Seven Sins 5: Zerstörerischer Zorn - Lana Rotaru - E-Book
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Seven Sins 5: Zerstörerischer Zorn E-Book

Lana Rotaru

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Beschreibung

»Bald, Avery. Bald treffen wir einander.« Die gemeinsamen Erlebnisse in der Hölle haben nicht nur Avery verändert. Sie erkennt ihren einst so fürsorglichen Schutzengel und besten Freund Adam kaum wieder. Während er sich immer weiter von ihr zurückzieht, scheint der temperamentvolle Seeleneintreiber Nox endlich aufzumachen. Doch kann sie ihm wirklich trauen? Schließlich hängt ihr Seelenheil davon ab – buchstäblich! Aber bevor sich Avery über Nox' Absichten klar werden kann, steckt sie schon mitten in der nächsten Sündenprüfung. Und dieses Mal hat Satan selbst die Finger im Spiel ... Sieben Sünden. Sieben Prüfungen. Und ein höllischer Vertrag ... Lass dich von Lana Rotarus neuester Urban-Fantasy-Serie in eine faszinierende Welt entführen, in der die Sünde und die Freiheit deiner Seele unausweichlich miteinander verbunden sind. Ein absolutes Must-Read für Fans von Fantasy-Liebesromanen der besonderen Art! Leserstimmen auf Amazon: »Wow, Wow, Wow!!!« »Perfekt, um aus der Realität zu verschwinden, sich zu verlieren und mitzufühlen.« »Einfach großartig.« »Unerwartet und fesselnd.« »DEFINITIV IST DIESES BUCH JEDE SEITE WERT ...« //Dies ist der fünfte Band der romantischen Urban Fantasy-Reihe »Seven Sins«. Alle Bände der Buchserie bei Impress: -- Seven Sins 1: Hochmütiges Herz -- Seven Sins 2: Stolze Seele -- Seven Sins 3: Bittersüßes Begehren -- Seven Sins 4: Neidvolle Nähe -- Seven Sins 5: Zerstörerischer Zorn -- Seven Sins 6: Maßlose Macht -- Seven Sins 7: Grauenhafte Gier//

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Lana Rotaru

Seven Sins 5: Zerstörerischer Zorn

»Bald, Avery. Bald treffen wir einander.«Die gemeinsamen Erlebnisse in der Hölle haben nicht nur Avery verändert. Sie erkennt ihren einst so fürsorglichen Schutzengel und besten Freund Adam kaum wieder. Während er sich immer weiter von ihr zurückzieht, scheint der temperamentvolle Seeleneintreiber Nox endlich aufzumachen. Doch kann sie ihm wirklich trauen? Schließlich hängt ihr Seelenheil davon ab – buchstäblich! Aber bevor sich Avery über Nox’ Absichten klar werden kann, steckt sie schon mitten in der nächsten Sündenprüfung. Und dieses Mal hat Satan selbst die Finger im Spiel  …

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Vita

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Lana Rotaru lebt zur Zeit mit ihrem Ehemann in Aachen. Der Lesewahnsinn begann bei ihr bereits in früher Jugend, die sie Stunde um Stunde in einer öffentlichen Leihbibliothek verbrachte. Nun füllen Hunderte von Büchern und E-Books ihre Wohnzimmer- und E-Reader-Regale und ein Ende ist nicht in Sicht. Eine Lesepause legt sie nur ein, wenn sie gerade selbst an einem neuen Roman schreibt.

Wenn das Herz verletzt ist, dann ist die Sprache stürmischer als der Wind auf dem Meer.

Chinesisches Sprichwort

WAS BISHER GESCHAH …

Mein Name ist Avery Marie Harper und dem Teufel gehört meine Seele. James Goose, der erfolgsgeile Ex-Mann meiner Mom, der uns vor zwölf Jahren verließ, verkaufte sie, um seine Schauspielkarriere anzutreiben.

Der Vertrag sollte an meinem achtzehnten Geburtstag durch meinen Tod in Erfüllung gehen, doch Adam, mein bester Freund und persönlich zugeteilter Schutzengel, eröffnete mir eine Möglichkeit, um meine Freiheit zu erkämpfen. Dafür muss ich acht Prüfungen bestehen, die mit je einer Todsünde und dem dazugehörigen Höllenfürsten in Verbindung stehen, ehe ein Treffen mit Luzifer den Abschluss bildet.

Zum Glück muss ich mich diesen Herausforderungen nicht allein stellen. Sowohl Adam als auch Nox, der verstoßene Engel, der für die Hölle als Seelenjäger arbeitet, stehen mir zur Seite – wenn auch anfangs eher unfreiwillig, da ihre Leben seit meiner Zustimmung zu den Prüfungen mit meinem verknüpft sind. Das heißt, mein Scheitern bedeutet ihr Scheitern. Mein Tod bedeutet ihren Tod.

In den vergangenen Monaten ist es uns jedoch entgegen aller Wahrscheinlichkeit gelungen, drei der acht Prüfungen zu bestehen: den Hochmut im Feenreich, die Wollust beim Blutkarneval und schließlich den Neid in der Unterwelt. Gerade Letzterer hat uns einiges abverlangt. Seit wir wussten, dass meine Seele in Wahrheit die eines Seraphs mit dem klangvollen Namen »Hope« ist und ich in meinem früheren Engelleben mit Adam verheiratet war, hatte sich die Beziehung zwischen mir und meinem besten Freund drastisch ins Negative verändert. Aber auch meine Liebe zu Nox wurde auf eine harte Probe gestellt, als Emilia, Nox’ ehemalige Busenfreundin und Teilzeitgeliebte, plötzlich gemeinsam mit James auftauchte. Denn abgesehen davon, dass sie nun ebenfalls als Dämonin für die Hölle arbeitet, obwohl sie einst ein Engel war, der anschließend zu einem Menschen wurde, hat sie sich auch noch zum Ziel gesetzt, Nox zurückzugewinnen.

Am liebsten hätte ich die Höllenbarbie einzig und allein dafür in die Unterwelt zurückgeschickt. Aber leider war das nicht so einfach. Es stellte sich heraus, dass Emilia der Auslöser für das Kainsmal-Tattoo auf meinem Handgelenk war. Dies macht sie – neben dem Umstand, dass mich dadurch weder Adam noch Nox berühren konnten, ohne grauenhafte Schmerzen zu erleiden – auch zu unserer wichtigsten Informationsquelle bezüglich der Neidprüfung. Zudem war sie unsere einzige Chance, in die Hölle zu gelangen, nachdem uns die Vampirclananführerin Gräfin Annabelle de LaCroix unfreiwillig verraten hatte, dass wir dort nach dem Brudermörder Kain suchen mussten.

Dass mir die Höllenbarbie im Zuge unserer Reise in die Unterwelt mehr als einmal das Leben gerettet hat, schrieb ich jedoch nicht ihrer Herzensgüte zu. Sie tat es allein, um Nox zu beschützen. Denn um ihn zu retten, musste Emilia auch mich vor einer Ewigkeit in der Hölle bewahren.

In der Unterwelt angekommen, mussten wir uns einer Begegnung mit Cerberus, verschiedenen Dämonenangriffen und einem Gräberlabyrinth stellen, ehe wir die eigentliche Kampfarena betreten konnten. Der Höllenfürst Leviathan, der seit Jahrtausenden in Kains Körper feststeckte, gab sich anfangs als mein Seraphenhalbbruder Kegan aus, um laut eigener Aussage dafür zu sorgen, dass wir es auch unbedingt bis zu seiner Prüfung schafften.

Und der Höllenfürst, der für seine kranken Psychospielchen berühmt war, wurde seinem Ruf mehr als gerecht.

In einer auf meinem Unterbewusstsein basierenden Parallelwelt musste ich mich allein gegen Leviathan behaupten, der unsere beiden Körper durch das Kainsmal-Tattoo miteinander verbunden hatte. Dadurch erlitt jeder von uns zwangsläufig jede Verletzung, die den anderen ereilte.

Mit diesem Trick und einer ordentlichen Gehirnwäsche hätte er mich beinahe gebrochen. Doch es gelang mir, unsere Verbindung zu trennen und den Höllenfürsten anschließend zu vernichten.

TEIL 1

PROLOG

Der Klang hastiger Schritte war das einzige Geräusch, das die Stille der sternenlosen Nacht in der englischen Kleinstadt Chester störte. Kein Verkehrslärm, kein Gejohle betrunkener Personen, die durch die Straßen zogen, um von einem Pub zum nächsten zu gelangen, ja nicht einmal der Wind wagte es, sein nächtliches Lied anzustimmen. Einzig und allein der rhythmische Takt klackernder Absätze hallte wie ein pulsierender Herzschlag von den hoch aufragenden Wänden der nah beieinanderstehenden Häuser wider – ein Herzschlag, der der blonden Frau, die zu dieser spätnächtlichen Stunde unterwegs war, fehlte.

Doch weder ihr ausbleibender Puls noch die schwindelerregenden High Heels, deren Absätze für den Lärm verantwortlich waren, hinderten sie daran, mit der Grazie und der Anmut einer Raubkatze durch die schmale Gasse zu pflügen. Dabei hetzte sie nicht freiwillig wie ein gejagtes Tier durch die Finsternis. Wenn sie jedoch dem unweigerlichen Tod entkommen wollte, der ihr an den Fersen haftete, hatte sie keine andere Wahl.

Wen hatte man wohl dieses Mal geschickt, um sie zu töten? Zwar kannte sie die Antwort auf diese Frage nicht, aber es musste jemand sein, der wusste, was er tat. Denn im Gegensatz zu seinen Vorgängern ließ sich dieser Verfolger nicht so einfach abschütteln.

Ein rascher Blick über die Schulter, doch das Bild, das sich ihr bot, war dasselbe wie vor Sekunden. Die zwei Meter breite Gasse lag einsam und verlassen da, gehüllt in undurchdringliche Finsternis. Sogar die Ratten, die hier für gewöhnlich hausten, hatten klugerweise das Weite gesucht.

»Wie lange willst du noch vor mir weglaufen, Holly?«

Die tiefe, rauchige Stimme mit dem osteuropäischen Akzent schien aus allen Richtungen zu kommen. Sie war wie Gas, breitete sich rasch aus und verpestete die Atmosphäre, bis jeder noch so winzige Winkel damit erfüllt war. Selbst die blonde Frau – Holly – blieb davon nicht verschont. Mit jedem ihrer überflüssigen Atemzüge nahm sie die gefühlskalten Worte in sich auf.

»Du weißt, dass du keine Chance gegen mich hast. Früher oder später wirst du dich ergeben müssen. Warum beschränkst du die Erniedrigung nicht auf ein Minimum und akzeptierst dein Schicksal mit Würde?«

Holly bleckte die Zähne und wandte sich wieder nach vorne. Zwar hatte sich soeben die Frage geklärt, wer hinter ihr her war, aber hätte sie die Antwort gekannt, hätte sie ihre Neugier mit mehr Vorsicht genossen. Nun blieb ihr nichts anderes übrig, als sich der peinigenden Wahrheit zu stellen, dass ihr Verfolger recht hatte. Gegen ihn hatte Holly keine Chance. Trotzdem drosselte sie ihr Tempo nicht, sondern mahnte sich zur Eile. Gleichzeitig mischte sich Stolz unter die stetig intensiver werdende Todesangst. Es war ihr gelungen, die berühmt-berüchtigte Gräfin Annabelle de LaCroix derart zu erzürnen, dass diese den fähigsten Killer des gesamten Vampirclans auf sie gehetzt und dadurch sogar auf einen ihrer persönlichen Bodyguards verzichtet hatte.

Nicht schlecht!

»Du hättest nach deinem Angriff auf das Menschenmädchen nicht abhauen sollen«, sprach die Stimme weiter und versetzte Holly damit einen schmerzhaften Stich. Für ihren Verfolger mochte diese Jagd nur ein Job sein. Ein Auftrag, den er im Namen seiner Clananführerin ausführte. Aber für Holly war es etwas Persönliches. Immerhin hatte sie noch vor Kurzem nicht nur das Bett mit ihrem Verfolger geteilt, sondern auch ihr Herz.

»Dann wäre womöglich ein Clanverstoß deine alleinige Strafe gewesen. Aber jetzt möchte Annabelle deinen Kopf auf einem Silbertablett präsentiert bekommen.« Anmutig wie eine Katze landete ein Mann vor Holly und verursachte dabei nicht das leiseste Geräusch. Sein schnörkelloser schwarzer Anzug samt passendem Hemd hob die militärisch kurz geschorenen Haare hervor, die wiederum die Härte und die Unnachgiebigkeit betonten, die in seinen blutroten Augen zu erkennen waren. Die Hände locker vor seinem Schritt gefaltet, wirkte seine Haltung ungezwungen und leger. Doch Holly wusste, dass der Schein trog. Dieser Mann – oder besser gesagt dieser Vampir – war ein gnadenloser Killer. Eine skrupellose Bestie, die sich in allen Hinrichtungsformen verstand, die es gab. Sein Repertoire an Grausamkeiten reichte von einem schnellen und sauberen Tod bis hin zu wahren Kunstwerken aus Blut und abgetrennten Gliedmaßen.

»Serjoscha«, begrüßte Holly ihr Gegenüber mit verengten Augen und schob trotzig das Kinn vor. Sie wusste selbst nicht, weshalb sie Sergej mit einem Kosenamen ansprach – schließlich gehörte dieser ebenso der Vergangenheit an wie ihre Gefühle für den Vampir.

»Ich hoffe in deinem eigenen Interesse, dass du nicht so naiv bist und daran glaubst, dass Annabelle mich verschont hätte«, spottete Holly. »Gerade du müsstest wissen, wie sehr sie mich verabscheut. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis sie einen Grund finden würde, mich ohne Konsequenzen beseitigen zu können.« Der letzte Satz troff vor Verbitterung, und Tränen stahlen sich in Hollys Augen. Die Vampirin hatte keine Angst vor dem Tod. Auch haderte sie nicht mit ihrem Schicksal. Als sie vor mehr als zwei Monaten dieses Menschenmädchen gebissen hatte – jenes mit dieser grauenvoll strahlenden und ekelerregend reinen Aura, in die der Seelenfänger Nicholas Nightingale derart vernarrt war –, war ihr bewusst gewesen, dass sie nicht ungeschoren davonkommen würde. Und selbst wenn man Holly die Möglichkeit geboten hätte, die Zeit zurückzudrehen, würde sie ihre Tat nicht ungeschehen machen. Viel eher würde sie dem Mädchen buchstäblich den Kopf abreißen, um sicherzugehen, dass es auch tatsächlich starb.

Sergej verzog keine Miene, und als er sprach, war seine Tonlage so emotionslos wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. »Es tut mir ehrlich leid, dass unsere letzte Begegnung auf diese Weise enden muss, Holly.« Seine Worte waren noch nicht gänzlich verklungen, als er bereits auf die Vampirin zuschoss. In einer selbst für seinesgleichen beeindruckenden Geschwindigkeit stand er mit einem Mal vor ihr und ergriff mit seinen langen, schlanken Fingern ihren Hals. Ohne die geringste Kraftanstrengung hob er Holly in die Höhe, bis ihre Füße über dem Boden baumelten.

»Annabelle gab mir den Auftrag, dich langsam und qualvoll zu töten«, sagte Sergej mit der Leidenschaft eines toten Fischs. Dabei fixierte er Holly mit durchdringendem Blick. »Ich soll dich so lange foltern, bis du darum winselst, erlöst zu werden.« Er schleuderte die Vampirin von sich, als wäre sie nicht mehr als ein verloren gegangenes und in Vergessenheit geratenes Plüschtier.

Holly prallte gegen eine Hausmauer und durchbrach die rostroten Backsteine, als handelte es sich dabei nicht um massives Bauwerk, sondern um Filmrequisiten aus Pappe. Nur der ohrenbetäubende Krach sowie die aufwirbelnden Schutt- und Staubwolken, die Holly für einen Augenblick verschlangen, waren Beweise für die brutale Realität.

Sterne blitzten vor ihren Augen auf und sie japste nach Luft. Zwar benötigte sie theoretisch keinen Sauerstoff, aber das Atmen half ihr, den Schmerz erträglicher zu machen. Bei dem Aufprall hatte sie sich mehr als nur ein paar Rippen gebrochen.

Sergej trat durch das Loch in der Wand und ging auf Holly zu. Steinbrocken, die ihm im Weg lagen, kickte er zur Seite, als wären sie leere Plastikbecher. »Du weißt, dass ich das nicht gern mache, Holly. Aber wir werden beobachtet. Annabelle hat Spitzel geschickt, die mir auf die Finger schauen, damit ich dich nicht mit Samthandschuhen anfasse.« Bei der Vampirin angekommen, hockte er sich breitbeinig auf ihr Becken und klemmte ihre Hände unter seinen Knien fest. Mit der einen Hand umfasste er ihren Hals, mit der anderen zog er eine blitzende Klinge aus der Tasche seines Jacketts. »Tu uns beiden bitte den Gefallen und spar dir deinen falschen Stolz. Je schneller du nachgibst, desto weniger müssen wir beide leiden.«

Holly erwiderte Sergejs Blick, ohne sich die Mühe zu machen, ihre lodernden Emotionen zu verbergen. Sollte er doch sehen, wie sehr sie ihn verachtete. Für seine Arroganz. Für die Erniedrigung, die sie seinetwegen erleiden musste. Aber vor allem dafür, dass er Annabelles Anerkennung über die Gefühle stellte, die Holly und er einst füreinander empfunden hatten.

»Glaub ja nicht, dass ich es dir leicht machen werde, Serjoscha.« Hollys Stimme klang gepresst, was an ihrem gequetschten Kehlkopf lag. Doch selbst das hinderte sie nicht daran weiterzusprechen. »Du bist es nicht einmal wert, von mir angespuckt zu werden. Und jetzt sei ein braves Schoßhündchen und tu, was Annabelle dir aufgetragen hat.«

Kaum merklich verengte Sergej die Augen und seine Lippen legten sich eine Nuance fester aufeinander.

»Ich bedaure, dass du das sagst, Holly.« Er setzte die Messerklinge an ihre Wange. So, wie er auf ihr saß, hatte Holly keine Chance, sich gegen ihn zu wehren. »Denn auch wenn du es mir nicht glauben wirst, meine ich es ernst. Ich habe dich geliebt.«

»Ach nein, wie rührend!«, sagte eine fremde Frauenstimme. Die Sprecherin stand einige Schritte hinter Sergej und Holly und hielt ihre Arme mit schräg gelegtem Kopf vor der Brust verschränkt. »Ist das die Art, wie Vampire ihre gegenseitige Zuneigung bekunden? Grausame Folter?« Sie schnalzte mit der Zunge und machte einen Schritt auf die beiden zu, was Sergej für gewöhnlich zum Anlass genommen hätte, sich zu erheben und sich dem Neuankömmling zuzuwenden. Aber es gelang ihm nicht, auch nur einen Muskel zu rühren. »Wenn das der Fall ist, tut es mir leid, euch unterbrechen zu müssen.« Die Unbekannte warf sich ihre feuerroten Haarsträhnen über die Schulter. Sie trug einen tiefschwarzen Trenchcoat, farblich passende High Heels und eine Sonnenbrille, die sie sich in einer filmreifen Geste aus dem Gesicht schob. »Aber ich muss mich mit Holly unterhalten. Und zwar unter vier Augen.« Es folgte eine wegwerfende Handbewegung und Sergej flog durch die Luft, als wäre er ein vom Wind erfasster Luftballon. Einige Meter segelte er davon, ehe sein Körper hart auf den Boden aufschlug und sofort in Flammen aufging. Seine qualvollen Todesschreie schallten durch die Nacht und übertönten Hollys Entsetzenslaute.

»Jetzt mach nicht so einen Lärm, Vampir!« Die Unbekannte verzog missgestimmt die Lippen und wedelte erneut mit ihrer Hand. Augenblicklich verstummten sämtliche Geräusche. »Schon viel besser.« Lächelnd wandte sie sich zu Holly um und schritt zielstrebig auf sie zu. »Und jetzt zu dir, meine Liebe.«

»Wer … wer seid Ihr?«, brachte Holly mit panikgeschwängerter Stimme hervor, während ihre Augen mit jedem Schritt, den die Unbekannte näherkam, größer wurden. Die Aura ihres Gegenübers deutete auf eine Dämonin hin, aber Holly war noch nie einem derart mächtigen Höllenwesen begegnet. Hätte ihr Herz noch geschlagen, hätte es wie ein Presslufthammer vibriert.

»Ist das von Bedeutung?«, konterte die Unbekannte. »Ich habe dir soeben das Leben gerettet. Ein Dank wäre angebracht.«

Holly schluckte, was mit ihrem lädierten Kehlkopf nur unter Schmerzen möglich war.

»Sergej war nicht allein«, sagte sie anstatt des geforderten Dankeschöns und ihre sonst samtweiche Stimme klang blechern und rau. Zwar behagte es ihr nicht, ihresgleichen zu verraten, aber in einem Fall wie diesem war sich jeder selbst der Nächste. »Zwei weitere …«

»Ich weiß«, schnitt die Unbekannte Holly das Wort ab. »Ich habe mich bereits darum gekümmert. Niemand wird uns mehr belästigen. Du kannst mir also ohne Bedenken alles über das Menschenmädchen erzählen, das du vor zweieinhalb Monaten gebissen hast.«

EINS

»Neeeeeiiiinnnn! Wie hast du das nur geschafft? Niemandem ist es bisher gelungen, das Mal zu vernichten!« Es folgte ein Schrei, der so laut und durchdringend war, dass er mir durch Mark und Bein ging und jede noch so winzige Zelle meines Körpers erfüllte. Wie lohender Nebel infiltrierte er meinen Verstand, bis ich nichts anderes mehr wahrnahm als die verzehrende Intensität, bei lebendigem Leib zu verbrennen.

Ich schrie, schlug um mich und wand mich unter Schmerzen. Doch die Qual fand keine Linderung.

Wieso hilft mir niemand?

Es war unmöglich, dass mein grauenhaftes Leiden unbemerkt blieb.

»Sie ist so schrecklich blass und leblos.« Eine Stimme, so dünn wie der gesponnene Faden einer Seidenraupe, dabei jedoch so gleißend wie eine Sternschnuppe in tiefster Finsternis, kämpfte sich durch das flammende Labyrinth meiner Folter und lenkte mich für einen Moment ab. Obwohl mir die Stimme vertraut erschien, konnte ich sie nicht sofort einordnen. »Komm schon, Kleines! Wach endlich auf!« Ein kühler Windhauch strich über meinen lodernden Körper und milderte für den Bruchteil einer Sekunde meine Pein. »Du darfst Adam und mich nicht allein lassen. Wir brauchen dich!«

»Wir müssen handeln, Nox. Uns rennt die Zeit davon.« Eine zweite Stimme gesellte sich zu der ersten. Sie klang noch fragiler, doch ihr Leuchten, auch wenn es wie eine altersschwache Taschenlampe flackerte, stand der ersten in nichts nach.

»Und was willst du unternehmen?« Die Schärfe der Worte war mit einer tödlichen Schwertklinge zu vergleichen. »Weder wissen wir, was passiert ist, noch, ob Avery eine Teleportation übersteht.« Eine kurze Pause folgte, ehe weitere Worte gesprochen wurden. Dieses Mal leiser. »Davon abgesehen haben wir weder eine Ahnung, wo sich Gabriel aufhält, noch ob er in der Lage ist, ihr zu helfen.«

Stille knüpfte an die letzte Silbe an und dehnte sich aus wie ein Meer bei Flut. Jedoch konnte ich nicht abschätzen, ob es daran lag, dass sich niemand mehr etwas zu sagen traute, oder ob die Silben keine Chance gegen die Flammen hatten, die mich wieder wie eine Mauer umgaben.

Eine kleine Ewigkeit verging und ich wagte keine Hoffnung auf eine Rettung. Doch dann erklang ein weiteres Mal diese besondere Stimme.

»Bitte, Avery! Komm zurück zu mir. Wir haben doch gerade erst zueinandergefunden!« Ein erneuter Windstoß fegte über meinen Flammensturm hinweg. Die Böe war deutlich stärker geworden, und trotz meines dominierenden Leids nahm ich die wohlige Wärme und den verlockenden Duft wahr, die damit einhergingen. Mein Körper reagierte und hieß das samtweiche Etwas willkommen, das die Mauern meines lohenden Gefängnisses niederriss, als wären sie nicht mehr als aufgestellte Spielkarten. Schlagartig war sämtlicher Schmerz vergessen und das Einzige, was blieb, war göttliche Erlösung.

Ein Gefühl, als würde ich nach einer viel zu langen Zeit unter Wasser endlich die Oberfläche durchbrechen, ergriff von mir Besitz. Meine Lippen teilten sich und ich sog gierig alles in mich auf, was sich mir bot. Frischer Sauerstoff mischte sich mit einer rauchigen Note und brachte mein Herz zum Rasen. Adrenalin jagte durch meine Adern und die Gänsehaut, die mich überzog, kribbelte, als hätte ich eine Hochspannungsleitung berührt.

Flatternd öffneten sich meine Lider und ich brauchte einen Moment, bis sich meine Sicht scharf stellte. Doch dann traf mein Blick auf volle, sinnliche Lippen, die nur wenige Zentimeter über meinen schwebten. Sie wirkten so einladend, dass sich jede Faser meines Seins danach sehnte, sie zu berühren.

Rasch zwang ich meinen Blick weiter. Ich entdeckte einen hauchfeinen Bartschatten, hohe Wangenknochen und Wunden verschiedener Art. Eine Schwellung, die von einem blau-violetten Bluterguss begleitet wurde, fiel mir besonders ins Auge. Doch egal wie schmerzhaft sich die Verletzungen auch darstellten, es gelang ihnen nicht, meine Aufmerksamkeit zu bannen. Erst als ich in ein Paar funkelnde Smaragde blickte, verspürte ich das erleichternde Gefühl, angekommen zu sein.

»Nox …« Der Name perlte mir über die Zunge, ohne dass ich es bewusst gesteuert hatte.

»Hey.« Ein warmherziges Lächeln stahl sich auf seine Züge und wurde von zwei bezaubernden Grübchen begleitet, die die grenzenlose Erleichterung in seinen strahlenden Augen betonte. »Ich hätte nicht gedacht, dass du eine dieser Märchenprinzessinnen bist, die sich nur durch einen Kuss aus ihrem Schlaf erwecken lassen.«

Beseelt von dem sich mir bietenden Anblick wanderten meine Mundwinkel wie von selbst in die Höhe. Die Vorstellung, von Nox’ samtweichen Lippen berührt worden zu sein, bescherte mir selbst im Nachhinein warme Wangen und einen beschleunigten Puls.

»Tja, ich hätte dich auch nicht unbedingt als Prince Charming eingestuft«, frotzelte ich und wollte meinen Oberkörper erheben, um meinen lädierten Rücken und den steifen Nacken zu entlasten. Leider hatte die Schwerkraft etwas dagegen und ich musste mein Vorhaben mit einem Stöhnen aufgeben. Wie bei einer schlimmen Grippe fühlte ich mich schlapp und kraftlos. Hinzu kamen ein stechender Kopfschmerz und eine staubtrockene Kehle. Sogar mein Magen fühlte sich an, als hätte er mehrere Runden im Schleuderprogramm unserer Waschmaschine gedreht.

In Nox’ Augen blitzte der Schalk auf. Doch als er den Mund öffnete, um etwas zu erwidern, erklang anstatt seines tiefen Baritons eine andere Stimme.

»Offenbar ist meine Anwesenheit hier nicht länger vonnöten.« Adams heller Tenor war nicht mehr als ein heiseres Krächzen, dennoch war die Härte in seinen Worten nicht zu überhören. Sofort drehte ich meinen zentnerschweren Kopf herum und entdeckte den Engel auf dem Sessel neben mir. Er hatte die Beine auf das Sitzkissen gezogen und umschlang sie mit beiden Armen. Sein Kinn lag auf seinen Knien, als besäße er nicht die Kraft, seinen Kopf zu halten. Seine Haut war weiß wie gebleichtes Papier und die für gewöhnlich karamellbraunen Augen erinnerten an trüben Honig und waren durch die halb geschlossenen Lider kaum auszumachen. Sogar Adams blonde Locken, die sein Gesicht normalerweise voluminös umrahmten, hingen nur wie verkochte Spaghetti herab.

»Gott, Adam! Geht es dir gut? Was ist passiert?« Ich wollte nach ihm greifen, aber mir entfloh nur ein entkräftetes Stöhnen.

»Was passiert ist? Wir hatten gehofft, du könntest uns diese Frage beantworten.« Nox richtete sich auf und lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich. Seine Miene wirkte mit einem Mal ernst. Er saß neben mir auf der Couch und ich bemerkte erst jetzt, dass wir uns im Haus der beiden Engel befanden. Auch die mit Asche überzogene Kleidung sowie die Haare des Höllendieners fielen mir jetzt auf. Einzig sein Gesicht und seine Hände schienen einigermaßen sauber zu sein, als hätte er sich zumindest eine Katzenwäsche gegönnt. »Als ich herkam, lagt ihr zwei – Adam und du – bewusstlos auf dem Boden. Du warst blutüberströmt, deine Klamotten nicht mehr als nasstriefende Fetzen. Goldlöckchen kam zeitig zu sich, aber du …« Er wandte den Blick ab und sein Kiefer begann zu mahlen. Als er mich wieder ansah, flackerte Schmerz in seinen Augen auf. »Du warst über mehrere Stunden bewusstlos – dem Tod näher als dem Leben.«

Nox’ Worte entlockten mir ein Keuchen, als Stück für Stück meine Erinnerungen zurückkehrten und mir offenbarten, was bisher im Verborgenen gelegen hatte.

»Oh. Mein. Gott!« Meine Augen weiteten sich und mein Puls begann zu rasen. »Wir waren tatsächlich in der Hölle, nicht wahr? Wir waren in der Unterwelt und haben überlebt!« Ich wagte es kaum, die Worte auszusprechen, aus Sorge, dass sie nicht stimmten. »Wir haben Cerberus, diese abartigen Seelenfresser, die Katakomben und Leviathan überlebt?! Wir haben die dritte Seelenprüfung bestanden und den Fluch gebrochen?!« Meine Tonlage war während des Sprechens immer höher geworden, bis sie beim letzten Satz einem hohen Fiepen glich. Tränen des Unglaubens und der Freude verschleierten meine Sicht, und wäre ich nicht derart entkräftet gewesen, wäre ich dem Höllendiener vor Glückseligkeit um den Hals gefallen – jetzt, da das ohne Schmerzen wieder möglich war.

»Du hast die dritte Prüfung bestanden«, korrigierte mich Nox und ein warmes Lächeln teilte seine Lippen. »Weder Adam noch ich haben etwas dazu beigetragen. Wir wissen nicht einmal, was genau geschehen ist. Gerade befanden wir uns noch in den Katakomben und nur einen Moment später waren wir hier.«

Eine weitere Erinnerungslawine überrollte mich. Neben dem gigantischen Höllenhund, diversen Dämonenangriffen und dem Gräberlabyrinth hatte es weitere Hürden gegeben. Insbesondere die Angst um Adam, den die schwefelhaltige Luft beinahe das Leben gekostet hatte, war unerträglich gewesen.

Mein Kopf ruckte ein weiteres Mal zur Seite und ein blitzartiger Schmerz schoss mir vom Nacken den Rücken hinab. Doch ich nahm ihn kaum wahr.

»O, Adam! Wie geht es dir?« Die Frage mochte unsinnig erscheinen, da er wie der lebendige Tod aussah. Aber er hatte in den letzten Minuten kein einziges Mal gehustet oder Blut gespuckt, weshalb ich die Hoffnung hegte, dass sich sein Gesundheitszustand zumindest geringfügig verbessert hatte.

»Ich werde es überleben«, lautete seine kühl-distanzierte Antwort, ehe er den Blick abwandte. Sein abweisendes Verhalten rief mir unseren Streit sowie den Dolch, den er auf mich geworfen hatte, in Erinnerung. Meine Brust zog sich zusammen und ein Frösteln überkam mich. Als ich mir über die Arme rieb, bemerkte ich, dass ich einen weichen, wenn auch viel zu großen Pullover trug, der ebenso wie die Jogginghose an meinen Beinen in Länge und Breite einige Zentimeter weniger Stoff benötigt hätte.

Nox, dem meine Irritation nicht entgangen war, antwortete, noch bevor ich die dazugehörige Frage stellen konnte.

»Wie ich bereits sagte, waren deine Klamotten nicht mehr als blutige Lumpen.« Seine Miene wie auch seine Tonlage waren neutraler als die Schweiz. Aber ich konnte ihm seine Vorsicht nicht verübeln. Das letzte Mal, als er sich auf diese Weise um mich gekümmert hatte, war meine Reaktion alles andere als verständnisvoll gewesen.

»Danke, Nox«, sagte ich aufrichtig und legte lächelnd meine Hand in seine. Unsere Finger verschränkten sich wie von selbst miteinander.

Nox erwiderte mein Lächeln voller Erleichterung, während ich versuchte, nicht allzu gründlich über die Details seines Handelns nachzudenken. Zwar waren wir uns körperlich bereits nähergekommen und der Höllendiener hatte mich auch mehr als einmal in Unterwäsche gesehen, aber mir war die Vorstellung unangenehm, dass ich ihm halb nackt und bewusstlos ausgeliefert gewesen war.

»Erzählst du uns jetzt endlich, was bei der Prüfung passiert ist?«, kam es missgelaunt von Adam. »Ich würde gern hochgehen und mich hinlegen.«

Der intime Moment zwischen Nox und mir zerplatzte wie eine Seifenblase und am liebsten hätte ich den Engel zu einem klärenden Gespräch aufgefordert. Aber dafür war im Moment weder der richtige Ort noch der passende Zeitpunkt. Also beugte ich mich der Vernunft und erzählte stattdessen, was mir während der Abwesenheit der beiden Männer widerfahren war. Ich fing bei dem Moment an, als Nox aufgebrochen war, um Emilia zu suchen – was war eigentlich mit der Höllenbarbie geschehen? –, und Adam sich einfach in Luft aufgelöst hatte. Ich berichtete von den Wänden, die mir Stück für Stück näher gekommen waren und mich zerquetscht hätten, wenn ich mich nicht durch die von Zauberhand erschienene Tür gerettet hätte. Ich sprach von der Parallelwelt, die meinem Unterbewusstsein entsprungen war, erwähnte meine schwangere Mom, den automobilverkaufenden James und meine Seele, die mir und nicht Luzifer gehört hatte. Kurzum, ich erzählte ihnen alles, woran ich mich erinnerte – abgesehen von dem, was mit Hope und Emilia zu tun hatte. Diese Dinge – dass der Fake-Adam das Glück hatte, mit seiner Sanprada vereint zu sein, und der Fake-Nox noch immer für den Himmel tätig war, weil Emilias Tod nicht gerächt werden musste, da sie selbst als Seraph weitergelebt hatte – waren für die Realität nicht von Bedeutung und hätten die beiden Engel nur verletzt.

Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich den Teil mit Leviathans Folter auslassen sollte, aber Nox sah mich derart durchdringend an, dass ich mich nicht traute, die blutigen Details der Prüfung auszusparen. Also beichtete ich jeden Schnitt und jede Wunde, die mir der Höllenfürst zugefügt hatte, bevor es mir gelungen war, unsere Verbindung zu trennen, indem ich mein Kainsmal-Tattoo zerstörte. Meine Erzählung schloss ich mit den Worten, dass ich dem kranken Psychopathen das Messer in die Brust gerammt hatte, mit dem Kain seinen Bruder Abel getötet hatte.

»Dieser gottverdammte Bastard!«, spie Nox zornentbrannt hervor, kaum dass ich meine Ausführung beendet hatte. Bis zur letzten Silbe hatten er und Adam meinen Worten mit stoischer Miene gelauscht, aber nun gab es für den gefallenen Engel kein Halten mehr. Wie bei dem Kinderspielzeug »Jack in the Box« sprang er von der Couch und pflügte wie eine Dampflok durch das Wohnzimmer. »Wenn er nicht bereits im Höllenfeuer schmoren würde, hätte ich es mir zur Lebensaufgabe gemacht, ihn persönlich dorthin zu verfrachten!«

Ich folgte Nox’ Wanderung mit den Augen und zuckte jedes Mal zusammen, wenn er eine weitere Tirade grausamster Verwünschungen von sich gab, die mir nicht einmal in meinen schlimmsten Albträumen eingefallen wären.

»War das alles, was es zu erzählen gab?«, fragte Adam, unbeeindruckt von Nox’ Show. Als ich nickte, ließ der Engel seine Arme sinken und setzte ein Bein nach dem anderen auf den Boden. Zwar verzog er bei jeder Bewegung das Gesicht, als würde er glühende Kohlen schlucken, aber das hinderte ihn nicht daran weiterzumachen, bis er sich aus dem Sessel erhoben hatte.

»Was hast du vor?«, fragte ich unnötigerweise.

Im Schildkrötentempo begab sich Adam in Richtung Obergeschoss, ohne auf meine Frage zu antworten. Ob es ihm bewusst war, dass er mich mit jeder Sekunde, die er mich und unsere Freundschaft mit Kälte und Ignoranz strafte, mehr und mehr verletzte? Interessierte es ihn überhaupt?

»Soll ich hinterhergehen und ihm den Arsch aufreißen?«, fragte Nox, der seine Fluchtirade eingestellt hatte und seinen Bruder mit verengten Augen beobachtete. »Im Moment müsste ich mich dafür nicht einmal anstrengen.« Er deutete ein Grinsen an, aber es war offensichtlich, dass er nicht mit vollem Herzen hinter seinem Angebot stand. Der leere Ausdruck in seinen Augen verriet ihn.

»Nein, schon gut«, erwiderte ich und wandte meinen Blick wieder den leeren Stufen zu. Adam war inzwischen außer Sichtweite. »Er braucht nur etwas Zeit zum Nachdenken. Er kriegt sich wieder ein.« Obwohl ich fest an meine Aussage glauben wollte, verkrampfte sich mein Herz und ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich hegte den Verdacht, soeben die größte Lüge meines bisherigen Lebens von mir gegeben zu haben.

ZWEI

»Bist du dir wirklich sicher, dass ich gehen soll?« Nox sah mich zweifelnd an. Er hockte auf dem Sims meines offenen Zimmerfensters und gab sich keine Mühe, seinen Unmut über meine Bitte zu verbergen. Das diffuse Licht des bevorstehenden Morgengrauens umgab ihn wie eine düstere Aura und verlieh seiner Silhouette etwas Gespenstisches. »Wenn du befürchtest, dass ich wegen irgendwelcher Erwartungen hierbleiben will …«

»Nox!«, unterbrach ich ihn. »Red keinen Stuss. So etwas würde ich dir niemals unterstellen.« Erschöpft seufzend zog ich die viel zu langen Ärmel des geliehenen Pullovers über meine Finger, ehe ich meine Hände im Schoß vergrub. Ich saß auf meinem Bett, die Beine im Schneidersitz angewinkelt, und kuschelte mich tiefer in das weiche Textil, das nach Waschmittel anstatt nach dem rauchigen Duft des Höllendieners roch. Nachdem Adam verschwunden war, hatte auch ich das unstillbare Verlangen verspürt, mich in meinem Bett zu verkriechen. Jedoch allein und in jenes, das sich in meinem Elternhaus befand. »Ich weiß, dass du nicht deswegen bleiben willst. Aber du musst dir wirklich keine Sorgen um mich machen. Mir geht es den Umständen entsprechend gut. Ich brauche einfach nur etwas Ruhe und Zeit, um alles zu verarbeiten.«

»Und meine Anwesenheit würde dich daran hindern?« Nox’ ohnehin kritische Miene wirkte zunehmend gekränkt, was mir einen Stich versetzte. Natürlich verstand ich, weshalb er mich nicht allein lassen wollte. Und ein Teil von mir wollte ihn auch nicht ziehen lassen. Jedoch hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen. Wenn er hierbliebe, würde ich mich tatsächlich nicht im geeigneten Maß um meine Gedanken kümmern können. Dabei war genau das im Augenblick wichtiger denn je.

»Nox«, begann ich, doch der Höllendiener unterbrach mich.

»Schon gut. Wenn du willst, dass ich gehe, gehe ich.« Trotz seiner vorgetäuschten Coolness schwang Verdruss in seiner Stimme mit und in seinem Blick erkannte ich sowohl Sehnsucht als auch Ingrimm. »Ich habe ohnehin noch ein Hühnchen mit Goldlöckchen zu rupfen.«

»Nox, bitte!«, versuchte ich erneut die Stimmung zwischen uns zu kitten. Doch was sollte ich sagen, wenn ich mir zu gleichen Teilen wünschte, dass er blieb und ging?

»Schon gut, Kleines.« Nox warf mir ein befangenes Lächeln zu und der Riss in meinem Herzen wurde eine Spur länger. »Ich weiß, was du sagen willst. Und es ist in Ordnung. Wirklich.« Mit diesen Worten stieß er sich von der Fensterbank ab und teleportierte sich noch in der Luft davon.

Ich sah ihm nach – Tränen in den Augen und ein kleines Lächeln auf den Lippen. Die Gewissheit, dass Nox mich trotz fehlender Erklärungen verstand und meine Wünsche respektierte, erfüllte mich mit einem Gefühl, das ich nicht in Worte fassen konnte. Leider bekam ebendieses Glück einen herben Dämpfer, als meine Gedanken ungewollt zu Leviathan und seiner kranken Psychotortur glitten. Nur ihm und seiner Prüfung war es geschuldet, dass ich jetzt allein sein wollte, anstatt mich im Ruhm unseres Erfolges zu sonnen. Denn so ungern ich es zugab, der Höllenfürst hatte recht. Ich trug tatsächlich zu viel emotionalen Ballast mit mir herum.

Ich muss mir Gedanken über meine Zukunft machen.

Während ich in mich gekehrt in die Welt hinausblickte, wurde das satte Indigoblau, das den Horizont dominierte, von einem schmalen Streifen gelb-orangen Lichts eingeholt. Nicht mehr lange und die Spuren der Nacht wären gänzlich vertrieben und San Francisco würde in grellem Sonnenschein erstrahlen.

Wann durfte ich das letzte Mal in aller Ruhe einen Sonnenaufgang bewundern?

Die Antwort darauf deutete erschreckend weit in die Vergangenheit. Und leider wurde das damit einhergehende Gefühl nicht besser, als mir bewusst wurde, wie sehr ich mir Nox in diesem Moment an meine Seite wünschte. Zwar stand ich nach wie vor hinter meiner Entscheidung, dennoch vermisste ich den Höllendiener in diesem Augenblick auf geradezu schmerzhafte Weise.

Ich riss meinen Blick von dem wunderschönen Naturschauspiel fort und sah mich in meinem Zimmer um. Auf dem Nachttisch entdeckte ich mein Handy. Es hing noch immer am Ladekabel, genauso wie ich es an jenem Abend zurückgelassen hatte, ehe ich mit Adam ins Kino gegangen war. Als ich hinterher meine Mom und James beim Knutschen erwischt hatte und überstürzt geflüchtet war, hatten sich die Ereignisse derart rasant überschlagen, dass ich überhaupt nicht mehr daran gedacht hatte.

Ob es richtig war, Nox anzurufen? Es mochte bescheuert erscheinen, aber ich verspürte den irrationalen Drang, seine Stimme zu hören.

Ich nahm das Telefon vom Ladegerät und schaltete es ein. Nach der PIN-Eingabe dauerte es einige Sekunden, ehe das System vollends betriebsbereit war, doch dann erschienen unzählige Benachrichtigungen auf dem Display und informierten mich über verpasste Anrufe, SMS und Mailboxnachrichten. Hauptsächlich stammten sie von meiner Mom, und der Gedanke, dass sie verzweifelt versucht hatte, mich zu kontaktieren, schmerzte mich so sehr, dass ich alles ungelesen löschte. Nur die drei Nachrichten, die von einer mir unbekannten Nummer stammten, öffnete ich stirnrunzelnd.

Avery, sei bitte vernünftig und komm nach Hause. Du bist kein kleines Kind mehr, also benimm dich nicht wie eins. Dad.

Du reagierst völlig unangebracht, Avery! Ruf jetzt deine Mutter zurück. Sie macht sich Sorgen um dich.

Avery Marie Harper, du bewegst sofort deinen Hintern hierher! Nur weil du volljährig bist, bedeutet das nicht, dass du dich deinen Eltern widersetzen kannst!

Perplex starrte ich auf die Aneinanderreihung von Buchstaben, die trotz mehrfachen Lesens für mich keinen Sinn ergaben. Zuerst glaubte ich an einen Irrtum, einen Zahlendreher in der Nummer. Doch sowohl mein Name als auch die Datumsanzeigen und die Uhrzeiten, die mir wie Neonschilder ins Auge sprangen, verdeutlichten, was sich mein Verstand bisher nicht hatte eingestehen wollen.

James hat mich kontaktiert, nachdem ich Moms Nachrichten und Anrufe unbeabsichtigt ignoriert habe?!

Wie unter Zwang überflog ich die SMS ein weiteres Mal.

Und noch einmal.

Und noch einmal.

Ich las die Nachrichten ein halbes Dutzend Mal, ohne den Inhalt zu verstehen. Aber im Grunde war es völlig egal, was dort stand. Da inzwischen jeder Zweifel über eine Verbindung zwischen mir und Moms Ex-Mann ausgeräumt war, wollte ich nie wieder auch nur einen Gedanken an diese Person verschwenden. Für mich war das Thema »James Goose« für alle Ewigkeit beendet.

Ich befreite mein Handy von seinen Nachrichten und meinen Verstand von seinem Namen. Anschließend atmete ich tief durch und widmete mich wieder meinem Telefon. Auf dem Display sprangen mir die Uhrzeit und das heutige Datum ins Auge.

6:12 Uhr, Freitag, 14. August 2020.

Ich stutzte. Lagen wirklich erst zweiunddreißig Stunden zwischen Mittwochnacht und unserer Rückkehr aus der Hölle? Zwar hatte mir Nox anvertraut, dass die Zeit in der Unterwelt sehr viel schneller verging als hier auf der Erde, dennoch war so viel vorgefallen, dass es sich anfühlte, als läge ein halbes Leben dazwischen.

Ich schüttelte die Überlegung wie einen Käfer von mir und widmete mich stattdessen dem Hintergrundbild auf meinem Handy. Es war ein Foto von Adam und mir auf dem Abschlussball. Wir lachten fröhlich und ausgelassen in die Kamera, und obwohl die Aufnahme gerade einmal vier Monate zurücklag, war sie inzwischen zu der größten Lüge meines Lebens mutiert – und ich bezweifelte, dass sich dieses Problem von allein klären würde. In neun Tagen begann ich mein Studium an der SFSU, der San Francisco State University, und zog an den Campus. Adam hatte zwar ebenfalls einen Studienplatz erhalten und wir hatten geplant, uns ein Wohnheimzimmer zu teilen, aber nach den jüngsten Geschehnissen war ich mir nicht sicher, ob er auch nur eins von beiden in Anspruch nehmen würde. Und selbst wenn, konnte ich unmöglich abschätzen, wie sich dieser Tapetenwechsel auf unsere Beziehung auswirken würde.

Ein leises Klingeln lotste mich aus meiner Grübelei. Im ersten Moment dachte ich, es wäre mein Handy, aber der Ton wiederholte sich und auf meinem Display war nichts zu erkennen. Erst als einige Sekunden später ein weiteres Geräusch hinzukam, das verdächtig nach einer sich öffnenden Tür klang und von schlurfenden Schritten begleitet wurde, verstand ich, dass meine Mom aufgewacht war.

Unsicher, was ich tun sollte, begann ich auf meiner Lippe zu kauen. Obwohl mir die Müdigkeit fest in den Knochen steckte, meine Bewegungen fahrig waren und meine Konzentration wie ein Grashüpfer von einem Gedanken zum nächsten sprang, war Schlaf im Augenblick das Letzte, wonach mir der Sinn stand. Dafür war die nervöse Anspannung in meinem Inneren sowie die Angst vor Albträumen zu dominant.

Moms Schritte verhallten, als die Badezimmertür geräuschvoll ins Schloss fiel. Auch wenn ich mir bisher keine Gedanken darüber gemacht hatte, wie und wann ich ihr nach unserem Streit gegenübertreten wollte, so war ich mir sicher, dass jetzt der mit Abstand unpassendste Zeitpunkt für ein Wiedersehen war. Nicht nur, dass ich wie ein Drogenopfer aussehen musste, auch meine Nerven waren ziemlich angegriffen. Das Risiko, dass unser Gespräch in einer weiteren Katastrophe mündete, war dementsprechend hoch.

Aus diesem Grund wartete ich mit angehaltenem Atem darauf, dass meine Mom das Badezimmer verließ und hinunter ins Erdgeschoss ging. Wenn sich ihr Morgenrhythmus in den letzten zwei Tagen nicht grundlegend geändert hatte, würde sie in etwa zwanzig bis dreißig Minuten das Haus verlassen. So lange musste ich mich unauffällig verhalten.

Ich ließ mich rücklings auf die Matratze sinken und bettete meinem Kopf auf meinem Kissen. Der Bezug fühlte sich vertraut an, und als ich meine Augen schloss, bildete ich mir ein, eine zarte Nuance des typischen Höllendienerdufts wahrzunehmen.

Das Telefon weiterhin in der Hand haltend, zog ich mir die Bettdecke bis unters Kinn. Gleich, wenn meine Mom aus dem Haus gegangen war, würde ich Nox anrufen. Anschließend würde ich unter die Dusche gehen und hinterher etwas essen. Alles andere käme danach.

Während mein Körper die selige Wärme und die Geborgenheit meines Bettes genoss, kreisten meine Gedanken um die Erinnerungen an meinen Aufenthalt in der Hölle. In der Vergangenheit war es mir gelungen, meine Träume von den beängstigenden Dingen abzuschirmen, die mir im Laufe der Seelenprüfungen widerfahren waren. Aber ob mir das auch mit meinem Trip in die Unterwelt gelingen würde, bezweifelte ich – vor allem, da ich die letzten zwei Monate keine Nacht allein verbracht hatte und ich es Nox’ Anwesenheit zuschrieb, dass ich während dieser Zeit von Albträumen verschont geblieben war.

Um mir die Wartezeit zu verkürzen, bis ich das Haus für mich allein hatte, griff ich mit meiner freien Hand in den Halsausschnitt meines Pullovers. Geschickt zog ich den Silberanhänger hervor, den mir Nox geschenkt hatte. Mein Engelsflügel war die eine Hälfte eines Paares und ergab gemeinsam mit seinem Gegenstück den lateinischen Spruch »Zwei Seelen, die gemeinsam fliegen«. Die Gewissheit, dass der andere Flügel auf Nox’ Brust ruhte, brachte mich zum Lächeln.

Er hat sich wirklich verändert. Nox wird mir nie wieder wehtun. Das weiß ich genau.

Erfüllt von diesem Gedanken und mit dem Silberanhänger in der Hand, glitt ich wohlig lächelnd ins Land der Träume.

DREI

Ein schriller, markerschütternder Schrei zerschnitt die Stille wie ein Katana-Schwert ein Blatt Papier. Mein Körper befand sich in einer aufrechten Position, während mein Verstand noch damit zu kämpfen hatte, die Nebelschwaden meines Albtraums zu vertreiben. Mein Herz hämmerte mir bis zum Hals, in meinen Ohren rauschte es und meine Atmung glich dem hektischen Hecheln einer schwangeren Hundedame. Obwohl meine Kehle staubtrocken war und schmerzte, als hätte ich Rasierklingen geschluckt, war der Rest meines Körpers nass geschwitzt. Kleidung und Haare schienen mit meiner Haut verschmolzen zu sein und in meinem Zimmer herrschte die Luftfeuchtigkeit eines Tropendschungels.

Ich wusste nicht, wie spät es war und wie lange ich geschlafen hatte, aber meinem zermatschten Gemüt nach zu urteilen konnten nur wenige Stunden vergangen sein.

Ganz ruhig, Avery! Es war nur ein Traum, versuchte ich mich zu beruhigen und gleichzeitig die grausamen Bilder meiner jüngsten Nahtoderfahrung aus dem Kopf zu verbannen. Ich bin nicht mehr in der Hölle. Ich bin zu Hause und in Sicherheit. Leviathan wird mir nichts mehr anhaben können. Alles ist gut!

Immer wieder beschwor ich die Worte wie ein Mantra in mir herauf, aber ihre lindernde Wirkung blieb aus. Mein Puls raste wie ein Hochgeschwindigkeitszug auf freier Fahrt und der Kloß in meinem Hals nahm mit jeder Sekunde an Volumen zu. Dennoch schien die Kerntemperatur meines Körpers schlagartig um mehrere Grad zu sinken, denn anstatt Hitze verspürte ich Eiseskälte und mich überkam ein Schüttelfrost.

Mein Blick huschte zu dem geöffneten Zimmerfenster. Die grelle kalifornische Mittagssonne warf ihre blendenden Strahlen auf den Holzfußboden und der Duft nach warmem Gras und Blumen stieg mir in die Nase. Trotzdem intensivierte sich die Eisschicht, die sich um mein Herz gelegt hatte, und breitete sich in Rekordgeschwindigkeit aus.

Mit zitternden Fingern griff ich nach dem Engelsflügel auf meiner Brust und umschloss ihn mit aller Kraft. Die fein ausgearbeiteten Strukturen drückten sich in meine Handfläche, doch der sanfte Schmerz half mir, meine Atmung zu beruhigen und meinen Puls auf ein akzeptables Niveau zu drosseln. Währenddessen hatte sich meine andere Hand verselbstständigt und das im Schlaf verloren gegangene Handy zwischen den zerwühlten Laken ausfindig gemacht. Noch bevor ich realisierte, was meine Finger da taten, erschien eine Nachricht auf dem Display.

Sehen wir uns heute Abend? Ich fühle mich schlecht, weil ich dich vorhin weggeschickt habe, und würde mich gern dafür entschuldigen.

Bevor ich darüber nachdenken konnte, dass man dem Text eine unterschwellige FSK-18-Botschaft entnehmen konnte, wählte ich Nox als Empfänger aus und drückte auf »Senden«. Anschließend warf ich das Handy wieder aufs Bett.

Und was jetzt?

Mein Magen knurrte, mein Blutzucker war im Keller und in meinem Kopf pochte es unangenehm. Doch mit Abstand am Schlimmsten war der bestialische Gestank nach Schwefel, der jede meiner Poren verstopfte.

Die Aussicht auf eine heiße Dusche lockte mich vom Bett fort. Die ersten Schritte waren noch etwas unbeholfen, aber nachdem mein Kreislauf in Schwung gekommen war, fand ich zur gewohnten Selbstsicherheit zurück. Im Badezimmer stellte ich die Dusche an und entledigte mich meiner Leihklamotten. Die schweren Wassertropfen trommelten in rhythmischen Klängen auf den gefliesten Duschwannenboden, während ich nach meiner Zahnbürste griff und meine Lieblingszahnpasta – Minze mit einer Erdbeernote – auf die Borsten strich. Damit gewappnet, wollte ich mich unter den heißen Wasserstrahl begeben, als mein Blick mein Spiegelbild streifte. Abrupt blieb ich vor dem Waschbecken stehen und betrachtete meinen Körper von oben bis unten. Dass meine blasse Haut von Wunden und Blutergüssen übersät war, überraschte mich nicht. Auch die diversen Blutflecken und -streifen, die Nox nicht gänzlich weggewaschen hatte, waren nicht der Grund, weshalb mir ein entsetztes Keuchen entfloh und mir meine Zahnbürste aus den Fingern glitt. Dies war den haarfeinen Linien geschuldet, die meine Oberschenkel und Arme überzogen und die sich auf meiner ungesunden Blässe sichtbar von meiner Haut abhoben. In Kombination mit den Narben auf meiner rechten Handfläche, meiner Taille sowie auf meinem Brustkorb, wo sie knapp unter meinem Hals begann, zwischen meinen Brüsten entlanglief und an meinem Bauchnabel endete, verschlug es mir den Atem. Meine Gedanken und Emotionen gerieten außer Kontrolle und meine Beine gaben nach. Während mir unablässig Tränen über die Wangen rannen, ging ich neben meiner Zahnbürste zu Boden.

»Nein! Nein! Nein!«, schrie ich und meine Stimme echote von den nackten Wänden wider. »Das darf nicht wahr sein! Das darf einfach nicht wahr sein!« Auch wenn ich dankbar war, überhaupt noch am Leben zu sein und dass meine Verletzungen bereits verheilt waren, verspürte ich Wut, Zorn und Hilflosigkeit. Genügte es nicht, dass ich bis an mein Lebensende mit den grausamen Erinnerungen an meine bisherige Reise gestraft war? Musste ich ab sofort bei jedem Blick in den Spiegel, jedem Kleiderwechsel oder auch nur bei der Benutzung meiner rechten Hand an das qualvolle Martyrium erinnert werden? Zudem, wie sollte ich diese Narben vor der Welt verstecken? Ganz zu schweigen von den Argusaugen meiner Mom? »Es ist bereits schwer genug, meine Tattoos zu verbergen!« Wie aufs Stichwort glitt mein Blick auf mein linkes Handgelenk. Das ehemalige Kainsmal-Tattoo, dessen dicke, schwarze Linien auf der zarten Hautstelle über meiner Pulsschlagader prangten, war von einer fingerbreiten, wulstigen und feuerroten Narbe durchzogen.

Ein Schluchzen, das seinen Ursprung tief in meinem Inneren hatte, perlte mir über die Lippen. Dichter, schwernasser Dunst erfüllte das Badezimmer und ich bezweifelte, dass noch warmes Wasser für eine gründliche Reinigung zur Verfügung stand. Aber da mein Innerstes mittlerweile einem Eisberg glich, war die Aussicht auf ein bisschen kaltes Wasser nicht wirklich abschreckend.

Mit der Energie eines ausgepeitschten Folteropfers kämpfte ich mich auf meine zitternden Beine und schleppte mich unter den tatsächlich eisigen Duschstrahl. Die Wassertropfen hagelten erbarmungslos auf mich nieder, doch ich nahm es kaum wahr. Der jüngst über mich hereingebrochene Schock steckte mir so tief in den Knochen, dass jegliche Art von Empfindung in den Hintergrund trat. Betäubt seifte ich mich ein, schamponierte mir die Haare, und erst als meine Haut krebsrot und von einer elefantendicken Gänsehaut überzogen war, spülte ich den Schaum weg, stellte das Wasser ab und stieg aus der bodentiefen Kabine. In ein dickes Frotteehandtuch gewickelt und mit klappernden Zähnen tapste ich in mein Zimmer, wo ich so lange meinen Kleiderschrank durchwühlte, bis ich Klamotten fand, die meine Narben verdeckten. Ich entschied mich für weiße Jeans und ein türkisfarbenes T-Shirt mit Dreiviertel-Ärmeln. Dazu kombinierte ich ein breites Lederarmband. Ich hatte es einst von Harmony geschenkt bekommen, aber bisher noch nie getragen. Jetzt war ich froh, es zu haben.

Nachdem ich meine nassen Haare zu zwei Zöpfen zusammengebunden hatte, legte ich Make-up auf, um die schlimmsten Blessuren in meinem Gesicht zu verdecken, und ging in die Küche. Ein Blick in den Kühlschrank offenbarte mir eine riesige Auswahl an kulinarischen Köstlichkeiten, die ich jedoch unbeachtet liegen ließ. Stattdessen entschied ich mich für ein simples Müsli. Da ich sowieso kaum etwas von dem Geschmack wahrnahm, wäre es Verschwendung gewesen, mich über die Reste des Thai-Essens herzumachen, das sich meine Mom in den vergangenen Tagen gegönnt hatte.

Ich würgte den matschigen Brei herunter und stellte mein Geschirr in die Spüle. Dabei bemerkte ich aus den Augenwinkeln die Küchenuhr. Es war bereits nach drei Uhr und meine Mom würde gegen vier Uhr nach Hause kommen. Mir blieb also eine Stunde, um mir Gedanken über mein weiteres Vorgehen zu machen.

Welche Wahl habe ich schon?

Abgesehen davon, dass es für mich mit jedem Tag belastender wurde, meine Mom anzulügen, konnte ich auch nicht vergessen, dass sie und James wie zwei hormongesteuerte Teenager vor der Haustür geknutscht hatten – ein Umstand, der bereits für sich allein genommen eine abartige Grausamkeit darstellte. In Anbetracht des nicht zu verachtenden Details, dass sie seit einigen Wochen mit Gabriel liiert war, nahm ihr Fehltritt jedoch ein geradezu desaströses Ausmaß an.

Ich kann nicht bleiben!

Die Erkenntnis traf mich wie ein Blitz. Natürlich hatte es in der Vergangenheit immer mal wieder Gelegenheiten gegeben, in denen ich darüber nachgedacht hatte, mein Elternhaus zu verlassen. Aber das waren alberne Fantasien gewesen, die in den meisten Fällen im Anschluss an Streitereien mit meiner Mom entsprungen waren. Niemals wäre ich dazu tatsächlich in der Lage gewesen.

Aber die Situation hat sich verändert.

Ich habe mich verändert.

Ich war volljährig, hatte die Schule beendet und würde in einer Woche ohnehin an den Uni-Campus ziehen. Und auch wenn ich früher die Meinung vertreten hätte, dass es auf ein paar Tage mehr oder weniger nicht ankam, so konnte ich diese Aussage inzwischen nicht mehr unterschreiben. Mein Leben war das reinste Minenfeld. Flüchtig betrachtet schien alles in bester Ordnung zu sein. Doch unter der Oberfläche brodelte es so gewaltig, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die nächste Katastrophe hervorbrach.

Und wenn es so weit ist, soll sich Mom nicht in meiner Nähe aufhalten!

Ich traf meine Entscheidung schweren Herzens, aber mit der Gewissheit, das Richtige zu tun. Schnell, damit ich meine Meinung nicht noch änderte, begab ich mich zurück in mein Zimmer und begann, meine Sachen zu packen. Ein Großteil der Dinge, die ich mit ins Wohnheimzimmer nehmen würde, befand sich glücklicherweise bereits in Kisten. Es galt also nur noch die letzten Klamotten, Schuhe und Hygieneartikel einzupacken. Die wichtigsten Entertainmentprodukte wie mein Handy, einige Bücher, meinen iPod und mein MacBook legte ich gemeinsam mit dem Fotoalbum, das ich von Adam zum Geburtstag bekommen hatte, und meinem Plüschbären Addy, der ebenfalls ein Geschenk meines Schutzengels war, in eine Reisetasche. Als ich damit fertig war, brachte ich alles hinunter in mein Auto und schloss mit einem gedämpften Laut und einem dicken Kloß im Hals den Deckel meines Kofferraums. Die letzte dreiviertel Stunde war ich so in mein Handeln vertieft gewesen, dass es mir gelungen war zu verdrängen, was ich hier eigentlich tat. Doch jetzt, da die Arbeit beendet war, führte kein Weg mehr an der Erkenntnis vorbei, dass ich tatsächlich drauf und dran war, mein Elternhaus zu verlassen.

Tränen stiegen mir in die Augen und ein Schluchzen kämpfte sich meine verengte Kehle empor. Trotz all des Negativen, das in diesen vier Wänden vorgefallen war, stimmte es mich traurig, ihnen nun den Rücken zu kehren.

So ist es für alle Beteiligten am besten, versuchte ich mich selbst zu überzeugen. Da das jedoch nur mäßig klappte, atmete ich ein letztes Mal tief durch und begab mich zurück ins Haus. Mom würde jeden Augenblick nach Hause kommen und ich wollte sie nicht in der Auffahrt empfangen.

Auf dem Weg in die Küche, wo ich mir einen nervenstärkenden Kakao hatte machen wollen, überkam mich plötzlich der unerklärliche Drang, ein letztes Mal mein Zimmer aufzusuchen. Auch wenn ich nicht ausschließen wollte, dass ich irgendwann hierher zurückkehren würde, fühlte es sich falsch an, ohne gebührenden Abschied zu verschwinden.

Die Tür zu meinem Zimmer glitt auf und ich trat zögerlich ein. Obwohl alle Möbel an ihrem gewohnten Platz standen, wirkte der Raum ohne meine persönlichen Gegenstände seelenlos und leer.

»Du wirst mir fehlen«, murmelte ich mit tränenbelegter Stimme und wollte mich bereits zum Gehen wenden, als mein Blick an meinem Bett hängen blieb. Auf der ordentlich zusammengelegten Decke stand ein letzter Karton, den ich hierlassen wollte. Darin befanden sich all jene Dinge, die ich mit Harmony und Killian in Verbindung brachte. Bücher, CDs, T-Shirts von gemeinsam besuchten Konzerten, Fotos und Eintrittskarten für Kinofilme, die wir uns angesehen hatten. Und schließlich, auch wenn ich das gern vergessen würde, das Geschenk, das ich von den beiden zu meinem achtzehnten Geburtstag erhalten hatte – einen rosafarbenen Dildo, den Harmony mit Kondomen und einer Legofigur bestückt hatte, sodass es wie ein Auto aussah, und das mir vor einiger Zeit in einer Kommode in Nox’ Zimmer neben einem Zeichenblock und Bleistiften in verschiedenen Härtestufen ins Auge gesprungen war.

Ich wollte mein neues Leben ohne die Last der Vergangenheit beginnen, jedoch – das wurde mir in diesem Moment bewusst – genügte die physische Trennung von all diesen Dingen nicht, um das ungleiche Geschwisterpaar aus meinen Gedanken zu verbannen. Also schnappte ich mir den Karton und trug ihn ebenfalls in meinen Hyundai.

Wieder zurück im Haus bereitete ich mir eine Tasse Kakao zu, setzte mich damit an den Küchentisch und wartete auf meine Mom. Etwa zehn Minuten musste ich mich in Geduld üben, bis das Geräusch der sich öffnenden Haustür erklang. Schritte waren zu hören, ehe die Tür wieder geschlossen wurde und ein Schlüssel klimpernd in der dafür vorgesehenen Schale landete. Kleidung wurde raschelnd abgelegt und kurz darauf tauchte meine Mom auf der Schwelle zur Küche auf. Ihr schlanker und definitiv nicht schwangerer Körper war in einen schokoladenfarbenen Businessanzug mit rosafarbener Bluse gekleidet und ihre braunen Haare trug sie wie gewohnt zu einem kinnlangen Bob. Ihr Anblick, so vertraut und normal, verstärkte meine bereits aufgewühlten Emotionen und mein Herzschlag sprintete davon.

»Avery?« Mit geweiteten Augen und offenstehendem Mund starrte mich meine Mom an. »Bist du es wirklich?«

VIER

Moms hauchdünne Stimme ließ meine Kehle noch enger werden. »Ich meine, natürlich bist du es«, fügte sie verlegen hinzu, »aber ich dachte nicht … also, ich meine, ich habe deinen Wagen in der Einfahrt gesehen, aber ich hatte nicht damit gerechnet, dich wiederzusehen.« Der Versuch, ihre Gedanken in Worte zu fassen, scheiterte kläglich. Dafür füllten sich ihre Augen mit Tränen und sie eilte ungelenk auf mich zu. »Oh, Avy-Spätzchen!« Bei mir angekommen, schlang sie ihre Arme um meinen Oberkörper und zog mich beherzt vom Stuhl.

»Mom«, wisperte ich und erwiderte ihre Umarmung. Der heimelige Duft nach Kindheit und Zuhause kitzelte mir in der Nase und verstärkte das Chaos in meinem Kopf. Die Last auf meiner Brust wurde so intensiv, dass ich kaum noch Luft bekam, doch im Gegensatz zu meiner Mom durfte ich mir keine Schwäche erlauben – auch wenn ich im Augenblick nichts lieber getan hätte, als mich wie ein kleines Kind auf ihrem Schoß zusammenzurollen und meinen Tränen freien Lauf zu lassen.

»Mom, wir müssen reden«, sagte ich mit belegter Stimme und blinzelte die Tränen aus meinen Augen, ehe ich meine Arme sinken ließ. Wenn ich an meinem Plan festhalten wollte, durfte ich jetzt nicht sentimental werden.

Schmerz und Kummer blitzten in den Augen meiner Mom auf, als ich mich aus ihren Armen löste und sie sich unweigerlich aufrichtete. Trotzdem hielt sie tapfer an ihrem Lächeln fest, wofür ich sie gleich noch mal so sehr liebte.

»Das sollten wir wirklich, Spätzchen«, sagte sie und umrundete den Tisch, um sich an ihren gewohnten Platz zu setzen. »Aber lass mich dir zuvor sagen, wie froh ich bin, dich zu sehen. Nach unserem Streit hatte ich ein so bedrückendes Gefühl, als würden wir nie wieder die Gelegenheit haben, miteinander zu reden.«

Da ich genau wusste, von welchem Gefühl sie sprach, und ich auch den Grund für diese Empfindung kannte – Adam hatte Mom vor unserer Reise in die Hölle mit seiner Engelszunge auf meinen möglichen Tod vorbereitet, damit sie im Fall der Fälle nicht endgültig den Bezug zum Leben verlor –, wandte ich nur den Blick ab und setzte mich zu ihr an den Tisch.

»Genau darüber möchte ich mit dir reden, Mom.« Ich nahm meine Kakaotasse in die Hand, in der Hoffnung, dadurch ein wenig Halt zu finden. »Wie dir inzwischen aufgefallen sein muss, hat sich mein Leben – habe ich mich – in den letzten Monaten verändert.«

»Ich weiß, Avery«, beeilte sich Mom zu sagen, »und ich werde lernen, das zu akzeptieren. Du bist jetzt eine erwachsene junge Frau mit einem eigenen Leben. Spätestens wenn du nächste Woche an den Campus ziehst und –«

»Darum geht es nicht«, unterbrach ich sie, ehe mich der Mut verließ. »Zumindest nicht direkt. Es gibt da etwas, das ich dir unbedingt erzählen möchte, damit du mich und mein Handeln besser verstehst. Aber zuvor möchte ich dich darum bitten, mich unbedingt ausreden zu lassen. Okay? Das ist ungemein wichtig. Denn ich werde dir weder die Details erzählen noch dir irgendwelche Fragen beantworten können. Und vor allem gibt es nichts, was du sagen oder tun kannst, um mich von meiner Entscheidung abzubringen. Je eher du dir das eingestehst, desto leichter wird es für uns beide werden.«

»Was meinst du damit, Avery?« Die zuvor versiegte Tränenflut im Gesicht meiner Mom drohte von Neuem loszubrechen. Auch schienen ihre Finger leicht zu beben. »Ich hoffe, du drückst dich nicht absichtlich so mysteriös aus, um mir Angst zu machen.« Sie versuchte ihre Anspannung mit einem unsicheren Lachen zu überdecken. Erfolglos.

»Ich will dich nicht anlügen, Mom. Die Sache ist mysteriös. Aber vor allem ist sie unheimlich gefährlich. Deswegen möchte ich, dass du eins weißt und niemals vergisst: Ich werde dich immer lieben. Ganz gleich, was du tust, mit wem du zusammen bist oder was mit mir geschieht.«

Meiner Mom entflohen neue Tränen und ein Schluchzen drang ihr über die Lippen. Ihre sonst so selbstsichere Fassade hatte sichtbare Risse bekommen.

»Avy, ich weiß nicht –«

»Ich stecke in Schwierigkeiten, Mom«, presste ich hervor, ehe mich der Mut verließ. »Ich kann dir nicht sagen, worum es geht oder wer hinter mir her ist, aber ich schwöre dir, es ist nichts Kriminelles oder Illegales. Hier geht es nicht um Geld, Drogen oder irgendwelche anderen Dinge. Es geht um …« Ich stockte, verengte die Augen und schüttelte den Kopf. So groß die Versuchung auch war, meiner Mom endlich die Wahrheit anzuvertrauen, ich durfte es nicht! »Vergiss es. Es ist besser, wenn du nicht zu tief in die Sache involviert wirst. Es reicht, wenn du weißt, dass mir niemand außer Adam und Nox, die ebenfalls Teil des Ganzen sind, helfen kann. Nicht die Polizei, nicht das FBI oder sonst irgendeine Behörde. Glaub mir bitte, ich weiß, was ich sage, und ich meine es todernst. Es ist vermutlich schwer zu begreifen, aber du musst mir glauben, dass wir alle mehr oder weniger unverschuldet in eine Sache hineingezogen wurden, die unser Leben bedroht. Und ohne Nox an meiner Seite wäre ich schon längst tot.«

Mom sog scharf die Luft ein, was sich wie ein stotternder Motor anhörte. Es schmerzte, ihr derart wehtun zu müssen, aber ich hoffte, dass sie auf diese Weise realisierte, wie ernst die Lage war und dass ich keine andere Wahl hatte. Das ständige Lügen, die Gewissheit, dass ich an ihrem letzten Alkoholrückfall schuld war, und die Aussicht, dass es in Zukunft nicht besser werden würde, waren Lasten, die ich nicht länger mit mir herumschleppen durfte. Nicht, wenn ich eine reelle Chance haben wollte, dieses Martyrium zu überleben.

»Avery, du musst …«, begann Mom, aber ich überging ihren Einwurf.

»Ich muss gehen, Mom. Das ist im Augenblick das einzig Richtige. Für dich und für mich. Für unsere Beziehung. Denn abgesehen davon, dass ich dich durch meine Anwesenheit in Gefahr bringe, darf ich mir auch keine Ablenkungen erlauben. Aber«, auch in meine Augen traten Tränen und meine Kehle war so eng wie ein Nadelöhr, »du lenkst mich ab, Mom. Ich möchte dich nicht für das verurteilen, was du getan hast, aber es ist mir unmöglich zu akzeptieren, dass du James wieder in dein Leben gelassen hast.«

Meine Mom öffnete den Mund, vermutlich um sich zu rechtfertigen, doch ich würgte sie ab, indem ich den Kopf schüttelte.

»Wie du bereits sagtest, gehe ich in einer Woche sowieso an den Campus. Hier geht es also nur um ein paar Tage, die ich früher ausziehe. Jedoch kann ich die Zeit bis dahin nicht bei dir zu Hause verbringen. Nicht in dem Wissen, dass du«, ich verlor den Kampf gegen meine Tränen und salziges Nass rann mir in dicken Tropfen über die Wangen, »einem Mann verziehen hast, der uns beide auf unvorstellbar grausame Art verraten hat.« Ganze Ströme von Tränen rannen mir über die Haut, und meine Lippen bebten, ebenso wie meine Hände. Auch klang meine Stimme rau und belegt. Dennoch war es mir unmöglich aufzuhören, ehe ich mir alles von der Seele geredet hatte. »Ich wünsche dir jedes Glück dieser Welt, Mom, denn du hast es wie niemand sonst verdient. Und wenn du der Meinung bist, dass du dafür James brauchst, werde ich dir nicht im Weg stehen. Trotzdem sollst du wissen, dass ich ihm niemals verzeihen werde.«

»Avy, bitte!« Mom schluchzte herzerweichend. »Tu das nicht!«

Ihr Kummer raubte mir den Atem und ich war kurz davor, meine Meinung zu ändern. Aber wenn ich diesen Fehler beging, würde ich die Situation für uns beide nur verschlimmern. Also erhob ich mich von meinem Stuhl, umrundete den Tisch und kam vor Mom zum Stehen. Ich ergriff ihre kalten, zitternden Finger und drückte sie fest zwischen meinen Handflächen.