet sich eine weibliche Stimme:

»Guten Tag, Clemens-Hospital Münster, Kinder- und Jugendmedizin, Sie sprechen mit Frau Wegener, was kann ich für Sie tun?«

»Ich suche eine Frau Monika Mahlert. Könnte ich mit ihr sprechen?«

»Oh, das tut mir leid, Schwester Monika arbeitet nicht mehr in unserer Abteilung.«

»Ja, können Sie mich dann dorthin verbinden, wo sie jetzt arbeitet.«

»Das kann ich nicht entscheiden, da ich nicht weiß, ob Frau Mahlert das möchte.«

In den zäh fließenden Sirup antworte ich:

»Frau Mahlert und ich sind gute Bekannte. Ich denke, es ist o.k., wenn sie...«

Nach einer förmlichen Schweigezeit:

»Also hören Sie, wir dürfen nach der neuen Datenschutzrichtlinie keine konkreten Nummern von Mitarbeitern weitergeben. Aber ich denke, sie müsste im Telefonbuch von Telgte stehen, wenn Ihnen das weiterhilft.«

Keine fünf Minuten später wähle ich die Nummer der einzigen Monika Mahlert in Telgte, ich bin aufgeregt.

»Julia Mahlert, wer ist da bitte?«

»Oh! Äh! Hallo, guten Abend hier spricht Andreas Lobesam, ich hätte gerne eine Frau Monika Mahlert gesprochen.«

»Was wollen Sie von ihr?«, kommt es ungewöhnlich schroff zurück. »Meine Mutter kennt keinen Herrn mit diesem Namen.«

»Wir haben uns im Zug kennen gelernt, gestern auf der Fahrt von Münster, also ich von Essen nach Stuttgart und ich...«

»Ach ja? Ich sagte ihnen bereits, meine Mutter kennt keinen Andreas und jetzt möchte ich Sie bitten, uns nicht weiter zu belästigen.« Das Freizeichen lässt mich brutal zurück.

Meine Hände zittern. Ich fühle mich wie ein kleiner Idiot, wie ein abgekanzelter Schuljunge. Ich glaube es nicht. Was mache ich hier eigentlich? Vielleicht sollte ich diese ganze idiotische Geschichte so schnell wie möglich vergessen. Ist doch auch Blödsinn, an diese eine Liebe zu glauben, die ich mir immer so gewünscht habe. Andreas, wann wirst Du endlich erwachsen!

Da klingelt das Telefon erneut. Ich starre auf das Display, es ist die gleiche Nummer. Wird mir jetzt noch eine Beleidigung hinter her geschoben. Es hat schon dreimal geklingelt. Soll ich es ignorieren? Viermal. Und dann mich den Rest meines Lebens fragen, ob ich besser rangegangen wäre? Fünfmal. Ich nehme an. Zu spät. Stille. Ermattet lasse ich die Schultern sinken.

Es klingelt erneut.

»Hallo, bist Du es Monika.«

Wieder Stille.

»Andreas? Der Andreas aus dem Zug?«

»Ja, ich wollte Dich nicht belästigen, aber... ich wollte Dich sprechen..., wenn Du überhaupt möchtest.«

»Sorry für eben, das war meine Tochter. Die ist manchmal etwas impulsiv und... Können wir morgen reden? Hier ist es gerade etwas kompliziert, weißt Du?«

»Falls Du eine Beziehung hast, ich würde niemals..., also...«

»Nein, Andreas, habe ich nicht. Jedenfalls keine offizielle.«

»Ach, das heißt, da ist was am Laufen?«

»Ja, möglicherweise...«

»Oh, na dann...«

»Heißt Andreas, wirklich netter Typ.«

Sie seufzt und im Hintergrund höre ich die Tochter laut vernehmlich: »Du spinnst, Mama«.

»Tja, wie Du wohl mitbekommst, weiß die Jugend ja alles besser. Ruf mich doch morgen so gegen neunzehn Uhr an. Geht das?«

»Ja, gerne!«

Die Achterbahn hat mich geschafft. Krampfhaft halte ich noch immer mein Handy in der Hand.

Meine Rückfahrt in der Bahn nervte. Ich verpasste meinen Anschluss, die Reservierung für die Katz und der Zug brechend voll. In der Kakophonie aus endlosen Handygesprächen, Technomusik aus Walkmännern und den unüberhörbaren Krankheitsberichten einer ältlichen Damentruppe kam ich kaum dazu, meine Gedanken zu ordnen. Dabei hätte ich mich gerne noch auf die nächsten zwei Umweltprüfungen von Großbaumaßnahmen vorbereitet, für die meine Firma den Zuschlag erhalten hatte. Mir gegenüber saß eine ältere Dame mit metallic-blau schimmerndem Haar. Der fahrlässige Blickkontakt mit ihr brachte mir sofort einen Redeschwall ein.

»Furchtbar, nicht wahr, dass die immer und ständig mit ihren Dingern telefonieren müssen, das gab es früher nicht. Auch die Bahn, die hätten sich früher solche Verspätungen mal leisten sollen. Ach ja, wissen sie das lange Sitzen, das ist ja auch nichts für mein Weichteilrheuma. Mein Orthopäde sagt, das wäre Fibrom-Nystalgie oder so ähnlich. Da könne man nicht viel machen, außer viel Bewegung. Der ist gut. Gerade wenn ich mich viel bewege, dann schmerzt es ja so. Und nachts, sie glauben gar nicht, wie einem das den Schlaf rauben kann. Ja ja, seitdem ich sechzig geworden bin, ist halt alles nicht mehr so wie früher. Wissen Sie, damals habe ich Kunstturnen gemacht, am Hochpferd. Die jungen Leute gehen ja heute kaum noch in den Sportverein. Ich weiß auch nicht, wo das noch alles hinführen soll.«

Ich nickte Verständnis heuchelnd und versuchte mir diese alternde Frau als große Schwester von Monika vorzustellen. Kaum zu glauben, dass diese beiden Frauen aus einer Generation stammen. Ich überraschte mich plötzlich doch bei dem Gedanken, ob eine fünf Jahre ältere Frau für mich ein Problem sein könnte. Nüchterne Sachlichkeit konkurrierte mit meinem frisch entfachten Gefühlschaos. Was genau verlieh meinem Herzen gerade solche Flügel. Ja, ich will Monika unbedingt näher kennen lernen. Und ja, sie reizt mich ungemein.

Plötzlich verschwanden der Geräuschpegel und das deprimierende Geplapper meines Gegenübers hinter einem sanften Schleier der Erinnerung. Fast meinte ich, sanfte Füße an meinem Bein zu spüren, da hörte ich von der Dame ein »Entschuldigung, es ist aber auch eng hier. Früher gab es da viel mehr Platz im Zug.«

Wann war ich das letzte Mal..., ja, wann war ich je so verliebt. In Sabine? Mit einem Mal waren da die Gedanken, Sabine, meine Ex-Frau und Monika zu vergleichen. Sabine und ich erwiesen sich offensichtlich als untauglich für ein gemeinsames Altwerden, so trennten sich unsere Wege vor drei Jahren. Bisher gab es keine Frau, auch nicht Jeanette, mein unglückliches außereheliches Abenteuer, die einen Vergleich lohnte. Hier hatte ich nun mit einer Wildfremden einige Stunden im Zug verbracht. Mich überkam das Gefühl, gerade etwas verloren zu haben, bevor ich es richtig gefunden hatte.

5. Sabine und Jeanette

1979

Der große Gemeinschaftsraum im Souterrain des CVJM Mülheim zierte sich mit Papiergirlanden, Luftschlangen und buntem Konfetti. Man gab den Abschluss-Tanztee für den Fortgeschrittenenkurs. Auf den kleinen Vierertischchen standen Tropfkerzen, Knabbergebäck lag in knallbunten Plastikschalen, der ganze Saal strahlte eine fröhlich-flimmernde Stimmung aus. Gerade quälte mich die Drehung beim Cha-Cha-Cha. Sabine, meine Freundin, korrigierte mich immer wieder. Da brach das ›Oje Como Va‹ von Santana ab und sie spielten ›I´m not in Love‹ von 10 CC. Was für ein abrupter Wechsel zum Schmuseblues. Wir beide strahlten uns nur an. Acht Wochen schon dauerte der Zustand der akuten Verliebtheit in dieses zuckersüße Mädchen mit ihren kastanienbraunen, wallenden Locken, den dunklen, alles verschluckenden großen Augen und ihrer zarten Stimme. Bereitwillig nahm ich ihren weichen Körper in die Umarmung dieses erotischen Tanzes auf, der eigentlich nur aus Spüren bestand. Mit dem ›Stehblues‹ konnte man in aller Öffentlichkeit intim sein und doch gesellschaftsfähig bleiben. Nur einige Neider ohne feste Tanzbeziehung setzten sich jetzt schmollend zu ihrer Cola an die Tische. Ich dagegen roch das weiche Haar von Sabine, ihren betörenden Duft nach Sandelholz und Zimt. Ich spürte die weiche Haut ihrer Wange und natürlich unsere Becken, die sich bisher nur bekleidet so nahe kommen konnten.

16 junge Jahre zählte Sabine, als wir uns im Tanzkurs begegneten. Ich warf den ganzen Charme eines 18-Jährigen in die Waagschale, um ihr zu gefallen. Da machte es sich ausgezeichnet, dass ich mit frisch bestandenem Führerschein und einem alten Kadett-B-Sport-Coupé in die Liga der interessanteren Jungs aufgestiegen war. Nicht einer der ›Mein-Papi-ist-reich-Schnösel‹, die sich gleich zum Abi einen orange-farbigen VW Scirocco vor die Haustür stellen ließen. Aber immerhin besaß ich eine eigene Kiste. Ich träumte nachts und tagsüber mit offenen Augen nur noch von diesem wundervollen Mädchen, das so herzhaft lachen konnte und auf eine ganz freche Art schüchtern tat.

Wir neigten im hauchenden Klang des Songs unsere Gesichter einander zu und unsere Lippen fanden sich zu einem langanhaltenden Kuss, der nach Himbeerlipgloss schmeckte und mir die Sinne schwinden ließ. Sie musste meine Erregung spüren, es gefiel mir mittlerweile. Ich konnte es kaum erwarten, dass wir – ob mit oder ohne die Billigung ihrer strengen Eltern – uns endlich lieben konnten.

»Hey Du Frechdachs, ich sollte Dich nicht so wild machen«, hauchte mir Sabine ins Ohr und erzeugte damit nur neue Sinnesstürme in meiner jetzt viel zu engen Wrangler-Jeans.

»Schade, dass wir hier nicht allein sind, ich würde Dir jetzt gerne die Bluse ...«

»Psst! Wenn uns jemand hört.«

»Na und, jeder weiß doch, dass wir uns lieben.«

»Ach Andreas, ja. Aber Du musst mir ein bisschen Zeit lassen, ok?«

»Klar doch«. Ich klang dabei nicht gerade hoffnungsfroh, aber es musste wohl sein. Das Lied war zu Ende und ein flotter Foxtrott kühlte die inneren Gemüter und erhitzte unsere Körper im Tanz. Egal, ich fühlte mich einfach nur glücklich.

Mein Plan stand fest. Die Eltern von Sabine musste ich davon überzeugen, dass sie auf die Ferienfahrt des CVJM nach Finnland mit durfte. Als eingeteilter Jugendleiter wusste ich, dass in dem Hüttendorf in Piilopirtti die älteren Paare eigene Hütten bewohnen durften. Ohne Genehmigung von Sabines Eltern war daran jedoch nicht zu denken. Als ich Sabine einweihte, traf mich eine unerwartete Reaktion.

»Das ist aber verdammt weit weg. Außerdem hatten Birgit und ich an dem Wochenende uns eigentlich zum Schoppen nach Essen verabredet. Du weißt doch bei Quelle ist jetzt großer Sommerschlussverkauf.«

Fassungslos schaute ich sie an.

»Aber Sabine! Finnland, wir könnten nach Finnland! Wir leben in Holzhütten, es gibt eine große Sauna, einen See direkt nebenan.«

Sabine schmollte. »Ja, das hört sich schon interessant an und ich finde es ja auch toll, dass Du mich dabei haben willst. Aber da gibt es doch Millionen Stechmücken, oder nicht?«

Ich war sprachlos und während ich ihre Hände hielt, sah ich auf dem Boden vor mir deutlich einen Schatten auf unser junges Glück fallen. Kaum spürte ich ihre Hände noch, da antwortete sie:

»Also gut, ich spreche mit meinem Vater. Er hat letztens noch gesagt, Du wärst ein anständiger Kerl und ob es mir denn ernst wäre, mit unserer Freundschaft, Du weißt schon.«

Wie ein kurzer, kalter Windhauch flog der Zweifel wieder davon. Es blieb ein kleiner Stachel der Erinnerung an dieses Gespräch, der sich in bestimmten Situationen immer wieder entzünden sollte. Mein Wunsch nach Naturabenteuern, nach spannenden Ausflügen, er riss sie nicht mit. Dann flammte diese Skepsis in mir wieder auf. Dagegen liebte sie den Glamour der Shopping-Malls und Outlet-Center. Sie saugte Daily-Soaps und die Promiwelten auf, als fände sie dort das Glitzerglück der Goldgräber. Sie war gemütlich, ich unternehmungslustig. Sie blieb an der Oberfläche und ich innerlich aufgewühlt. Trotzdem war Piilopirtti der Ort unserer ersten Liebe, der ersten schüchternen Intimküsse, die mich fast besinnungslos vor Glück machten. Ihr Duft, ihr Geschmack und ihre betörende Stimme vernebelten den Blick auf die subtile Art, wie sie mich ihre Wünsche wollen ließ. Die heiße, frühe Glut mündete über die Jahre in ein kaum angefachtes Glimmen, dem Gewohnheit aber keine Neugier mehr innewohnte. Mir fehlten die Vergleiche, denn Sabine war meine erste Frau, Piilopirtti der Verlust unser beider Jungfernschaft.

2007

28 Jahre später und eine gefühlte, kinderlose Ehe-Ewigkeit zog unsere Dämmerung herauf. Sie trug den Namen Jeannette.

»Wenn es Dir so wichtig ist, einen Trip in die Vergangenheit zu machen, bitte, dann tu es, fahr da hin.«

Geräuschvoll sortierte Sabine das Besteck in die Schubladen. Ich fasste sie sanft von hinten an den Schultern, sie hielt kurz inne.

»Ich weiß, es ist über zwanzig Jahre her, seit ich zuletzt im CVJM Jugendleiter war. Du selbst hast damals gesagt, wir sollten uns nicht so viel aufhalsen mit Studium, Wohnung einrichten und so.«

Sabine drehte sich zu mir und ihr Blick verriet Wut und Enttäuschung.

»Ach, bin ich jetzt Schuld daran, dass Du Deine Jungenabenteuer nicht mehr ausleben konntest.«

»Nein, das meine ich doch nicht damit, aber es geht jetzt gar nicht um verpasste Jugendzeiten. Es ist doch eher wie ein Klassentreffen. Seit 30 Jahren gibt es diese Patenschaft mit Tours. Und jetzt wollen sich viele der damaligen Jugendleiter dort treffen. Es ist doch nur ein Wochenende, Schatz.«

Sabine nahm einen Stapel Teller aus der Geschirrspülmaschine und platzierte sie heftig neben mir auf die Ablage.

»Wie gesagt, fahr da hin. Du bist erwachsen.«

Über uns schwebte ein Meer von flockigen, weißen Schäfchen, als wir in Tours angekommen aus dem Reisebus stiegen. Juliluft flimmerte, der Duft von Akazien und Liguster umwehte uns. Ich atmete tief durch und half dann Marianne beim Hervorkramen der Reisetaschen aus den Katakomben des Gepäckabteils.

»Herrlich, oder?« Torsten, mein Jugendleiterkollege aus alten Zeiten reckte sich, sodass sein behaarter Wohlstandsbauch unter seinem sonnengelben T-Shirt hervorlugte. Er ließ mit dieser Fahrt die Mode der 70er aufleben. Quietschgrüne Cordhose und verwitterte Clogs ergänzten das Ensemble. Er bewahrte das Zeug in einem alten Koffer auf, um jeden Karneval die früheren Kumpels mit dem heiß geliebten Retrolook zu beglücken.

»Bon Jours, mes Amis, herzlich willkommen in unsere schöne Stadt. Kommt, ich zeige Euch Eure Appartements.«

Da stand sie, ein Traum von einer Frau. Schulterlanges, schwarzes Haar, Augen wie funkelnder Topas, eine honigfarbene Haut und ein Lächeln ..., mir wurden die Knie weich. Mit ihrer zierlichen Gestalt, ihrer lebendigen Gestik und in dem luftigen Sommerkleid wirkte sie auf mich wie eine quirlige Elfe.

»Ach ja, ich bin Jeannette«, und sie umarmte mich und die Anderen mit zwei Küsschen auf die Wange, dieser schönen französischen Begrüßungszeremonie. Als ich ihre seidigen Haare auf der Haut spürte, stieg der Duft eines Orangenhains in meine Nase. Der verführerische Pheromon-Cocktail entfaltete in mir seine verwirrende und betörende Wirkung.

Die abendliche Sonne pinselte zarte Rosatöne auf die Wolkenflocken. Das Gästehaus der Partnergemeinde lag am Rande der Stadt direkt an der Loire. Dort genossen wir unser gemeinsames Abendessen. Der Duft der Quiche Lorraine, das Aroma der Artischocken und das knusprige Baguette erzeugten ein behagliches Wohlgefühl. War es Zufall, dass sich Jeannette neben mich gesetzt hatte? Ihr süßer Akzent, mit dem sie ihr nahezu perfektes Deutsch garnierte, betörte mich noch mehr. Während sie mir von ihrer Stadt, ihrer Familie und den Freunden bei der Jugendarbeit erzählte, nahm ich eigentlich nur ihre sinnlichen Lippen, die kleine spitz zulaufende Nase und ihre aus den Haaren hervorlugenden zarten Ohren wahr. Ich war verzaubert, gefährlich verzaubert.

»Sag mal, Andi, was ist mit Dir los. Bist Du grad auf einem anderen Planeten. Du siehst aus, als hättest Du eine Glücksdroge genommen«, zwinkerte mir Torsten zu, der sich gerade mit Aurelie unterhielt, einer frischen, sommersprossigen, rotlockigen Mittdreißigerin.

Ich grinste nur zurück, zu einem Kommentar war ich gerade nicht aufgelegt.

Jeannette erhob sich und schlug ihr Cidreglas mit einem Löffel an, es wurde still.

»Liebe Freunde aus Deutschland, wir haben uns eine kleine Party ausgedacht, so wie früher, wenn wir unsere Spieleabende gemacht haben.«

Ich dachte an mein Früher, an eine Zeit, als Jeannette noch gar nicht auf dieser Welt existierte. Wie alt mochte sie sein? 25, 30?

Höchstens.

»... und werden wir jetzt also die Mannschaften für unsere Spiele auslösen, d´accors. Torsten, Du fängst an.«

Welche Spiele, dachte ich. Für einen Moment war ich in Träumereien gefangen. Doch da war schon klar, dass Torsten und Madeleine, eine frühere Jugendleiterin in unserem Alter ihr gemeinsames Mannschaftslosglück gefunden hatten. Die jungenhafte Madeleine wirkte eher ruhig und zurückhaltend. Sie trug eine graublonde Kurzhaarfrisur. Doch ihre blauen Augen zeigten Vorfreude an der geplanten Veranstaltung.

»Na gut, Torsten, dann sehen wir mal, was wir noch von früher drauf haben.«

Jeanette hielt das nächste Papierröllchen hoch und funkelte mir zu.

»Andi, wer wird mit Dir spielen?«

Ihr Lächeln entblößte ihre wunderschönen, gleichmäßigen Zähne. Und im nächsten Röllchen stand der Name, ihr Name: Jeanette. Was für ein Zufall, dachte wahrscheinlich nicht nur ich und errötete. Das anschwellende Gelächter machte mir klar, dass unsere angeregte Unterhaltung und damit meine Faszination für diese Frau nicht verborgen geblieben waren.

Im Verlaufe des Abends verwandelten wir uns alle in die jungen Teenager aus damaligen Zeltlagerzeiten zurück.

Wir balancierten zur Tanzmusik gekochte Eier zwischen den Stirnflächen. Jeanette und ich fielen zurück, da wir - nervös durch diese Nähe - unser Ei als erste der Schwerkraft opferten. Wir lachten und glucksten. Rücken an Rücken aneinandergebunden, sollten wir dann mit Accessoires von Berühmtheiten verkleidet erraten, wen der jeweils Andere darstellte. Man durfte nicht reden, aber summen oder Geräusche imitieren. Torsten mühte sich als John Wayne mit einer Reiterpose und kläglichen Coltschüssen ab, während Madelaine es als Pippi Langstrumpf mit der Zopfperücke und dem berühmten Lied von der unvollkommenen Arithmetik leichter hatte. Sie wirbelte Torsten den Haarschmuck schwungvoll an die Wangen und summte ihm den Ohrwurm zu.

Ich versuchte, als Charlie Chaplin mit den Füßen seinen Gang zu imitieren, und stieß mit meinem Hut sanft gegen Jeanettes Nacken, vergeblich. Doch wer war Jeanette. Sie ließ eine wallende Lockenmähne nach hinten fallen, sodass mir die blonden Perückenhaare rechts und links ins Gesicht fielen. Und dann spürte ich ihren Fuß, wie er unter dem Stuhl meinen Unterschenkel entlangstrich. An meinen Hinterkopf gelehnt summte sie: › I wanna be loved by you...‹. Da wusste ich, dass Marylin Monroe mich bezirzte. Wir lagen auf dem zweiten Platz, als das letzte Spiel begann.

»Ihr habt hier eine Schale mit Gummibärchen und eine leere hier. Wer als erstes den ganzen Inhalt von links nach rechts in die Schalen transport ..., ihr wisst schon, der hat gewonnen.«

Der Gag war, dass wir auf Kissen kniend die Hände hinten zusammen gebunden hatten. Es blieben nur die Mundwerkzeuge. Ja, ich erinnerte mich an dieses gefährliche Spiel. Sabine, die damals bei der Jugendfreizeit dabei war, fand es nicht witzig, dass ich wohl bewusst nicht mit ihr zusammen gelost wurde. Mir wurde schwindelig, bei der Vorstellung gleich von Jeanette Gummibärchen aus ihren zarten Lippen zu übernehmen, ohne dabei die Beherrschung zu verlieren. Cool bleiben, dachte ich mir und unsere Münder berührten sich. Wärme, Samt, Atem, alles wirbelte in mir. Die anderen drei Paare waren schon beim dritten Transportgut, als wir uns vom ersten Bärchen trennten. Da ging Jeanette auf´s Ganze und sammelte den Rest der süßen Bande mit einem Schwung in ihren Mund. Ich starrte mit großen Augen auf die vollen Backen, sie kam mir entschlossen entgegen. Ihre Augen funkelten und sie bedeutete mir mit einer ruckartigen Kopfbewegung, ich solle jetzt mitmachen. Unsere Lippen berührten sich fest und heiß. Sie öffnete ihren Mund, langsam und in sinnlicher Pose, den Kopf über mich gebeugt, entließ sie einen nach dem anderen die glitschigen, süßen Bären in meinen Mund. Sie schob sie mit der Zunge, glitt mit den Lippen an meinen entlang. Ich hätte lauthals vor Lust gestöhnt, wenn mir dann nicht die ganze Ladung aus meinem Mund gefallen wäre. Schließlich, wie das Umlegen eines Schalters, entfernte sie sich von mir und rief: » Los, toute suite, jetzt rein damit. Wir haben gewonnen!«

Sie hüpfte, wie ein junges Schulmädchen, doch die anderen empörten sich.

»C´est une imposture! Das ist Betrug«, ereiferte sich Madelaine. Jeannette aber schmunzelte nur.

»Die Regeln wurden eingehalten, wir haben nicht die Hände benützt.«