Zu viel zum Glück - Sanne Hipp - E-Book

Zu viel zum Glück E-Book

Sanne Hipp

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Beschreibung

Helsiniki 2022. Das Nachbarland sorgt für erschütternde Schlagzeilen. Was bedeutet es da schon, wenn ein einzelnes persönliches Leben durcheinandergerät? Nachdem die Ärztin Kristiina Lundt schon wieder einem Mann den Laufpass gibt, fühlt sie sich zu ihrer eigenen Verwunderung zu einer neuen Kollegin hingezogen. Als sie es schafft, diese Gefühle zuzulassen, hat dies noch weitere Folgen für sie. Ihre Einstellung, was sie wirklich zum Leben braucht, verändert sich. Liegt das an der neuen Liebe, die sie befähigt, überflüssigen Ballast loszulassen?

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Zu viel zum Glück

SANNE HIPP

Inhalt

Klappentext

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Danksagung

Zur Autorin

Klappentext

Helsiniki 2022. Das Nachbarland sorgt für erschütternde Schlagzeilen.

Was bedeutet es da schon, wenn ein einzelnes persönliches Leben durcheinandergerät? Nachdem die Ärztin Kristiina Lundt schon wieder einem Mann den Laufpass gibt, fühlt sie sich zu ihrer eigenen Verwunderung zu einer neuen Kollegin hingezogen.

Als sie es schafft, diese Gefühle zuzulassen, hat dies noch weitere Folgen für sie. Ihre Einstellung, was sie wirklich zum Leben braucht, verändert sich. Liegt das an der neuen Liebe, die sie befähigt, überflüssigen Ballast loszulassen?

»Zu viel zum Glück« ist eine leicht lesbare Lovestory zwischen zwei sehr unterschiedlichen Frauen.

Terve

Ukraina

(Eino Leino)

Dies ist ein fiktiver Roman. Auch wenn manche Orte, die im Buch erwähnt werden, existieren, ist die Beschreibung und Handlung reine Fiktion. Dasselbe gilt für die Beschreibung der Figuren. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind dem Zufall geschuldet und auf keinen Fall beabsichtigt.

Dieses Buch wurde in Bezug auf »Sensibles Schreiben« gegengelesen.

Das im Roman vorkommende Adjektiv Schwarz ist bewusst großgeschrieben. Es soll unterstreichen, dass es sich nicht um die Beschreibung einer ›biologischen‹ Eigenschaft der Protagonistin handelt, sondern um eine gesellschaftspolitische Zugehörigkeit.

Eins

Der Wunsch nach einer Zigarette überkam sie, obwohl sie seit Jahren nicht mehr rauchte. Der Anblick des vollen Aschenbechers auf dem kleinen Alutisch ekelte sie an. Trotzdem hätte sie eine Zigarette jetzt nicht abgeschlagen. Durch das gekippte Fenster des Personalaufenthaltsraums hörte sie nach den aktuellen besorgniserregenden Tagesnachrichten eine unpassend fröhliche Stimme aus dem Radio: »Der Wetterbericht für Helsinki in den kommenden Tagen: Ein Tief aus Richtung Schweden sorgt für Schneeregen, zeitweise Graupel, Windböen zwischen 55 km/h und 80 km/h. Durchschnittliche Temperaturen zwischen einem und minus fünf Grad.« Kristiina stieß die Luft aus. Das Wetter am Wochenende würde also richtig mies werden. Na toll! Dann passte es wenigstens zu ihrer Stimmung.

Jetzt eine Zigarette anstecken und den ersten Zug ganz tief inhalieren – hier draußen auf dem nassen Balkon – und ihre Wut zusammen mit dem Rauch einfach aus sich herausblasen in diese klamme Graupelschauerluft.

Wie kam sie eigentlich dazu, sich so darüber aufzuregen – in Anbetracht der Nachrichten zur Weltlage, denen sie vor dem Wetterbericht gelauscht hatte? In Europa war Krieg, verdammt nochmal – und sie regte sich über ihren Ex auf!

Und trotzdem: Wenn er es noch einmal wagen sollte, hier in der Ambulanz aufzutauchen, würde sie ihn anzeigen. Das war Stalking! Und nein, die kleine Wunde an seinem Finger war kein Grund gewesen, sie aufzusuchen.

Kristiina hatte letzte Woche die Beziehung beendet – Schluss. Punkt. Was war daran so schwer zu verstehen? Sie wollte nicht das ganze Leben mit ihm verbringen.

»Schon als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, wusste ich es: Du bist die Frau meiner Träume«, hatte er ihr bei jeder Gelegenheit versichert.

Sie hingegen konnte sich nicht vorstellen, dass er der Vater ihrer Kinder werden sollte – er so wenig wie der davor. Es war ein Kreuz mit den Männern heutzutage! Warum langweilte sie sich mit ihnen nach ein paar Monaten? Da half auch das innigste Liebesbekenntnis nichts. Was hatte er ihr gerade gesagt? »Von deinem langen blonden Haar war ich auf Anhieb verzaubert.« Oh mein Gott, wie kitschig!

Aufgewühlt fuhr sie sich mit der Hand durch die Strähnen. Zur Not würde sie es abschneiden lassen. Kristiina sog die feuchtkalte Luft in ihre Lungenflügel. Sollte sie Marianne, ihre Pflegefachkraft, um eine Zigarette anschnorren?

Während ihres gesamten Studiums hatte sie geraucht und es erst aufgegeben, als sie hier als Ärztin angefangen hatte. Sie wollte gesünder leben, mit gutem Beispiel vorangehen. Mit gutem Beispiel. Haha! Sie machte einen Mann nach dem anderen unglücklich. Aber was sollte sie dagegen tun? Es passierte einfach immer wieder. Sie presste die Lippen zusammen.

»Kristiina?«

Kristiina zuckte zusammen, als sie Mariannes Stimme hinter sich vernahm.

»In zehn Minuten kommt ein Verkehrsunfall rein. Polytrauma. Die von drüben haben angerufen. Wir können uns schon mal startklar machen.«

Die von drüben waren die von der chirurgischen Unfallstation – die schweren Unfälle, die die nächsten Wochen und Monate in der Klinik bleiben würden. Kristiinas Einsatzgebiet war die chirurgische Ambulanz. Zu ihnen kamen die Patienten mit alltäglichen Verletzungen, Hausunfällen oder Wunden. Natürlich kam es vor, dass auch Patienten, die noch selbstständig ins Krankenhaus kommen konnten, stationär aufgenommen werden mussten. Es hing von ihrer Diagnose und Behandlung ab. Die Ambulanz war das schönste Aufgabengebiet, das sie sich vorstellen konnte. Hier hatte sie es jeden Tag mit neuen Menschen und neuen Verletzungen zu tun, und man konnte rasch mit vergleichsweise wenigen Mitteln helfen. Entsprechend beliebt war die Abteilung bei den auszubildenden Ärzten, von denen sie täglich welche um sich hatte. Vor Jahren war sie selbst als Facharztanwärterin hierhergekommen und geblieben. Aber jetzt musste sie sich mit um das Polytrauma kümmern.

»Ich komme gleich, Marianne«, antwortete sie. Sie holte noch einmal tief Luft, versuchte, sich für das, was auf sie zukäme, zu motivieren. Dann folgte sie ihr hinein in die von Desinfektionsmitteln geschwängerte Luft. Ein solcher Zugang kurz vor Feierabend bedeutete Überstunden. Aber jetzt machte das nichts mehr: Es wartete niemand mehr auf sie. Und wenn sie heute nach Hause käme, würde sie als Erstes eine rauchen.

Der Schneeregen hörte nicht auf. Gut, dass sie einen Großteil ihres Heimweges mit der Tram zurücklegte. Als Kristiina endlich den Schlüssel in die Haustür steckte, tropfte das Wasser vom Ärmel der gefütterten Wachsjacke.

Zum Umfallen müde betrat sie ihre Wohnung in dem mehrstöckigen klassizistischen Haus der Altstadt. Sie zog die nassen Schuhe aus, hing die Jacke an die Garderobe, ging ins Bad, warf alles, was sie anhatte, in den Wäschesack und stellte sich unter die Dusche. Nach einem letzten kalten Guss wickelte sie sich in ein vorgewärmtes Handtuch und betrachtete ihr Gesicht in dem riesigen Badezimmerspiegel. Ihre Augen waren von dunklen Ringen umgeben, ihre Haut war fahl. Zwei Pickel waren da an ihrem Kinn. Sie fielen auf bei ihrer sonst so ebenmäßigen Haut. Mit ihren blauen Augen und dem hellblonden Haar war sie eine typische Vertreterin des hiesigen Frauentypus. Wie würde sie wohl mit ganz kurzem Haar aussehen? Sie versuchte, es sich vorzustellen. Ihr Haar war noch nie kürzer gewesen als schulterlang – höchste Zeit für etwas Neues!

Auf dem Weg nach Hause hatte sich Kristiina eine Packung Zigaretten gekauft. Jetzt riss sie die goldene Banderole auf und klopfte einen Glimmstängel heraus. Noch nie hatte sie in der Wohnung geraucht. Ihre Eltern übrigens auch nicht, denen sie die repräsentative Wohnung in bester Lage zu verdanken hatte. Vor zwei Jahren waren sie ins seniorengerechte Wohnen an die Küste umgezogen. Eigentlich hatten sie geplant, hier bis ins hohe Alter zu bleiben und hatten dafür auch schon eine Eineinhalb-Zimmer-Wohnung auf demselben Stock für die eventuell benötigte Pflegekraft dazu gekauft – eine Wohnung, die nie benötigt wurde. Ihr Vater konnte aufgrund seines Hüftleidens keine Treppen mehr gehen, und in den alten Häusern konnte man keinen Aufzug nachrüsten. Ein Umzug war also unumgänglich gewesen. Beide Eltern hatten sich gewünscht, Kristiina möge hier einziehen – ein Wunsch, dem sie sehr gerne nachgekommen war. Nun lebte sie also mitten im Zentrum – in der Nähe des Doms und der Markthalle. Eine traumhafte Lage!

Ihre Eltern hatten ihr beide Wohnungen vor Kurzem überschrieben. Eine andere Lösung hatte es nicht gegeben, wenn sie beide behalten wollte, denn die Erbschaftssteuer in Finnland war so hoch, dass sie die kleine hätte verkaufen müssen. Aber das wollte sie nicht. Die kleinere gegenüber bot sich als praktisches Urlaubsdomizil an für die im Ausland lebende Verwandtschaft.

Jetzt, da Erik, ihr Verflossener, nicht mal mehr die Wochenenden hier verbrachte, fühlte sie sich in der großen Wohnung etwas verloren.

Sie nahm sich einen Unterteller als Aschenbecher, warf sich in ihren Stressless-Sessel, inhalierte tief und fühlte sich überraschend gut dabei. Nach ein paar Zügen schaltete sie den Fernseher an, folgte den Nachrichten – die Lage in Europa war ein Desaster. Niemand hätte, trotz aller Vorbehalte, damit gerechnet, dass es so rasch dazu kommen könnte.

Ihr eigenes Leben erschien ihr unverdient beschützt und behütet. In schwere Gedanken versunken rauchte sie zu Ende, drückte die Kippe auf dem Unterteller aus, ging in die weitläufige Küche zum Kühlschrank, öffnete das kleine obere Gefrierfach, holte eine Pizza Margherita heraus und schob sie in den Ofen. Die Uhr am Backofen zeigte an, dass sie genau sieben Stunden freihatte – zum Essen, Entspannen, Schlafen. Dann begann ihr Alltag von Neuem. Es war okay so – ihr fehlte nichts. Während ihre Freundinnen heirateten und Kinder bekamen, war sie diejenige, die immer wieder in den Single-Status zurückgeworfen wurde. Aber der Gedanke, sich lebenslang an ihren Freund zu binden, machte ihr jedes Mal Angst.

Unter den aktuellen Umständen erschien es ihr ganz passend, Single zu sein. Hätte sie als Ehefrau und Mutter nicht noch mehr Angst vor der Zukunft? Warum aber hatte sie plötzlich wieder Lust auf eine Zigarette?

Zwei

Der folgende Tag in der Klinik war stressig. Kristiina überließ die Ambulanz am Vormittag einem Arzt im Praktikum, weil die Unfallstation sie zur Hilfe rief. Eine Radfahrerin war unter die Räder eines Lastkraftwagens gekommen, noch dazu hatte ein Bauarbeiter von einer sich lösenden Verschalung schwere Quetschungen erlitten.

So verflog der Vormittag und Kristiina verschwendete keinen Gedanken an ihren Ex, der hoffentlich nie wieder in der Klinik auftauchen würde. Die üblichen Patienten der Ambulanz mussten geduldig stundenlange Wartezeiten auf sich nehmen.

Kristiina schlug erst wieder am Nachmittag dort auf, arbeitete sich wieder routiniert durch die Behandlungszimmer. Behandelte verunglückte Handwerker und Heimwerker, die sich ihre Gliedmaßen durch die Bedienung irgendwelcher Gerätschaften ramponiert hatten.

»Wie kannst du dir so eine Wunde zuziehen? Hast du dir die Gebrauchsanweisung des Akku-Naglers nicht durchgelesen, bevor du ihn eingeschalten hast?«, fragte Kristiina gewollt provokativ und verwickelte ihren Patienten in ein fachliches Gespräch, während sie ihm zusammen mit Marianne einen Nagel aus dem Handteller entfernte. Das vertrauliche du war in Finnland die übliche Anrede.

»Du hast Glück! Du hast keine Sehne und kein größeres Blutgefäß erwischt. Gut gezielt«, schob sie etwas sarkastisch hinterher.

Der Heimwerker nickte nur, war schon weniger blass. Er würde ihr nicht vom Stuhl kippen. Sie desinfizierte die Wunde, überließ Marianne, sie zu verbinden.

Zum Patienten sagte sie: »Wir sehen uns morgen zur Nachkontrolle«, und war schon ein Zimmer weiter.

Dort wartete eine Frau, die in einen rostigen Nagel getreten war. Er hatte die dünne Sohle ihres Flipflop durchdrungen und war tief in das Fußgewölbe eingedrungen. »Warum trägst du Flipflops um diese Jahreszeit?«

»Ich war dabei, die Werkstatt auszubauen, und da lag noch allerlei Zeug auf dem Boden.«

»Na, das muss man aber hinbekommen!«, meinte Kristiina anerkennend. »Wie sieht es mit deiner Tetanusimpfung aus? Bist du auf dem Laufenden?«

Die Frau war es nicht, wie sich herausstellte. Bis Marianne zu ihr stieß, war der Nagel entfernt, die Wunde gespült und desinfiziert. Während Marianne den Fuß verband, injizierte Kristiina der Frau eine Auffrischimpfung und füllte den Nachweis dazu aus. Sie waren ein eingespieltes Team. Kristiina wünschte sich noch mehrere so zuverlässige Fachkräfte wie Marianne, aber in letzter Zeit merkte man auch in ihrem Krankenhaus den Fachkräftemangel. Der Krankenhausbetreiber war sogar dazu übergegangen, Kräfte aus dem europäischen Ausland anzuwerben. Mehr noch, vor Kurzem war eine ganze Gruppe thailändischer Krankenpflegeschülerinnen auf Station gewesen. Man muss sich selbst um seinen Nachwuchs kümmern, hatte der Krankenhausdirektor gemeint. Bis jetzt konnten die jungen Menschen noch nicht einmal Finnisch. Das konnte heiter werden! Kristiina stellte sich schon darauf ein, ihre Anweisungen eines Tages auf Englisch geben zu müssen.

Ihr Handy summte. Im Gipsraum wartete ein Patient mit Unterschenkelfraktur.

»Bin kurz drüben bei den Gipsern«, sagte Kristiina. Marianne nickte. Die Bezeichnung Gipser war hier allgemein verständlich. So bezeichneten sie die Kollegen, die die gebrochenen Gliedmaßen mithilfe aushärtender Materialien ruhigstellten, auch wenn diese heutzutage meist nicht mehr aus Gips waren.

Das Röntgenbild hing bereits an der Leuchtwand, als sie den Behandlungsraum betrat. Der Fachpfleger stand daneben und betrachtete es. Kristiina begrüßte den Verunglückten und warf ebenfalls einen gründlichen Blick darauf. Sie besprachen sich kurz. Der Knochen war nicht verrutscht, er zeigte lediglich einen Haarriss. Es würde ausreichen, das Bein stillzulegen. Allerdings war es jetzt schon sehr geschwollen.

»Wir bringen heute erst mal eine Schiene an«, klärte sie den Patienten auf. »Dazu bekommst du ein paar Krücken. Ab jetzt gilt null Belastung. Auch nicht kurzfristig. Schmerzmittel verschreibe ich dir ausreichend. Komm morgen wieder vorbei, spätestens übermorgen, bis dahin sollte die Schwellung zurückgegangen sein. Dann machen wir einen festen Gips dran. Hast du noch Fragen?«

Der junge Mann verneinte. Er hatte Schmerzen, man sah es ihm an. Kristiina tippte auf seine Schulter. »Wird schon. Bei jungen Menschen wachsen Knochen schnell wieder zusammen. Und von dem Schmerzmittel nimmt du jetzt gleich eine Tablette und eine zur Nacht.«

Der Fachpfleger war erfahren genug, um zu wissen, was zu tun war. Ihre Anwesenheit war nicht weiter nötig. Sie arbeitete bereits seit einigen Jahren mit ihm zusammen. Nicht jedem könnte sie das Anpassen und Anbringen einer Schiene selbst überlassen. Wieder zahlte es sich aus, eingearbeitete Kollegen um sich zu haben. Hoffentlich blieb das so. Zwei Stellen auf der Unfallchirurgie waren vakant, konnten hausintern nicht besetzt werden und waren jetzt ausgeschrieben worden. Sie alle hofften, Kollegen zu finden, die dazu noch zu ihrem Team passten.

Der Tag flog nur so dahin.

»Punkt sechs Uhr wird mir heute aber die Arbeit aus der Hand fallen«, warnte Kristiina ihre Kollegen vor. »Wenn dann noch jemand da ist, müsst ihr euch Hilfe von Station holen.« Der normale Betrieb der Ambulanz ging bis sechzehn Uhr. Da sie zeitlich in Verzug waren, hatten sie es bereits akzeptiert, zwei Stunden länger dazubleiben.

»Alles klar. Kein Problem. Wir kriegen das hin«, meinte Marianne in dem Tonfall eines Kindes, das zum ersten Mal allein gelassen wurde.

Kristiina lachte.

»Ach, übrigens«, fiel Marianne noch ein. »Heute wollte sich eine bei uns vorstellen. Hat zumindest die Verwaltung angekündigt. Eine Frau aus der Uniklinik Tampere. Das wäre natürlich ein guter Fang.«

»Mit Berufserfahrung?«, hakte Kristiina nach.

»Ja. Ein paar Jahre septische Chirurgie und Unfallchirurgie. Der Chef wollte sie heute durchs Haus führen. Ich weiß nicht, wo die bleiben.«

»Na, dann. Legen wir uns mal ordentlich ins Zeug, dass sie sich für uns entscheidet«, antwortete Kristiina und grinste.

Marianne verzog den Mund. »Ich denke, es liegt voll und ganz an den Ärzten hier in der Abteilung. Sagt doch jede Studie, dass die Berufszufriedenheit immer von den direkten Vorgesetzten abhängt.«

Kristiina lachte auf und verschwand ein Zimmer weiter. Natürlich war es übertrieben. Was zählte, war ein gutes Team, in das man passte. Trotzdem rief sie: »Ich gebe mein Bestes!«

Es war wirklich Punkt sechs Uhr, als Kristiina ihre Drohung wahr machte und den Dienst quittierte, obwohl noch einige Personen im Wartebereich saßen. Aber das waren alles nur noch Bagatellfälle. Ihr Kollege würde gleich übernehmen. Sie schnappte sich ihre Jacke aus dem Aufenthaltsraum und hatte nur noch einen Gedanken: ihren Termin beim Friseur in einer halben Stunde. Würde sie es sich wirklich trauen, ihr Haar ganz kurz schneiden zu lassen?

»Kristiina, hast du noch kurz Zeit?«, rief Marianne ihr zu, als sie schon auf dem Gang war. Sie stand zehn Meter von ihr entfernt, neben ihr eine Schwarze Frau. Ihr beinahe schulterlanges Afro-Haar trug sie offen.

»Sorry! Bin schon weg!«, rief sie über die Schulter. Wieder so eine Auslandspraktikantin! Aber bitte nicht mehr jetzt. Sie war so gut wie weg.

Sie hastete die Treppen ins Erdgeschoss hinab, verließ die Klinik durch den Haupteingang und nahm die nächste Tram. Einsteigen konnte sie in alle, denn alle fuhren von hier in Richtung Hauptbahnhof, in Richtung Innenstadt. Sie liebte die stilvollen gelb-grünen Straßenbahnen Helsinkis mit ihren Oberleitungen. Sie fuhr zwanzig Minuten durch die Innenstadt, vorbei an mächtigen Häuserzeilen aus Ziegel oder Granit, vorbei an Einkaufspassagen, Bars und Restaurants, Parks und Denkmälern. Sie liebte Helsinki. Diese Stadt verband die Vorzüge einer Großstadt mit viel Natur, der Nähe zum Hafen, zum Meer. Dazu bot sie einem alle Möglichkeiten zur sportlichen Betätigung und ermöglichte ihr, sich täglich ihrem Hobby zu widmen – dem Ganzjahresschwimmen.

Sie stieg aus, ging die letzten Meter zu Fuß zu dem großen Einkaufszentrum. Zwei Minuten vor der abgemachten Zeit betrat sie den großzügigen Salon im Erdgeschoss.

»Moi, moi! Ich bin so was von pünktlich!«

Die drei Kundenplätze in dem geschmackvoll eingerichteten Raum waren alle besetzt. Ein junger Friseur lachte und kam auf sie zu. Er umarmte sie. Sein Name war Mikko. »Hei! Schön dich zu sehen! Du kommst zum Schneiden? Das Übliche?«

»Nein, kurz.« Kristiina hatte bei der Anmeldung mit seiner Mutter telefoniert, einer Friseurmeisterin. Ihr gehörte der Salon. Hatte sie es ihrem Sohn nicht so weitergegeben, oder wollte er es nicht glauben?

»Wie? Kurz?«, fragte Mikko. Wenn sie seinen Gesichtsausdruck richtig las, wollte er es nicht verstehen.

Also sagte sie in aller Deutlichkeit: »Ganz kurz. Zentimeterkurz. Raspelkurz.«

Entsetzen spiegelte sich in seinem Gesicht. Es verunsicherte sie nicht, was sie selbst überraschte. Seine Mutter überließ ihre Kundin für einen Moment sich selbst und trat zu ihnen. Sie wusste Bescheid.

»Möchtest du dein Haar spenden?«, fragte sie, während ihre Hand bereits prüfend durch Kristiinas Strähnen fuhr. »Du hast wunderbares Haar. Damit könnte man anderen eine Perücke machen, wenn du es wirklich abschneiden lassen möchtest.«

Kristiina überlegte nicht lang. »Das wäre eine großartige Sache!«

»Weißt du schon, welche Frisur du haben möchtest?«, fragte Mikkos Mutter sie. Jetzt wusste Kristiina auch wieder ihren Namen. Sie hieß Sirpa.

»Noch nicht so ganz«, antwortete Kristiina.

»Dann zeige ich dir jetzt mal ein paar Bilder. Wenn du möchtest, schneide ich sie dir«, sagte sie. Sie wechselte einen Blick mit ihrem Sohn. Der schien ganz erleichtert darüber zu sein.

»Ich bin in zehn Minuten mit meiner Kundin fertig. So lange kannst du hier mal den Ordner mit den Frisuren durchsehen«, sagte Sirpa.

Ein guter Vorschlag. Sie würde sich gerne in ihre Hände begeben. Sirpa hatte am meisten Berufserfahrung und dazu verfügte sie selbst über einen sehr pfiffigen Stil. Kristiina setzte sich also und begann zu blättern. Ihre Frisur müsste unkompliziert sein, wie bisher auch. Durchbürsten, trocknen lassen, fertig. Was sie nicht leiden konnte, waren lange Fönaktionen vor dem Spiegel. Außerdem vertrug sich das nicht mit dem Ganzjahresschwimmen. Haare mussten in jeder Situation leicht zu händeln sein.

Nach den zehn Minuten rief Sirpa sie an den hinteren Platz.

»Und, hast du was gefunden, was dir gefällt?«

Kristiina zeigte auf eines der Models und beide Frauen berieten sich. Dann ging alles ganz rasch. Die Friseurmeisterin flocht ihrer Haare zu einem Zopf, schnitt ihn ab, legte ihn beiseite. Es erschien ihr beinahe so, als wollte sie ihr den Anblick nicht mehr zumuten. Dann bat Sirpa sie ans Waschbecken, schamponierte, massierte, wusch und spülte ganz schön lange. Es fühlte sich sehr ungewohnt an. Sirpa frottierte die kurzgewordenen Haare, kämmte sie, und Kristiina erkannte sich schon jetzt kaum mehr im Spiegel. Sirpa rollte einen fahrbaren Sattelstuhl und ihr Beistelltischchen heran und machte sich ans Werk. Noch mehr Strähnen fielen. Sirpa arbeitet schnell. Immer wieder fuhr ihr Kamm durch Kristiinas Haar, es folgten ein paar Schnitte und ein prüfender Blick in den Spiegel. Sie unterhielten sich nebenbei, beziehungsweise Sirpa erzählte ihr etwas. Irgendetwas von ihrer Sommerhütte, Kristiina nahm es nur am Rande wahr. Sie verfolgte ihre Veränderung im Spiegel. Der Schnitt war asymmetrisch. Stellenweise sehr kurz, im Nacken sanft auslaufend.

Es dauerte noch eine ganze Weile. Sirpa schnippelte hier und da noch ein bisschen, bis sie endlich zufrieden sagte: »Du kannst mit etwas Gel deine Haare jetzt ganz unterschiedlich stylen. Je nachdem, was du vorhast. Entweder nach vorn oder elegant nach hinten gekämmt«, sagte sie bewundernd und demonstrierte es ihr. Mikko und die anderen beiden Kundinnen des Salons verfolgten Kristiinas Veränderung mit unverblümtem Interesse. Unüblich bei den sonst so zurückhaltenden finnischen Frauen. Ein letzter Blick in den Spiegel zeigte sie, wie sie schon immer gewesen war: auffallend schön und selbstbewusst.

Auch Sirpa war sichtlich stolz. »Gerne würde ich von dir ein Foto machen und es in unser Schaufenster stellen. Das wäre eine tolle Werbung für uns. Was meinst du?«

Kristiina zögerte.

»Kunden, die sich dazu bereit erklären, bekommen dreißig Euro Nachlass«, versuchte Sirpa sie zu überreden.

Kristiina lächelte. Das Geld kümmerte sie weniger als die Tatsache, öffentlich in einem Schaufenster ausgehängt zu werden. Aber letztendlich willigte sie ein.

---ENDE DER LESEPROBE---