Session Erde - Sanne Hipp - E-Book

Session Erde E-Book

Sanne Hipp

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Beschreibung

Nach dem Auszug ihrer beiden Kinder beschäftigt sich die Psychologin Vera Schütte mit ihren eigenen Wünschen. Der Umzug aufs Land bringt ungeahnte Veränderungen mit sich. Eine neue Praxis, neue PatientInnen, KollegInnen und Frauen für erotische Dienstleistungen werden zu GeburtshelferInnen für ein neues Leben.

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Session Erde

SANNE HIPP

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Über die Autorin

Danksagung

Für Theresa

Eins

Nichts wie raus.

Vera wusste, es gab Kollegen, die acht Therapiestunden pro Tag absolvieren konnten. Acht Sitzungen! Veras maximales Tagespensum waren sechs, ehe ihre Konzentration sie verließ, ihre Empathie. Ihre Geduld sowieso. In letzter Zeit.

Nur mit Mühe hatte sie die heutigen sechs Sitzungen hinter sich gebracht. Jetzt wollte sie nur noch eines: an die frische Luft.

Die Wanduhr im Therapiezimmer zeigte halb vier. Noch keine Zeit, um Feierabend zu machen. Gewöhnlich erledigte sie ihre schriftlichen Arbeiten bis mindestens sieben Uhr abends. Das heute würde eine Ausnahme bleiben. Vera schnappte sich die Outdoorjacke, schlüpfte in ihre Wanderschuhe. Nicht einmal die geschlossene Wolkendecke und der einsetzende Nieselregen konnten sie jetzt davon abhalten, wandern zu gehen.

Ihr Handy summte. Eine SMS von ihrer Tochter. Hi, Mum. Lust auf skypen? Vera war überrascht. Skype? Marie hatte wohl wieder die Möglichkeit, ins Internet zu kommen. Beruhigend! Trotzdem konnte sie ihr jetzt nicht antworten. Eilig steckte Vera das Handy in die Tasche und zog die Haustür hinter sich zu.

Jedes Mal aufs Neue fiel der Stress von ihr ab, sobald die Stiefel festgezurrt waren und ihre Füße Halt fanden in dem ledernen Bett der Schuhe. Mit ausholenden Schritten marschierte sie los, spürte, wie ihre unteren Extremitäten warm wurden, Kontakt mit dem Asphalt aufnahmen. Es erdete Vera schlichtweg. Alles in ihr kam wieder ins Lot, alles Angestaute floss davon. Warum es so war, konnte sie nicht sagen. Die Gründe spielten auch keine Rolle. Es war einfach so.

Schließlich war sie keine Analytikerin, sondern Verhaltenstherapeutin, da fragte man nicht zu sehr nach dem Warum.

Vera überquerte die Lenne, ging über den geschotterten Weg bergauf. An der roten Bank bog sie ab, folgte dem Wanderweg. Es waren noch zwei Kilometer bis zum Aussichtsturm des Wilzenberges.

Ihr Handy summte, als sie nach dem Emporsteigen der neunundneunzig Stufen ihren Atem zur Ruhe kommen ließ, und ihr Blick über die noch farblose Landschaft schweifte. Kalter Wind pfiff durch Jacke und Hose. Sie griff in die Tasche. Das Handy fühlte sich warm an in der Hand. Sein zorniges Vibrieren unterstrich die Vehemenz, mit der Marie sie zu erreichen versuchte.

Hi, Mum. Skypen wir?, las Vera nach zweimaligem Tippen auf ihr Display. Es gab nicht auf, das Kind. Ein Lächeln schlich sich in Veras Gesicht, als sie sich ihrer Tochter erbarmte und eine kurze Antwort eintippte.

Bin gerade wandern. Melde mich, sobald ich zuhause bin, okay?

Freu mich , kam Sekunden später zurück.

Nachdenklich verstaute Vera das Handy. Mum war die übliche Bezeichnung, die Marie für sie verwendete. Obwohl … beim letzten Telefonat hatte sie sie anders bezeichnet. Was war das nur gewesen? Es gelang ihr nicht, sich zu erinnern.

Einige Zeit widerstand Vera noch dem kalten Wind, sah sich satt an der Landschaft, die zu ihren Füßen lag. Berge, Bäume, Sträucher, kahl und leblos, stellenweise versunken in klammem Nebel. Alles hier wartete auf Wärme, auf die Rückkehr ins Leben. Sie seufzte. Es würde ihr erstes Frühjahr im Sauerland sein. Sie konnte es kaum erwarten. Entschlossen wandte sie sich ab, stieg die Stufen hinunter und entschied sich für einen unbefestigten Pfad als Rückweg.

Der Geruch von frischer Erde drang ihr in die Nase, als die Profile der Stiefel tiefe Abdrücke im morastigen Untergrund hinterließen. Und mit jedem Schritt flohen die destruktiven Gedanken aus ihrem Kopf, stellten sich Ruhe und Hoffnung ein und gaben ihr die Gewissheit zurück, dass ihre Arbeit durchaus Sinn machte und dadurch die Welt ein kleines bisschen besser werden könnte.

Trotz der fortgeschrittenen Tageszeit riss die Wolkendecke auf, legte hier und da tiefblaue Flecken frei. Sie verbanden sich zu einem immer schöner werdenden Himmel, was Vera in Staunen versetzte. Zaghafte Sonnenstrahlen durchdrangen kurz vor Tagesende die dumpfe Feuchtigkeit des Waldes. Jetzt war es nicht mehr weit. Es brach heraus, das neue Leben. Bald. Aus jeder Knospe, aus dem Boden unter ihren Füßen. Aus ihr.

Sie hatte sich nach dem Landleben gesehnt. Hier, in der Heimat ihrer Großeltern.

Vera näherte sich der Häuserzeile am Ortsrand. Die Häuser waren weiß verputzt mit schwarzem Fachwerk und schieferfarbenem Dach. Naturschiefer, wie bei den meisten Gebäuden dieser Stadt, die nicht mehr als sechstausend Einwohner zählte. Sie bot Vera alles, was sie zum Leben brauchte. Zumindest fast alles.

Ein Glückskind, wer hier eine Arbeit fand. Ihr war es gelungen. Die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein-Westfalen hatte im Hochsauerlandkreis einen Platz für eine psychotherapeutische Praxis zu vergeben. Natürlich hatte sie sich sofort beworben. Und sie hatte Glück. Bereits sechs Wochen später bekam sie die Zusage zur Übernahme eines vollen Kassensitzes, schon ab dem nächsten Quartal.

Aus lauter Euphorie hatte Vera eine Flasche Sekt geöffnet, die sie zur Hälfte wegschütten musste, weil sich niemand zum Mitfeiern fand. Ihre beiden Kinder wohnten nicht mehr bei ihr, die Kollegen hatten abends keine Zeit, die Nachbarn waren nicht zuhause. Nun denn! Sie stieß mit sich selbst an und freute sich darauf, nun ins Sauerland umzusiedeln. Bereits im Vorjahr hatte sie dort das Fachwerkhäuschen ihrer Großeltern in Wilzenhausen gekauft oder besser gesagt, sie hatte ihre Miterben ausbezahlt. Es geschah damals aus einem unerklärlichen Bauchgefühl heraus. Vera verband glückliche Kindheitserinnerungen mit diesem Haus, unbeschwerte Stunden. Sie wollte es niemand anderem überlassen. Nun würde dieses Haus ihr neues Heim werden. Ohne lange zu überlegen, hatte sie ihre gesamten Ersparnisse in seine Renovierung gesteckt. Es bekam ein neues Schieferdach, eine neue Heizanlage, Trennwände wurden eingerissen, Außenwände gedämmt, verputzt, gestrichen. Sogar die Malereien der Balken ließ sie erneuern, nicht überstreichen. So hatte es nichts von seinem ursprünglichen Charme eingebüßt.

Erwartungsvoll öffnete Vera ihre hölzerne Gartentür. Das rostige Scharnier quietschte. Es gefiel ihr. Es klang wie ein schüchterner Gruß. Vera hatte sich vorgenommen, die Tür erst zu schmieren, wenn sie sie nicht mehr willkommen hieße. Ein Weg aus Natursteinplatten führte zur Haustür.

Sie verweilte einen Augenblick. Da hing es, ihr erst gestern angebrachtes Schild. Die Firma hatte verspätet geliefert. Bereits zur Praxiseröffnung hätte es dort hängen sollen. Der Ärger darüber hinderte Vera jedoch nicht daran, sich darüber zu freuen. Es hatte Stil und war von einer schlichten Unaufdringlichkeit. Auf durchsichtigem Glas stand da mit anthrazitfarbener Schrift:

Dipl.- Psychologin Vera Schütte

Psychologische Psychotherapeutin

Sprechstunde nach Vereinbarung

Ein dezenter Hinweis auf die Praxis, die sich im Erdgeschoss befand. Vera war wirklich zufrieden mit dieser Glas-Lösung, wollte sie doch so wenig wie möglich von dem Putz und dem Fachwerk der Häuserfront verdecken.

Sie öffnete die Tür und folgte einem fest eingeschliffenen Ritual: Dreckige Wanderstiefel ausziehen, auf eine gusseiserne Abtropfvorrichtung stellen, Jacke an den Äußersten der fünf Haken hängen, Treppe emporsteigen. Ins obere Stockwerk, in dem sich ihre private Wohnung befand. Hölzerne Stufen aus nachgedunkeltem Eichenholz. Nicht ganz so dunkel wie das freigelegte Gebälk, das ihr Wohnzimmer von der Küche trennte.

Weitere Stufen führten ins Dachgeschoss, wo es noch zwei Zimmer und ein Bad gab. Vera hatte diese Etage für Gäste vorgesehen und natürlich speziell für ihre beiden Kinder, falls sie sich zu einem Urlaub einfinden sollten. Sie hatten es angekündigt, nach dem Semester, nach der großen Reise.

Vera ging ins Badezimmer. Auch dies war ein festes Ritual, wenn sie nach Hause kam. Auf die Toilette, Hände waschen. Erst dann war sie daheim. Sie ging in die Küche, setzte Wasser auf, freute sich auf einen Tee.

Mit einer großen Tasse dampfendem Darjeeling schlurfte sie in den warmen Filzpantoffeln ins Wohnzimmer, machte sie es sich auf dem Sofa gemütlich, steckte sich ein Kissen in den Rücken und nahm voller Vorfreude den Laptop auf ihre Schenkel. Dieses Gespräch könnte länger dauern.

Kaum hatte sie Skype geöffnet, erklang auch schon das Signal. Sie klickte auf das Symbol »Hörer abnehmen« und Maries Gesicht erschien.

»Mutschi, Mutschi, wie geht es dir?« Ungeduldig grinste sie ihr entgegen.

Das war es gewesen, was ihr nicht eingefallen war: Mutschi! Warum klingt es so anders als Mum? Es klang nach verschrobener, alter Mutter. Oder kam nur ihr das so vor?

»Mir geht’s blendend, bin gerade erst heimgekommen. Ich sehe, die Zivilisation hat dich wieder und du bist wohlauf! Das beruhigt mich ungemein. Wie geht es dir, mein Schatz?« Bevor Veras Frage in Kanada ankam, hörte sie Maries Stimme.

»Gefällt es dir immer noch, dein Sauerland?« Ihre Tochter machte eine Pause, wohl um den nächsten Satz besser wirken zu lassen. »Kanada ist echt der Hammer!«

Mit kurzen Fragen hatte Vera wohl mehr Chancen, zu ihr durchzudringen. Vera wiederholte: »Wie geht es dir, mein Schatz!«

»Super! Hier ist es wunderschön!«

»Wie spät habt ihr jetzt?«

»Vormittags elf Uhr.«

»Musst du nichts arbeiten? Ich dachte, du machst nun work und travel und die Abenteuer sind vorbei.«

Marie kicherte. »Die Kanutour war so umwerfend schön, Mutschi, das muss ich dir unbedingt erzählen, wenn ich dich besuche. Und Bilder habe ich gemacht! Tausende von Bildern!«

Ich freu mich schon darauf. Vera lächelte nur.

»Wir fahren gleich einkaufen. Mit dem Motorboot. Ich habe jetzt noch etwas Zeit, da dachte ich, ich melde mich mal bei dir.«

»Was für eine gute Idee!«

»Heute Nachmittag fangen wir an, die Scheune zu streichen.« Maries grundständige Ausbildung zur Maler- und Lackiererin machte sie zu einer begehrten Kandidatin bei der work und travel Börse. »Hier sind alle so furchtbar gut drauf. Das kannst du mit Deutschland gar nicht vergleichen.«

Das glaubte Vera gerne, vielleicht mit einer Ausnahme. »Im Sauerland sind auch alle ganz entspannt.«

»Ja, ja. Ein kleines Dorf inmitten von Deutschland widersetzt sich dem auferlegten Stress und lebt in Ruhe und Harmonie … Wie heißt es noch mal? Wo wohnst du jetzt?

»In Wilzenhausen. Und es hat Stadtstatus, bitteschön.«

»Klingt das goldig. Meine Mum flüchtet sich nach Wilzenhausen!« Marie lachte ausgiebig, dann wurde sie ernst. »Ich kann kaum erwarten, es zu sehen. Sobald es geht, komm ich dich besuchen, Mutschi.«

»Mach das. Es ist sehr gemütlich geworden. Möchtest du es gleich sehen?« Vera grinste, ihr Blick verließ Marie, glitt in die Ferne. »Es ist wunderschön geworden, Liebes«, seufzte sie provokant. Sie wusste genau, dass es für ihre Tochter ein Wermutstropfen auf der Kanutour gewesen war, keine Internetverbindung gehabt zu haben. Es war ihr deshalb leider nicht mehr möglich gewesen, die abschließenden Renovierungsarbeiten zu verfolgen.

»Zeig endlich her!«, raunzte Marie.

Nun hob Vera den Laptop vom Schoß, setzte sich in Bewegung und ließ die Webkamera über die ausgesuchten Möbel streifen. Antike Einzelstücke kombiniert mit Massivholz-Maßanfertigungen des Bücherregals und der Schrankwand, den handgewobenen groben Teppich im Wohnzimmer, der Bank vor dem Holzofen. Allein diese war ein Gedicht. Eine Rarität vom hiesigen Trödelhändler.

Marie stöhnt auf. »Oh, ist das schön!«

Vera zeigte ihr den Flur, die Küche, stieg sogar die Treppe hinab zu ihrem Büro. Dann folgte noch eine Außenaufnahme. Nur knapp, denn viel mehr würde der Funkradius ihres Routers nicht zulassen.

»So was will ich auch!«, hörte sie ihre Tochter sagen.

»Für Studenten gibt’s so was nicht«, parierte Vera. Die sollen mal klein anfangen, dachte sie für sich. Schließlich war es bei ihr auch ein weiter Weg gewesen. Dieses Jahr würde sie fünfundvierzig Jahre alt werden.

»Schade«, seufzte Marie, dann grinste sie schon wieder. »Ist mein Zimmer oben bezugsfertig? Kann ich es bald in Beschlag nehmen?«

»Komm erst, wenn es mit deinem Studium gut anläuft, und du dir eine Lernstruktur erarbeitet hast«, schlug Vera vor, obwohl sie es kaum aushielt, sie endlich hier zu haben. Übernächsten Monat würde Marie mit ihrem Studium starten. Da warteten andere Herausforderungen auf sie, als ihre Mutter zu besuchen. Marie würde sich schwertun mit Regeln, mit festen Plänen zum Lernen, Vorlesungsplänen, BAföG-Anträgen und allem Bürokratischen, was so ein Studium mit sich brachte. Vera hoffte inständig, dieses neue Haus möge auch für ihre beiden Kinder etwas wie eine Heimat werden, in die sie immer mal wieder zurückkehrten. Eine Wohlfühloase in konsequentem Landhausstil.

»Mein Nachbar hat mir Holz angeliefert, drei Kubikmeter. Der ganze Schuppen ist voll. Zurzeit heize ich nur damit und hab die Ölheizung ausgestellt. Holz ist richtig günstig hier.«

»Bei uns auch. Vancouver und Wilzenhausen scheint sich zu ähneln. Wer weiß, vielleicht gefällt es mir ja richtig gut bei dir.« Wie gönnerhaft Töchter in einem gewissen Alter sein können.

»Einkaufen geh ich gleich auch noch, allerdings ohne Motorboot, und fülle meine Vorräte auf. Es gibt alles vor Ort, was ich brauche. Ein Bäcker, ein Discounter mit einem Grundsortiment an Lebensmitteln und ein Feinkosthändler. Eine Post haben wir auch noch, so eine kleine eben, und sogar …« Vera lacht auf, »einen Tattooladen. Vielleicht lasse ich mir ein hübsches Tattoo stechen.« Sie hatte sich während der letzten Tage ernsthaft darüber Gedanken gemacht. Ein kleines schwarzes Tattoo, wenn es ihr Mut zuließe.

»Aber Mutschi, dafür bist du doch viel zu alt!«

Vera antwortete nicht.

»Das sieht nicht gut aus auf welker Haut.«

Auf welker Haut? Wer har diesem Kind erlaubt, so mit seiner Mutter zu reden?

»Sag mal …«

»Ne, wirklich. Das ist nur was für junge Leute. Du musst einem doch nicht alles nachmachen!«

Jetzt ist aber Schluss!

»Mein liebes Kind, ich mache der Jugend überhaupt nichts nach. Wenn du das Gefühl hast, dich zu wenig von deiner Mutter abgrenzen zu können, liegt das sicher an dem jugendlichen Alter, das ich hatte, als du auf die Welt gekommen bist. Nicht jeder hat das Glück, eine so junge Mutter zu haben. Ich kann nichts dafür, dass dir meine Jeans wie angegossen passen. Und auch, wenn du mir das letzte Mal schon gesagt hast, mein Musikgeschmack sei ja fast gleich wie deiner, dann tut mir das wirklich leid, wenn dich das in eine Identitätskrise führt. Da kann ich dir nicht helfen! Deshalb werde ich nicht ausschließlich Udo Jürgens hören …« Sie redete sich in Rage.

Marie lachte laut am anderen Ende der Welt. »Ach, Mutschi, ich liebe dich auch!«

Veras Ärger fiel augenblicklich in sich zusammen. Resigniert seufzte sie auf und ergab sich Maries Erzählungen, die begeistert von den Menschen auf der Farm plauderte, als hätte es das grundsätzliche Statement ihrer Mutter gerade eben nicht gegeben. Sie beschrieb ausführlich das gute, gesunde und vor allen Dingen üppige Essen. Erwähnte wie nebenbei, dass man in Kanada seinen Hanf üblicherweise im Gewächshaus kultivierte … Vera hörte ihr zu, warf nur ab und zu einen kurzen Kommentar ein. Marie schwatzte noch eine gute Weile, bevor sie seufzte: »Ich muss Schluss machen. Wir gehen jetzt.«

»Mach es gut, mein Schatz! Es freut mich, dass es dir so gut geht. Viel Spaß weiterhin und pass auf dich auf.«

»Klar doch, Mutschi!« Ihre Lippen spitzten sich. »Kuss, Kuss!«

»Ich küsse dich auch, Liebes.« Ein nachsichtiges Lächeln blieb in Veras Gesicht, als sie abschaltete.

Sie trank ihre Tasse mit dem halbwarmen Tee aus und schenkt sich neuen ein. Die Letzte, dann würde sie in ihr Büro ins Erdgeschoss gehen und noch einen Therapieverlängerungsantrag für ihren Patienten mit der komplizierten Mutterbindung schreiben. Was für ein Segen, dachte sie noch, zwei erwachsene Kinder zu haben, die nun ihre eigenen Wege gehen. Sie konnte sich überaus glücklich schätzen.

Zwei

Zwischen den Sitzungen des nächsten Tages überlegte Vera, wie sie am besten einen kollegialen Austausch realisieren könnte. Bei ihren Arbeitsstellen im Krankenhaus und in einer Beratungsstelle mit mehreren Psychologen und Pädagogen war Supervision immer etwas Vorgegebenes. Als Inhaberin einer Einzelpraxis musste sie sich nun selbst darum kümmern. Abgesehen davon brachte es Fortbildungspunkte, wenn man nachweisen konnte, einer Supervisionsgruppe anzugehören. Sie überflog die Anzeigen in der Fachzeitschrift.

Aufgeschlossene Supervisionsgruppe sucht noch weitere Mitglieder. Gerne Verhaltenstherapeut*in.

Das würde passen. Als Treffpunkt war Siegen angegeben. Es läge in dem Radius, in dem sie bereit war, Fahrten auf sich zu nehmen. Vera schätzte, mit dem Auto würde sie dorthin eine Stunde brauchen. Es gab eine Telefonnummer, die Vera augenblicklich in ihr Telefon tippte. Ein Freizeichen ertönte, dann ein Ansagetext. Das Übliche. Der behandelnde Psychologe befindet sich gerade in einer Sitzung. Die Sprechzeiten sind immer nachmittags zwischen zwei und drei Uhr. Vera legte auf. Er hatte eine sympathische Stimme, ihr Kollege. Nicht sonderlich tief, und er betonte seine Worte so nett.

Es läutete. Ihre nächste Patientin. Vera stand auf und ging zur Tür. Sie öffnete wie immer persönlich, begrüßte sie freundlich und bat sie ins Therapiezimmer.

»Sie können hier ablegen«, sagte Vera und deutete im Vorbeigehen auf die Garderobe im Flur.

Die zierliche Frau nahm Platz in einem der drei Schaukelstühle, die um einen kleinen hölzernen Tisch standen. Vera trat zum Schreibtisch, griff nach ihrer Akte, dem Schreibblock und einem Bleistift, setzte sich ihr gegenüber. Außer den Schaukelstühlen befand sich noch eine Ledercouch in dem Zimmer, falls es jemandem schlecht werden sollte. Aber in den drei Wochen ihres Bestehens hatte noch keiner davon Gebrauch gemacht.

Ihre Patientin trug die Haare heute offen, überhaupt sah sie irgendwie lebendiger als beim letzten Treffen aus. Sie fing an zu erzählen, kaum dass sie Platz genommen hatten. Vera sah sie aufmerksam an, hielt wichtige Stichworte fest.

Nach fünfundvierzig Minuten fasste Vera zusammen, und sie überlegten beide eine machbare Hausaufgabe bis zum nächsten Mal. Ihre Patientin machte gute Fortschritte, trotzdem mahnte Vera sie, sich nicht zu viel vorzunehmen.

»Es tut mir richtig gut, bei Ihnen zu sein, Frau Schütte. Was ne klasse Idee von Ihnen, ins Sauerland zu kommen. Jute Leute können wir hier immer jebrauchen. Das wollte ich Ihnen doch zwischendurch mal sagen.«

»Danke, das freut mich.« Veras Lächeln war echt, wenn auch zurückhaltend. Sie begleitete ihre Patientin zur Tür und verabschiedete sie höflich. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass sie jetzt eine Stunde Mittag machen konnte, ehe sie nochmals bei ihrem Kollegen anrufen würde. Sie ging zurück ins Besprechungszimmer, um zu lüften. Es lag ein Hauch von Parfüm im Raum, das nicht ihres war. Es roch angenehm. Trotzdem öffnete sie das Fenster, schloss die Tür hinter sich und begab sich in den oberen Stock um sich etwas zu Mittag zu kochen.

Es war kurz vor zwei, als Vera ihr Geschirr in die Spülmaschine räumte und nach unten eilte. Sie hatte nicht viel Zeit, um zu telefonieren. Gleich würde der Nächste kommen. Glücklicherweise hatte er schon angekündigt, heute nicht ganz pünktlich zu sein.

Geh schon ans Telefon, dachte sie inständig, als sie das Freizeichen hörte.

»Bertram Dümpelmann, Psychologische Praxis. Guten Tag.«

»Hier ist Vera Schütte, guten Tag, Herr Kollege. Ich rufe an wegen der Anzeige bezüglich der Supervisionsgruppe. Kann ich mich da noch anschließen?«

»Aber natürlich.« Ihr Kollege war entzückt. »Das ist die beste Nachricht des heutigen Tages. Wo sind Se denn wech?«

»Bitte?« Vera hatte immer noch Probleme bei manchen einheimischen Formulierungen.

»Wo wohnen Sie denn?«, verbesserte sich ihr Kollege in neutrales Schriftdeutsch.

»Ich bin vor vier Wochen hierher nach Wilzenhausen gezogen …«

»Wilzenhausen? Das kenne ich gut.« Seine Stimme schraubte sich eine Nuance höher. Vera lächelte darüber. Es hätte sie auch gewundert, wenn er den Ort nicht gekannt hätte.

»Dann kann ich also beim nächsten Treffen dabei sein?«

»Aber natürlich! Nette Leute nehmen wir immer. Du bist doch … ich darf du sagen, nicht wahr? Du bist lesbisch?«

Was? Vera war sich plötzlich sicher, etwas überlesen zu haben. »Äh … wäre das die Voraussetzung für eine Aufnahme?«

»Wir sind eine Gruppe schwul-lesbischer Psychologen, das stand ja auch deutlich in der Anzeige.« Kein Hauch eines Vorwurfes, nur aufrichtige Enttäuschung.

Vera ärgerte sich. Zu blöd aber auch. Es hätte bestimmt Spaß gemacht mit ihm und seinen Kollegen. Er klang so unkompliziert.

»Tut mir leid, wahrscheinlich habe ich das überlesen. Habe ich als Hetera keine Chance …?«

Ihr Kollege schien ihre Frage überhört zu haben. »Wir haben eine dabei, die Frauke, die ist bi. Wir haben es uns damals auch zuerst überlegt, ob das passt, uns dann aber einstimmig dafür entschieden. Wenn du also …«

Vera war schon dabei zu sagen, dass sie damit auch nicht dienen könne, als es ihr plötzlich einfiel. Doch, da gab es einmal eine Frau in ihrer Studienzeit. Bei dieser ausschweifenden Semesterkennenlernparty. Im Nachhinein könnte man sagen, sie war damals etwas abgestürzt. Auf jeden Fall verbrachten sie die Nacht eng aneinander gekuschelt mit ihrer Kommilitonin. Es war nichts Weltbewegendes passiert. Also nicht so richtig. Aber immerhin. Es gab ein weibliches Wesen in ihrem Bett und sie hatten sich eindeutig anders berührt als unter guten Freundinnen üblich.

»Ja«, begann sie vage, »ich hatte einmal …«

»Prima!«, freute sich ihr Kollege. »Dann begrüße ich dich ganz herzlich in unserer Supervisionsgruppe.« Er machte eine andächtige Pause. Dann lachte er: »Ach, ist das aufregend! Noch eine bisexuelle Kollegin!«

Veras Türglocke machte sich bemerkbar.

»Oh. Mein nächster Patient kommt. Ich muss Schluss machen.«

Bertram Dümpelmann nannte ihr noch rasch seine Adresse.

»Wir treffen uns das nächste Mal bei mir. Mittwochabend um sieben. Passt das auch für dich?«

Sie versicherte ihm, dass sie kommen werde.

»Ich freu mich auf dich, Vera. Bis dahin!«

»Bis dann.«

Geräuschvoll pustete sie die Luft aus ihren aufgeblasenen Backen, als sie auflegte. Dann umspielte ein Grinsen ihre Mundwinkel. So schnell kann es gehen mit der Bisexualität. Aber Vera hatte kein schlechtes Gewissen. Warum auch. Laut Kinsey Studie sind sowieso fünfzig Prozent aller Erdenbürger bisexuell.

Sie mahnte sich selbst zu einer neutralen Mimik, als sie ihrem Patienten die Tür öffnete und ihn hereinbat.

Drei

Am Mittwoch sagte Veras Fünf-Uhr-Patientin wegen einer Erkältung ab. Umso besser. Dann brauchte sie sich nicht so zu beeilen. Für die Fahrt nach Siegen würde sie eine Dreiviertelstunde benötigen. Im Feierabendverkehr könnte es allerdings länger dauern. Und vielleicht fand sie keinen Parkplatz vor dem Haus und musste ein Stück zu Fuß gehen. Vera plante also ein Zeitpuffer von einer Viertelstunde ein. Mist. Sie hatte gar nicht gefragt, ob sie etwas mitbringen sollte. Vor lauter Eile, weil es bereits geklingelt hatte. Bestimmt würde es bei ihrem Kollegen ein paar Schnittchen geben oder irgendetwas zu knabbern. Und wenn nicht? Ihr Magen knurrte. Vera entschied, auf dem Weg einen Stopp an der Bäckerei einzuschieben. Schleunigst stellte sie sich unter die Dusche und zog sich um. Mit noch feuchten Haaren schnappte sie ihre Tasche, nahm den Autoschlüssel und den Hausschlüssel vom Haken. Ein Blick auf die Uhr. Höchste Zeit. Pünktlichkeit war ihr wichtig.

Die Bäckerei war leer. Eine Verkäuferin putzte bereits die Verglasung. Eine zweite reinigte die Bleche im Hintergrund. Als die Frau an der Glasvitrine sie kommen sah, legte sie den Lappen beiseite, wusch sich die Hände und schenkte ihr trotz des fortgeschrittenen Arbeitstages ein freundliches Lächeln.

»Guten Abend! Was darf’s denn sein?«

»Hallo«, grüßte Vera zurück. »Ich bin mir noch nicht sicher. Ich wollte meinen Kollegen irgendetwas mitbringen.« Veras Blick huschte über das schon ausgedünnte Angebot.

»Was Herzhaftes?«

»Ja.«

»Dann nehmen Se doch ein paar von den Pizzataschen oder was von der Lauchquiche. Die is auch wirklich gut.«

Vera überlegte kurz. Es war nicht ausgemacht, dass sie etwas mitbrachte. Nachher wäre es vielleicht zu viel.

»Kann man die Pizzataschen einfrieren? Zur Not meine ich, wenn nicht alle wegkommen …« Vera kam es irgendwie blöd vor, sich darüber Gedanken zu machen.

»Ja. Das können Se gut machen. Hab ich auch schon getan. Einfach auser Truhe nehmen und für fünf Minuten aufbacken … dann sind die wieder wie frisch.« Ihrer Mimik nach zu urteilen hätte sie jederzeit einen Eid darauf geschworen. »Ich schieb die sowieso jedes Mal in Backofen, bevor ich eine esse, ach, was sach ich, da kann ich leicht zwei verdrücken … die sind ja echt ein Gedicht!«

Vera lächelte. »Gut. Dann nehme ich fünf.«

Die Verkäuferin griff sich eine Tüte, packte die Pizzataschen ein. Eine blieb einsam auf dem Blech zurück.

»Wissen Se was? Ich pack Ihnen die dazu. Die kauft eh niemand mehr heute.« Sie lachte. Ein angenehm volles Lachen.

Vera betrachtete sie unauffällig. Sie war groß und stabil gebaut. Eine Taille war bei ihr nicht mehr zu erkennen, ihre großen Brüste ruhten auf ihrem vorstehenden Bauch. Sie musste von der Qualität ihrer Backwaren wirklich überzeugt sein.

»Sonst noch was?«

»Danke, nein.«

Ihre kurzen, emsigen Finger tippten überraschend flink den Betrag ein. »Fünffünfundsiebzig.«

Vera legte das abgezählte Geld auf den dafür vorgesehenen Teller, ignorierte versehentlich die offene Handfläche, die sich ihr entgegenstreckte. Zu spät hatte sie diese bemerkt. Das war ihr nun peinlich. Sie hält mich hoffentlich nicht für arrogant.

Mit betont freundlicher Stimme sagte sie: »Vielen Dank, und einen schönen Feierabend.«

»Ihnen auch. Ach ne! Se müssen ja noch arbeiten.« Die Stimme der Verkäuferin hob sich wie bei einer Frage an.

»Nur Supervision.«

»Super … was? Was is dat denn?« Jetzt fiel sie ganz in ihren Sauerländerdialekt, der bisher nur im Ansatz herauszuhören war.

Vera war von der Frage so verblüfft, dass sie es ihr erklärte.

»Wir reflektieren im Kollegenkreis unsere schwierigsten Fälle.« Die Frau weiß doch gar nicht, was du beruflich tust, schalt sie sich im selben Augenblick. Aber das war unnötig. »Ahhhh, jetzt komm ich drauf! Sie sind die Psychiaterin, die neuerdings bei mir umme Ecke wohnt. Und ich hab schon die ganze Zeit überlecht!«

Vera lächelte höflich. »Psychologin«, sagte sie leise.

»Na, dat is ja mal nett. Dann jenießnen Se mal alle Mann de Pizzataschen, dann wird das schon was werden mit der … Superversion.«

Supervision. Macht ja nichts.

»Vielen Dank. Einen schönen Abend, noch«, sagte Vera.

»Gucken Se mal wieder bei uns rein.«

Ja, das würde sie tun, nahm sich Vera vor. Seit sie nach Wilzenhausen gezogen war, hatte sie hier nur ein einziges Mal hier eingekauft. Damals war diese Verkäuferin nicht im Laden gewesen. An sie hätte sich Vera bestimmt erinnern können. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie zeitlich in Verzug gekommen war. Hoffentlich war nicht so viel Verkehr auf den Straßen.

---ENDE DER LESEPROBE---