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Amokalarm, Geiselnahmen, Razzien – wenn das Spezialeinsatzkommando gerufen wird, ist die Lage nicht selten lebensbedrohlich. Umso wichtiger ist es für die Beamten, sich im Einsatz blind aufeinander verlassen zu können. Doch was passiert, wenn das innere Gefüge eines Einsatztrupps durch einen dramatischen Vorfall auseinandergerissen wurde? Bereits bei Dienstantritt beim SEK BW weiß Kadir, welcher Schatten auf der Einheit liegt: Vor Kurzem kam einer der Kollegen bei einem Einsatz ums Leben. Kadir ist klar, dass der Trupp ihn nicht himmelhochjauchzend in Empfang nehmen wird. Doch speziell einer der neuen Kollegen verhält sich ihm gegenüber ohne ersichtlichen Grund mehr als abweisend. Zunächst versucht Kadir, es als Lappalie abzuhaken, doch Jans Verhalten macht ihm zunehmend zu schaffen. Mehr als es das sollte … Und in Jans Innerem scheint mehr im Argen zu liegen, als dessen langjährige Kollegen dem Neuen anvertrauen wollen. Als bei einem Einsatz die Lage zu eskalieren droht, sieht Kadir sich gezwungen, Jans dunkles Geheimnis ans Licht zu holen. ~~~~~ Band 2 der Polizei-Romance-Reihe "Sheltered in blue". Alle Bände sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Amokalarm, Geiselnahmen, Razzien – wenn das Spezialeinsatzkommando gerufen wird, ist die Lage nicht selten lebensbedrohlich. Umso wichtiger ist es für die Beamten, sich im Einsatz blind aufeinander verlassen zu können. Doch was passiert, wenn das innere Gefüge eines Einsatztrupps durch einen dramatischen Vorfall auseinandergerissen wurde?
Bereits bei Dienstantritt beim SEK BW weiß Kadir, welcher Schatten auf der Einheit liegt: Vor Kurzem kam einer der Kollegen bei einem Einsatz ums Leben. Kadir ist klar, dass der Trupp ihn nicht himmelhochjauchzend in Empfang nehmen wird. Doch speziell einer der neuen Kollegen verhält sich ihm gegenüber ohne ersichtlichen Grund mehr als abweisend. Zunächst versucht Kadir, es als Lappalie abzuhaken, doch Jans Verhalten macht ihm zunehmend zu schaffen. Mehr als es das sollte … Und in Jans Innerem scheint mehr im Argen zu liegen, als dessen langjährige Kollegen dem Neuen anvertrauen wollen. Als bei einem Einsatz die Lage zu eskalieren droht, sieht Kadir sich gezwungen, Jans dunkles Geheimnis ans Licht zu holen.
Copyright © 2019 Svea Lundberg
Julia Fränkle-Cholewa
Zwerchweg 54
75305 Neuenbürg
www.svealundberg.net
Korrektorat: Annette Juretzki und Doreen Wiegand
Buchsatz: Fenja Wächter / www.fenjas-coverdesign.de
Covergestaltung:
Fenja Wächter / www.fenjas-coverdesign.de
Bildrechte:
© Nikita - stock.adobe.com
© tomertu - stock.adobe.com
© Tony Marturano - shutterstock.com
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Alle Rechte sind vorbehalten.
Die in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Der Inhalt des Romans sagt nichts über die sexuelle Orientierung der Covermodels aus.
Liebe Leser*innen,
nach »Wenn Barrikaden brennen« darf ich nun mit »Wenn Erinnerungen lähmen« den zweiten Band meiner Reihe »Sheltered in blue« in die weite Buchwelt entlassen. An dieser Stelle möchte ich vorab noch einmal danke sagen, für die zahlreichen, überwiegend sehr positiven Stimmen zum Auftakt der Reihe. Ich freue mich, dass es offenbar gelungen ist, einerseits Leser*innen zu begeistern, die bislang kaum Berührungspunkte mit dem Thema ›Polizeiarbeit‹ hatten, wie andererseits ›echte Polizist*innen‹ zu überzeugen.
Es ist nicht immer ganz leicht, die Balance zwischen Fiktion und Realität zu finden. Denn einerseits ist es mir ein großes Anliegen, Polizeiarbeit möglichst realistisch darzustellen, andererseits jedoch von fiktiven Begebenheiten zu erzählen, denen kein reales Geschehen zugrunde liegt. Hinzukommt, dass es innerhalb der Polizeiarbeit natürlich Dinge gibt, die weder für mich persönlich – als Ehepartnerin eines Polizisten – noch für die Leserwelt bestimmt sind. Gerade in diesem Band, der sich inhaltlich der Arbeit des Spezialeinsatzkommandos (kurz: SEK) widmet, halten sich Realität und Fiktion in besonderem Maße die Waage. Letztendlich möchte ich in »Sheltered in blue« stets Geschichten schildern, die sich so oder so ähnlich zugetragen haben könnten – nicht mehr und nicht weniger.
In diesem Zusammenhang hoffe ich auch, dass meine Leser*innen mir eine kleine Ungereimtheit in diesem Roman verzeihen: Aktuell – im Jahr 2019 – befindet sich auf dem Gelände des Polizeipräsidium Einsatz in Göppingen keine Polizeischule mehr, wie noch wenige Jahre zuvor. Für die Handlung dieses Romans habe ich mir erlaubt, wieder eine Ausbildungsstätte für angehende Polizist*innen auf das Gelände der Bereitschaftspolizei in Göppingen zu verlegen.
Ich hoffe, diese kleine künstlerische Freiheit sei mir verziehen. Nun wünsche ich euch, liebe Leser*innen, viel Spaß und hoffentlich unterhaltsame Lesestunden mit André, Jan und Kadir sowie ihren Kolleg*innen vom SEK.
Alles Liebe
Svea
Für all jene, die täglich mit ihrem Leib und Leben für unser aller Sicherheit einstehen. Für ihre Familien und Freunde.
~~~~~
Die »thin blue line« – eine dünne blaue Linie auf schwarzem Grund – hat sich, ausgehend vom angelsächsischen Raum, weltweit als Zeichen der Verbundenheit zwischen Gesetzeshütern und Bevölkerung etabliert und hebt den Auftrag der Beamten im Dienst hervor, die Bevölkerung vor kriminellen Elementen zu bewahren. Vor dem schwarzen Hintergrund erinnert die »thin blue line« an all jene Kollegen, die im Dienst verletzt oder getötet wurden.
Ausgehend von diesem Symbol entstand der Reihen-Titel »Sheltered in blue«. Stets in der Hoffnung, die Beamten mögen unverletzt aus dem Dienst zurückkehren. In ihr Zuhause, zu ihren Familien und Freunden.
›Ich hätte nicht alleine herkommen sollen!‹
In Dauerschleife hallte die Erkenntnis durch meine Gedanken, als ich dort vor der Tür stand. Unter dem gläsernen Vordach, neben mir eine Französische Bulldogge aus Keramik, an der Tür – genau auf Augenhöhe – ein farbenfroher Kranz, der jedweden Besucher willkommen hieß.
Familiäre Vorstadtidylle.
Nicht heute!
Die kleinen, bunten Blüten verschwammen vor meinen Augen zu einem unkenntlichen Farbenwirbel.
Ich hätte nicht alleine herkommen sollen.
Ich sollte überhaupt nicht hier sein.
André sollte es.
Er sollte hier stehen, den Schlüssel im Schlüsselloch umdrehen, die Tür aufstoßen und ein frohes »ich bin zurück« in den Hausflur rufen. Gleich darauf seine beiden kleinen Töchter an sich ziehen und Carolin im Vorbeigehen einen sanften Kuss auf die Stirn hauchen.
Keine liebevollen Küsse mehr.
Schon lange nicht.
Kein Kinderlachen in seinen Ohren.
Verstummt in diesem Haus – bald schon.
Ich drückte auf die Klingel, vernahm dumpf das Schrillen im Inneren. Mein Blick flog über meine Schulter zurück auf meinen BMW, der in der Einfahrt parkte. Wer würde eigentlich Andrés Wagen vom Bereitschaftspolizeigelände fahren und hierher bringen?
Ich hätte nicht alleine herkommen sollen. Hätte auf den Einsatzleiter und auf Jochen und auf unsere anderen Kollegen hören sollen. Es war nicht mal meine Aufgabe hier zu sein. Die Nachricht zu überbringen. Und doch war ich verdammt nochmal der Einzige, der es tun sollte. Tun musste. Ich war es ihm schuldig. Und ihr.
Carolin!
»Jan!« Aus ihrer Stimme sprach Überraschung. Keine Sorge. Hatte ich angenommen, sie würde es ahnen?
Ich konnte sie nur anstarren. Sie und das kleine Mädchen auf ihrem Arm. Sekundenlang. Stumm dabei zusehen, wie sich Carolins Miene von Verwunderung zu fragender Ungewissheit wandelte. Wie sich der Hauch einer Ahnung darin manifestierte.
Hinter mir rollte ein Auto heran. Hielt am Straßenrand. Der Motor verstummte. Der Psychologe war da. Ich hätte wenigstens auf ihn warten sollen.
»Jan!« Nun sprach zittrige Furcht aus ihrer Stimme. Zwei Augenpaare waren unverwandt auf mich gerichtet. Das eine sorgenvoll. Ängstlich. Bittend. Das andere unschuldig. Kindlich. Nichts ahnend.
Ich zwang mich, Carolin fest in die Augen zu sehen und nicht auf ihre Tochter auf ihrem Arm zu achten. Sie würde es nicht begreifen. Noch nicht.
»Frau Becker?« Der Psychologe trat neben mich. Sie schenkte ihm keinen einzigen Blick. Ihr ganzes Flehen galt mir.
»Carolin ...« Meine eigene Stimme drang wie von weiter Ferne an meine Ohren. »Caro ... es tut mir leid, ich ... muss dir sagen ... André ...« Noch während ich seinen Namen über die Lippen würgte, versagte meine Stimme. Ich konnte es ihr nicht sagen. Ebenso wenig, wie er ihr hatte sagen können, was geschehen war.
»Frau Becker, können wir hineingehen?«
»Nein! Nein, ich will wissen ... Was ist mit André? Gottverdammt, Jan!«
Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr. Ich musste derjenige sein, der es sagte.
Schuldig!
»André wurde beim Einsatz angeschossen. Er ist noch im Rettungswagen verstorben.«
Es klang so simpel. Eine Aneinanderreihung von Fakten. Eine Verkettung unglücklicher Umstände.
Ich wandte mich ab. Stolperte die drei Treppenstufen hinab und auf den Kiesweg. Blendete die Geräusche hinter mir aus. Konzentrierte mich nur auf das Knirschen unter meinen Füßen und auf das schwindende Blau in seinen Augen. Auf den letzten Blick, der mir gegolten hatte.
Schuldig!
Ich drückte auf den Funkschlüssel, öffnete die Tür und stieg ein. Der Motor summte auf. Rückwärts lenkte ich den Wagen aus der Einfahrt.
Ich floh – und ich wusste es.
Noch auf den ersten Metern die Straße entlang betätigte ich die Freisprecheinrichtung. Nik ging nach den ersten drei Freizeichen ran – wie fast immer, wenn er meine Nummer sah.
»Jan! Ich bin noch im Laden, was gibt’s?«
»Kannst du zu mir kommen?«
»Wie ...?« Stille. Wenige Sekunden nur. »Ja, ich komme.«
Mit zitternden Fingern betätigte ich den Knopf am Lenkrad und legte auf. Er hatte verstanden.
»Ich brauch dich, Nik ...«, flüsterte ich in das monotone Brummen des Motors hinein. Ich sollte nicht fahren, das wusste ich. Dennoch drückte ich das Gaspedal durch, als Orange zu Grün wechselte.
Vor meinem inneren Auge sah ich nur Blau.
Fünf Monate später.
»Yasin-Paul, hemen buraya gel!«
Automatisch ziehe ich den Kopf ein und die Schultern nach oben, obwohl ich selbstverständlich weiß, dass meine Schwester nicht mich, sondern ihren Sohnemann mit ihrem energischen Rufen meint. Aber wenn Hülya seinen kompletten doppelten Vornamen benutzt und noch dazu in unsere Muttersprache verfällt, ist allen Anwesenden klar, dass es verdammt nochmal ernst ist. Yasin jedenfalls weiß das mit Sicherheit auch sehr genau und hastet aus weiser Voraussicht so schnell die Treppe nach oben und knallt die Tür zu seinem Zimmer zu, dass er so tun kann, als hätte er die Ansage nicht gehört.
Was genau er verbrochen hat, dass mein Schwesterherz so in Rage ist, weiß ich nicht. Aber einem Neunjährigen fallen ja mitunter die wildesten Sachen ein. Ich zumindest habe meine Eltern und meine große Schwester in dem Alter ziemlich auf Trab gehalten. Tue ich heute mit Anfang dreißig immer noch, wenn ich ehrlich bin, und daher kann ich es mir nicht verkneifen, quer durchs Wohnzimmer zu Hülya zu gehen und ihr beschwichtigend eine Hand auf den Arm zu legen.
»Sakin ol, ablacim. Was hat er denn angestellt?«
Schnaubend schüttelt sie meine Hand ab und wirbelt zu mir herum, deutet dabei mit einer energischen Geste durch den Flur und zur Treppe ins Obergeschoss.
»Hast du das gesehen? Er ist einfach so abgedampft!«
Ich grinse schief, hebe entschuldigend die Schultern. Als ob ich irgendetwas dafürkönnte, dass Yasin momentan immer mal wieder auf Durchzug schaltet. Im Übrigen kann ich verstehen, dass er direkt nach der Schule keine Lust auf eine Diskussion mit seiner Mam hat – worum auch immer sich diese drehen mag.
»Was ist denn los?«, hake ich nach, da Hülya meine Frage gekonnt übergangen hat.
»Ein Anruf von der Rektorin, das ist los«, verkündet meine Schwester und läuft energisch an mir vorbei in Richtung Küche. Als ich diese betrete, landet gerade eine Pfanne mit solchem Schwung auf dem Herd, dass ich kurz Sorge habe, im Cerankochfeld würde sich ein hübscher Riss zeigen. Wenn das Temperament mit meiner Schwester durchgeht, sollte man sie eigentlich nicht in der Küche hantieren lassen.
»Ablacim ...«, ermahne ich sie noch einmal sanft und lehne mich ihr gegenüber rücklings an die Arbeitsplatte. Da endlich atmet sie tief durch, stellt das Olivenöl beiseite und begegnet meinem fragenden Blick.
»Yasin hat sich anscheinend heute in der großen Pause geprügelt.«
Sie sagt das mit einer solchen Grabesmiene, als habe ihr Sohn einen Amokalarm ausgelöst und ich muss mir verkneifen, nicht arglos »Na und?« zu fragen. Das Schulterzucken kann ich mir jedoch nicht verbieten.
»Hab ich auch früher ...«
Doch alles, was ich für meinen Einwand und mein schiefes Grinsen bekomme, ist ein giftiger Blick aus ihren dunklen Augen.
»Das ist nicht witzig, Kadir. Es gab in den letzten Wochen schon häufiger Stress zwischen Yasin und zwei seiner Schulkameraden. Ich hatte deswegen bereits ein Gespräch mit der Klassenlehrerin. Sie sagt, Yasin wäre seit einiger Zeit ziemlich ... schwierig. Unkonzentriert, reizbar, aufmüpfig ...« Sie seufzt, ein trauriger Schatten huscht über ihr Gesicht. Sie sieht müde aus, fällt mir auf. Zu müde. »Ich weiß selbst, dass es im Moment nicht einfach ist mit ihm. Seit meiner Trennung von Ralf ... Vielleicht bin ich zu nachlässig mit ihm, lasse ihm zu viel durchgehen.«
Ich will schon einhaken, ihr sagen, dass ich es nicht verwunderlich finde, dass ein Neunjähriger, dessen Eltern sich gerade im Scheidungskrieg befinden und dessen Mutter aktuell selbst nicht die besten Nerven hat, seine Grenzen austestet. Doch ich komme nicht dazu, denn schon erklärt Hülya in ihrer gewohnt energischen Art: »Aber damit ist jetzt Schluss. Ich hab keine Lust, dass mein Sohn so ein verwöhnter türkischer Prinz wird!«
Obwohl es sicherlich in diesem Moment fehl am Platz ist, muss ich lachen. Yasin ist weit davon entfernt, sich wie ein Prinz zu benehmen. Und ich weiß, wovon ich rede. Immerhin habe ich mich in meiner Jugend durchaus zeitweise so aufgeführt, als sei ich der Sultan von Stuttgart und die Welt – insbesondere die weibliche – müsse mir zu Füßen liegen. Ich hatte ziemlich daran zu knabbern gehabt, dass die meisten Mädels in meinem Jahrgang recht wenig Interesse an mir hegten. Viel mehr aber noch daran, feststellen zu müssen, dass sich mein eigenes Interesse an ihnen ebenfalls in Grenzen hielt und es stattdessen einige meiner Kumpels waren, die meine Blicke wie magisch anzuziehen schienen.
Heute kann ich sehr gut damit leben, dass mir die Frauenwelt nicht zu Füßen liegt. Es reicht absolut, wenn der eine oder andere Mann für ein paar Minuten vor mir auf die Knie geht – oder ich vor ihm.
»Was ist daran so lustig, hmm?« Ich kann gerade noch rechtzeitig dem Zipfel des Geschirrtuchs ausweichen, welches Hülya in meine Richtung zischen lässt.
»Nichts, sorry«, entgegne ich rasch und bemühe mich um eine ernste Miene. Meine Schwester ist – ganz im Gegensatz zu manch anderen Teilen meiner Familie – super entspannt, was meine Homosexualität angeht. Dennoch muss sie nicht gerade wissen, in welche Richtung meine Gedanken von den Schulproblemen ihres Sohnes abgedriftet sind.
Spontan ziehe ich sie zu mir und drücke einen besänftigenden Kuss auf ihre Stirn. Sie lässt es zu und sinkt sogar für einen Moment gegen mich und in meine Umarmung. Der Vorteil an türkischen Familien ist meiner Meinung nach ja, dass sie oft so groß sind, dass es nicht so sehr ins Gewicht fällt, wenn ein Teil von ihnen sich absolut intolerant – und in meinem Fall homophob – verhält. Zu einem guten Teil meiner Verwandtschaft habe ich den Kontakt vor Jahren abgebrochen. Auch zu meinen Eltern. Hülya und ich hingegen sind durch mein Outing mit Anfang zwanzig sehr eng zusammengewachsen. Mehr noch, nachdem ihre Ehe vor etwas mehr als einem Jahr in die Brüche ging. Kurz darauf ist auch meine letzte Beziehung gescheitert. Grund genug für mich, meine Zelte in Hessen abzubrechen und zurück nach Baden-Württemberg zu kommen. Seit knapp sechs Wochen wohne ich nun wieder in Stuttgart Bad Cannstatt, nur zwei Querstraßen von Hülya und Yasin entfernt.
Ich will gerade dazu ansetzen, ihr wegen ihres Sohnemanns gut zuzureden, doch da löst sie sich bereits aus meiner Umarmung, wendet sich dem Kühlschrank zu und fragt: »Wann ist dein erster Arbeitstag hier?«
›Hier‹ meint in diesem Fall das Spezialeinsatzkommando Baden-Württembergs mit Sitz in Göppingen.
»Morgen.«
Hülya lässt beinahe die Paprikas fallen.
»Morgen schon!« Ein inbrünstiger Fluch in unserer Muttersprache folgt. »Entschuldige bitte, ich hab deine Termine einfach nicht im Kopf.«
Was ich ihr bei dem Stress, den sie in letzter Zeit dank Scheidung und neuem Job hat, auch nicht verübeln kann. Ich hingegen fiebere dem morgigen Tag schon seit Wochen entgegen. Eineinhalb Monate lang von Stuttgart nach Frankfurt zu pendeln, hat an meinen Nerven gezerrt. Und noch dazu war es eigentlich nicht einmal zulässig. Beim SEK sind wir verpflichtet, im Notfall binnen einer halben Stunde in der Bereitschaftspolizei sein zu können – was ich in den letzten sechs Wochen selbstverständlich nicht annähernd garantieren konnte. Die Dienstrunden habe ich daher noch allesamt in der BePo verbracht, für den Bereitschaftsdienst und meine freien Tage hatte ich eine Sonderregelung, die auch nur deshalb genehmigt wurde, weil ohnehin schon klar war, dass ich vom SEK in Hessen nach Baden-Württemberg wechseln würde.
»Macht nichts«, versichere ich meiner Schwester und schnappe mir ein Gemüsemesser aus dem Messerblock. »Reicht ja, wenn ich bescheid weiß und pünktlich dort aufkreuze.«
Hülya schenkt mir ein sanftes Lächeln und schiebt mir wortlos eines der Schneidebretter und die Paprikas zu.
»Kleine Würfel?«
»Ja und zwar bitte wirklich kleine.«
Ihr Grinsen bestätigt mir, dass sie mein Augenverdrehen sehr wohl registriert hat. Sie spart sich jedoch jeglichen Kommentar und wendet sich stattdessen wieder dem Kühlschrank zu. Noch vor wenigen Jahren habe ich es gehasst, wenn Hülya versucht hat, mich dazu zu verdonnern, in der Küche zu helfen. Heute ist es fast schon so etwas wie Entspannung für mich. Familienleben, mit all seiner Wärme und all den Neckereien, die mir das Gefühl geben, Zuhause zu sein, auch wenn das hier nicht meine Wohnung ist.
Am nächsten Morgen betrete ich bereits knapp eine Stunde vor Dienstbeginn das Gelände der Bereitschaftspolizei in Göppingen. Mal abgesehen davon, dass es für mich zum guten Ton gehört, als Neuer etwas früher zu erscheinen, möchte ich auch einfach genug Zeit haben, mich ein wenig zu akklimatisieren. Außerdem habe ich in der vergangenen Nacht schlecht geschlafen und in den letzten beiden Stunden vor dem Weckerklingeln überhaupt keine Ruhe mehr gefunden. Daher war es schlichtweg egal, ob ich Zuhause herumsitze oder mich schon mal auf den Weg mache.
Normalerweise bin ich niemand, den neue Situationen schnell aus dem Konzept bringen. Natürlich bin ich gespannt auf die Kollegen, aber es ist weniger der Wechsel der Dienststelle an sich, der mir schon seit Tagen immer wieder ein nervöses Flattern im Magen beschert. Die innere Unruhe ist schlicht dem Umstand geschuldet, dass ich um den Schatten weiß, der seit einigen Wochen auf der Einheit liegt, welcher ich zugeteilt sein werde.
Als Zugehöriger eines Spezialeinsatzkommandos muss man sich – mehr noch als bei anderen Bereichen der Polizei – wenigstens hypothetisch mit der Möglichkeit auseinandersetzen, in eine lebensbedrohliche Situation zu kommen. Theoretisch ist mir und all meinen Kollegen bewusst, dass uns unser Job im schlimmsten Fall das Leben kosten kann. Dennoch ist und bleibt es in den allermeisten Fällen eine Hypothese. Ein Gedankenexperiment.
Für das SEK Baden-Württemberg jedoch ist die Möglichkeit, einen Kollegen im Einsatz zu verlieren, vor kurzem bittere Realität geworden. Ein Umstand, der insbesondere für die engen Vertrauten innerhalb des Trupps Blau schwer zu verarbeiten sein dürfte – trotz guter Betreuung durch geschulte Psychologen. Eine Sache jedoch macht den Tod des Kollegen besonders prekär, insbesondere auch für mich, obwohl ich von ihm nur Foto und Dienstnummer kenne: Ich bin sein direkter Ersatz.
Denn es ist nicht so, dass ich nur mehr oder weniger zufällig in genau diesen Trupp nachrücke. Fakt ist, ich habe meinen Versetzungsantrag nach Baden-Württemberg gestellt, als der Kollege noch lebte. Mir wurde gesagt, ich bräuchte bei der aktuellen Personallage einen Tauschpartner, der einen Platz für mich freimacht und an meiner statt nach Hessen geht.
Nun bin ich hier – ohne Tauschpartner. Meine Stelle in Frankfurt wird wenigstens für kurze Zeit unbesetzt bleiben. In Göppingen rücke ich auf den Platz des verstorbenen Kollegen nach.
Ich bin in meiner Persönlichkeit als Polizist und als Mensch gefestigt genug, um mich nicht in irgendeiner skurrilen Weise schuldig zu fühlen. Dennoch ist es ein merkwürdiges Gefühl, quasi den Platz eines Verstorbenen einzunehmen. Und ich bin mir sicher, dass es auch für meine neuen Kollegen einen bitteren Beigeschmack haben muss.
Zu meiner Erleichterung werde ich jedoch direkt nach meiner Ankunft in der BePo bereits freudig von Polizeihauptkommissar Peter Rieger, meinem neuen Gruppenführer, in Empfang genommen. Nach einer kurzen Ansprache im Büro nimmt er sich die Zeit, mich über das Gelände zu führen und findet dabei sehr offene Worte. Es ist ihm anzumerken, dass auch ihn als Führungsverantwortlichen der Tod des Kollegen erschüttert hat. Dennoch glaube ich ihm aufs Wort, dass er sich freut, mich ab sofort in seiner Einheit zu wissen.
Augenblicklich kann ich spüren, wie sich mein Pulsschlag normalisiert und Erleichterung in meinem Bauch ausbreitet. Und ich muss mir daher eingestehen, dass ich doch nervöser war, als ich vor mir selbst zugeben wollte.
~~~~~
Selbst durch die flammenhemmende Haube und den Helm hindurch hallt das Dröhnen der Rotorblätter in meinen Ohren. Der schneidend kalte Wind reißt an meinem Overall, reflexartig schließe ich meine in Einsatzhandschuhe eingepackten Finger fester um die Kante des Hubschrauberbodens. Ein klein wenig weiter noch lehne ich mich zurück, sodass ich zwischen den Kufen hindurchschauen und zusehen kann, wie das Land unter uns vorbeigleitet.
›Ein besseres Willkommensgeschenk hätten sie mir nicht machen können‹, schießt es mir durch den Kopf. Ich weiß, dass das Abseiltraining für manche Kollegen eine echte Überwindung darstellt. Ich jedoch habe es bereits beim ersten Mal geliebt und könnte es jede Woche wiederholen. Höhe hat mir noch nie etwas ausgemacht und ich kann es kaum erwarten, gleich wieder im Seil unter dem Heli zu hängen.
»Kadir?«
Über das Brüllen des Flugwindes hinweg dringt mein Name von rechts an meine Ohren. Ich drehe den Kopf und begegne Jochens fragendem Blick. Wenige Schritte von mir entfernt steht auch er auf der Kufe und scheint sich Sorgen um meine Verfassung zu machen. Dachte er, mein Blick in die Tiefe sei Unsicherheit geschuldet gewesen?
Mein Grinsen kann er dank Haube und Helm nicht sehen, also löse ich eine Hand und recke den Daumen im Handschuh in die Höhe. In dem schmalen Streifen, den die Flammenschutzhaube freilässt, blitzen seine Augen munter auf. Ich habe jetzt schon das Gefühl, dass ich mich mit Jochen gut verstehen werde. Was beruhigend ist, denn wie ich erfahren habe, werde ich mir mit ihm das Zimmer in der BePo teilen. Auch die anderen Kollegen aus meinem Trupp, die ich vor Abfahrt zum Höhentraining kennengelernt habe, scheinen mit mir auf einer Wellenlänge zu liegen. Bei der kurzen Fahrt im Mannschaftswagen hatten wir erste Gelegenheit, uns zu beschnüffeln und ich bin positiv überrascht, wie entspannt und fröhlich mich die Truppe in Empfang genommen hat. Aufgrund der bitteren Erlebnisse der letzten Monate hatte ich mehr Reserviertheit erwartet, bin jedoch froh, dass es nicht so ist. Beim SEK sind wir mehr noch als bei anderen Sparten der Polizeiarbeit darauf angewiesen, dass wir uns aufeinander verlassen können. Immer und zu einhundert Prozent. Ich bin zuversichtlich, dass ich mich in Trupp Blau gut werde einbringen können.
Noch während ich diese Gedanken hege, schweift mein Blick durch den Innenraum des Helis zu Jan, der mir schräg gegenüber auf der gegenseitigen Kufe steht. Flammenhemmende Haube und Helm verhüllen weitestgehend sein Gesicht, sein Blick ist von meinem abgewandt. Es ist mir unmöglich, in seiner Miene zu lesen und dennoch kommt mir ebendiese verschlossener vor, als die meiner übrigen Kollegen. Auch vorhin im Mannschaftswagen war Jan der Einzige, der sich weitgehend aus den Gesprächen herausgehalten hat. Möglich, dass er nur einen schlechten Tag hat. Ich will nichts überbewerten. Trotzdem keimt in mir die leise Ahnung auf, dass er mir gegenüber nicht so aufgeschlossen ist wie der Rest des Trupps. Woran das liegen mag, darüber kann ich nur spekulieren. Es mag den bedrückenden Umständen geschuldet sein oder vielleicht – was ich nicht hoffen möchte – meiner Nationalität?
Stehend auf den Kufen eines fliegenden Hubschraubers ist jedoch kaum der richtige Zeitpunkt für irgendwelche Grübeleien. Also schiebe ich den Gedanken an Jan beiseite und konzentriere mich auf den bevorstehenden Abseilakt.
Der Heli hat inzwischen eine große Freifläche erreicht. Der Flugwind lässt nach, lediglich die durch die Rotorblätter aufgewirbelte Luft zerrt noch an uns. Am Rande der grasbewachsenen Fläche stehen zwei Mannschaftswagen und die Kollegen von Trupp Grün, die mit uns zum Training gefahren sind. Ansonsten ist die Fläche menschenleer. Kein Baum steht im Weg. Beste Bedingungen. Bei einem Einsatz könnte das ganz anders aussehen. Auch wenn das hier nur eine Trainingssituation ist, haben wir alle im Hinterkopf, dass jede einzelne Übung den Ernstfall simuliert.
Meine Atmung geht mit einem Mal ruhig, obwohl mein Herz und mein Puls rasen. Ein prüfender Blick zu meinen Kollegen. In einer nahezu synchronen Bewegung lassen wir uns nach hinten ins Seil sinken. Eine Hand führt das Abseilgerät, die andere liegt am ablaufenden Seil, welches in einem Leinenbeutel am Bein befestigt ist und sich somit nicht verheddern kann.
Aus dem Augenwinkel werfe ich einen Blick zu Jochen. Er seilt sich ebenso rasch ab wie ich, wir sind nahezu gleichauf. Uns gegenüber hängen Jan und Chris in den Seilen, sind ebenfalls schon nahe am Boden. Der ganze Akt dauert nur wenige Sekunden. Im Ernstfall könnten wir sogar während des Abseilens unsere Schusswaffen einsetzen. Neben der erhöhten Sicherheit durch das Abseilgerät ist der mögliche Schusswaffengebrauch einer der Vorteile des Speed-Rappellings. Im Gegensatz zum Fast-Roping, bei dem sich alle Einsatzkräfte nacheinander ohne Sicherung an nur einem Seil herablassen und somit keine Hände frei haben.
Kaum habe ich festen Grund unter den Füßen, löse ich das Seil aus der Vorrichtung in meinem Gürtel und sprinte los. Im Laufen ziehe ich meine Waffe, werfe mich zu Boden und bringe sie in Anschlag. Jochen ist neben mir, ebenfalls in Schussstellung. Es ist nur eine Übung. Dennoch spüre ich das Adrenalin durch meine Blutbahn rauschen. In unserem Job ist nichts einfach nur eine Übung.
~~~~~
Klirrend stoßen unsere Bier- und Colaflaschen gegeneinander, zufrieden mit dem hinter uns liegenden Diensttag grinsen wir uns an.
»Dann hiermit noch einmal in Anwesenheit aller: Herzlich willkommen bei uns, Kadir!«
Meine neuen Kollegen stimmen in den Willkommensgruß unseres Gruppenführers ein. Jochen, der neben mir sitzt, verpasst mir einen freundschaftlichen Schlag auf den Rücken und prostet mir von der Seite noch einmal zu.
»Freut mich, Zimmerkollege!«
Ich grinse ihm zu und proste meinerseits in die Runde. Begegne aufgeschlossenen Blicken – mit Ausnahme von einem. Jan hat seine Flasche bereits an die Lippen gesetzt, nimmt einen großen Schluck. Rasch schaue ich fort, tue so, als hätte ich seine latent abweisende Geste nicht bemerkt – und will ihr auch nicht zu viel Bedeutung beimessen.
»Danke Peter ... euch allen! Freut mich, hier zu sein.« Das tut es wirklich, ich freue mich auf die Arbeit mit den neuen Kollegen und fühle mich gut aufgenommen. Weitgehend ... Ich kann nicht verhindern, dass mein Blick erneut zu Jan wandert. Nun, nachdem er seine Flasche abgestellt hat, starrt er auf das Etikett, als müsse er erst noch herausfinden, was man ihm da zu trinken hingestellt hat. Die winzigen Fältchen um seine Augen würden sicher schöne Lachfältchen abgeben, doch bislang habe ich ihn nicht einmal schmunzeln sehen. Was schade ist, alleine schon, da ich mir sicher bin, dass ihm eine amüsierte Miene gut stehen würde. Überhaupt ist Jan ein attraktiver Mann. Das dunkelblonde, eher hellbraune Haar liegt ihm vom langen Tragen der Flammenschutzhaube ein wenig verschwitzt um den Kopf. Aber auch im plattgedrückten Zustand zeigen sich die ersten weichen Wellen in den Strähnen und laden dazu ein, hineinzugreifen. Das auffallend symmetrische Gesicht wirkt streng, zu angespannt, die geschwungen Lippen schmal, zu verkniffen. Die Augen sind ... braun – hellbraun –, als er den Blick hebt und damit meinen trifft. Ich widerstehe dem Reflex, wegzuschauen. Halte stand und würde allzu gerne herausfinden, weshalb er alleine mit dieser Art, mich anzusehen, versucht, mich auf Distanz zu halten. Doch dann spricht Jochen mich direkt an und verwickelt mich in ein Gespräch. Der Blickkontakt reißt ab und als ich das nächste Mal flüchtig zu Jan schaue, unterhält er sich mit Chris und vermeidet es penibel, noch einmal in meine Richtung zu blicken.
Im Verlauf des Abends jedoch spüre ich immer wieder diese hellen braunen Augen auf mir ruhen. Immer nur kurz, aber durchdringend. Als wolle er mich durchleuchten und so etwas über mich herausfinden, während er sich selbst vor mir verschließt. Möglich, dass er nur einfach etwas reservierter ist als die übrigen Jungs. Dass sich seine abweisende Zurückhaltung mir gegenüber geben wird. Ich hoffe es, denn auf stumme Blickduelle wie das am Beginn des Zusammensitzens lässt sich sicherlich keine gesunde Vertrauensbasis unter Kollegen aufbauen.
»Und du?«, hakt Sven interessiert nach, der sich gerade minutenlang genervt über seinen anstehenden Umzug in ein Eigentumshaus ausgelassen hat. »Kommst du aus der Gegend? Oder was hat dich hierher verschlagen?«
»Aus der Nähe von Stuttgart, ja. Ich hab meine Ausbildung in Hessen angefangen«, erkläre ich bereitwillig. Es ist nicht selten, dass Kollegen sich in mehreren Bundesländern bewerben und ihre Polizeikarriere fernab der Heimat starten, nur um dann irgendwann zurückzukehren. Was zugegebenermaßen gerade bei Spezialeinheiten gar nicht so einfach ist, da es meist einen Tauschpartner braucht, um eine Stelle zu bekommen.
»Ich hatte bereits vor der Bewerbung fürs SEK darüber nachgedacht, wieder nach Stuttgart zurückzukommen, aber dann ...«, ich zögere nur einen winzigen Moment, »hab ich meinen damaligen Freund kennengelernt und bin erstmal in Frankfurt geblieben.«
Möglichst unauffällig mustere ich meine Kollegen bei meinen Worten. Wie beiläufig von meinem Ex zu erzählen ist meine Art, mich dezent zu outen. Ich bin eigentlich niemand, der jedem seine Sexualität gleich auf die Nase binden muss, aber innerhalb des Trupps sind die Kollegen in aller Regel so eng miteinander, dass ich gerne von vorneherein reinen Tisch mache. Bislang habe ich innerhalb der Polizei nur wenige negative Reaktionen in Bezug auf meine Homosexualität erhalten – ebenso wie ich nie aufgrund der Herkunft meiner Eltern angegangen worden bin. Die wenigen Male, da ein Kollege meinte, mir einen blöden Spruch drücken zu müssen, habe ich souverän gekontert und die Sache war vom Tisch. Aber gerade bei den harten Jungs vom SEK weiß man nie so genau, ob nicht doch einer seine rohe Männlichkeit in Gefahr sieht, wenn er mit einem Homo zusammenarbeiten muss. Ich halte mich durchaus für selbstsicher genug, um möglichen Anfeindungen Paroli bieten zu können, hoffe aber natürlich, dass es gar nicht erst so weit kommen wird.
»Ihr seid nicht mehr zusammen, dein Freund und du? Klang jetzt irgendwie so ...« Jochen hakt nach, ohne eine Miene zu verziehen und ich schätze ihn eigentlich nicht als begnadeten Schauspieler, sondern vielmehr als grundehrlichen Kerl ein. Auch von den übrigen Jungs kommt keine nennenswerte Reaktion. Lediglich Jan verzieht einmal kurz die Lippen, ertränkt die Regung jedoch sogleich in einem Schluck Bier.
»Nein.« Ich reiße mich zum wiederholten Mal an diesem Abend von Jans Anblick los und wende mich wieder direkt Jochen zu. »Wir sind schon eine Weile getrennt. Was nicht dramatisch ist, es hat einfach nicht mehr gepasst. Aber damit war dann doch das Heimweh da. Zumal meine Schwester gerade mitten im Scheidungskrieg steckt und ich ihr gerne ein bisschen unter die Arme greifen wollte.«
»Verständlich. Und wo genau wohnst du jetzt?«
»In Bad Cannstatt.«
Schnell stellt sich im Gespräch heraus, dass auch die übrigen Kollegen irgendwo im Großraum Stuttgart oder Göppingen leben – mit Ausnahme von Jochen. Er lebt mit seiner Familie auf der Schwäbischen Alb – laut eigener Aussage in einem kleinen Kaff. Dank des vergleichsweise langen Anfahrtsweges fährt er nur in den Freirunden nach Hause. Ein Umstand, den ich bewundernswert finde, und ich nehme mir vor, ihn in einer stillen Minute danach zu fragen.
Mit seinem Wohnsitz im Stuttgarter Westen haust Jan mir am nächsten. Karma hebt den mahnenden Zeigefinger – ich grinse schief in meine Bierflasche.
~~~~~
Mit einem herzhaften Gähnen gibt Jochen um kurz vor zehn das endgültige Zeichen, die gemütliche Runde aufzulösen. Übrig geblieben sind ohnehin nur noch er, Adrian und ich. Unsere anderen Kollegen haben sich schon deutlich früher in ihre Zimmer verabschiedet oder sind nach Hause gefahren. Wie schon in Frankfurt habe ich vor, auch hier die wenige freie Zeit innerhalb der Dienstrunden in der BePo zu verbringen. Auch wenn ich nur rund 40 Kilometer Fahrtweg nach Cannstatt habe, spare ich mir diese Zeit lieber.
»Ihr bleibt auch hier?«, hake ich nach, während wir rasch die leeren Pizzakartons beiseite räumen. Bei Jochen ist es mir klar, aber auch Adrian nickt.
»Ich bin oft auch in der Bereitschaftswoche da. Ist besser für meinen inneren Schweinehund. Hier mache ich wenigstens Sport. Reicht schon, wenn ich in der freien Runde zuhause auf der faulen Haut liege.«
Seine Worte entlocken mir ein schiefes Grinsen. Adrian ist das, was man im Schwäbischen gemeinhin als ›echtes Viech‹ bezeichnen würde. Ausgeprägte Bizeps- und Brustmuskeln spannen sein Shirt. Erfahrungsgemäß sind es aber tatsächlich oft diese kleinen Kraftprotze, die zwar fleißig im Studio pumpen, beim Joggen aber schnell aus der Puste kommen. Allzu schlecht kann es um seine Ausdauerqualitäten jedoch nicht bestellt sein, sonst wäre er sicher nicht durch den knallharten Aufnahmetest fürs SEK gekommen.
»Außerdem bin ich’s ja gewohnt«, fährt er im Plauderton fort, als wir den Gemeinschaftsraum verlassen. »Beim Studium war ich auch immer die ganze Woche über in Villingen-Schwenningen und wenn überhaupt nur am Wochenende zuhause.«
»Du warst beim Studium?« Interessiert mustere ich ihn und mir fällt jetzt erst auf, dass ich gar nicht darauf geachtet habe, welcher meiner Kollegen mit welchem Dienstgrad herumläuft. Dabei sind Kommissare beim SEK nun wirklich keine Seltenheit.
»Ja, Direkteinsteiger.«
»Angenehm, Mittlerer Dienst«, flachse ich und strecke ihm spaßeshalber die Hand zur Begrüßung hin. Adrian schlägt im Laufen ein und grinst, scheint mir die Bemerkung keineswegs übel zu nehmen. Im Gegensatz zu ihm habe ich es nach dem Abi nicht direkt zum polizeiinternen Studium geschafft, sondern bin über die Ausbildung zur Polizei gekommen. Mittlerer versus Gehobener Dienst – das ewige kleine Übel, aus dem manche Kollegen einen echten Konkurrenzkampf machen. Ich für meinen Teil gönne jedem sein Glück, direkt zum Studium zu kommen, bin sogar manchmal ganz froh darüber, im Mittleren Dienst begonnen zu haben. Ich dürfte lediglich zwei oder drei Jahre älter sein als Adrian, habe aber sicherlich mehr Berufserfahrung als er und das in ganz unterschiedlichen Bereichen. Zum Studium will ich dennoch irgendwann – hoffentlich bald. Weniger, weil mich der höhere Dienstgrad reizt, sondern vielmehr die Aussichten, für Führungspositionen in Betracht zu kommen. Ich mag es, Verantwortung zu übernehmen.
»Also, Nacht. Bis morgen.« Adrian hebt kurz die Hand zum Gruß und schlüpft dann in das Zimmer, das er sich mit Sven, dem Nesthäkchen des Trupps, teilt.
Jochen und ich tappen weiter zu unserem gemeinsamen Zimmer, wo ich mir rasch ein paar Sachen schnappe, um noch schnell in Richtung der Duschen zu verschwinden. Als ich die Tür zum Vorraum öffne, dringt mir bereits das Rauschen von Wasser entgegen. Offensichtlich bin ich also nicht der Einzige, der vor der Nachtruhe noch ein bisschen Wasser und Seife an den Körper lassen will – oder sollte.
Meine frischen Klamotten – nur Boxershorts und eine Jogginghose, denn ich sehe es nicht ein, mich jetzt nochmal ordentlich anzuziehen – lege ich auf einer der Bänke inmitten des Raumes ab. Das Wasserrauschen verstummt. Während ich mir mein T-Shirt über den Kopf ziehe, höre ich das patschende Geräusch nackter Füße auf nassem Boden. Der Geruch eines herben Männerduschgels und feuchten Haaren wabert in die Umkleide hinein. Achtlos lasse ich mein Shirt auf die Bank fallen, drehe mich für einen flüchtigen Blick halb um und schaue direkt in ein Paar hellbraune Augen. In ein Gesicht, das eben sicherlich noch Überraschung barg, bei meinem Anblick jedoch plötzlich wieder seltsam ausdruckslos wird. Binnen Sekunden scheint Jan irgendwelche inneren Mauern hochzufahren. Mein freundliches »hey«, verklingt in einem kratzigen Laut. Sein rechter Mundwinkel zuckt.
»Hi«, sagt er nur – selbst dieses winzige Wort klingt distanziert – und geht an mir vorbei zu einem der Spinde. Er ist nicht abgeschlossen. Jan zieht seine Sachen daraus hervor, lässt eine Sporttasche und Klamotten wie ich zuvor auf die andere Seite der Bank fallen. Obwohl wir uns quasi direkt gegenüberstehen, sieht er mich nicht mehr an. Zieht sich stattdessen das Handtuch von den Hüften, um sich vollends abzutrocknen.
Ich verbiete es mir selbst, den Blick wandern zu lassen. Dass Jan optisch attraktiv ist, weiß ich bereits. Dazu muss ich ihm nicht in den Schritt oder auf den Arsch starren. Stattdessen taxiere ich weiterhin sein Gesicht, stelle fest, dass es im Profil ein wenig kantiger wirkt, als wenn wir uns direkt ansehen würden. Tun wir allerdings nicht. Jan meidet meinen Blick gekonnt. So gekonnt, dass es fast nicht auffällt, dass er es absichtlich tut. Fast ...
»Hatten wir irgendwie einen schlechten Start?« Ich kann – und will – mir die Frage einfach nicht verkneifen. Da endlich blinzelt Jan einmal kurz. Flüchtig sieht er zu mir auf, nur um gleich darauf irgendetwas in seiner Sporttasche zu suchen.
»Nein, warum?«
»Keine Ahnung.« Ich bin mir in diesem Moment wirklich nicht sicher, ob ich nicht vielleicht doch zu viel in seine kühle Art hineininterpretiert habe. »Du wirkst ein wenig ... distanziert, um ehrlich zu sein.«
Nun sieht er mich an. Direkt. Forschend. Ohne zu blinzeln.
Beinahe erwarte ich, er würde mir für meine Feststellung über den Mund fahren, doch dann zuckt plötzlich der Anflug eines Lächelns um seine Lippen.
»Nee, alles gut, mach dir keinen Kopf. Ich bin einfach kein großer Redner.« Das Deo, welches er eben aus seiner Tasche gekramt hat, landet neben dem Klamottenberg. Über die Bank hinweg streckt Jan mir seine Hand entgegen.
»Sorry. Willkommen im Trupp, Kadir.«
Verblüfft schlage ich ein. Sein Händedruck ist fest, die Handinnenflächen und Finger vom Duschen erhitzt. Wärme strahlt von seiner Hand auf meine ab und zieht sich meinen Arm hinauf. Gleichzeitig fröstle ich, was eigentlich nicht alleine dem Umstand geschuldet sein kann, dass ich halbnackt vor ihm stehe.
»Danke«, beeile ich mich zu entgegnen und ertappe mich bei dem bemühten Versuch, mir sein Lächeln ganz genau einzuprägen. Wer weiß, wann ich es das nächste Mal zu sehen bekommen werde.
Jan nickt, seine Finger zucken an meinem Handballen. Unsere Hände liegen tatsächlich noch immer ineinander. Mein Blick huscht nach unten, als er die seine zurückzieht, und streift über eine schmale Tätowierung an der Innenseite seines Handgelenks. Es sieht aus wie ein Schriftzug oder eine Zahlenkombination, doch ehe ich genauer hinsehen kann, hat Jan sich erneut abgewandt und greift nach seinem Deo. Während ich mich vollends ausziehe, steigt mir der Geruch von ›Axe Dark Temptation‹ in die Nase und lässt mich wohlig schnuppern.
Gerade habe ich die Fahrertür meines heißgeliebten Audis geöffnet, lässt mich ein penetrantes Hupen zusammenzucken und herumfahren. Ich mag zwar bei einem Spezialeinsatzkommando arbeiten, doch in meiner Freizeit bin ich genauso durchschnittlich schreckhaft wie jeder andere Otto-Normal-Bürger auch.
Ich stelle gerade noch fest, dass es der alte Opel meiner Schwester ist, der hinter mir ohne Rücksicht auf die Felgen auf den hohen Bordstein rumpelt, da springt Hülya bereits aus dem Wagen.
»Bruderherz! Was machst du hier? Solltest du nicht im Dienst sein?«
Ich kann mir das Augenverdrehen nicht verkneifen, muss jedoch im selben Moment lächeln.
»Schwesterherz! Solltest du nicht vielleicht mal deinen Blinker überprüfen lassen?«
»Ach ...« Mit einer energischen Handbewegung winkt Hülya ab. »Ich fahr doch gleich weiter.«
Ich will schon dazu ansetzen, sie liebevoll darauf hinzuweisen, dass ›gleich weiterfahren wollen‹ keine Begründung ist, um ohne rechts zu blinken eine Vollbremsung hinzulegen, doch wie so oft komme ich bei meiner Schwester gar nicht erst zu Wort.
»Jetzt sag schon, warum bist du zuhause? Sag nicht, sie haben dich gleich nach den ersten beiden Tagen rausgeworfen.« Die Mischung aus Sorge und Tadel, die in ihrer Stimme mitschwingt, bringt mich zum Lachen. Vielsagend klimpere ich mit meinem Schlüsselbund und nicke in Richtung Fahrersitz.
»Ich will gerade los nach Göppingen.«
»Jetzt erst?«
Theoretisch weiß Hülya ganz genau, dass wir bei der Polizei im Allgemeinen und beim SEK im Speziellen keinem Nine-to-five-Job nachgehen. Aber praktisch scheint es sie doch zu irritieren, mich an einem Dienstagnachmittag zuhause anzutreffen.
»Ja, wir fangen heute erst später an, dafür geht der Dienst bis in die Nacht hinein.« Ich zögere einen Moment, setzte dann zur Erklärung ein einzelnes Wort hinzu: »Einsatz.«
»Oh, verstehe. Aber ... ist das nicht etwas früh?«
»Was? Für mich? Ich bin nicht erst seit gestern beim SEK.«
Hülya seufzt, über ihr rundes Gesicht huschte ein schwacher, sorgenvoller Schatten.
»Ich weiß doch. Trotzdem ...«
»Mach dir keinen Kopf, das wird nichts Wildes. Nicht für mich.«
Sie öffnet schon den Mund, um nachzuhaken, doch dieses Mal bin ich schneller.
»Ich muss. Wir sehen uns die Tage.«
»Warte ... Ja, okay. Melde dich, wenn du zuhau...« Mit einem Seufzen unterbricht sie sich selbst. »Vergiss es. Melde dich einfach die Tage.«
Schmunzelnd winke ich ihr kurz zu, ehe ich ins Auto steige. Irgendwie rührt es mich, dass sie mich ein kleines bisschen wie einen verlorenen Sohn statt wie ihren Bruder behandelt, seit ich wieder so nahe bei ihr wohne. Andererseits ahne ich, dass ich dem Ganzen möglicherweise einen Riegel vorschieben sollte, ehe sie mich noch gedanklich und emotional adoptiert.
Im Rückspiegel sehe ich zu, wie Hülya ebenfalls einsteigt und ihren Opel zurück auf die Straße lenkt – selbstverständlich ohne zu blinken. Kopfschüttelnd starte ich den Motor, parke ordnungsgemäß aus und steuere meinen Audi durch einige Seiten- auf die Hauptstraße, hinaus aus Cannstatt und dann weiter über die B10 in Richtung Göppingen.
Da wir gestern recht früh Feierabend gemacht haben und heute erst um 17 Uhr zum Dienst antreten müssen, habe ich die Nacht in meinen eigenen vier Wänden verbracht und den Vormittag genutzt, um die letzten Kartons auszupacken, die sich noch von meinem Umzug in dem kleinen Kellerabteil stapelten. Lediglich eine einzige Kiste steht noch immer unangetastet dort: die mit Peaches’ Sachen. Irgendwie bringe ich es selbst ein Jahr nach ihrem Tod noch nicht übers Herz, eine finale Entscheidung zu fällen, was damit passieren soll. Hülya meint, ich solle die Sachen ans Tierheim spenden. Dort säßen genug Katzen, die einen Kratzbaum, Spielzeug und Näpfe brauchen könnten. Aber insgeheim spiele ich oft mit dem Gedanken, mir doch wieder eine Katze anzuschaffen – auch wenn ich immer wieder lauthals verkünde, keine könnte meine Peaches ersetzen und es würde daher keine Nachfolgerin in meinem Haushalt geben.
Um nicht kurz vor dem bevorstehenden Einsatz melancholisch zu werden, drehe ich die Autoanlage auf und lasse mich von Disturbed beschallen. Mit deren Musik im Ohr fliege ich die Strecke nach Göppingen regelrecht und lenke meinen Wagen bereits zwanzig Minuten vor Dienstbeginn auf den Parkplatz der BePo. Als ich dem Wachhabenden meinen Dienstausweis hinstrecke und den Audi langsam unter der sich öffnenden Schranke hindurchrollen lassen, stelle ich fest, dass sich in meinem Magen doch ein dezent nervöses Flattern eingestellt hat. Spektakulär wird der Einsatz heute nicht für mich werden, dennoch bin ich gespannt und auch ein wenig unruhig. Was aber vermutlich weniger mit der Aufgabe zutun hat, die ich zu erledigen haben werde, als vielmehr mit dem Kollegen, der dabei an meiner Seite sein wird. Denn auch wenn Jan mir bei unserem kurzen Gespräch vor zwei Tagen versichert hat, dass nichts zwischen uns steht, so werde ich doch das Gefühl nicht los, dass irgendetwas in der Luft liegt, das ich noch nicht einordnen kann.
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Während es draußen schon langsam zu dämmern beginnt und der für den späten Abend angesagte Nieselregen einsetzt, machen wir uns für den Einsatz bereit. Für unsere Kollegen aus dem Trupp bedeutet das: komplette Montur und volle Bewaffnung. Jan hingegen trägt zu seiner Jeans eine abgewetzte Fleecejacke, ich wiederum habe die Klamotten von meinem Umzug hervorgekramt: eine Arbeitshose und einen grauen, etwas zu weiten Pullover mit vereinzelten Farbspritzern. Darunter tragen wir unsere Schutzwesten und unsere HK P30.
»Können wir?«
Ich nicke ihm zu, überprüfe noch einmal den Sitz meines Schulterholsters, das ich unter meinem Pullover trage, und dass die Waffe darin nicht auf den ersten Blick zu sehen ist.
»Okay, Jungs, alles wie besprochen.« Von unserem Gruppenführer erhalten wir einen Handschlag.
»Wie besprochen«, bestätige ich ihm und folge Jan nach draußen auf den Hof, wo bereits der weiße Kleinbus bereitsteht, den wir vorab als Baufahrzeug ausstaffiert haben und der für heute unser Dienstfahrzeug sein wird. Ich überlasse es Jan, auf dem Fahrersitz Platz zu nehmen, obwohl ich selbst die Strecke zum Einsatzort auswendig kenne. Am Nachmittag sind wir sie bereits einmal mit unseren Kollegen und den ermittelnden Kripobeamten abgefahren, um uns gemeinsam ein genaues Bild machen zu können. Beim Einsatz nachher wird es dunkel sein, der Nieselregen erschwert die Sicht zusätzlich. Zwei Gründe mehr, weshalb jeder von uns den Einsatzort genau kennen muss. Jeder muss wissen, wo, wann und vor allem wie der Zugriff erfolgen wird.
Es geht darum, ein Männer-Trio festzunehmen, welches gemeinsam eine Marihuana-Plantage von nicht zu verachtendem Ausmaß in einem vermeintlich leerstehenden Bauernhof in der Nähe von Ulm betreibt. Durch eine kleine Unachtsamkeit einer der drei Drahtzieher ist die Kripo vor kurzem auf die Plantage aufmerksam geworden. Dank der guten Vorarbeit der Kollegen vom Rauschgiftdezernat wissen wir genau, welche Route die drei Männer jeden Dienstag und jeden Samstagabend nehmen, um zu ihren Pflänzchen zu gelangen. Glücklicherweise sind die drei stets zu ähnlichen Uhrzeiten unterwegs, was sowohl die Ermittlungsarbeiten der Kripo als auch unsere Einsatzvorbereitungen erheblich erleichtert hat.
Im Grunde wäre die heutige Festnahme ein klassischer Fall für unsere Kollegen vom Mobilen Einsatzkommando. Allerdings sind zwei der drei Verdächtigen hinlänglich polizeibekannt – und das nicht gerade wegen eines Schokoriegeldiebstahls im Supermarkt. Wir müssen von schwerer Bewaffnung ausgehen. Und auch wenn ich nicht annehme, dass die drei jedes Mal mit einer Kalaschnikow unter dem Sitz zu ihrer Plantage fahren, heiße ich es gut, dass wir statt des MEKs zu diesem Fall hinzugezogen wurden.
Während Jan den Transporter auf die A8 in Richtung Ulm lenkt, werfe ich einen prüfenden Blick auf die Uhr. Bis zum geplanten Zugriff bleiben uns noch rund eineinhalb Stunden.
»Wie lange bist du schon beim SEK?«, fragt Jan in die schweigsame Stille hinein, die bislang nur vom hintergründigen Dudeln des Radios unterbrochen wurde. Ich mustere ihn von der Seite, habe irgendwie das Gefühl, dass er sich weniger aus Interesse an meiner Person erkundigt, sondern eher, weil er abschätzen möchte, wie viel Erfahrung ich habe.
»Seit knapp vier Jahren«, gebe ich möglichst gelassen zurück und beobachte aus dem Augenwinkel genau seine Regung. Wir wissen beide, dass ein SEK-Beamter erst nach fünf oder sechs Jahren als ›erfahren‹ angesehen werden kann. Wir finden uns so oft in so unterschiedlichen Bedrohungslagen wieder, dass man unmöglich nach nur wenigen Jahren alle Eventualitäten erlebt haben kann.
»Wie alt bist du nochmal?«
»31.«
Um Jans Mundwinkel zuckt ein anerkennendes Lächeln.
»Dann hast du’s nach der Ausbildung aber auch recht schnell zur Spezialeinheit geschafft.«
»Mhm, ja. Zum SEK zu kommen war von Anfang an mein Ziel. Ein kleiner Traum, wenn du es so willst.«
»Und?« Jan mustert mich mit einem Seitenblick, seine hellen braunen Augen ruhen für einen Moment fragend auf mir, ehe er sich wieder auf die Fahrbahn konzentriert. »Nicht enttäuscht?«
»Überhaupt nicht«, entgegne ich wie aus der Pistole geschossen. Wie vermutlich jeder Kollege, der zur Spezialeinheit kommt, musste auch ich feststellen, dass nicht alles an unserer Arbeit so heroisch ist, wie man es sich im Vorfeld vielleicht vorgestellt hat. In erster Linie ist unser Job hart. Nicht nur körperlich, auch emotional. Wir verdienen nicht sehr viel mehr als die Kollegen im Streifendienst oder anderen geschlossenen Einheiten. Das, was wir an Gefahrenzulagen bekommen, geht für deutlich höhere Versicherungsbeiträge wieder drauf. Aber kaum einem von uns geht es ums Geld. Mir jedenfalls nicht. Ich liebe meinen Job, jeden einzelnen Tag. Nehme dafür das eine oder andere Risiko in Kauf – ganz bewusst.
Der Zug um Jans Mund ist für einen Moment wieder hart geworden und ich frage mich unweigerlich, ob er bei seiner Nachfrage den Tod seines Kollegen vor Augen hatte. Ob er nach diesem Vorfall manchmal an seiner Entscheidung, zum SEK zu gehen, gezweifelt hat. Doch während ich noch überlege, ob ich ihn danach fragen soll, wechselt er bereits das Thema.
»Schon eingelebt? Neue Wohnung, neues Team ... Ist doch sicher aufregend.«
»Auf jeden Fall. Aber da ich aus der Gegend komme und meine Schwester hier wohnt, war es keine große Umstellung, auch wenn ich zuvor einige Jahre weg war. Ich freue mich, wieder hier zu sein und das Team ...«, ich wende mich ihm direkt zu, »scheint schwer in Ordnung zu sein.«
Es ist schön, Jan lächeln zu sehen, auch wenn es nur ein flüchtiges Lippenverziehen ist.
»Du bist mit Jochen im Zimmer, hmm?«
»Ja.«
»Er ist ein klasse Typ. Absolut kollegial.«
Den Eindruck habe ich ebenfalls, außerdem scheint er mit viel Herzblut bei der Sache zu sein. Er lebt für seinen Job und dafür bewundere ich ihn, vor allem, wenn ich daran denke, dass er dafür oft vierzehn Tage am Stück von Zuhause weg ist. Auf seinem Nachttisch steht ein Foto seiner Familie: seine Frau, seine beiden Töchter und Familienhund Rufus.
In den zwei Tagen, die ich in meiner neuen Einheit verbracht habe, habe ich bereits das Gefühl bekommen, Jochen wesentlich länger zu kennen. Er ist ein aufgeschlossener Typ, der es einem leicht macht, ihn zu mögen und selbst das Gefühl zu bekommen, gut aufgehoben zu sein. Jan hingegen kann ich nach wie vor nur schwer einschätzen.
»Wie sieht’s bei dir aus?«, hake ich mit einer möglichst unverfänglichen Frage nach. »Hast du Familie?«
Knackend meldet sich unser Funkgerät zu Wort und sorgt dafür, dass Jan mir eine Antwort zunächst schuldig bleibt. Wir tauschen einen kurzen Blick, ehe ich mich melde.
»Chris, wie sieht’s aus?