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Lilli Beck

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Beschreibung

Es sollte die entspannteste Zeit ihres Lebens werden: Rosy geht auf die 50 zu, und nie hat sie sich besser gefühlt. Die Scheidung ist durch, und die Kinder sind ausgezogen. Jetzt steht der Wellnessurlaub mit der besten Freundin kurz bevor. Alles rosa also. Doch Rosy hat nicht mit ihrer Blutsauger-Familie gerechnet. Nach und nach belagern Kinder und Exmann wieder das «Hotel Mama». Selbst ihre nervige Schwiegermutter steht plötzlich vor der Tür – mit einem Koffer voller Probleme im Gepäck. Rosy kann allerdings so schnell nichts umhauen. Bis John auftaucht, ihre große Liebe aus Jugendzeiten ... «Gute Laune und jede Menge Lacher. Lilli Becks Roman ist die perfekte Lektüre für ein paar entspannte Stunden im Urlaub.»

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Lilli Beck

Sie haben sich aber gut gehalten!

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Es sollte die entspannteste Zeit ihres Lebens werden: Rosy geht auf die 50 zu, und nie hat sie sich besser gefühlt. Die Scheidung ist durch, und die Kinder sind ausgezogen. Jetzt steht der Wellnessurlaub mit der besten Freundin kurz bevor. Alles rosa also.

Doch Rosy hat nicht mit ihrer Blutsauger-Familie gerechnet. Nach und nach belagern Kinder und Exmann wieder das «Hotel Mama». Selbst ihre nervige Schwiegermutter steht plötzlich vor der Tür – mit einem Koffer voller Probleme im Gepäck. Rosy kann allerdings so schnell nichts umhauen. Bis John auftaucht, ihre große Liebe aus Jugendzeiten ...

«Gute Laune und jede Menge Lacher. Lilli Becks Roman ist die perfekte Lektüre für ein paar entspannte Stunden im Urlaub.»

Vita

Lilli Beck, Jahrgang 1950, wurden in Weiden/Oberpfalz geboren. Sie hat als Model, Schauspielerin und Visagistin gearbeitet. Lilli Beck hat eine Tochter und lebt heute in München.

Weitere Veröffentlichungen:

Reich heiraten! oder Wie ich mit 58 meine Hippie-Ideale über Bord warf

Chili und Schokolade

Mehr über die Autorin unter: www.lilli-beck.de

Für meine Tochter Jenny

Kinder sind die Antwort auf alle Fragen!

1

Mama! Du musst Papa stoppen. Er will unser Haus verkaufen!»

Die Stimme von Charlie, meinem sonst so gelassenen Sohn, überschlägt sich vor Entsetzen. So, als wäre er keine fünfundzwanzig, sondern drei Jahre alt, und ich würde ihn auf der Autobahn aussetzen wollen.

Bis gerade eben saß ich noch gemütlich auf der Terrasse und blätterte in aller Ruhe durch die Prospekte verschiedener Wellness-Hotels in Heiligendamm. Ich will endlich meinen langverdienten Urlaub planen und gemeinsam mit meiner besten Freundin Suse ein paar schöne Tage an der Ostsee verbringen. Aber jetzt steht mein Ältester unangemeldet auf der Matte, und da ist es mit der Ruhe vorbei.

«Ich bin doch hier aufgewachsen», jammert er weiter, lässt sich in einen Stuhl fallen und nimmt sich ein Stück Kuchen. «Meine ganze Kindheit und all meine Erinnerungen stecken in diesen Mauern. In unserer Straße habe ich Radfahren gelernt, am Apfelbaum hängt noch immer meine Schaukel und … und … und überhaupt!»

Huch, was ist denn mit dem los? Fehlen nur noch die dicken Krokodilstränen, denke ich und mustere ihn irritiert. Mit jedem Jahr ähnelt er mehr meinem Exmann. Genauso sah Volker aus, als ich ihn kennenlernte: dunkelblonde Locken, knallblaue Augen mit dichten Wimpern und ein freches Grübchen-Lachen, das Mädchenherzen sofort höherschlagen lässt. Aber seit wann redet Charlie so pathetisch daher?

«Du konntest es doch gar nicht abwarten auszuziehen», erinnere ich ihn. «Auch deine beiden Geschwister lassen sich vermutlich erst an Weihnachten wieder hier blicken. Ich lebe seit über einem Jahr allein in diesem Haus.»

Dass ich mich dabei alles andere als schlecht fühle, behalte ich lieber für mich. Endlich kann ich auch mal an mich denken und muss nicht mehr hinter allen herräumen, täglich Berge von Wäsche erledigen oder Essen für fünf hungrige Mäuler kochen.

Charlie schiebt seine schlammfarbene Strickmütze noch etwas weiter in die Stirn. «Ach, Fabian und Juliane haben eben keine Ahnung, wie wichtig ein Zuhause ist», fährt er trotzig fort. «Denen ist das vielleicht egal, ob hier fremde Leute einziehen. Aber ich würde es nicht überleben.»

Ich staune. Woher die plötzliche Sorge um sein Zuhause? Früher galten unser Haus und die Gegend hier als oberspießig.

«Tja, so ist das eben, wenn man erwachsen wird», erkläre ich. «Dein Vater und ich haben das ausführlich besprochen und uns zum Verkauf entschlossen, weil … weil …»

«Na, da bin ich mal gespannt», brummt Charlie und spielt mit seinem Schal, den er wie seine geliebte Mütze trotz der frühlingswarmen Mailuft nicht ablegt.

Puh! Mich vor meinem Sohn zu rechtfertigen, fällt mir doch schwerer, als ich dachte.

«Also, du weißt ja, dass Papa das Haus von seinen Großeltern geerbt hat. Mittlerweile ist es über hundert Jahre alt und stark renovierungsbedürftig. Und genau da liegt das Problem. Man müsste beträchtliche Summen reinstecken, um es zu modernisieren. Doch so eine Grundsanierung ist teuer.» Ich sehe ihn streng an. «Wie du dir sicher vorstellen kannst, sind die Kosten dafür höher als für eine Gartenparty. Wir müssten also eine Hypothek aufnehmen. Aber uns erscheint es stattdessen wichtiger, dir und deinen Geschwistern ein Studium zu ermöglichen.»

«Und?» Charlies Miene bleibt gelassen, so als würde ihn das nicht betreffen und als würde er seinen Lebensunterhalt und auch die Kosten für das Studium selbst verdienen.

«Der Haken ist mein Versorgungsausgleich», erkläre ich geduldig.

Verständnislos blickt Charlie unter seinen langen Wimpern hervor. «Was ist das denn?»

«Nun, dein Vater und ich haben vor unserer Heirat keine Gütertrennung vereinbart», beginne ich. «Alles, was ihm gehört, gehört also auch mir und umgekehrt. Das nennt man Zugewinngemeinschaft.»

«Aha.» Charlie sieht mich an, als würde ich ihm gerade die Relativitätstheorie erklären.

«Euer Vater verdiente all die Jahre über nicht schlecht. Und mein Job war unsere Familie, eure Erziehung und das ganze Drumherum», erkläre ich ruhig. «Und für diese jahrelange Arbeit steht mir die Hälfte des Zugewinns zu. Also alles, was Volker und ich während unserer Ehe gemeinsam erwirtschaftet haben.»

«Also auch die Hälfte des Hauses», resümiert Charlie naseweis und vergräbt die Hände in den Taschen seiner ausgewaschenen Jeans. «Da seid ihr euch wohl ausnahmsweise mal einig, was?» Er grinst frech.

Schon im Kindergarten wusste er auf diese Weise seinen Willen durchzusetzen. Nicht mit Worten. Nein, er war eher ein schweigsames Kind. Aber seinem niedlichen Lausbubengrinsen konnte ich selten widerstehen, auch nicht, wenn er vor dem Essen noch unbedingt ein Stück Schokolade wollte.

Aber heute bin ich immun dagegen. Außerdem sind Volker und ich uns tatsächlich einig. Das Haus wird verkauft, ich suche mir ein zentral gelegenes Appartement und kümmere mich ab sofort nur noch um mich selbst.

Bin ich etwa egoistisch, wenn ich jetzt an mich denke? Ich meine, ich habe drei wunderbare Kinder großgezogen, auf die ich sehr stolz bin. Doch nun sind sie erwachsen und führen ihr eigenes Leben. Volker und ich sind geschieden, und es gibt keinen vernünftigen Grund, allein in einem alten Kasten mit drei Etagen und unzähligen Zimmern zu wohnen, die nur Arbeit machen. Das Ganze sauber und in Schuss zu halten und im Winter zu heizen, nur weil die lieben Kinder Weihnachten bei Mama feiern wollen? Einen Christbaum kann man schließlich auch in jeder anderen Wohnung aufstellen.

«Das Haus selbst gehört mir natürlich nicht. Aber sobald wir es verkauft haben und es dann quasi zu einem ansehnlichen Sümmchen mutiert, bekomme ich die Hälfte davon ab. Deshalb bin ich mit deinem Vater ausnahmsweise einer Meinung.»

Entspannt lehne ich mich auf der alten Gartenbank zurück und freue mich über das vertraute Knarren, das sie bei jeder Bewegung von sich gibt. Die Maisonne wärmt angenehm, und es riecht schon ein bisschen nach Sommer. Mein Blick wandert über die fast verblühten Tulpen, die knospenden Pfingstrosen hin zum Fliederbusch. Zuverlässig zum Muttertag wird mir mein Lieblingsstrauch duftende Dolden schenken. Nur die Gemüsebeete bleiben dieses Jahr zum ersten Mal unbearbeitet. Unmengen gesundes Gemüse habe ich über die Jahrzehnte darauf angebaut und geerntet. Wie viele schöne Stunden ich hier im Garten verbracht habe! Obwohl mein Rücken in den letzten Jahren oft anderer Meinung war. Ein Grund mehr, besser auf mich zu achten. Schließlich bin ich neunundvierzig. Die Kinder führen ihr eigenes Leben, und ich werde frühestens als Oma wieder gebraucht. Was aber hoffentlich noch eine Weile dauert.

Charlie lebt mit seiner Freundin Marie in einem Appartement in Universitätsnähe. Fabian absolviert ein Schreinerpraktikum in Augsburg. Und Juliane, unser Nesthäkchen, hat nicht eine Träne vergossen, als sie die Zusage für das Sprachenstudium in Mailand bekam. Arrivederci München!, hat sie beim Kofferpacken geträllert. Tja, und mein Exmann gründet mit seiner jungen Pharmavertreterin gerade eine neue Familie. Meine junge Nachfolgerin, Ruth, ließ ausrichten, sie wolle unter keinen Umständen in einer renovierungsbedürftigen «Vorstadt-Hütte» leben. Für sie kam nur eine schicke, zentral gelegene Dachterrassenwohnung in Frage. Egal, wie weit entfernt die von Volkers Praxis am Pasinger Marienplatz liegt.

Es ist also genau der richtige Zeitpunkt, das Anwesen zu verkaufen. Ich träume schon von einer netten kleinen Wohnung mit Einbauküche und Balkon nach Süden. An schönen Tagen werde ich dort im Liegestuhl liegen, die Sonne genießen und höchstens ein paar Küchenkräuter im Balkonkasten züchten. Ansonsten sehne ich mich nach Ruhe, Frieden und einem selbstbestimmten Alltag. Als dreifache Mutter habe ich mir das verdient! Denn die Zeiten von «Mama, wo sind meine neuen Jeans? Warum gibt’s keine Sahne zum Erdbeerkuchen? Wieso muss ich Fisch essen? Ich hab keine Lust, mein Zimmer aufzuräumen. Alle meine Freunde dürfen am Wochenende bis Mitternacht wegbleiben …» sind endgültig vorbei. Für mich beginnt ein neuer Lebensabschnitt! Und darauf freue ich mich schon.

Für die neue Wohnung schaffe ich mir dann eine bequeme Schlafcouch an. Und wer immer von meinen drei Kindern mich dann besuchen möchte, ist herzlich willkommen. Oder sie quartieren sich bei ihrem Vater ein. Seine 100-qm-Wohnung ist schließlich groß genug. Bei der Gelegenheit können sie sich auch gleich mit ihrer Stiefmutter in spe anfreunden.

«Aber du wirst das alles hier doch wahnsinnig vermissen, Mama», sagt Charlie plötzlich und macht eine ausladende Handbewegung in die Runde. «Ich glaube nicht, dass du woanders glücklicher wärst.»

Nanu? Seit wann interessiert sich mein ältester Sohn denn für mein Glück? Hier stimmt was nicht. Er will doch irgendwas von mir.

Eigentlich war mir das schon klar, als er vor einer halben Stunde überraschend mit einem Blumenstrauß vor der Tür stand. (Mama ist ja immer zu Hause.) Da wusste ich irgendwie schon, dass mein Filius nicht zufällig in der Nähe war und nur mal nachsehen wollte, wie es mir geht. Nicht an einem Mittwochnachmittag, an dem weder er noch ich Geburtstag hat.

«Also?», seufze ich. «Wie viel brauchst du?»

«Mama!», entrüstet er sich.

«Reicht der Unterhalt deines Vaters nicht aus?», frage ich arglos, als wüsste ich nicht, wie hoch die Unterstützung ist. Andererseits finde ich es völlig normal, dass ein junger, lebenslustiger Student am Ende des Monats in Geldnöten ist. Daher stecke ich meinem Sohn auch immer mal wieder einen Fünfziger zu – wenn er mir schon Blumen spendiert.

Charlie runzelt die Stirn. «Es geht nicht um Geld.»

Nicht? Sofort schlägt mein Mutterinstinkt Alarm. Wenn er nicht pleite ist, muss es wirklich was Ernstes sein. «Charlie, was ist los?», frage ich besorgt.

Eine Wespe landet auf seinem Kuchenteller. Fasziniert beobachtet er, wie sich das gelb-schwarze Insekt über die Krümel hermacht. Als Kind hatte er panische Angst vor allem, was summt und stechen könnte. Und nun? Er will kein Geld, hat keine Angst mehr vor Insektenstichen, sondern sorgt sich stattdessen um seine Kindheitserinnerungen?

Sehr seltsam!

«Das Gleiche könnte ich dich auch fragen, Mama», entgegnet er. «Ich meine, du hast dich doch gut gehalten und –»

«Worauf willst du hinaus?», frage ich gereizt.

«Weißt du, was dein Problem ist, Mama?», doziert er weiter. «Du wirst bald fünfzig und bist frustriert, weil du die Wechseljahre auf dich zukommen spürst.»

«Wie bitte?» Meine Stimme überschlägt sich. Geht’s noch?! Erst macht er einen auf Lieber-Sohn-kommt-mit-Blumen-vorbei, und dann wirft er mir solche Unverschämtheiten an den Kopf? Nach und nach von seinen Kindern verlassen zu werden, ist hart genug und erfordert eine Menge Kraft. Doch von seinem eigenen Sohn gesagt zu bekommen, dass man alt wird, ist schlimmer als jede neue Falte im Gesicht. Verletzt gehe ich zum Gegenangriff über. «Studierst du nebenbei vielleicht auch noch Medizin?»

«’tschuldigung», lenkt Charlie sofort ein. «Ich wollte nicht unhöflich sein. Aber Frauen in deinem Alter brauchen eine neue Aufgabe, sonst werden sie … wunderlich. Du bist zu viel allein, Mama. Vielleicht solltest du dir wieder einen Hund anschaffen oder eine Katze, anstatt mit Papa unser Zuhause zu verscherbeln.»

«Zu viel allein, so, so … Ein neues Haustier, ja? Und du glaubst, das hilft?»

«Wäre doch schön, wenn du jemanden bei dir hättest. Jemanden, für den du sorgen könntest.» Er legt den Kopf schief, als wäre er selbst ein kleines Hündchen.

Ich winke energisch ab. «Also, ich möchte weder einen Hund noch eine Katze. Das bedeutet nämlich Verpflichtungen, wie du dich vielleicht erinnerst. Wenn es ums Gassigehen mit Wuschel ging, gab es immer Stress. Vor allem bei schlechtem Wetter. Außerdem habe ich dir doch gerade erklärt, warum wir das Haus verkaufen. Anschließend will ich mit Suse erst mal Urlaub machen und mir danach einen Job suchen.»

«Du willst arbeiten?» Charlie blickt mich an, als hätte ich verkündet, allein die Wüste durchqueren zu wollen.

«Ja, mal sehen, was der Arbeitsmarkt noch so bietet», antworte ich gelassen.

Nachdenklich rührt mein Ältester in seiner Kaffeetasse. «Mmm, das dürfte schwierig werden, bei der wirtschaftlichen Lage im Moment. Und für Frauen in deinem Alter …» Er stockt. Anscheinend ist ihm aufgefallen, dass er sich schon wieder auf sehr dünnem Eis bewegt. Im Moment frage ich mich allerdings, ob meine gesamte Erziehung für die Katz war. Obwohl ich in den letzten fünfundzwanzig Jahren «nur» Hausfrau und Mutter war, habe ich meinen drei Kindern von klein auf versucht beizubringen, dass das ein Vollzeitjob wie jeder andere ist.

«Traust du deiner alten Mutter etwa keinen Aushilfsjob zu?», frage ich provozierend. «Oder was hat es mit deiner plötzlichen Sorge um mein Glück auf sich?»

Vielleicht erfahre ich nun endlich, warum Charlie tatsächlich hier aufgetaucht ist und so gegen den Hausverkauf stänkert. Die Sorge um mein Wohlergehen hat ihn jedenfalls bestimmt nicht aus dem quirligen Uni-Viertel in die «Rentner-Pampa» getrieben, wie er unsere Gegend gerne bezeichnet.

Noch bevor er antworten kann, unterbricht die Türklingel unser Gespräch. Charlie sieht mich fragend an.

«Erwartest du Besuch?»

Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. «Das wird der Immobilienmakler sein, den dein Vater vorbeischicken wollte.»

«Ihr könnt es wohl gar nicht abwarten, das Haus endlich loszuwerden, was?», zischt er wütend.

Wortlos erhebe ich mich und gehe zur Tür.

Durch die Milchglasscheibe im oberen Teil der Haustür erahne ich einen männlichen Kopf. Wie war noch gleich der Name des Maklers?, versuche ich mich zu erinnern. Zu dumm, da habe ich Volker wohl mal wieder nicht richtig zugehört, als er mir letzte Woche den Namen und den Termin für die Hausbesichtigung durchgab. Ich weiß nur noch, dass der Mann ein Patient von Volker ist.

Beim Öffnen der Tür stutze ich einen Moment. Dann entfährt mir ein spitzer Schrei. «Johann Ansbach!»

Ist das zu fassen? Johann Ansbach, genannt John, der Schwarm aller Mädchen am Gymnasium – und meine große Liebe im letzten Schuljahr.

Damals trug er allerdings ausgewaschene, zerschlissene Jeans, Lederjacke, lange Haare und eine verspiegelte Pilotenbrille. Er gehörte eben zu den «bösen Buben», die Mädchen wie Zigaretten konsumierten und vor denen Väter ihre Töchter warnten – meiner ganz besonders vehement.

«Rosy? Rosy Wittgenstein?» John scheint nicht weniger überrascht zu sein. Wortlos starren wir uns an.

Heute reicht Johns Haar nicht mehr bis in den Nacken, sondern ist stoppelkurz geschnitten und schon recht grau. Mit der randlosen Brille, dem hellgrauen Anzug und der schwarzen Collegetasche aus Leder sieht er geradezu seriös aus. Nur seine grünbraunen Augen in dem markanten Gesicht mit der schiefen Nase strahlen genauso intensiv, wie ich sie in Erinnerung habe. Damals genügte ein Blick von John, und ich schmolz dahin.

«Was für ein Zufall!», sagt er dann erfreut. «Ich wusste gar nicht, dass du mit meinem Zahnarzt verheiratet bist.»

Und ich hätte niemals gedacht, dass John Karriere im Immobiliengeschäft machen und eines Tages im feinen Zwirn an meiner Tür klingeln würde.

Verlegen zupfe ich meine Stirnfransen zurecht. Heute Morgen war ich zu faul zum Haarewaschen und habe mein kinnlanges Gestrüpp einfach mit einem Stoffgummi im Nacken zusammengebunden. Aber wenn ich geahnt hätte, dass ich heute John Ansbach begegnen würde …

Vermutlich sehe ich in der ausgeleierten Hose und dem alten Shirt wie das wandelnde Klischee einer Vorstadtmami aus, die ihr Aussehen vernachlässigt, weil sich ohnehin keiner mehr dafür interessiert. Die überflüssigen Pfunde registrieren höchstens noch die Freundinnen.

«Äh, ich heiße tatsächlich wieder Wittgenstein», stammle ich und strecke ihm die Hand entgegen. «Ich bin seit gut einem Jahr geschieden.»

John drückt meine Hand länger, als es die Umgangsformen vorschreiben.

«Komm doch rein», bitte ich verlegen. «Volker hat dich ja angekündigt.»

«Tja, wenn ich geahnt hätte, dass ich dich hier treffe …», erklärt er und folgt mir durch den Flur ins Wohnzimmer.

«… dann wärst du lieber nicht gekommen», vollende ich den Satz. Dass er sich damals nach einem halben Jahr romantischer Liebesschwüre einfach nicht mehr gemeldet hat, scheint ihm offensichtlich entfallen zu sein.

Aber trotz dieser unschönen Erinnerung freue ich mich aufrichtig, John wiederzusehen. Auch wenn mir klar ist, dass ordentliche Kleidung und eine seriöse Brille aus einem Herzensbrecher noch lange keinen Biedermann machen.

«Oh, du hast Besuch», stellt John fest, als wir aus dem Wohnzimmer die Terrasse betreten.

«Das ist Charlie, mein ältester Sohn», entgegne ich und will die beiden gerade einander vorstellen, als Charlie plötzlich aufspringt.

«Ich muss jetzt weg. Hab einen Termin vergessen. Und du bist ja beschäftigt …»

Ohne weitere Erklärungen rauscht er ins Haus. Meine konsternierte Miene ignoriert er genauso wie Johns ausgestreckte Hand.

Was ist bloß in ihn gefahren?, frage ich mich zum wiederholten Mal und sehe ihm verwundert nach – um im nächsten Moment nervös zu werden. Das unverbesserliche Muttertier in mir ist erwacht.

«Mach es dir doch schon mal bequem», fordere ich John auf und sause dann meinem Sohn hinterher.

Ich nehme die Abkürzung durch den Garten und bin gerade am Gartentor angelangt, als Charlie seinen alten verbeulten Panda aufschließt.

Kopflos wie ein aufgescheuchtes Huhn überquere ich die Straße und kann in letzter Sekunde einem herankommenden Wagen ausweichen. Der Fahrer muss auf die Bremsen steigen und hupt wie verrückt. Wäre ich jung und knackig, würde der Mann jetzt besorgt aussteigen und sich erkundigen, ob es mir auch gutgeht. Doch alles, was ich noch zu sehen bekomme, ist sein Stinkefinger.

«Charlie, warte», rufe ich über die Straße, da ich sehe, dass er bereits in den Wagen steigt.

Als ich bei ihm bin und ans Fenster der Fahrerseite klopfe, kurbelt er mit mürrischer Miene die Scheibe runter.

«Was ist?»

«Das frage ich dich», entgegne ich keuchend. «Warum bist du so überstürzt aufgebrochen? Was ist los? Du wolltest mir doch sicher keinen Höflichkeitsbesuch abstatten, oder?»

Trotzig blickt er mich von unten an. «Nein, ich wollte dir erzählen, dass Marie schwanger ist und ich Vater werde! Aber deine Familie interessiert dich ja nicht mehr.»

Ehe ich die ganze Tragweite von Charlies Worten kapiere, startet er den Motor und braust davon. Fassungslos starre ich dem Panda hinter, bis er an der nächsten Kreuzung verschwunden ist.

2

Kopfschüttelnd schlurfe ich ins Haus zurück. In der Gästetoilette lege ich einen kurzen Stopp ein.

Irgendwie kann ich nicht glauben, was mein Sohn mir da eben verkündet hat.

Ich werde Oma?

Am Waschbecken versuche ich mit kaltem Wasser meinen Puls zu kühlen. Die Neuigkeit hat meinen Blutdruck kräftig in die Höhe getrieben, mein Herz rast, und die Ohren dröhnen, als würde ein Staubsauger durch meine Gehörgänge sausen.

Großmutter wird man doch frühestens mit siebzig oder so. Und ich bin noch nicht mal fünfzig!

Geschockt betrachte ich mich im Spiegel. Mein Haar hat zwar nicht wie durch Zauberhand die alte Fülle behalten, aber wenn es frisch gewaschen ist, sieht es trotz der vereinzelten Silberfäden noch ganz passabel aus. Bisher brauche ich auch weder zum Lesen noch zum Autofahren eine Brille, und mich als alte Oma zu bezeichnen, wäre echt gemein.

Wieso überhaupt die Eile? Charlie und Marie kennen sich gerade mal ein Jahr. Sie wohnen in einem winzigen Appartement mit puppenstubengroßer Snack-Küche im Flur. (So nennt man das heute wohl.) Und beide studieren noch. Wo und wie passt da bitteschön ein Baby in ihr Leben? In der Wohnung ist ja kaum Platz für das Notwendigste, geschweige denn für ein Babybett, eine Wickelkommode und was man sonst noch alles für ein Neugeborenes braucht. Und wenn sie zur Uni müssen, wohin dann mit …

Schlagartig wird mir klar, warum Charlie heute scheinbar grundlos bei mir aufgetaucht ist. Jetzt durchschaue ich auch das Gerede um seine ach so wertvollen Kindheitserinnerungen, die Abwehr gegen den Hausverkauf und den Versuch, mir einzureden, ich bräuchte unbedingt eine neue Aufgabe.

Pah! Das hat er sich ja fein ausgedacht. Jetzt, wo Mutti wieder Zeit hat und sich um niemanden mehr kümmern muss, kann sie ja die Betreuung des Enkels übernehmen.

Aber nicht mit mir! Ich starte neu durch und …

Plötzlich meldet sich mein Mama-Gewissen. Der arme Junge ist sicher vollkommen verzweifelt. Und in seiner Not wendet er sich nicht zuerst an seinen Vater, sondern er kommt zu mir. Das zeugt doch von unserem sehr guten Verhältnis, oder?

Ach, ich hätte meinem Sohn besser zuhören sollen und ihm meine Hilfe anbieten müssen.

Halt! Nein! Charlie ist erwachsen, ermahne ich mich. Also hör auf, dich wie eine Superglucke zu benehmen, Rosemarie Wittgenstein.

Das kalte Wasser scheint zu wirken. Allmählich beruhige ich mich mit dem Gedanken, dass die Geburt meines ersten Enkelkinds ja wohl kaum in der nächsten Stunde losgehen wird. Sobald John das Haus besichtigt und sich verabschiedet hat, werde ich Charlie auf dem Handy anrufen. Wir finden schon eine Lösung.

Aber jetzt muss ich mich erst mal um den Besuch kümmern.

«Kummer mit den Kindern?», fragt John, als ich auf die Terrasse zurückkehre. Er hat sich inzwischen das Jackett ausgezogen und die Ärmel des schilfgrünen Shirts hochgeschoben. Seine Collegetasche lehnt an dem Stuhl neben ihm, und auf dem Tisch liegt ein silberner Fotoapparat.

Liebend gerne würde ich jetzt mit jemandem über den Schock sprechen. Aber es handelt sich doch um ein sehr familiäres Ereignis, und ich bezweifle, dass John dafür der Richtige ist. Zum einen ist er ja quasi ein Fremder, und zum anderen weiß ich nichts über seine familiäre Situation. Vielleicht hat er auch Kinder und sogar schon Enkel und versteht das Problem am Ende gar nicht.

«Hast du Kinder?», antworte ich mit einer Gegenfrage.

«Leider nein.» Seine Stimme drückt ernsthaftes Bedauern aus. «Im Moment lebe ich auch allein. Ich habe mich gerade von meiner Freundin getrennt. Sie wollte Karriere und keine Kinder. Sie sei zu gut ausgebildet, um Windeln zu wechseln oder sich in die Küche zu stellen und Fläschchen zu kochen.»

Huch! Eine Menge Information steckte in diesen drei Sätzen. Dennoch kann ich mir John einfach nicht als treuen Ehemann und fürsorglichen Vater vorstellen. Ein Verführer verwandelt sich doch nicht einfach so zum Familienvater.

Als ich damals vor der Entscheidung stand, Kinder oder Karriere, habe ich mir nicht zugetraut, beides unter einen Hut zu bringen. Ich habe mein Lehramtsstudium für Gymnasien nicht beendet und die Entscheidung eigentlich auch nie bereut. Trotzdem ist von diesem Dilemma ein winziger Rest Traurigkeit geblieben, der sich manchmal wie Novembernebel über mich legt und mich melancholisch werden lässt.

«Entschuldige, John, ich hab dir noch gar nichts zu trinken angeboten», besinne ich mich auf meinen Gastgeberstatus. «Soll ich uns einen frischen Kaffee kochen?»

«Danke, Rosy, später vielleicht. Jetzt setz dich erst mal zu mir.» Er zieht den Stuhl heran. «Du hast dich übrigens kein bisschen verändert. Gut gehalten, würde ich sagen.» Johns umwerfendes Lächeln jagt mir einen Schauer über den Rücken.

Verrückt! Anscheinend bleiben uns die Menschen so in Erinnerung, wie wir sie kennengelernt haben. Auch wenn man sich nach Jahrzehnten wiedertrifft, sieht man unter den Falten immer nur das junge Gesicht von damals.

Aber ich weiß sehr wohl, dass fünfundzwanzig Jahre auch an mir nicht spurlos vorbeigegangen sind. Damals war ich wahrscheinlich zu naiv und zu verliebt, um zu merken, dass hinter seinem Süßholzraspeln nichts als heiße Luft steckte. Heute kann ich mich über das durchsichtige Kompliment freuen. Ich meine, bei einer geschiedenen Frau Ende vierzig stehen die Verehrer ja nicht gerade Schlange.

«Wollen wir dann gleich mit der Tour beginnen?», lenke ich seine Aufmerksamkeit zurück zum Grund seines Besuchs.

John nickt, schnappt sich seine Kamera und steht auf. «Ich hoffe, es ist in Ordnung, wenn ich ein paar Aufnahmen machen. Für das Exposé und vor allem fürs Internet brauchen wir ein paar aussagekräftige Fotos.»

Als wir das Wohnzimmer betreten, registriere ich aus den Augenwinkeln, wie John sich genau umsieht. Nur gut, dass ich heute Morgen besonders gründlich aufgeräumt habe, denke ich erleichtert.

«Das Haus ist natürlich nicht mehr im allerbesten Zustand», erkläre ich schnell. «Volker hat dir sicher erzählt, was den neuen Eigentümer an Renovierungsarbeiten erwartet, oder?»

«Äh … nein, eigentlich nicht», antwortet John zögernd und blickt sich misstrauisch um, als könnten gleich die Wände einstürzen.

Typisch mein Exmann. Er nutzt es gerne aus, dass wir wegen der Kinder einen freundschaftlichen Umgang pflegen, aber das Unangenehme überlässt er mal wieder mir.

«Na gut, worüber weißt du denn Bescheid, damit ich dich nicht mit Wiederholungen langweile?», frage ich und überlege gleichzeitig, welche Macken unserer alten Villa ich vorerst verschweigen kann, ohne John arglistig zu täuschen. Ohnehin würden mir wahrscheinlich nicht alle Problemzonen auf Anhieb einfallen. (Im Gegensatz zu meinen eigenen …)

«Tja, also dein Mann …»

«Exmann», korrigiere ich.

«Richtig, dein Exmann … Nun, er hat mir die Pläne ausgehändigt, mich über die Größe des Grundstücks informiert und die Gegend beschrieben.»

«Gut, dann beginnen wir doch gleich hier im Wohnzimmer», starte ich die Besichtigungstour. Ich wende mich nach rechts und deute auf die Durchreiche vom Esszimmer zur Küche. «Hier, das ist eines der vielen praktischen Details des Hauses.»

«Wie ich auf dem Plan gesehen habe, ist das keine tragende Wand», bemerkt John, als er die ersten Fotos von der Durchreiche schießt. «Man könnte diese Mauer also einreißen und den Kochbereich mit dem Esszimmer verbinden, richtig? So würde man einen großzügigen Wohn-Ess-Bereich erhalten, wie es jetzt allgemein Trend ist.»

«Genau das hatten wir vor, aber …» Ich stocke, weil ich dran denken muss, wie ich noch vor drei Jahren glaubte, hier mit Volker gemeinsam alt zu werden. Damals dachte ich noch, unsere Ehe würde zu den dreiunddreißig Prozent gehören, die erst vom Tod geschieden werden.

John scheint zu verstehen und vollendet den Satz: «… aber dann wurde aus dem Umbau eine Scheidung.»

Ich lasse den Kommentar unbeantwortet, zeige stattdessen mit einer ausladenden Handbewegung ins Wohnzimmer und fahre möglichst professionell fort. «Hier bist du ja vorhin bereits durchgelaufen. Zusammen mit dem angrenzenden Esszimmer stehen wir auf fünfundsechzig Quadratmeter massivem Eichenstabparkett. Auch in den oberen Etagen wurde überall Parkett verlegt. Und ich denke, der wertvolle Bodenbelag sowie der reichverzierte Marmorkamin, der übrigens aus Frankreich stammt, sind die Highlights der Villa.»

«Hmm, scheint alles sehr gepflegt.» Wohlwollend sieht sich John um.

Dann bitte ich ihn in das angrenzende Arbeitszimmer und zeige ihm noch das Gäste-WC sowie die eingebauten Garderobenschränke im Flur.

«Deutsche Wertarbeit, erdbebensicher», erkläre ich und präsentiere die von einem Schreiner maßgefertigten Einbauten aus Eichenholz, die trotz ihrer Jahre noch ganz passabel aussehen.

«Scheint ebenfalls sehr solide zu sein», entgegnet John. Mit ausgestreckter Hand befühlt er das Holz, das in der hereinfallenden Sonne wie Honig glänzt.

Doch als ich die mittlere Schranktür schwungvoll aufreißen will, fällt sie unvermittelt aus den Scharnieren und landet nur wenige Zentimeter neben meinem rechten Fuß.

Geistesgegenwärtig greift John mit einer Hand zu und hilft mir, die Tür wieder einzuheben und zu schließen.

«Da ist wohl eine Schraube locker», bemerke ich achselzuckend.

John lacht befreit. «Entschuldige, Rosy», sagt er, als er wieder bei Atem ist. «Aber ich lache nicht über dich, ehrlich. Mir fiel nur der Streber aus unserer Klasse ein. Die Streber-Schraube … Wie hieß er nochmal?»

«Ewald», helfe ich ihm auf die Sprünge, verschließe die lockere Tür und ziehe zur Sicherheit den Schrankschlüssel ab, damit das Unglück nicht nochmal passiert. «Ewald Schraube, der Primus der Abiturklasse.»

«Und der Typ hieß nicht nur so, bei dem waren doch auch sämtliche Schrauben locker», fügt John lachend hinzu. «Was wohl aus dem geworden ist?»

«Ein sehr erfolgreicher Physiker, der am Max-Planck-Institut forscht und vielleicht mal einen Nobelpreis bekommen wird.» Und dann kann ich mir eine kleine Spitze nicht verkneifen. «Wenn du nur ein Mal zu einem unserer Klassentreffen gekommen wärst, dann …»

«… dann bestimmt nicht wegen Schraube», deutet er mit frechem Augenzwinkern an. «Also, wo steht der Werkzeugkasten?»

Überrascht mustere ich ihn. Will er etwa die Schranktür reparieren? Meine Jugendliebe als Handwerker? Mit Hammer und Nagel kann ich ihn mir eigentlich nicht vorstellen.

«Danke, das ist sehr nett von dir, aber nicht nötig», wehre ich sein Angebot ab. «Mein Vater wäre beleidigt, wenn ich ihn seiner Lieblingsbeschäftigung berauben würde. Seitdem er in Rente ist, ist er nämlich ganz wild auf Reparaturen aller Art.»

John nickt und wirkt beinahe ein wenig erleichtert.

«Außerdem ist Fabian, mein zweiter Sohn, Schreiner», füge ich noch hinzu. «Du siehst also, an fleißigen Helfern mangelt es mir nicht. Aber genug davon. Ich würde dir jetzt gern die erste Etage zeigen.»

Die in sanftem Schwung nach oben führende Treppe knarrt an einigen Stellen, als wir nebeneinander die Stufen hochsteigen. Es sind vertraute Geräusche, an die ich mich über all die Jahre gewöhnt habe. Sie gehören einfach zu diesem Haus wie die Ziegeln auf dem Dach.

«Fabian war schon immer praktisch veranlagt und ist sehr geschickt», erkläre ich voller Mutterstolz, unterschlage aber, dass mein Zweitgeborener derzeit nur ein Praktikum bei einem Schreiner absolviert. «Schon als Kind schnitzte er liebend gern an einem Stück Holz herum und hat …» Ich stoppe abrupt. Meine Güte, ich klinge ja wie eine dieser ehrgeizigen Mütter, die ihre Kinder mit Erfolgsansprüchen drangsalieren.

«Ja, Familie ist was Wunderbares», bestätigt John, und zu meiner Überraschung höre ich keinen spöttischen Unterton raus. Im Gegenteil. Habe ich da nicht sogar einen leisen Stoßseufzer vernommen? Beneidet er mich etwa? Würde John Ansbach, der umwerfende Herzensbrecher, auf seine alten Tage etwa gerne sesshaft werden? Eine Familie gründen? Kinder zeugen? Nein! Da könnte man genauso gut behaupten, Casanova wäre monogam gewesen. Lächerlich!

«Nicht immer ist Familie was Wunderbares», schnaufe ich, als wir im ersten Stock ankommen. «Es gab Zeiten, da habe ich meine Sippe als Blutsauger empfunden und sie oft verflucht.»

Der Flur ist etwas kleiner als im Erdgeschoss. Von hier gehen das Schlafzimmer und die Kinderzimmer ab, das große Bad sowie eine extra Toilette.

«Und du bewohnst dieses riesige Haus jetzt also ganz allein.» Johns Frage klingt eher wie eine Feststellung, als er sich in meinem Schlafzimmer umsieht und eifrig Fotos schießt.

«Genau deshalb haben wir uns zum Verkauf entschlossen», beantworte ich die Frage indirekt.

Mein Singledasein verstecken zu wollen, wäre ohnehin ziemlich schwierig. Im Bad zeugen eine einsame Zahnbürste, wenige Handtücher und ein einziger Bademantel überdeutlich von einem Ein-Personen-Haushalt. Auch die drei aufgeräumten Kinderzimmer lassen unschwer erkennen, dass der Nachwuchs längst ausgeflogen ist. Es gibt keine herumliegenden Spielsachen, keine lieblos in die Ecke gepfefferten Klamotten, keine angebissenen Äpfel, leeren Joghurtbecher oder zerknüllten Bonbonpapiere auf dem Boden.

Das Nest ist verwaist.

Charlie möchte das Haus wegen der Erinnerungen behalten, ich möchte es genau deswegen loswerden – bevor ich zur schrulligen Alten mutiere, die ihre Umgebung mit Gerede von früher und damals nervt. Am Ende führe ich noch Selbstgespräche!

Seit Juliane vor etwas über einem Jahr nach Süden ausgewandert ist, benutze ich außer der Küche und dem Bad nur noch das ehemalige Eltern-Schlafzimmer. Der Raum wurde natürlich längst umgestaltet. Ich habe mir ein neues Bett angeschafft, den monströsen Kleiderschrank in den Keller verbannt und meine Klamotten im Flurschrank verstaut. Mit einem pastellfarbenen Anstrich, den geblümten Vorhängen und den gerahmten Fotos meiner Kinder wurde daraus eine gemütliche Wohlfühloase. Dass ich am Abend abwechselnd das Licht in den Kinderzimmern einschalte, damit das Haus bewohnt wirkt, würde ich allerdings vor niemandem zugeben.

John schießt wieder eifrig Fotos. Dabei geht er zwei Schritte zurück und steht unvermittelt dicht neben mir. Er riecht nach einer herb-frischen Seife oder vielleicht einem Aftershave. Ein sehr männlicher Duft, schießt es mir durch den Sinn, und im selben Moment wird mir bewusst, wie lange mir kein Mann mehr so nahe gekommen ist – noch dazu in meinem Schlafzimmer!

Verlegen dränge ich ihn aus dem Raum mit der Begründung, dass wir uns das Dachgeschoss und auch den Keller mit den Wirtschaftsräumen noch ansehen müssten.

Den Räumen im Kellergeschoss ist die dringend notwendige Renovierung am deutlichsten anzusehen. Der Putz hält zwar noch an den Wänden, aber der Anstrich ist längst verschmutzt. Am saubersten wirkt noch der Heizungsraum, in dem seit zwanzig Jahren unsere Waschmaschine ihre Dienste versieht.

«Hier unten gäbe es Möglichkeiten für einen Hobbyraum oder Partykeller. Die Wände sind trocken, und du wirst nirgendwo Hausschwamm oder sonstige unliebsame Bewohner entdecken. Na ja, vielleicht hier und da mal eine Spinne», verbessere ich mich eilig, als mir ein besonders dickes Exemplar dieser Gattung am Fenster des Waschraums auffällt. «Aber Spinnen behüten ein Haus, wie der Volksmund sagt.»

Während wir die Treppe wieder hochsteigen, versuche ich nochmal richtig Werbung für das alte Gebäude zu machen.

«Die Strindbergstraße ist ruhig, liegt nah am Pasinger Marienplatz und damit sehr zentral», doziere ich. «Die Nähe des Elsa-Brandström-Gymnasiums macht das Objekt zusätzlich interessant für junge Familien. Und trotz des unrenovierten Zustandes kann man es, ohne zu mogeln, als Anwesen mit historischem Charme bezeichnen. Es dürfte also keine Probleme geben, einen Käufer zu finden. Der uneinsehbare Garten ist ein weiterer Pluspunkt und –»

«Ist das dein erster Hausverkauf?» John sieht mich unverwandt an.

Irritiert von dieser ungewöhnlichen Frage, bleibe ich auf der obersten Treppenstufe stehen. «Volker meint, unser Anwesen wäre ein Spitzenobjekt, und der richtige Makler würde es in null Komma nichts verkaufen.»

«Du wärst eine klasse Immobilienmaklerin, Rosy», stellt John fest, als wollte ich mich um einen Job in dieser Branche bewerben. «Deine Führung war richtig professionell. Und deine charmanten Erklärungen, was die kleinen und größeren Schwachstellen des Hauses angehen – sehr überzeugend. Ich glaube, du könntest jede noch so baufällige Hütte verkaufen.»

Ich starre ihn an wie einen Außerirdischen. Welch eine Schnapsidee. Wieso sollte ich baufällige Hütten verkaufen wollen?

«Also, falls du jemals mit einem Job in dieser Branche liebäugelst», fährt er unbeirrt fort, «ich würde dich sofort als Maklerin einstellen!»

Was für ein verrückter Tag! Mein Erstgeborener macht mich zur Großmutter, und ich begegne meiner ersten großen Liebe wieder. Niemals hätte ich mir träumen lassen, John eines Tages wiederzusehen. Geschweige denn, dass ich ihn noch immer attraktiv finden könnte. Aber noch viel weniger hätte ich erwartet, ausgerechnet von ihm einen Job angeboten zu bekommen.

3

Ich überlege noch, ob Johns Angebot tatsächlich ernst gemeint oder nur eines seiner Verführer-Komplimente war, als uns das Schrillen der Türklingel zusammenzucken lässt.

«Setz dich doch schon mal auf die Terrasse», schlage ich vor und schiebe John in Richtung Wohnzimmer. «Wer auch immer der Störenfried ist, ich wimmle ihn ab und hole uns dann etwas zu trinken.»

Der Störenfried entpuppt sich als mein Vater.

Mit Sonnenbrille auf der Knubbelnase, einer lässigen Leinenhose, rotem Polohemd und dunkelblauen Laufschuhen wirkt er wie ein Paradebeispiel für die Best-Ager-Generation. Seine Enkel nennen ihn gerne den rasenden Rentner, seit er jedes Jahr die kleine Distanz beim Stadtmarathon mitläuft – und es auch jedes Mal ins Ziel schafft. Die dreiundsiebzig Jahre sieht man ihm jedenfalls nicht an.

«Hallo, Papa!» Ich begrüße ihn mit einem Küsschen auf seine frischrasierte Wange. «Waren wir verabredet?»

Ich verstehe mich gut mit meinem Vater. Er ist kein bisschen leise und manchmal sehr weise, aber natürlich nervt er mich gelegentlich auch schon mal. So wie jetzt, wenn er einfach so hereinplatzt und mehr als ungelegen kommt.

«Du bist doch eh immer zu Hause, Rosemarie!» Entrüstet sieht er mich mit seinen blitzblauen Augen an. «Sag bloß, du hast es vergessen!»

Kann sein, dass mir über die Aufregung mit John entfallen ist, dass ich mit meinem Vater verabredet war. Aber es nervt mich, für meine Familie immer die Verfügbare zu sein. Ganz offensichtlich glaubt jeder, man könne mich jederzeit behelligen oder mir irgendwelche Erledigungen aufs Auge drücken. Allen voran mein Exmann. Ursprünglich wollte Volker sich nämlich um die Besichtigungen des Hauses kümmern. Deshalb hatte er den Termin auf seinen freien Mittwochnachmittag gelegt. Aber wie so oft ist ihm dann ein Notfallpatient dazwischengerutscht. Und bei einem Halbgott in Weiß muss man natürlich immer Rücksicht nehmen. Auch wenn ich nicht überprüfen kann, ob er mich nicht vielleicht angeschwindelt und stattdessen seine junge Freundin auf eine Shoppingtour begleitet hat.

«Was gibt es denn so Wichtiges, Papa?», frage ich vorsichtig und bleibe im Flur stehen. Vielleicht kann ich ihn unauffällig hinauskomplimentieren.

«Das hier.» Er hält mir zwei Plastiktüten vor die Nase: eine mit schmutziger Wäsche und eine mit Einkäufen aus dem Baumarkt.

Mein Vater hat ein merkwürdiges Hobby. Er bummelt durch Baumärkte wie Frauen durch Schuhläden. Betrachtet er in den Regalen die neuesten Bohr- oder Schleifmaschinen, glänzen seine blauen Augen wie die einer Schuhsüchtigen beim Anblick von Manolos. Natürlich gehören auch umfassendes Preisevergleichen oder Rabatteaushandeln zu seiner Passion. Mittlerweile wird er von einigen Filialleitern sogar schon mit Handschlag begrüßt.

Dass hier im Haus so einiges ausgebessert werden muss, rechtfertigt in seinen Augen nicht nur seine Marotte, sondern auch die Anschaffung sämtlicher Spezialwerkzeuge. Seine Wäsche kann er bei der Gelegenheit auch gleich loswerden. Seit dem Tod meiner Mutter vor ein paar Jahren habe ich wie selbstverständlich das Waschen, Bügeln und Ausbessern seiner Kleidung übernommen. Es gibt aber auch noch einen anderen Grund für seine zahlreichen Handwerksbesuche bei mir: seine Kontaktfreudigkeit. Als Journalist im Ruhestand ist mein Vater neugierig geblieben. So ein Talent versiegt nicht, nur weil man den Job an den Nagel gehängt hat. Und wenn sich beim Materialeinkauf im Baumarkt auch noch ein kleiner Flirt mit einer netten Verkäuferin ergibt, fühlt er sich gleich doppelt jung und lebendig.

«Du weißt, ich mache das jederzeit gerne. Aber im Moment passt es mir nicht so gut. Ich hab nämlich –»

«Was?», fällt er mir unwirsch ins Wort und mustert mich mit seinem kritischen Röntgenblick, dem selten etwas verborgen bleibt. «Die Schranktür im Flur und den Geschirrspüler hast du wohl kaum selbst repariert! Aber ich habe heute Morgen extra die Dichtung besorgt und … Moment! Du hast doch nicht etwa Geheimnisse vor deinem alten Vater? Vielleicht Männerbesuch?» Er schüttelt amüsiert den Kopf, als sei das völlig unmöglich, drückt mir die beiden Tüten in die Hand und stürmt an mir vorbei ins Wohnzimmer.

Eilig stolpere ich hinterher und stottere: «Nein, nein, es ist nur …»

«Da sitzt ja tatsächlich ein Mann!» Er hält abrupt an, als er durch das Fenster sieht und John auf der Terrasse erblickt.

«Das ist kein Männerbesuch, sondern der Immobilienmakler», erkläre ich bemüht gelassen. «Volker hat ihn engagiert, um einen Käufer für das Haus zu finden. Zufälligerweise ist er ein Bekannter aus der Schulzeit, John Ansbach.»

«Ansbach?» Papas Augen verengen sich. Gebannt sieht er aus dem Fenster, dann zu mir und wieder zu John. Sein Kopf geht hin und her wie bei einem Tennismatch. Schließlich dämmert es ihm.

«Etwa der Ansbach?» Mein Vater klingt so entsetzt, als hätte er uns beide nackt in meinem Bett überrascht.

«Du erinnerst dich an John?», frage ich im Plauderton. «Er war mit mir in der Abiturklasse.»

«Natürlich», schnappt er mürrisch zurück. «Ich leide ja nicht an Alzheimer. Das ist doch dieser … dieser Tunichtgut, der zum Film wollte. Dieser Mädchenverführer. Hab ich dir den Umgang mit ihm nicht verboten?»

«Also bitte, Papa, das soll wohl ein Scherz sein. Das ist fast dreißig Jahre her!» Mit einem Mal packt er mich am Arm und zieht mich in die Küche, wo uns John weder sehen noch hören kann. Dann stemmt er die Hände in die Hüften und holt zu einer Gardinenpredigt aus. «Diese Filmheinis sind doch alle drogenabhängig. Und sie treiben es mit fünf Frauen gleichzeitig. Ich kenn mich aus in der Branche.»

«Nun mach mal halblang. Wie ich bereits gesagt habe: John ist der Makler, den Volker geschickt hat.» Um keinen Streit zu provozieren, bemühe ich mich um einen ruhigen Tonfall. «Dein Exschwiegersohn weiß nicht mal, dass ich John aus der Schulzeit kenne. Und John wiederum wusste nicht, dass ich mit seinem Zahnarzt verheiratet war. Dergleichen Zufälle gibt es nun mal, auch wenn dir das nicht passt. Im Übrigen war ich vorhin genauso überrascht wie du jetzt, als John vor der Tür stand.»

Meinem Vater scheinen alle Erklärungen gleichgültig zu sein. «Zufall oder nicht. Der Mann ist ein gefährliches, hinterhältiges Schlitzohr, Rosemarie! Ein selbstgefälliger Aufschneider! Mit dem ist nicht gut Kirschen essen.»

Genau diese Worte hat er auch schon damals benutzt, als John mir das Herz brach. Aber das ist, wie gesagt, fast dreißig Jahre her!

«Wieso regst du dich eigentlich so auf?» Herausfordernd hebe ich den Kopf. «Ich will ihn ja nicht heiraten. Er soll nur das Anwesen verkaufen. Wo liegt denn da das Problem?»

Nachdenklich verzieht mein Vater den Mund, wie er es immer tut, wenn ihm etwas nicht passt.

«Also», sage ich versöhnlich und schiebe ihn aus der Küche. «Ich mache uns jetzt etwas zu trinken, und du wirst dich benehmen und John als den Makler begrüßen, der unser Haus an den Käufer bringen wird.»

Eine unschöne Szene zwischen John und meinem Vater hat mir gerade noch gefehlt. Für heute ist mein Bedarf an Aufregung bereits gedeckt.

Mit einem unwirschen Schnaufen marschiert mein Vater los.

Ich stelle die Plastiktüte mit der Schmutzwäsche ab, lege die Spülmaschinendichtung auf die Arbeitsplatte und atme einige Male tief durch. Ich spüre die nervliche Anspannung und brauche dringend was Starkes zur Beruhigung.

Doch das Stärkste, was ich im Kühlschrank finde, ist eine Flasche Prosecco. Das geht zur Not auch.

Zusammen mit dem Saft von drei Orangen und einem Rest Kirschsaft mixe ich drei harmlose Cocktails, stelle die Gläser auf ein Tablett und begebe mich an die «Front».

Bereits durch das Wohnzimmerfenster sehe ich, wie sich John und Papa am Tisch gegenübersitzen, aneinander vorbei ins Leere starren und sich anschweigen. Na, das kann ja heiter werden.

«Ah, da bist du ja endlich», empfängt mich mein Vater mürrisch, als ich die Terrasse betrete.

Was heißt hier endlich? Ich bin doch keine Biergarten-Bedienung! Doch um des Friedens willen unterlasse ich jeglichen Kommentar, lächele verbindlich und verteile stattdessen die Getränke. «Fruchtsaft mit einem Schuss Prosecco.»

John greift beherzt zu. «Danke, Rosy, das schmeckt bestimmt lecker.»

«Also, auf einen schnellen und lukrativen Verkauf», brummt mein Vater, nachdem ich ihn mahnend angesehen habe, und erhebt sein Glas. Es klingt aber beinahe ein wenig drohend. «Wie kamen Sie eigentlich zu dieser Immobiliensache, Herr Ansbach?»

Auch wenn ich genau weiß, dass mein Vater ihn jetzt ins Kreuzverhör nimmt, ist das eine gute Frage. Auf die Antwort bin ich nämlich selbst sehr gespannt.

John nippt erst an seinem Glas, bevor er meinen Vater direkt ansieht. «Geerbt», gibt er dann Auskunft. «Mein Großvater hat die Firma gegründet und sie später an meinen Vater übergeben. Und als der vor fünf Jahren starb –»

«Aha, ein Familienunternehmen», fällt mein Vater ihm unhöflich ins Wort.

Vernehme ich da etwa ein wenig Bewunderung? Das wäre ja zu schön. Hoffentlich revidiert er dann auch seine negative Meinung über John. Die feindselige Stimmung zwischen den beiden schlägt mir auf den Magen.

«Davon hast du mir nie etwas erzählt, Rosemarie», sagt er und sieht mich vorwurfsvoll an.

«Ich wusste doch selbst nichts davon», verteidige ich mich.

«Na ja, ich glaube, wir hatten damals andere Themen als die Arbeit unserer Väter oder deren Firmen.» John zwinkert mir unauffällig zu.

In dem Moment schrillt aus dem Wohnzimmer das Telefon. Heilfroh, der unangenehmen Situation entkommen zu können, stehe ich auf und eile an den Apparat.

Es ist Volker.

Das hätte ich mir eigentlich denken können. Vermutlich möchte er sich über den Stand der Dinge informieren. Ich kenne ihn doch: Volker behält gerne den Überblick, wie er immer behauptet. Ich nenne das Kontrollwahn.

In meinem neuen Appartement schaffe ich mir einen dieser Apparate mit Rufnummernanzeige an, dann kann er mich mal gernhaben.

«Hallo, Rosy», flötet er.

Wenn Volker mich so scheinheilig ansäuselt, handelt es sich meist um etwas Unangenehmes. Er glaubt nämlich immer noch, dass er mit allen Sorgen zu mir kommen kann.

«Was ist los?», raunze ich ihn an.

«Ich wollte mich nur erkundigen, wie es mit dem Makler läuft.»

Also doch! Aber ein Plausch mit meinem geschiedenen Mann ist genau der fehlende Stein zu einem Magengeschwür. «Bestens», antworte ich knapp, um ihn abzuwimmeln.

«Sehr schön … sehr schön …»

«Komm auf den Punkt, Volker», drängle ich. «Ich bin im Stress. Der Makler ist noch da, und mein Vater kam überraschend zu Besuch. Und ich möchte die beiden nicht zu lange alleine lassen.»

«Ja, natürlich … Also, du weißt ja, dass ich heute wegen dieses Notfalls leider nicht bei der Besichtigung dabei sein konnte. Es war eine äußerst komplizierte Wurzelbehandlung, sonst wäre ich –»

«Volker! Worum geht es?»

«Verzeihung … Um ehrlich zu sein, es handelt sich um meine Mutter.»

«Aha», murmle ich desinteressiert.

Was hat Lotte wohl jetzt wieder für eine verrückte Idee? Meine Exschwiegermutter ist nämlich vor zwei Jahren nach Ibiza ausgewandert, um dort ihren Lebensabend mit einem neuen Lover zu verbringen. Vielleicht war es auch eine alte, wiederentdeckte Liebe. So genau kann man das bei ihr nie sagen.

«Braucht sie eine Packung ihrer unsäglichen Haarfarben, die es auf der Insel angeblich nicht gibt und die ich ihr mal wieder schicken muss?», frage ich gereizt. Ich bin es nämlich leid, von ihr als Versandhandel missbraucht zu werden.

Volker seufzt laut, ehe er weiterspricht. «Anscheinend gab es Streit mit Gerhard. Mir war der Typ ja von Anfang an suspekt, aber sie wollte am Telefon keine Einzelheiten verraten. Sie nuschelte nur was von irgendwelchen Vorfällen …»

«Interessant», sage ich ohne echte Anteilnahme. Mit meiner ausgeflippten Schwiegermutter habe ich mich noch nie besonders gut verstanden, und es ist mir heute mehr denn je schnuppe, was diese Frau so treibt.

«Wie dem auch sei.» Volker räuspert sich vernehmlich. «Sie weiß jetzt nicht, wohin und … Na ja, es handelt sich nur um ein paar Tage, bis sie eine passende Bleibe gefunden hat. Und du weißt ja, dass meine Wohnung nur ein Schlafzimmer und ein Badezimmer hat. Und deshalb dachte ich, dass …»

Ich schlucke schwer, denn mir schwant Übles.

«Also, ich wollte dich fragen», stottert Volker weiter, «also … respektive bitten, ob du Lotte vielleicht … Bitte, Rosy, würdest du kooperieren?»

Kooperieren!? Nur ein Idiot würde nicht kapieren, worum es hier geht. Mein Ex will mir seine Mutter aufs Auge drücken!

Wieso meint in diesen Tagen eigentlich jeder, meine berühmte und von allen gern in Anspruch genommene Hilfsbereitschaft dermaßen überstrapazieren zu müssen? Meine Familie weiß doch, dass ich jetzt endlich mal Urlaub mit meiner Freundin Suse machen will.

«Wie stellst du dir das vor?» So einfach werde ich es meinem Ex diesmal nicht machen. «Und wie genau sähe die Kooperation denn aus?»

«Wenn du Lotte für zwei, drei Tage aufnehmen könntest, würdest du mir damit einen riesigen Gefallen tun», raunt er mit klebrig-süßer Stimme, als ginge es lediglich um frischen Schinken fürs Abendbrot.

«Zwei, drei Tage?», wiederhole ich entsetzt, in der stillen Hoffnung, mich verhört zu haben. Wenn sich meine Exschwiegermutter hier auch nur für eine Stunde breitmacht, bin ich hinterher reif für die Nervenheilanstalt. Die Frau ist dermaßen chaotisch, dass man eine Putzkolonne engagieren muss, wenn sie nur mal eben heißes Wasser über einen Teebeutel gießen will. Sie würde hier ein derartiges Durcheinander veranstalten, das jeden potenziellen Käufer schneller vertreibt als flächendeckender Schwarzschimmel an den Wänden. Und meine Pläne von einem Wellness-Urlaub könnte ich dann in die Tonne treten, noch ehe sie richtig Gestalt angenommen haben.

«Ich halte das für keine gute Idee, Volker», antworte ich wenig kooperativ